Ausgewählte Erzählungen von Gustave Flaubert - Gustave Flaubert - E-Book

Ausgewählte Erzählungen von Gustave Flaubert E-Book

Gustave Flaubert

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Beschreibung

Die 'Ausgewählten Erzählungen von Gustave Flaubert' bieten dem Leser einen faszinierenden Einblick in die literarische Welt des renommierten französischen Autors. Flaubert, bekannt für seinen präzisen und detaillierten Schreibstil, präsentiert eine Vielzahl von Erzählungen, die sich mit Liebe, Leidenschaft, Moral und Psychologie befassen. Seine Geschichten zeichnen sich durch eine tiefgründige Charakterentwicklung aus, die den Leser in die Gedankenwelt seiner Protagonisten eintauchen lässt. Der literarische Kontext von Flauberts Erzählungen spiegelt die Realität des 19. Jahrhunderts wider und präsentiert kritische Einblicke in die Gesellschaft seiner Zeit.

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Gustave Flaubert

Ausgewählte Erzählungen von Gustave Flaubert

Die besten Geschichten des Autors von Madame (Frau) Bovary, Salambo und Die Erziehung des Herzens: oder auch Die Schule der Empfindsamkeit

Books

- Innovative digitale Lösungen & Optimale Formatierung -
2017 OK Publishing
ISBN 978-80-272-1259-0

Inhaltsverzeichnis

Leidenschaft und Tugend

Drei Geschichten:

Ein einfältig Herz
Die Legende von Sankt Julian dem Gastfreien
Herodias

Leidenschaft und Tugend

Inhaltsverzeichnis

Philosophische Erzählung

Thou canst not speak of that thou dost not feel.Shakespeare, Romeo und Julia, III. Akt.

Kap. 1
Kap. 2
Kap. 3
Kap. 4
Kap. 5
Kap. 6
Kap. 7
Kap. 8
Kap. 9
Kap. 10
Kap. 11

Kap. 1

Inhaltsverzeichnis

Sie hatte ihn schon zweimal, glaube ich, zu Gesicht bekommen: das erstemal auf einem Ball beim Minister, das zweitemal im »Français« – und obwohl er weder ein überragender Mensch noch ein schöner Mann war, kam er ihr doch immer wieder in den Sinn, wenn sie abends, nachdem sie ihre Lampe ausgelöscht hatte, noch einige Minuten in Gedanken versunken blieb und vor sich hin träumend dalag, ihr dichtes Haar gelöst auf ihren nackten Brüsten, den Kopf zum Fenster hingewendet, durch das die Nacht eine fahle Helle hereinwarf, die Arme frei herabhängend, und ihre Seele hin und her trieb zwischen schauernden, aus dem Dunklen und Ungewissen kommenden Erregungen, die, wie verwirrende Laute und Rufe, aus den Weiten der herbstlichen Dämmerungen sich erheben ...

Alles andere war er als ein Ausnahmemensch, wie sie in den Büchern und Dramen leben. Er hatte ein ziemlich trockenes Innere, war ein rechter Durchschnittsgeist und zu alledem – ein Chemiker. Aber er beherrschte von Grund aus jene Theorie der Verführungskunst in allen Regeln, kurzum den Chic – um das treffende Wort des Volksmundes zu gebrauchen –, womit ein gewandter Mann noch immer zu seinen Zielen gelangt.

Das war längst nicht mehr jene wohlgeübte Spielart der Schäferliebe im Stil Ludwigs des Fünfzehnten, deren erste Lehrstunde anhebt mit Seufzern, übergleitet in die zweite mit zärtlichen Briefchen und es so weitertreibt bis zur Lösung des geschürzten Knotens – eine kunstvolle Wissenschaft, die uns so ausgezeichnet vorgestellt wird im »Faublas«, in den leichtbeschwingten Komödien »zweiten Ranges« jener Zeit, in den »Moralischen Geschichten« eines Marmontel. Heutzutage geht der Mann geradeswegs los auf eine Frau, faßt sie ins Auge, findet sie »verführerisch«, macht die Wette mit seinen Freunden: Ist sie die Frau eines anderen, wird die ganze Farce nur noch um so reizvoller! So führt er sich ein bei ihr, bringt ihr Romane mit, geleitet sie an seinem Arm ins Theater, legt dabei immer den höchsten Wert darauf, sich irgend so etwas Erstaunliches, lächerlich Unerhörtes, noch nie Dagewesenes zu leisten; und dann geht er von Tag zu Tag mit immer größerer Freiheit bei ihr ein und aus, macht sich zum Freund des Hauses, des Ehemannes dieser Frau, der Kinder, ja, der gesamten Dienerschaft. Zuletzt merkt die Arme die Falle und will ihn fortjagen wie einen Lakaien, aber da spielt er seinerseits den Entrüsteten, droht ihr, die erstbesten harmlosesten paar Zeilen zu veröffentlichen, denen er selbstverständlich den infamsten Sinn zu unterschieben weiß, ganz gleich, wem das Briefchen zugedacht war. Ja, Wort um Wort wird er ihrem Manne das hinterbringen, was ihr da entschlüpft sein mag in irgendeinem Moment der Koketterie, der Selbstsicherheit, des bloßen Wunschtraums .... Die grausamste Herzlosigkeit eines Anatomen ist das – aber man hat eben Fortschritte in den Wissenschaften gemacht, und es gibt Leute, die ein Herz kunstvoll zerschneiden können wie ein lebloses Stück Fleisch.

Und da weint sie, diese arme verlorene Frau, und fleht und bettelt. – Kein Verschonen für sie noch für ihre Kinder, noch auch für ihren Mann, ihre Mutter! Unbeugsam bleibt man, ein Mann, der Gewalt, ja Gewaltsamkeit anwenden kann: Überall kann er sich damit brüsten, daß sie seine Geliebte ist! In allen Journalen kann er es publik machen, in seinem Tagebuch kann er sich darüber auslassen, lang und breit, und – im Bedarfsfalle kann er es sogar unter Beweis stellen!

Halbtot, wie sie ist, liefert sie sich ihm denn aus. Er kann sie sogar Spießruten laufen lassen vor seinen Bediensteten, die lächelnd hinter ihren Livreeaufschlägen einander zuzwinkern und flüstern, wie sie – zum frühen Morgen schon – sie so kommen sehn zu ihrem Herrn und Gebieter. Und dann, wenn er sie, zerknickt und niedergesunken, sich selbst überläßt mit ihren Gewissensbissen, ihren Gedanken über das Einst, den Enttäuschungen, die ihr die Liebe brachte, dann wendet er sich ganz von ihr, will sie nicht mehr wiederkennen, gibt sie kalt ihrem Unglück preis. Ja, manchmal haßt er sie geradezu; aber er hat seine Wette gewonnen: Er ist eben einer, der überall sein Glück macht!

Nicht nur ein Lovelace also ist er, wie man vor sechzig Jahren gesagt hätte, sondern vielmehr: ein Don Juan, was noch großartiger ist.

Der Mann, der bis ins letzte diese Kunst und Wissenschaft beherrscht, der sich in ihren Schlichen und geheimsten Kniffen, die alles in Bewegung setzen, auskennt, ist heutzutage gar nicht selten. Es ist ja wirklich so leicht,eine Frau, und zumal eine, die einen liebt, zu verführen und sie dann ihrem Schicksal zu überlassen wie all die andern, erbarmungslos, wie so einer ist. Es gibt doch so viele Mittel, Liebe für sich zu erregen, durch was es immer sei: durch Eifersucht, Eitelkeit, durch irgendwelche Vorzüge oder Talente, herrischen Stolz, Schrecken und Fürchtenmachen – oder ganz einfach durch geckenhafte Manieren, eine lässig geschlungene Krawatte, Weltüberdruß, den man zur Schau trägt, durch den eleganten Schnitt seiner Kleidung, durch sein feines, gut sitzendes Schuhwerk! Denn wie viele solcher Gents verdanken ihre Eroberungen nicht einzig und allein der Geschicklichkeit ihres Modeschneiders oder ihres Maßschuhmachers!?

Ernest hatte bemerkt, wie Mazza auf seine Blicke lächelte. Überall verfolgte er sie damit. Auf dem Ball, zum Beispiel, langweilte sie sich, wenn er nicht da war. Nur sollte man nicht meinen, er machte darin den Anfänger und betätigte sich damit, die »Reine und Weiße« ihrer Hand mit Lobesworten zu erheben oder die Schönheit ihrer Ringe zu bewundern, wie es ein Primaner hätte fertigbringen können, nein, er riß vor ihr ganz einfach alle anderen Frauen, die vorübertanzten, herunter, hatte von jeder die unglaublichsten und unerhörtesten Abenteuer zu berichten, und all das ließ sie auflachen und schmeichelte ihr insgeheim, denn sie meinte, über sie hätte keiner so etwas zu sagen. Dann wieder schwindelte ihr wie am Rand eines Abgrundes; und sie faßte die schönsten Vorsätze, ihn von sich zu halten, ihn nie wieder sehen zu wollen, aber der Wille und die Tugend verflüchtigen sich wie ein Hauch beim ersten Lächeln eines Mundes, den man liebt ....

Bald hatte er auch heraus, daß sie schwärmte – für alles, was poesievoll war, das Meer, das Theater, Byron; und so zog er seine Bilanz aus allen Einzelbeobachtungen: »Eine wirklich Naive! Die habe ich sicher ...!« Und sie hatte ebensooft bei sich gesagt, jedesmal wenn sie ihn von sich gehen sah und die Tür ihres Salons sich so rasch wieder hinter seinen Schritten schloß: »Oh, wie ich dich liebe ...!«

Setzen wir dem noch hinzu, daß Ernest es bald dahin brachte, sie auch an die Phrenologie und an den Magnetismus glauben zu machen, sie, Mazza, die Frau von dreißig Jahren. Stets hatte sie bis jetzt rein und treu sich ihrem Manne verbunden gefühlt und alle Wünsche von sich gewiesen, die der Alltag in ihrer Seele aufkeimen lassen wollte und die am andern Morgen wieder erstorben waren. Sie war an einen Bankier verheiratet; und die Hingabe in den Armen dieses Mannes war ihr zu einer Pflicht geworden, nichts anderes als eben dies: für ihre Hausangestellten eine wachsame Herrin und für ihre Kinder eine gute, auf ihr leibliches Wohl bedachte Mutter zu sein.

Kap. 2

Inhaltsverzeichnis

Lange fand sie ihr Gefallen und ihr Genüge an diesem Zustand verliebter und halb im Dunkel des Gefühls bleibender Willfährigkeit; der Reiz des Neuen gefiel ihr; und sie spielte lange mit dieser Liebe, länger als mit jeder andern. Und zu guter Letzt kam es denn dahin, daß sie sich stärker und stärker davon einnehmen ließ, zuerst aus Gewohnheit, dann aus Bedürfnis. Es ist gefährlich, mit dem Herzen Spaß zu treiben und zu spielen, denn die Leidenschaft ist eine Feuerwaffe, die losbrennt und tötet, gerade wenn man meint, sie könne gar kein Unheil anrichten.

Eines schönen Tages stellte sich Ernest schon ziemlich zeitig bei Madame Willer ein. Ihr Mann war auf der Börse, ihre Kinder waren auf einem Spaziergang. Sie befand sich mit ihm allein. Den ganzen Tag blieb er bei ihr; und am Abend, als er gegen fünf von ihr ging, wurde Mazza traurig, versank in ihre Träume und konnte die ganze Nacht keine rechte Ruhe finden.

Lange, wohl viele Stunden, waren sie zusammengeblieben, im Geplauder. Sie hatten einander ihre Liebe gestanden, poetisch geschwärmt, ihre Gedanken ausgetauscht von starker, mächtig bindender Liebe, wie man sie bei Byron erlebt, und schließlich gemeinsam den gesellschaftlichen Zwang beklagt, der sie, die innerlich miteinander so ganz Verbundenen, doch für das Leben trennte; und dann hatten sie einander ihr Herz ausgeschüttet über alle Nöte und Qualen, sprachen von Tod und Leben, waren von der Natur auf den Ozean gekommen, der durch die Nächte schäumte und tobte .... Und so waren sie, verständnisinnig, sich endlich klargeworden, was die Welt sei und was ihre Leidenschaft zueinander bedeute; und ihre Blicke hatten sich mehr noch sagen können als ihre Lippen, die sich immer wieder berührten ....

Es war an einem Märztag, einem jener langen, düsteren, grämlichen Tage, die in die Seele eine vage Bitternis träufeln. Ihre Worte hatten etwas Trauriges: Die von Mazza vor allem hatten eine melancholische Gleichmut in sich. Jedesmal wenn Ernest ihr sagte, daß er sie für sein ganzes Leben liebe, und er sich dabei ein Lächeln, einen Blick, einen Liebesruf entschlüpfen ließ, antwortete Mazza ihm nichts darauf. Schweigend blickte sie ihn an, mit ihren beiden großen dunklen Augen, ihrer blassen Stirn, ihren halbgeöffneten Lippen.

An diesem Tage fühlte sie sich bedrängt, als wenn eine unsichtbare Hand ihr auf der Brust lastete. Sie verspürte in sich eine Bängnis, aber sie konnte sich nicht klarwerden, was sie so ängstigte; und sie überließ sich diesem Gefühl, das sich mischte mit einer seltsamen Empfindung der Liebe, des Träumens und dunklen Hindämmerns. Einmal wich sie, erschreckt von dem Lächeln Ernests, in ihrem Lehnstuhl zurück; dies Lächeln war fast tierhaft und furchterregend wild; doch er beugte sich sofort zu ihr, zog ihre Hände an sich und hob sie zu seinen Lippen empor; sie errötete und sagte mit einem Ton erkünstelter Ruhe:

»Sollte Sie irgendwelche Lust anwandeln, mir den Hof zu machen?«

»Ihnen den Hof machen – Mazza, Ihnen?«

Diese Antwort wollte alles sagen.

»Sollten Sie für mich etwa – Liebe empfinden?«

Er betrachtete sie lächelnd.

»Ernest, Sie tun unrecht ....«

»Wieso?«

»Mein Mann! Denken Sie auch daran?«

»Na schön doch, Ihr Mann! Was will das besagen?«

»Ich muß ihn lieben!«

»Das ist leichter gesagt als getan .... Das heißt doch: Wenn das Gesetz befiehlt ›Du sollst ihn lieben!‹, so kommt Ihr Herz dem nach, gefügig wie ein Regiment, das man eine Übung ausführen läßt, oder wie ein Stück Eisen, das man mit beiden Händen biegt – und wenn ich Sie liebe ...«

»Schweigen Sie, Ernest, halten Sie sich vor Augen, was Sie einer Frau schuldig sind, die Sie bei sich einläßt wie ich, schon am Morgen, ohne daß ihr Mann dabei ist, ganz allein wie sie ist, Ihrem Anstandsgefühl sich anheimgebend ...«

»Ja, und wenn ich Sie nach meiner Art liebe, dann darf es wohl nun nicht mehr sein, daß ich Sie liebe, nur weil es eben so und nicht anders sein darf – aber wäre das sinnvoll und gerecht?«

»Ah, Sie haben ja ganz wunderschöne Vernunftgründe dafür, mein lieber Freund!« sagte Mazza, neigte ihren Kopf auf ihre linke Schulter und ließ dabei in ihren Fingern ein Elfenbeinetui spielen.

Eine Locke ihres Haares löste sich und glitt auf ihre Wange; sie warf sie mit einer anmutig brüsken Bewegung ihres Kopfes nach rückwärts. Mehrere Male hatte sich Ernest erhoben, nach seinem Hut gegriffen, als wollte er gehen. Dann setzte er sich wieder und nahm sein Geplauder von neuem auf.

Oft brachen alle beide plötzlich ab und schauten einander lange schweigend in die Augen, atmeten kaum, wie beseligt in sich und trunken, eines von des anderen Blicken; und dann lächelten sie sich an.

Als Mazza sah, wie Ernest ihr zu Füßen auf den Teppich des Zimmers niedergesunken war, als sie sah, wie sein Kopf auf ihren Knien lag, mit dem zurückgelegten Haar, wie seine Augen dicht an ihrer Brust waren, seine weiße faltenlose Stirn da an ihrem Mund sich bog, war ihr für einen Moment, als verginge sie vor Glück und Liebe, als müsse sie gleich seinen Kopf in ihre Hände nehmen, ihn an ihr Herz pressen und mit ihren Küssen bedecken.

»Morgen – ich schreibe dir....!« flüsterte Ernest.

»Adieu!«

So ging er.

Mazza blieb, Unentschlossenheit in der Seele, hin und her treibend zwischen seltsam fremden, beklemmenden Gefühlen, dunklen Vorahnungen, unausdrückbaren Traumbildern. In der Nacht wachte sie auf, die Lampe brannte noch und warf einen leuchtend runden Lichtfleck an die Zimmerdecke; er schwankte zitternd in sich selbst, wie das Auge eines Verdammten, der einen mit seinem Blick anstarrt. Lange lag sie so, bis es Tag wurde, hörte, Stunde um Stunde, alle Glocken schlagen. Alle Laute der Nacht drangen an ihr Ohr: das Fallen des Regens, der gegen die Mauern klopft, die Windstöße, die durch die Nacht fauchen und wirbeln, das Erzittern der Fensterscheiben, das Ächzen der Bettstatt unter jeder ihrer Bewegungen, wenn sie sich auf der Matratze von einer Seite auf die andere wälzte und keine Ruhe fand vor all den bedrängenden Gedanken, den alpschweren, schreckenden Bildern und Gespinsten des Wach-Traums, die sie dichter und dichter umwallten.

Wer hat nicht in den Stunden fiebernden Wahns sie verspürt, diese innersten Bewegungen des Herzens? Diese Zuckungen einer Seele, die unaufhörlich sich windet unter den unaussprechlichsten Gedanken, die so voll sind von Drangsal und Wollust zugleich – so ungreifbar zunächst und so vage wie ein Phantom? Doch nur zu bald nimmt solch ein Schemen immer festere Formen an, verleiblicht und verkörpert sich sozusagen, wird zum Bilde, zu einem Gebilde, das dich weinen und aufstöhnen läßt. Wer wohl hat es noch nie erlebt: in heißen, glühenden Nächten, wenn die Haut ein einziger Feuersbrand ist und die Schlaflosigkeit in dir wühlt, dieses Etwas zu Füßen deines Lagers, diese fahle Traumgestalt, die dich tieftraurig, unablässig anblickt? Oder aber sie erscheint dir in festlichen Gewändern, so wie du sie auf einem Ball hast tanzen sehn; oder umweht von schwarzen Schleiern und weinend: Und du erinnerst dich wieder ihrer Worte, des Tones ihrer Stimme, des sehnenden Ausdrucks ihrer Augen.... Arme Mazza! Zum ersten Male fühlte sie, daß sie liebte, daß all das ihr zum Bedürfnis ihres Herzens werden wollte – und bald zu einer Wonne, ja, zu einer wahren Gier. Aber in ihrer Einfalt und Unwissenheit spann sie sich nur allzu rasch in eine glückselige Zukunft hinein, in ein von Frieden erfülltes Dasein, wo die Leidenschaft ihr zugleich mit der edelsten Wollust die höchste Lebensfreude geben würde.

Und wahrhaftig – wird sie nicht wunschlos glücklich leben können in den Armen dessen, den sie liebt, und wenn sie dabei ihren Mann hintergeht? ›Was bedeutet all das‹, dachte sie, ›neben der Liebe –?‹ Und doch bereitete ihr diese Wonne des Herzens zugleich Pein und Qual, je mehr sie hineinversank – wie sie die spüren, die mit Lust sich berauschen und die der Trunk innerlich verbrennt. Oh, wahrhaftig, wie würgend und bitter sie sind, diese wilden Verzückungen des Herzens, dieses Hangen und Bangen der Seele zwischen der Welt der Tugend, die ihr entschwinden will, und der Zukunft der Liebe, die immer drängender naht....

Am darauffolgenden Morgen bekam Mazza einen Brief: Er war aus seidig glänzendem Papier, durchduftet von Rosen- und Moschushauch, und er war gezeichnet mit einem ›E‹, das sich ganz in Geschnörkel einspann. Ich weiß nicht, was er enthielt, aber Mazza las den Brief wieder und wieder, immer noch einmal wendete sie die beiden Seiten um, ließ ihren Blick ruhen auf den Stellen, wo er gefaltet war, sog ganz berauscht den balsamischen Wohlgeruch in sich ein, der ihm entströmte.... und dann drückte sie ihn zu einer kleinen Kugel zusammen und warf ihn ins Feuer. Das veraschende Papier flog auf, schwebte höher und höher, hielt sich unbeweglich eine Weile in der Luft, flockte sacht dann wieder in die Tiefe und breitete sich schließlich auf den Feuerböcken nieder wie ein weißer, fein gekräuselter Gazeschleier.

Ernest liebt sie! Er hat es ihr gesagt! Oh, wie glücklich sie ist, der erste Schritt ist getan, die andern werden nicht viel Mühe und Überwindung kosten. Sie kann ihn jetzt ansehen, ohne zu erröten; sie braucht nicht mehr ihre Zuflucht zu nehmen zu so viel Vorsichtsmaßnahmen, zu solch halb lockendem, halb fernhaltendem, kaum merklichem Mienenspiel der Frau, um sich lieben zu lassen. Er kommt ganz von sich aus, von selbst gibt er sich ihr ganz – ihre Scham ist geschont! Und diese Scham ist es, die immer den Frauen bleibt, die sie hüten, zutiefst in sich, selbst noch in der brennendsten Liebe, der glühendsten Wollust, wie ein letztes Heiligtum der Liebe und der Leidenschaft, in dem sie wie unter einem Schleier alles das verstecken und verbergen, was hemmungslos Entfesseltes in ihnen und weibisch Schwaches ist.

Einige Tage darauf überquerte fast im Eilschritt eine verschleierte Frau den Pont-des-Arts. Es war in der siebenten Morgenstunde.

Nachdem sie lange gelaufen war, blieb sie vor dem Portal eines Hauses stehen und fragte nach Monsieur Ernest.... Er war nicht ausgegangen. Sie stieg hinauf. Die Treppe kam ihr unendlich lang vor; als sie in den zweiten Stock gelangt war, hielt sie sich am Geländer fest und spürte, wie ihr die Sinne schwinden wollten. Ihr war, als drehe sich alles da rings um sie im Kreise und als flüsterten leise Stimmen zischelnd ihr in die Ohren.... Mit zitternder Hand riß sie an der Klingel. Als sie das stoßartige, durchdringende Geschepper hörte, war es wie ein Echo, das in ihrem Innern widerhallte: als durchzuckte plötzlich ihr Herz ein elektrischer Schlag.

Endlich tat sich die Tür auf; Ernest war es selbst. »Ah! Sie sind es, Mazza?«

Sie gab keinen Laut von sich; totenblaß stand sie da, ganz von Schweiß bedeckt. Ernest betrachtete sie kalt und ließ dabei die Seidenkordel seines Morgenrocks durch die Luft kreiseln. Es war ihm höchst unangenehm, sich irgendeine Blöße zu geben.

»Bitte...!« sagte er endlich.

Er nahm sie beim Arm und drängte sie fast mit Gewalt auf einen Sessel. Nach einem Augenblick des Schweigens raffte sie sich zu einer Erklärung auf:

»Ernest, ich bin gekommen, um Ihnen das eine zu sagen: Dies ist das letztemal, daß ich mit Ihnen spreche, es muß sein, daß Sie sich von mir fernhalten, daß wir uns nie wiedersehen....«

»Weshalb?«

»Weil Sie mir eine schwere Last bedeuten, weil Sie mich innerlich erdrücken, weil Sie mir damit das Leben nehmen....!«

»Ich? Wieso denn das, Mazza?«

Er erhob sich, zog die Fenstervorhänge zu und schloß die Tür.

»Was tun Sie?« rief sie mit Entsetzen.

»Was ich da tu'?«

»Ja!«

»Nun, Sie sind bei mir hier. Mazza, Sie sind doch zu mir gekommen. Oh, kein Leugnen, ich kenne die Frauen!« sagte er lächelnd.

»Sprechen Sie sich nur ganz aus!« versetzte sie voll Abweisung.

»Was denn noch, Mazza, das sagt doch alles!«

»Und Sie haben auch noch die.... die Stirn, mir das alles so ins Gesicht zu sagen, einer Frau, die Sie zu lieben vorgeben....?«

»Verzeih, o verzeih!«

Er kniete vor ihr nieder und sah ihr lange in die Augen. »Aber ja doch, ja, du, mein Du, ich liebe dich ja auch und mehr als mein Leben! Sieh, mit Leib und Seele ganz der Deine –!«

Und dann gab es, zwischen den vier Wänden da, hinter den Seidenvorhängen, auf dem Lehnsessel, mehr Liebesbeteuerungen, Küsse, berauschende Liebkosungen, brennende Wollust, als es braucht, um toll zu machen und hinsterben zu lassen. Und dann, als er sie, mit seinem festen Griff, sich zu eigen genommen und sie in seinen Armen hatte, die Atemlose, Schlaffe, Zerbrochene, immer wieder ihre Brust gegen seine gepreßt hatte und sie so in seinen Umarmungen hatte ganz vergehen sehn, ließ er sie allein und ging seiner Wege.

Am Abend hielt er unter Freunden, bei Véfour, ein ausgezeichnetes Souper, auf dem die Propfen knallten und der Champagner in Strömen floß; beim Dessert hörte man ihn ganz laut sagen: »Herrschaften, da habe ich mal wieder eine....!«

Sie war nach Hause gegangen, Trauer in der Seele, die Augen voll Tränen, nicht über ihre verlorene Ehre – dieser Gedanke peinigte sie nicht einmal; sie hatte sich gleich gefragt, was Ehre überhaupt sei, und im Grunde nur ein Wort darin gesehen... sie hatte bald darüber hinweggefunden. Aber sie dachte an all die aufwühlenden Erregungen, die sie da gehabt hatte, und spürte nun, wie sie so darüber nachsann, nichts anderes mehr als Enttäuschung und Bitternis. ›Oh, das ist das nicht, was ich mir erträumt hatte!‹ sagte sie vor sich hin.

Denn sie hatte das Empfinden, nun, wo sie sich aus den Armen ihres Geliebten wieder gelöst hatte, daß in ihr etwas zurückgeblieben war von der Berührung mit seinen zerknitterten Kleidern, etwas Stumpfes, Mattes, wie es der Blick bekommen hatte – daß sie aus schwindelnden Höhen herabgefallen war, daß hier die Liebe noch nicht zu Ende sein könne. So fragte sie sich weiter, ob es hinter der Wollust nicht doch etwas noch viel Größeres zu erleben gäbe, über das Fleischliche hinaus viel edlere, herrlichere Freuden, denn sie hatte einen unstillbaren Durst nach unendlicher Liebe in ihrer Leidenschaft ohne Maßen. Aber als sie nun sah, daß Liebe nicht viel mehr war als ein Kuß, eine Zärtlichkeit, ein Augenblick des Wonnetaumels, in dem sich, unter Schreien der Lust, wie in eins verschlungen, der Liebende und die Geliebte miteinander wälzen, und daß dann alles wieder aus war, der Mann sich erhebt, das Weib davongeht und daß die Leidenschaft kaum etwas anderen bedürfe als zweier Leiber und ihrer Verzückungen, um zwischen Rausch und Befriedigung aufzuleben und zu vergehn, da wollte Überdruß und schmerzliche Qual ihre Seele erfassen, wie sie Verhungernde überkommt, die nichts mehr finden, womit sie sich sättigen können.

Aber sie ließ bald ab von all solchem Rückschweifen ins Vergangene und richtete ihr Sinnen auf nichts als das lächelnde Jetzt. Sie schloß die Augen über dem, was nicht mehr war, schüttelte wie ein Nachtgespinst die alten, nie enden wollenden Träume von sich, die vagen, ungreifbaren Bedrängnisse, und überließ sich ganz dem Strudel, der sie fortriß.... Und so fühlte sie sich bald fortgetragen, hinüber in jenen Schwebezustand des unbeschwerteren Vorsichhindämmerns, in diesen Halbschlummer, in dem man spürt, daß man einschläft, trunken – und süß gewiegt, daß die Welt immer weiter von einem entweicht, während man allein wie in einem Nachen ruht, den die Welle sacht dahinschaukelt und den der Ozean mit sich entführt... Sie dachte nicht mehr an ihren Mann noch an ihre Kinder, noch weniger an ihren Ruf, den nun ihre Geschlechtsgenossinnen mit lachenden Zähnen in den Salons zerrissen und die jungen Männer, die Freunde von Ernest, in ihren Kaffeehäusern und Kaschemmen mit ihren Zoten besudelten. Ihr aber erfüllte mit einem Male das Innere mehr und mehr eine Melodie, die ihr in der Welt und in ihrer Seele bis dahin unbekannt war; und sie sah neue Welten aufsteigen, unermeßliche Räume, Horizonte ohne Grenzen: Ihr war, als wäre das alles geschaffen für die Liebe, als würden die Menschen zu Geschöpfen einer höheren Ordnung, ihren Gefühlen, ihren Leidenschaften nun erst ganz erschlossen, als wären sie gut nur um dessentwillen und als sollten sie nur leben, um dem Herzen Genüge zu tun.... Ihren Mann liebte sie noch immer, ja sie schätzte ihn nur noch mehr; ihre Kinder erschienen ihr anmutig, doch sie empfand für sie nur eine Zuneigung, wie man sie für die von einem anderen übrig hat.

Von Tag zu Tag spürte sie, wie das Gefühl ihrer Liebe wuchs, stärker war als noch am Abend zuvor, daß es für sie zum nicht wegzudenkenden Bedürfnisse wurde, daß sie nicht hätte leben können ohne dies alles. Aber die Leidenschaft, mit der sie anfangs nur lachend gespielt hatte, wurde ernst, schauerlich ernst in dem Maße, wie sie von ihrem Herzen Besitz ergriff. Bald wurde sie zu einer gewalttätigen Liebe, einer wilden Entschlossenheit, ja, zu einer rasenden Gier. In ihr war so viel Feuer und Glut, so viel ungeheuerliches Verlangen, ein solches Brennen nach Wonnen, nach Wollüsten, die sich regten in ihrem Blut, in ihren Adern, in den Fibern unter ihrer Haut, bis in ihre Fingerspitzen, daß es sie trunken und toll, ja wie von Sinnen machte, so, als wollte ihre Liebe alle Grenzen der Natur sprengen. Ihr war, wenn sie sich verschwendete in all den Liebkosungen und Wollüsten, in den Liebesbränden fiebererfüllter, glühender Nächte sich wälzte, in der lodernden Leidenschaft sich verlor, als tue sich ihr eine Welt voll unermeßlicher Freuden und Wonnen auf.

Oft im Taumel der Verzückungen schrie sie laut, das Leben sei Leidenschaft, nur Leidenschaft, und die Liebe sei ein und alles für sie! Und dann bestürmte sie, aufgelösten Haares, brennenden Glanz im Blick, mit wogender Brust, von Schluchzern durchschüttelt, ihren Geliebten mit Fragen: ob er sich nicht mit ihr wünschte, daß sie Jahrhunderte durch, so innig vereint, eins beim andern leben, ganz für sich, zu zweit, auf dem höchsten Bergesgipfel, auf ragendem Fels, unter dem tief unten die Wogen heranrauschten und wieder zerschellten –? Ob sie beide nicht so eins werden wollten wie der Himmel und die Natur und mit dem starken Gestöhn des Sturms ihre Seufzer der Lust ewig mischen –?! Und dann blickte sie lange ihn an und verlangte nach neuen Küssen, neuen Umarmungen und sank in seine Arme, stumm und vergehend.

Und wenn hernach an solchem Abend ihr Ehegatte seelenruhig, mit heiterer Stirn in ihr Zimmer trat und ihr erzählte, was er heut' alles für gute Geschäfte gemacht, für Gewinne für sich eingestrichen, wie günstig er eine Ferme erhandelt und eine Rente an den Mann gebracht hatte und daß er sich nun einen Leibdiener mehr halten, noch zwei Luxuspferde für seine Equipagen leisten könne – wenn er ihr unter derartigen Worten und Gedanken nahte, sie an sich ziehen wollte und sie seine Liebe und sein Leben nannte, ah, dann packte eine rasende Wut ihre Seele! Sie verwünschte ihn und stieß ihn voll Ekel von sich mit seinen Zärtlichkeiten und Küssen, die kalt und schauerlich waren wie die eines Affen.