Ausgerechnet Kabul - Ronja Wurmb-Seibel - E-Book
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Ronja Wurmb-Seibel

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Beschreibung

Afghanistan – Was bleibt nach dem Abzug der Truppen?

Ronja von Wurmb-Seibel ist 27 Jahre alt, als sie nach Kabul zieht. Die junge Reporterin hat sich vorgenommen, Afghanistan nach Geschichten zu durchstöbern, die anderes erzählen als Burka, Taliban und Bundeswehr.

Sie findet Geschichten zum Staunen und erlebt Momente zum Verzweifeln. »Ich kann den Krieg beobachten, ich kann versuchen, ihn zu beschreiben; aber ich habe keine Ahnung davon, wie es ist, im Krieg zu leben«, heißt es in Ausgerechnet Kabul. »Und ich glaube immer weniger daran, dass wir Deutschen beurteilen können, was unser Krieg am Hindukusch gebracht hat. Ich denke, es gibt bessere Experten für diese Frage: die neunjährige Madina etwa, die jeden Tag vor dem NATO-Hauptquartier in Kabul bunte Armbänder verkauft; oder Kommandeur Hakimi, dem die Leute unter der Hand wegsterben, seit die Bundeswehr aus Faizabad abgezogen ist und die Aufständischen an Macht gewinnen.« Ronja von Wurmb-Seibels Buch ist eine Hommage an den Lebensmut der Afghanen, ein Plädoyer gegen den Krieg – und eine ungewöhnliche Bilanz des deutschen Afghanistan-Einsatzes.

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Seitenzahl: 262

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Ronja von Wurmb-Seibel

Ausgerechnet Kabul

13 Geschichten vom Leben im Krieg

Deutsche Verlags-Anstalt

Die Rechte für die Abbildungen im Innenteil des Buches liegen bei der Autorin. Die Rechte für den Songtextliegen bei Universal Music.

1. AuflageCopyright © 2015 by Deutsche Verlags-Anstalt, München, in der Verlagsgruppe Random House GmbHAlle Rechte vorbehaltenTypographie und Satz: Brigitte Müller/DVAGesetzt aus der BerlingBildbearbeitung: Heliorepro, MünchenISBN 978-3-641-13669-7

www.dva.de

INHALT

Vorwort

TEIL 1 WIR UND DIE

1

2

3

4

5

TEIL 2 WIR GEHEN

6

7

8

9

TEIL 3 DIE BLEIBEN

10

11

12

13

Nachwort

Danke

Staub. Kabul

Vorwort

Als ich klein war, erklärte mir mein Bruder einmal, dass ich nur dann Angst haben müsse, wenn er es mir sage. Er ist sieben Jahre älter als ich, und als er mir das erste Mal Bescheid gab, waren wir in Italien. Am Hafen von Neapel schlitzten zwei Motorradfahrer die Reifen unseres Toyotas auf, als wir gerade an einer roten Ampel hielten. Dann kreisten sie um das liegen gebliebene Auto. Mein Bruder bewaffnete sich mit einem Schraubenschlüssel und stieg aus, um meinem Vater beim Reifenwechseln zu helfen. Zuvor beugte er sich zu mir herüber und sagte: »Weißt du noch, was ich dir über Angst gesagt habe? Jetzt ist es soweit!«

In Neapel war ich neun. Als mich mein Bruder das nächste Mal warnte, war ich fünfzehn. Ich saß im Büro meines Vaters und las E-Mails (zu Hause hatten wir damals noch kein Internet). Mein Bruder streckte seinen Kopf ins Zimmer. »Hast du gehört?«, sagte er. »Das World Trade Center ist eingestürzt.« An seinem Tonfall merkte ich, dass es nun wieder an der Zeit war, Angst zu haben. Nur wusste ich nicht, was das World Trade Center war. Ich wusste nicht, wo es stand, beziehungsweise gestanden hatte. Erst recht wusste ich nicht, warum es schlimm war, dass es nun nicht mehr dort stand. Und da mein Bruder gleich wieder verschwunden war, beschloss ich, dass es so schlimm schon nicht sein konnte.

Ich änderte meine Meinung, als ich abends nach Hause kam, mein Vater saß vor dem Fernseher.

Die Bilder machten mir Angst. Es war das erste Mal, dass ich mitbekam, wie von heute auf morgen ein Krieg losgehen kann. Wie wenig man ihn vorhersieht und wie schwer er sich aufhalten lässt. Dass er einfach kommt.

Als ich ins Bett ging, versprach mein Vater, mich zu wecken, falls irgendwo ein Krieg ausbrechen sollte. Er weckte mich nicht. Es begann kein Krieg. Nicht in dieser Nacht.

Dreizehn Jahre später stehe ich in einem kleinen grauen Innenhof in Kabul. Es dämmert. Ich spiele Volleyball mit einem Kumpel, Abdulhai. Er ist achtzehn Jahre alt und hat einen beschissenen Tag gehabt. Volleyball ist Ablenkung. Irgendwann fragt er mich: »Ronja, wann hast du zum ersten Mal von Afghanistan gehört?« Ich erzähle ihm von 9/11, von dem Abend vor dem Fernseher, davon, dass ich nicht wusste, was das World Trade Center ist – und dass ich auch von Afghanistan davor noch nie gehört hatte. Es ärgerte mich, Abdulhai sagen zu müssen, dass ich das erste Mal wegen eines Krieges von seinem Land gehört hatte. Aber ich wollte auch nicht lügen.

Ich versuchte mir vorzustellen, wie er 9/11 erlebt haben muss. Abdulhai war damals fünf. Auch er wusste nicht, was das World Trade Center ist. Ein paar Monate zuvor war seine Familie vor den Taliban aus ihrem Dorf in der Provinz Bamiyan ins Gebirge geflohen. Schnee, Eis, Wind. Unterwegs teilte sich die Familie auf. Abdulhai und sein Bruder blieben bei ihrer Mutter, der Vater zog mit ein paar anderen Männern weiter.

Tage später hörte Abdulhai zufällig das Gespräch zweier Männer. Einer von ihnen sagte, dass Abdulhais Vater getötet worden sei. Die beiden Männer bemerkten nicht, dass der Sohn alles mitbekam. Und Abdulhai erzählte niemandem davon.

»Bist du wegen des Krieges hierhergekommen, Ronja?«

»Ich weiß es nicht, Abdulhai.«

*

Anfangs, im Frühjahr 2013, wusste ich nicht so genau, was mich auf die Idee gebracht hatte, nach Afghanistan zu ziehen. Ich wusste nur, dass ich erst mal herausfinden wollte, ob ich mir das vorstellen konnte: in Kabul leben. Vier Wochen erschienen mir ein vernünftiger Zeitraum dafür. Außerdem konnte ich nicht länger Urlaub nehmen.

Es waren vier intensive Wochen: Ich spazierte durch die grünen Parks von Kabul; ich flog für ein paar Tage nach Kundus und wurde von der Polizei überredet, in ihrem Hauptquartier zu schlafen – dort sei es sicherer als in meinem Hotel. Ich half meinem Übersetzer um sechs Uhr morgens bei einer Hausarbeit über Leni Riefenstahl und ließ mir von einem Freund die Machtspiele innerhalb der afghanischen Gesellschaft erklären, während er ein paar Kinder mit Erdklumpen bewarf, die Steine auf ihn geschmissen hatten. Ich kaufte mir afghanische Kleidung und lernte erste Worte auf Dari: »Wie geht’s dir? Darf ich ein Foto von Ihnen machen?« Bei einem Ausflug aufs Land teilte ich ein Zimmer mit sieben afghanischen Männern, von denen einer ein Mullah war; ab halb vier Uhr morgens kamen die Leute zum Beten ins Zimmer. Ich wanderte mit einem deutschen Professor durch die Berge der Provinz Badachschan, um Heilkräuter zu finden, versank mit einem Auto im Fluss und wurde mit einem Pferd aus dem Wasser geführt.

Am letzten Abend der vier Wochen lag ich auf meinem Bett und dachte an das Flugzeug, das mich am nächsten Morgen nach Dubai bringen würde. Ich dachte an Deutschland und an die Entscheidung, die nun vor mir lag: Hamburg oder Kabul? Ich überlegte, wie ich meiner Familie erklären würde, dass sie sich von nun an nicht alle paar Monate Sorgen machen müsste, sondern rund um die Uhr. Ich versuchte, mir alle Momente der letzten vier Wochen in Erinnerung zu rufen, in denen ich mich gefühlt hatte, als sei Afghanistan für mich gerade der einzig richtige Ort auf der Welt. Ein Teil von mir war sich sicher, dass ich zurückkommen würde, der andere lachte mich aus für diese absurde Idee.

Irgendwann klopfte es an der Tür. Als ich aufmachte, grinste mir ein Freund entgegen, ich hatte ihn ein paar Monate zuvor bei einer Recherche kennengelernt. Seither hatte er mir geholfen, mit Kabuls Alltagstücken klarzukommen: Wo bucht man ein Flugticket nach Kundus? Welche Kleidung brauche ich in Faisabad? Welcher Taxifahrer ist zuverlässig? Nun schwenkte er verschwörerisch eine braune Plastiktüte in seiner rechten Hand: »Ich hab was zu trinken besorgt«, sagte er und öffnete die Tüte einen Spalt. Whiskey. Vom Schwarzmarkt, per Telefon geordert, destilliert in Indien.

Der Besuch des Freundes überraschte mich nicht, wir hatten uns noch nicht verabschiedet. Doch was ich an diesem Abend wollte, war nicht Whiskey, sondern Schlaf – die vier Wochen hatten mich erschöpft. Ich setzte an zu einer Ausrede. »Nein, nein«, erstickte der Freund meinen Versuch. »Heute ist dein letzter Abend. Und wir müssen reden.«

Kurz darauf saßen wir uns ein Stockwerk tiefer auf schweren dunklen Ledersesseln gegenüber. Eine Klimaanlage ratterte, der Fernseher lief. Ein Nachrichtensprecher berichtete von Demonstrationen an der Uni. Der Freund stellte feierlich Whiskey, Cola, Eiswürfel und Zitronenscheiben auf einen kleinen Glastisch. Er schenkte ein, und die Menge Schnaps gab mir zu verstehen, dass er meinen Einwand »Aber nur ein kleines Glas« für überflüssig hielt. Er prostete mir zu und trank einen Schluck. Dann sagte er mit ernster Miene: »Warum ausgerechnet Kabul? Das ist doch eine Scheißidee!«

Ich hörte diese Frage nicht zum ersten Mal. Wann immer ich in Deutschland von meinen Plänen erzählt hatte, die Reaktion war immer dieselbe: Kabul? Bist du verrückt? Alle rieten mir davon ab. Ein Kollege, der selbst jahrelang immer wieder nach Afghanistan gereist war, versuchte es mit Gutzureden. Mein Bruder mit Schweigen. Irgendwann übte ich, den Satz »Ich überlege, nach Kabul zu ziehen« möglichst beiläufig auszusprechen. Um bald zu merken, dass es Sätze gibt, die man nicht beiläufig sagen kann. Auch nicht in Kabul.

»Ich liebe meinen Job hier«, antwortete ich dem aufgebrachten Freund. »Immer wenn ich glaube, eine Sache verstanden zu haben, erzählt mir jemand etwas Neues, das mich verwirrt; nichts ist einfach zu erklären, alles ist kompliziert. Ich habe das Gefühl, ständig auf der Suche zu sein. Das mag ich. Und nächstes Jahr: Die Wahlen, der Abzug der NATO-Truppen – egal, wie das wird, da beginnt etwas Neues. Außerdem mag ich dein Land. Ich mag die Witze, die ihr macht. Ich mag die Geschichten, die ihr erzählt, und ich mag, dass ihr sie stundenlang erzählt. Wenn ich in Deutschland bleibe, dann sehe ich das alles nicht, dann lese ich nur von Anschlägen. Keine deutsche Redaktion hat einen Korrespondenten in Afghanistan.«

»Du kannst zu Besuch kommen«, sagte er. »Dann siehst du das alles auch.«

»Du wirst nichts ändern mit deinem Job«, sagte er.

»Ich muss hier leben«, sagte er. »Aber du?«

»Du gefährdest dich unnötig. Ich mache mir Sorgen.«

Nach zwei Stunden verabschiedete er sich und wankte zu seinem Auto. Auf halbem Weg rief er mir zu: »Vergiss, was ich gesagt habe – ich freue mich, wenn du wiederkommst.« Ich hatte dem Freund die Wahrheit gesagt. Aber natürlich ist die Geschichte, wie ich mich dazu entschloss, nach Kabul zu ziehen, eine längere.

Sie beginnt in einem kleinen Büro in einem großen Backsteingebäude in Hamburg, dem Büro der Zeit. Es war meine letzte Woche als Praktikantin im Politik-Ressort, und ich suchte im Internet nach Ideen für eine Geschichte. »Bundeswehr schließt erstes Feldlager in Afghanistan« – das interessierte mich. Ich kannte Afghanistan damals nur aus Büchern und von Erzählungen traumatisierter Soldaten, die ich für ein Interview getroffen hatte, aber über die Bundeswehr hatte ich vorher schon geschrieben. Was machen die Soldaten in den letzten Wochen vor dem Abzug?, fragte ich mich. Worüber denken sie nach? Über den Einsatz? Oder darüber, wie sie am schnellsten nach Hause kommen?

Ich hatte ein Camp vor Augen, das Tag für Tag schrumpfen würde, bis irgendwann nur noch eine zertretene Wiese übrig blieb. Ich malte mir aus, wie ich den letzten Monat mit den Soldaten ausharren würde. Wie ich irgendwann in einen ihrer gepanzerten Wagen steigen und mit ihnen in ihr riesiges Lager nach Masar-e Scharif fahren würde – mit mir das Gefühl, nun endlich verstanden zu haben, was dieser Abzug eigentlich bedeutet.

Es kam etwas anders.

Das Einsatzführungskommando der Bundeswehr genehmigte mir eine zweiwöchige Reise. Neun Tage Masar-e Scharif, fünf Tage Faisabad. Nicht im Oktober, wenn die Soldaten abziehen, sondern Ende Juli, wenn sie mit dem Einpacken gerade mal anfangen würden.

Mein Flug mit der Bundeswehr ging an einem Dienstagmorgen: Köln–Termes, Usbekistan–Masar-e Scharif, Afghanistan. »8 Uhr 30« stand auf meinem Ticket. Und: Drei Stunden früher da sein. Ich quälte mich um kurz vor fünf aus dem Hotelbett und setzte mich ins Taxi. Eine Viertelstunde später kam ich am Militärflughafen an. Alles war dunkel, nicht einmal der Pförtner war da. Ich stellte meinen Rucksack ab und wartete. Dreißig Minuten später kam ein junger Soldat. »Bisschen früh dran, oder?«, sagte er und schmunzelte. Ich hatte in der Zwischenzeit mehrfach mein Ticket gecheckt: 8 Uhr 30, drei Stunden früher da sein. »Nee«, sagte ich, »mein Flug geht um halb neun.«

In der Wartehalle gab es Kaffee, Tee, belegte Semmeln und Schokoriegel. Ich holte mir einen Tee und setzte mich auf einen Plastikstuhl. Eine knappe Stunde später kamen die ersten Soldaten. »Angeblich hat jemand nicht gemerkt, dass die Flugzeiten in Zulu-Zeit angegeben werden, und war zwei Stunden zu früh da«, sagte einer zu seinem Kameraden. Die beiden lachten. Es dauerte ein paar Sekunden, bis ich merkte, dass sie über mich geredet hatten. Und es dauerte noch länger, bis ich begriff, was passiert war: Um weltweit mit einer Uhrzeit rechnen zu können, verwendet die Bundeswehr die Zulu-Zeit. Ich hatte noch nie davon gehört, und erst beim Googeln merkte ich, dass ich auf die deutsche Sommerzeit zwei Stunden hätte draufschlagen müssen, um pünktlich zu sein – und um mich nicht zu blamieren.

Ich holte mir einen zweiten Tee und setzte mich an einen Tisch. Außer mir waren dort: ein Soldat – Anfang fünfzig, seinen Schulterklappen zufolge Major –, seine blonde, etwas rundliche Frau und seine jugendliche Tochter. Jeder von ihnen hatte einen Pappbecher Kaffee vor sich.

»Papa, was machst du dort eigentlich die ganze Zeit?«, fragte die Tochter. »Gute Frage!«, antwortete der Vater. »Auf jeden Fall viel essen.« Schweigen. Ein paar Minuten später kamen drei weitere Soldaten an den Tisch, die den Vater offenbar kannten. Sie fanden schneller ins Gespräch: Wer fliegt wann, wer ist schon da, wer kommt wann zurück? Irgendwann stand die Mutter auf. »Wir gehen dann mal«, sagte sie, mit Tränen in den Augen. Sie umarmte ihren Mann sehr kurz. Die Tochter drückte ihn länger. Dann gingen die Frauen zum Ausgang. Draußen regnete es. »Hast du einen Schirm mitgenommen?«, rief der Mann seiner Frau hinterher. Sie nickte.

Sechs Stunden später lande ich in Termes. Ich schlafe eine Nacht in einem stickigen Container, dann steige ich in die Transall Richtung Masar-e Scharif. Mir gegenüber sitzen drei Männer mit schwarzen T-Shirts. Sonnenbrille, Kaugummi kauend, Arme verschränkt, ziemlich viel Gel in den Haaren. Nach fünfundzwanzig Minuten landen wir in Afghanistan. Das Erste, was ich sehe, sind die riesigen Berge, die das »Camp Marmal« umgeben. Ich komme aus Bayern, ich kenne die Alpen. Aber in Afghanistan sind die Berge so mächtig, schroff und ruhig, dass man eigentlich ein neues Wort für sie erfinden müsste. Bis heute habe ich mich nicht daran gewöhnt. Es gibt Tage, an denen denke ich, dass nur die Berge schuld daran sind, dass ich nach Afghanistan gezogen bin.

Als ich meinen Blick irgendwann von den Bergen losreißen kann, sehe ich unzählige Container und Lagerhallen, überall Stacheldraht, Panzer, Gewehre. Ich komme mir vor, als sei ich in einem riesigen Logistikzentrum gelandet – oder in einem Waffenlager. Es ist nachmittags, die Hitze drückt schwer auf meinen Körper. Überall Staub.

Ich werde von einem Presse-Offizier empfangen, ein Feldjäger aus der Oberpfalz, Anfang dreißig. Er ist wie ich zum ersten Mal in Afghanistan, allerdings schon seit ein paar Monaten. Auf dem Weg zu meinem Zimmer erzählt er mir, vor ein paar Wochen sei eine Journalistin da gewesen, die andauernd gefragt habe, wie viel Sex die Soldaten im Einsatz hätten. »Ich wär dir sehr dankbar, wenn du das nicht machen würdest«, sagt er. »Und bitte schreib nichts über die Partys.« Das Versprechen fällt mir nicht schwer.

Ich bin in einem Zimmer für Journalisten untergebracht: zwei Betten, Schrank, Stuhl, Tisch, WLAN. Dusche auf dem Gang. Der Raum liegt in einem Haus am Rand des Feldlagers, direkt neben dem Denkmal für gefallene Soldaten, über dem die Flaggen der rund zwanzig Nationen wehen, die hier im Camp Marmal stationiert sind. Der Offizier sagt, ich solle erst mal Pause machen und mich ausruhen. In ein paar Stunden werde er mich abholen für einen Rundgang.

Für mich ist im Feldlager alles neu: Panzer, Militärhubschrauber, Soldaten, die mit Maschinengewehren auf den Rücken geschnallt Fahrrad fahren, riesige Transportflugzeuge, ein Zeppelin, der aus der Luft das Camp und die Stadt bewacht. Und im Hangar eine der drei Heron-Drohnen der Bundeswehr. Irgendwann kommen wir an einem leeren Platz vorbei, auf dem gerade ein Soldat ein Sprechpult mit Mikrofon und Deutschlandflagge aufbaut. Ein anderer stellt Fackeln auf. »Sehr schön, ein Kontingentwechsel«, sagt der Presse-Offizier, »das ist ein guter Einstieg.« Als es anfängt zu dämmern, stellen sich knapp zweihundert Soldaten in drei Reihen auf. Links stehen die, die den Einsatz hinter sich haben; rechts diejenigen, die vor ein paar Tagen angekommen sind. Ein General hält eine Rede. Mir ist nur ein Satz daraus in Erinnerung geblieben: »Ob unser Einsatz sinnvoll war, müssen andere beurteilen.« Nach der Rede dröhnt Musik aus den Lautsprechern. »Brothers in Arms« von den Dire Straits.

These mist-covered mountainsAre a home now for meBut my home is the lowlandsAnd always will beSomeday you’ll return toYour valleys and your farmsAnd you’ll no longer burn to beBrothers in arms

Through these fields of destructionBaptisms of fireI’ve witnessed your sufferingAs the battles raged higherAnd though we were hurt so badIn the fear and alarmYou did not desert meMy brothers in arms

Ich habe das Lied schon oft gehört. Doch erst jetzt fällt mir auf, wie treffend der Text die ganze Situation beschreibt.

There’s so many different worlds So many different sunsAnd we have just one worldBut we live in different ones

Now the sun’s gone to hell andThe moon’s riding highLet me bid you farewellEvery man has to dieBut it’s written in the starlightAnd every line in your palmWe are fools to make warOn our brothers in arms

Ich schieße ein paar Fotos und habe zum ersten Mal das Gefühl, etwas über Afghanistan zu begreifen.

In Wahrheit hatte ich in diesem Moment natürlich gar nichts über Afghanistan begriffen. Nur über den Einsatz der Bundeswehr. So gesehen war der Regimentswechsel tatsächlich ein guter Einstieg für die zweiwöchige Reise, denn obwohl der Presse-Offizier sich Mühe gab, mir möglichst viel von Afghanistan zu zeigen, verbrachte ich die meiste Zeit in Hubschraubern und Feldlagern. Mehrmals vergaß ich, in welchem Land ich gerade war. Und das ging nicht nur mir so. Ein Kumpel meines Presse-Offiziers, der im sogenannten Verwaltungsstab des Lagers arbeitete, erzählte mir: »Eigentlich merke ich nur an der Waffe, die ich immer tragen muss, dass ich im Einsatz bin.«

Von Afghanistan sah ich nicht viel. Ich fuhr eineinhalb Stunden mit dem Taxi durch Masar-e Scharif. »Aber auf eigene Verantwortung!«, warnte der Presse-Offizier. Auf der anderen Seite der Fensterscheibe sah ich eine Moschee mit Tausenden blauen, türkisfarbenen und weißen Mosaiksteinen, eine ehemalige Festung der Taliban und den neuen Teil der Stadt, wo eine ganze Siedlung an Baugerüsten hochgezogen wurde. In Faisabad machte ich mit ein paar Soldaten heimlich einen Ausflug auf einen Berg, und ein paarmal fuhr ich durch die Stadt. Ein Basar mit Holzständen, vollbepackte Esel, Frauen in Burka. Weil ich die meiste Zeit im Lager verbrachte, fühlte sich »das da draußen« an wie eine Filmkulisse. Irgendwie fremd, irgendwie berührend, unendlich weit weg und vor allem: Sehnsucht erweckend. Ich wollte den Frauen in die Augen schauen. Ich wollte sagen: »Erzähl mir, was du fühlst, was du erlebt hast, was du über mich denkst, über den Krieg, darüber, was wir falsch gemacht haben!« Stattdessen beobachtete ich sie hinter getöntem Panzerglas. Allein auf der Straße zu laufen schien mir unmöglich während dieser Zeit.

Nach vierzehn Tagen flog ich zurück. Es fällt mir heute schwer, das Gefühl von damals zu beschreiben. Am ehesten vielleicht: Als hätte ich in ein Land gelugt, das ich nie wiedersehen würde. »Leaving the most beautiful country I’ve ever been to«, schrieb ich auf Facebook. Gleichzeitig dachte ich: Du musst noch mal wiederkommen, wenn du wirklich etwas über dieses Land verstehen willst. Denn Afghanen hatte ich ja kaum getroffen.

Kurz nach meiner Rückkehr bot mir die Zeit einen Sechsmonatsvertrag als Redakteurin an, und ich landete wieder in dem kleinen Büro in Hamburg. Nach ein paar Wochen begann ich, an einer Geschichte über deutsch-afghanische »Rückkehrer« zu arbeiten. Junge Leute, die als Kind aus ihrer Heimat geflohen waren und jetzt, während die NATO ihren Abzug plante, beschlossen hatten, zurückzukehren: ein Boxer, eine Ärztin, eine Juristin. Ich flog nach Kabul und begleitete sie beim Yogakurs, beim Wocheneinkauf und bei einer Säuberungsaktion am Fluss.

Ich hatte Respekt vor der Stadt. Bei den Soldaten in Masar-e Scharif war Kabul ein Synonym für den gefährlicheren Teil des Landes gewesen. Als ich nach vier Tagen das erste Mal eine halbe Stunde durch die Straßen lief, kam es mir vor, als würde ich eine neue Welt betreten. Bis dahin hatte ich Kabul ja nur durch die Autoscheibe gesehen.

Ich arbeitete Tag und Nacht in dieser Woche, ich traf Dutzende Leute und ließ mir von ihrem Leben erzählen. Ich staunte bei ihren Geschichten, ich weinte, ich lachte – manchmal alles gleichzeitig. Es kam mir vor, als hätte jemand den »Alles aufsaugen«-Knopf gedrückt, noch mehr: als sei er eingerastet, als klemmte er. Alles, was ich sah, war irgendwie bedeutsam.

»Warum seid ihr zurückgekommen?«, fragte ich die jungen Deutsch-Afghanen. Und alle sagten: »Weil ich hier mehr bewirken kann.« Ich fragte mich, ob das nicht auch für mich zutraf. Damals hatte keine deutsche Redaktion einen dauerhaften Korrespondenten in Afghanistan. »Eine oder keine in Kabul« statt »eine weitere Journalistin im deutschen Mediengewusel« – natürlich wäre das ein Unterschied.

Zurück im kleinen Büro in Hamburg hatte ich immer öfter das Gefühl, am falschen Ort zu sein: Viel denken, viel reden, viel meinen – so hatte ich mir meinen Beruf nicht vorgestellt. Ich wollte erleben, begreifen, verstehen. Rausgehen.

Ich nahm mir vor, nach den sechs Monaten bei der Zeit eine Weile zu kellnern oder den Sommer auf einer Alm zu verbringen. »Jedenfalls muss ich mal raus aus dem Medienbizz«, schrieb ich in einer E-Mail an meine Familie.

Dann fragte mein Chef, ob ich noch zwei Monate dranhängen könnte, Engpass in der Personalplanung. Ich sagte zu – mit der Bedingung, dass ich einen Monat Urlaub dazwischenschieben konnte – und buchte ein Flugticket nach Kabul. »Falls ich doch weiterschreiben sollte«, dachte ich, »dann dort.« Ich hatte keine Vorstellung davon, wie ich mein Leben in Kabul finanzieren könnte, für wen ich arbeiten würde, wer in Afghanistan für meine Sicherheit sorgen sollte. Und es gab viele Tage, an denen mir diese Fragen Angst machten. Aber ich dachte auch: Sobald du dir sicher bist, dass du das wirklich willst, wird schon alles irgendwie klappen. Ich kaufte den Lonely Planet Afghanistan, eine Landkarte und ein Wörterbuch. Ich quälte mich durch die Bedienungsanleitung eines Satellitentelefons und schrieb ein Testament. Dann begannen die vier Wochen Probezeit.

Am Morgen nach dem Whiskey-Abend, am internationalen Terminal des Flughafens Kabul kurz vor dem Boarding für den Rückflug nach Hamburg, merkte ich, dass ich mir das nicht vorstellen konnte: nicht zurückzukommen.

Die Sache war also beschlossen.

*

Seit einem Jahr lebe ich nun in Kabul. Warum ich hergekommen bin? Manchmal denke ich: Es war der Schmerz der Leute, der mich hierhergebracht hat. Genauer gesagt: die Stärke, die sich hinter diesem Schmerz verbirgt. Die Stärke, etwas überlebt zu haben – und immer noch überleben zu müssen.

Ich glaube, dieser Schmerz ist etwas, was viele Deutsche von den Afghanen unterscheidet, nicht Religion, Sprache und Kultur. Selbst wenn ich in Kabul lebe, wenn ich Dari lerne, wenn ich fremde Männer nicht anspreche und Kopftuch trage – mein Bruder wurde nicht vor meinen Augen erschossen, mein Vater nicht bei einem Drohnenangriff getötet. Meine Schwester starb nicht bei der Geburt ihres Sohnes, und meine Neffen gehen in den Kindergarten oder zur Schule. Keiner meiner Verwandten muss auf der Straße arbeiten, im Dreck zwischen Abgasen und Staub. Wenn ich meine Familie einmal länger nicht sehen kann, dann weil ich zu viel arbeite, und nicht, weil es auf den Straßen zu gefährlich ist, um zu ihnen zu fahren. Ich bin wegen eines Jobs von einer Stadt in die andere gezogen. Nicht, weil in der einen wieder Krieg ausgebrochen ist.

Ich kann den Krieg beobachten, ich kann versuchen, ihn zu beschreiben; seit ich in Kabul wohne vielleicht etwas aufrichtiger und näher, jedenfalls hoffe ich das. Aber ich habe keine Ahnung davon, wie es ist, im Krieg zu leben.

Je mehr Menschen ich kennenlerne, die den Krieg erlebt haben, je mehr dieser Menschen ich in mein Herz schließe und je mehr ich von ihren Geschichten erfahre, desto weniger glaube ich daran, dass wir Deutschen beurteilen können, was unser Einsatz am Hindukusch gebracht hat.

Ich denke, es gibt bessere Experten für diese Frage: die neunjährige Madina etwa, die vor dem NATO-Hauptquartier in Kabul jeden Tag bunte Armbänder verkauft; Kommandeur Hakimi, dem die Leute unter der Hand wegsterben, seit die Bundeswehr aus Faisabad abgezogen ist und die Aufständischen wieder stärker werden; oder der Pförtner Nabi, der seit einundzwanzig Jahren für Deutsche arbeitet, die zum Geldverdienen nach Kabul kommen. Sie alle haben den deutschen Einsatz erlebt.

Es sind gleichzeitig die Menschen, die mich berührt haben während meiner Zeit in Kabul. Ich habe nicht nach ihnen gesucht – sie sind mir einfach irgendwann über den Weg gelaufen. Einige von ihnen sind gute Freunde geworden, andere habe ich nie wiedergesehen.

Ihre Geschichten erheben deshalb nicht den Anspruch, Deutschlands Einsatz in Afghanistan umfassend zu erklären, erst recht nicht das Land selbst. Es sind nur Beobachtungen und Gedanken. Ich habe etwas mehr als ein Jahr hier gelebt, und große Teile des Landes habe ich nie bereist. Ich spreche eine von zwei Sprachen, und auch die nicht perfekt. Ich weiß, dass ich nicht alles gesehen, gefühlt und erlebt habe, was wichtig wäre, um Afghanistan zu begreifen.

Ich war einfach nur eine Zeit lang unterwegs, auf der Suche. Meistens wusste ich gar nicht, wonach. Gefunden habe ich trotzdem viel.

TEIL 1WIR UND DIE

Schneeballschlacht. Bamiyan

Ein Freund und ich warten vor den Mauern einer Dorfschule. Ein kleiner Stein fliegt an uns vorbei. »Geh da rüber!«, sagt der Freund. Dann nimmt er einen faustgroßen Erdklumpen und wirft ihn über die Mauer, dorthin, wo er die Kinder vermutet.

Ich muss lachen. »Jalil, der war viel zu groß! Nimm wenigstens einen kleineren!«

Er wirft einen zweiten großen Klumpen, einen dritten, einen vierten. Dann kommt er zu mir und sagt: »Weißt du, Ronja, das ist Afghanistan. Wenn dich jemand anpöbelt und du sagst ›Oh, kein Problem!‹, dann wird er erst recht weitermachen. Du musst dich wehren!«

»Damit der andere weiß, dass du Macht hast?«

»Ja, genau.«

»Aber ich schätze, als Frau mach ich da nicht mit, oder?«

»Ja, genau.«

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