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In diesem Buch zieht B. K. Tragelehn versonnen und verschmitzt, hellwach für die Finsternisse der Zeit, an seiner Zigarre und erzählt. Wieder. Noch einmal. In Gesprächen mit Hans-Dieter Schütt wandert er durch sein Leben und besteht auf die Stimmung eines Abendspaziergangs. Flankiert werden die Gespräche durch Texte von Josef Bierbichler und Friedrich Dieckmann. Der 1936 in Dresden geborene Regisseur, Dichter und Übersetzer: Das ist Lust am Widerspruch, Begehren nach dem Paradox, Freude an frivoler Verweigerung: "Wenn alle dafür sind, bin ich auch dagegen." Am Eis der Zeit erhitzt er seine Poesie. Ein Komödiant mit simplizischem Talent. Für den letzten Meisterschüler Brechts und langjährigen Freund von Heiner Müller war das Leben im Osten eine Geschichte der Verbote, das Leben im Westen ebenfalls eine Chronik des Unliebsamen. Im verkoppelten Ostwesten dann die Wiederaufnahme des alten Möbelspiels: "Zwei Stühle kaufen / Und sich dazwischensetzen."
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Seitenzahl: 267
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Kurz nach dem Mauerbau 1961 kommt es zum Skandal, der DDR-Theatergeschichte schreibt: B. K. Tragelehn hatte Heiner Müllers „Die Umsiedlerin oder Das Leben auf dem Lande“ mit Studenten der Hochschule für Planökonomie Berlin-Karlshorst inszeniert: das Dorf als Welt – die mehr ist als das, was eine zensierende Partei darunter verstehen will. Die Aufführung gilt sofort als „konterrevolutionär, antihumanistisch“, sie wird verboten. Tragelehns Strafe: Tagebau.
Neuerliche Inszenierungen, neuerliche Verbote. Ausweg Westen: Theaterarbeit in Stuttgart, Bochum, Frankfurt, München, Düsseldorf, Hamburg, Westberlin. Er übersetzt elisabethanisches Theater, avanciert zum Regisseur mit den meisten Müller-Inszenierungen im deutschsprachigen Raum, schreibt Gedichte. Über dreißig Jahre Regie und Poesie: Spurensuche in den Rissen der ostwestlichen Gesellschaft – bis das Eis der Globalisierung über die wundpolierten Weltbilder schrammte und einmal mehr und unwiderruflich den Kern aller Zeit offenlegte: Kampf.
Als Brechts letzter Meisterschüler hat Tragelehn das gelernt, was ihn wohl auch sein bester Freund Heiner Müller lehrte: hellwach zu bleiben, hauptsächlich für Finsternisse. Gewiss hat er bei den Meistern auch das Listigsein trainiert. Mit unverhohlener sächsischer Breitguschigkeit. Die Gespräche mit Hans-Dieter Schütt offenbaren das wunderbare simplizistische Talent: "Zwei Stühle kaufen/ Und sich dazwischen setzen."
Hans-Dieter Schütt
Mit einem Essay vonFriedrich Dieckmann
Nachwort vonJosef Bierbichler
Nieder mit den Unterdrückern und ihren
Engsten Erfüllungsgehilfen
Den Unterdrückten!
Kurt Bartsch
Der Feind ist unsere eigene Frage als Gestalt.
Carl Schmitt
Ich frage die große Erde
Das unendliche Blau:
Wer beherrscht Werden und Vergehen?
Mao Tsetung
(übertragen von B. K. Tragelehn)
Ich habe es mir zur Regel gemacht,
nie mehr als eine Zigarre
gleichzeitig zu rauchen.
Mark Twain
Überall, wo man stehen kann,
kann man auch sitzen.
Walter Benjamin
Herr Tragelehn, was finden Sie liebenswert am 20. Jahrhundert?Die viele vergebliche Hoffnung.Sie stehen einer Weltregierung vor: Was würden Sie sofort abschaffen?Die Regierung. Sollen sich die Leute doch selber regieren.Mit welchen drei Begriffen charakterisieren Sie Deutschland?Schwarz Rot Senf. (Aber ich hab es auch ohne gefressen).Was ist für Sie Heimat?Die Sprache.Das Ziel Ihrer Traumreise?Ein anderer Stern.Wovor haben Sie Angst?Vor mir.Mit welcher Persönlichkeit der Geschichte würden Sie gern in Briefwechsel treten?Sehr verführerisch der Vorschlag – aber lieber nicht.Was ist ein wunder Punkt bei Ihnen?Früher der Jähzorn, jetzt die Müdigkeit.Langeweile?Ist der Traumvogel, der das Ei der Erfahrung ausbrütet.Welche Kunst würden Sie gern beherrschen?Klavierspielen.Welcher Kinoheld steht Ihnen am nächsten?Der Mann, der die Frauen liebte. Vom Tropf zum Licht, ein schöner Tod.Welchen Zeitgenossen würden Sie für Verdienste um die Menschheit auszeichnen?Die unbekannte Oma.
Aus einem Fragebogen
ZUVOR
FREUND TRAGELEHN
„‘ch mächt ma sangn, s wirrd Diskussjohn’n gähm.“ Das war ein Satz fürs Leben.
VON A BIS Z
„Mich in zwielichtigem Material frei zu bewegen, davor hatte ich nie Angst.“
IM HERBSTHEU
Biographie
Literaturverzeichnis
ZUGABE
DIE GESCHICHTE DER REISE
DAS ANDERE ENDE DER GESCHICHTE
JÜNGSTE ERSCHEINUNG DES ENGELS DER GESCHICHTE
BEIM ABSCHIED ZU SINGEN
Hans-Dieter Schütt
Immer wieder ist es nicht zu umgehen,
um irgendwo, wo immer, anzukommen,
einen Umbogen zu machen.
So heißt der Umweg im Sächsischen,
in dem ich aufgewachsen bin.
B. K. Tragelehn
Dieses Buch gibt es schon. Wie es alles schon gibt. Tragelehn grinst. Nein, nicht. Aber eines ist wahr: Er ist im Dauererzähldienst, seit eh und je. Er schaufelt Material, um und um. Das Sofa lädt ein, der Schaukelstuhl, der Kaffee, das Tablett mit den Keksen, an der Wand ein Holzstück aus Estland. Schwung, Wind, Bleiche. Mitbringsel von der Insel Saaremaa vor der Rigaer Bucht, wo Tragelehns jahrelang ein schlichtes Häuschen bewohnten. „Die sommerliche Auszeit von Berlin wurde von Jahr zu Jahr länger. Der Sachse in der Verwandlung: zum Fischkopp. Im Sommer 1992 war Estland autonom geworden, russische Juden kamen nach Berlin, sogenannte Kontingentflüchtlinge. Meine Frau half. Die betreffende Familie aus Moskau machte uns, gewissermaßen als Dank, auf das Häuschen aufmerksam, dort hätten sie immer Urlaub gemacht. Mit dem Schiff fuhren wir nach Helsinki, rüber nach Tallinn, dann auf die Insel. Die russischen Atomraketen standen noch, man konnte die Standorte sehen.“
Man sieht in solchen mitgebrachten Dingen, was man nicht mehr ist. Den längsten Atem beim Erzählen, was einem Leben so blüht, haben hier die verschiedenen Trockenblumensträuße, wie Botschafter aus Landschaften, wo das Gras der Schilfzähen wächst. Wo man sieht, dass Biegsamkeit schön aussehen kann. An den Wänden auch Tragelehn selbst, von Malern und Grafikern porträtiert, auch eine Bronze steht da von Karlheinz Schamal, der frühe B. K. Tragelehn und seine Frau, schöne junge Köpfe auf jeweils schmalem meterhohem Holzsockel. Christa Tragelehn: „Ich war gerade schwanger, der bildende, modellierende Künstler hat es sofort gesehen.“
Christa und B. K. Tragelehn bei einer Veranstaltung der FDJ-Lyrikwelle im Auditorium Maximum der Humboldt-Universität Berlin, 1963
Überhaupt: Christa Tragelehn. Ständige erste Beobachterin des Dichters. Sie sitzt dem Regisseur gleichsam im Pelz. Sie sieht heute schon, was er morgen endlich tun sollte. Oder nicht. Oder endlich mal wieder. Es gibt Tätigkeitsfelder, für die in der gesamten Gesellschaft weit mehr Leute benötigt werden, als Talente vorhanden sind. Ärzte gehören dazu, Lehrer, die Sozialarbeiterschaft. Mangel an Einfühlungsvermögen aber produziert vielerorts Sacharbeiter, wo es doch um Menschen geht. Christa Tragelehn, dieser praktische Büchermensch, jahrelang Gefährtin ohne Reisepass, also Ehefrau und Mutter allein im Osten Berlins, besitzt dieses Vermögen, ohne es je mit falscher Romantik zu besetzen. Oder mit wirkungsbewusster Fühligkeit. Sie muss nicht gesehen werden, sie muss nicht auffallen. Sie wird gesehen und fällt sofort auf. Sie hat eine sehr spezielle Auffassungsgabe für Strukturen. Ob die nun geschaffen, bewahrt oder verändert werden müssen. Es hat auf den ersten Blick überhaupt nichts mit Theater zu tun. Diese Reibungslosigkeit, sich sowohl einzuordnen als auch auszuscheren; dieser Blick für die absolut günstigste Route mitten im Gewühl, so, als schaue jemand von sehr weit oben auf einen Schnittmusterbogen. Auf diese Weise ordnet sie Räume. Eine wahre Dramaturgin. Sie gibt – und fragt nicht zu früh nach dem, was man zurückbekommen könnte, sollte. Das ist die wahre Rücklagenbildung. Alle anderen zaubern mit ihrem Gewerbe. Sie zaubert mit sich selbst und für andere.
Also: eine Wohnung, in der man sich wie zu Hause fühlt und zudem noch ermuntert wird, sich so zu benehmen. Gelegen in einer dieser großen Berliner Alleen in Prenzlauer Berg, die sich beispielhaft ruhig vom Zentrum entfernen. In dieser Wohnung der Bücher und Zeitschriften, der Berge und Stapel geht vom Halbdunkel ein seltsames Licht aus, es wärmt, ohne einem etwas aufdringlich über die Schultern zu legen. Hier kommen alle sofort überein: Was wir auch tun, wir stören den Kater nicht.
Zum Gespräch gehören Zigarre, der griffbereite Gehstock, Pantoffeln, baltischer Wodka vom Feinsten, eine feine dünne Tasse mit sehr altem Sprung, der inzwischen offenbar das Kleinod an der Tasse ist – mit den Jahren werden Verluste unser kostbarster Besitz: der Sprung in Schüssel, Tasse und Erinnerung. Das Witzige also, der Fehler im System. Dazu Küchengeräusche, Christa Tragelehn lacht. Ich frage mich, worüber sie draußen lacht, während ihr Mann hier im andern Zimmer erzählt, raunt, brubbelt, feixt.
Oft fahre ich zu Gesprächen hierher, meist nachmittags. Die Wolken ziehen am Fensterausschnitt vorüber, wir schauen und wissen, sie hätten ganz anderes zu erzählen als das, was wir wieder und konservieren.
Die Gesprächspartner der Zeiten sitzen gleichsam mit am Tisch. Thomas Irmer, Falk Strehlow, Nikolaus Merck, Irene Bazinger, Holger Teschke, Jakob Hayner, Harald Müller, Janine Ludwig, Stephan Brockmann, auch Jens-Fietje Dwars, Tragelehn besonders zugetan, dieser Jenaer Verleger all der Entlegenen, all der vom Großwirkungskreis Abirrenden. Tragelehn hat sein Werk parat. Er ruft auf, fügt Uraltes zu Altem, mischt neu. Er ist ständig beim Wiedersortieren, Neuredigieren – Gedichtbände jüngster Drucklegung etwa enthalten laufende Korrekturen, das ist ein nicht endendes Verändern, Verwerfen, es wird gefeilt und geputzt; und so sind beim Fragen und Antworten eben stets auch frühere Gespräche und Interviews mit einbezogen. Tragelehn ist fortwährend mit Collagierung seiner selbst beschäftigt, das hält die Werkstatt am Laufen, das hat eine spielerische Ehrlichkeit: Material bleibt Material. Jede Geschichte hat eine Vorgeschichte (auch so ein wichtiges Wort für ihn), und jede Vorgeschichte folgte einer Vorgeschichte, so dreht und wendet sich alles und endigt in weiteren Vorgeschichten, und wer alles von Tragelehn weiß, wird doch nicht genug bekommen. Wenn er nach Worten sucht, sucht er nach Tagen und Jahren. Er mag Wörter. Zum Beispiel: „zusammenschrauben“. Mit geschickten Kniffen etwas fugen, das hält. Aber dass etwas halten wird, heißt auch nur: Den Verfall halten wir nicht auf.
Wo ein respektabler Geist deutscher Theatergeschichte nicht mehr zum Kanon einer von Effekt und Erneuerung bestimmten Gegenwart gehört, nenn’s Generationenwechsel, nenn’s Innovationsschub, nenn’s kaltes Abgleiten in die Theaterhistorie – dort jedenfalls möge auf Inseln der Besinnung nach den alten Erzählungen und Erfahrungen gefragt werden. So kommt es zu diesem Buch. Rundender Draufblick. Es liegt Erlebtes vor, was wer damit anfängt, bleibt Vermutung.
Kurz vor dem Mauerbau hatte der 1936 in Dresden geborene B. K. Tragelehn Heiner Müllers „Die Umsiedlerin oder Das Leben auf dem Lande“ mit Studenten der Hochschule für Planökonomie Berlin-Karlshorst inszeniert. Kollektivierung und Klassenkampf; das Dorf als Welt - die mehr ist als das, was eine diktatorische Partei darunter verstehen will. Die Aufführung gilt sofort als „konterrevolutionär, antihumanistisch“, sie wird verboten. Das ist Tragelehns erste Erfahrung mit Leuten, die auseinanderschrauben müssen, um sich als Aufklärer zu fühlen. Die in kategorisierbare Einzelteile zerlegen müssen, was sich für eine Idee zusammentut. Regal statt Welt. Tragelehn passt nicht in die Schubladen der sozialistischen Horch-und Guckkastenbühne.
Im Westen dann (Theaterarbeit in Stuttgart, Bochum, Frankfurt, München, Düsseldorf, Hamburg, Westberlin) übersetzt er maßstabsetzend elisabethanisches Theater, avanciert zum Regisseur mit den meisten Müller-Inszenierungen im deutschsprachigen Raum, und seine Übertragungen etwa von Auden, Shakespeare-Liedern und chinesischen Gedichten folgen der einzig wünschenswerten Freiheit: Es geht um die schöne Bodenlosigkeit der Vorstellungskräfte. Über dreißig Jahre Regie. Er hat in den Rissen der ostwestlichen Gesellschaft jene Zeit blendender Illusion überdauert, die sich bei Linken eine Weile lang, in großer Langeweile, Hoffnung nannten - bis das Eis der Globalisierung über die wundpolierten Weltbilder schrammte und einmal mehr und unwiderruflich den Kern aller Zeit offenlegte: Kampf. Der Mensch treibt, was ihn treibt: Die Lust ist der Nachbar des Todes. Und „Sozialismus“? Von dem wird bleiben, was B. K. Tragelehn früh an die Nieren ging. Sein Theater gehörte dazu, gehörte zu ihm, seinem Schmerz aus besagter Lust an der Welt. Vor allem ihrer Veränderung. Weshalb dieses Theater eben lange nur im Westen stattfinden durfte. Wo die Verhältnisse freier, nicht besser waren.
Und nach 1989? Erneut nur Westen, die Welt hatte sich einmal gedreht. Entfesselung war angesagt, weniger freilich Entfaltung. Erde: bleibender Ort des gierigen, aber entleerten Menschen.
Er ist ein Regisseur, der immer auch schrieb. Bei Theaterproben entstehen Gedichte, gewidmet etwa Jutta Hoffmann, Jürgen Holtz, Josef Bierbichler, Peter Brombacher. Tragelehn, der Poet: die Bosheit so freundlich; die Skepsis so kreuzfidel; der Ausbruch so sanft. Was rauschhaft werden will, durchknetet er mit Nüchternheit. Alle Texte, will man sie denn auf einen Nenner zwingen, hinterlassen seltsamverwirrende Benommenheit. Poesie hat unterm Lärm ihre Höhlen. Das Dunkel dort: ein Gegenlicht.
Der Regisseur und Dichter, auf einem frühen Foto neben Lehrer Brecht sitzend: ein Wesen zwischen aufsaugender Strebsamkeit und listigem Versteck hinter Ingredienzen der Ordentlichkeit - biedere Frisur und Hornbrille. Am Ende, also ziemlich rasch, ist dann doch der wahre Tragelehn draus geworden: eine mit fülligem Witz gepanzerte, sehr originäre Brecht-Kopie, Zigarre und Schwejk in den Mundwinkeln, der Bart unordentlich, das Denken in kurze, geradezu kristalline verdichtete Verse getrieben. „Der Sohn beschreibt wie der Vater/ Stalins Bild aufhängt und abhängt/ Anschreit im Spiegel den Fremden/ Ich will allein sein Die Enkel/ Jeder für sich was sehen wer sieht sie/ Zerbrechen Bilder und Spiegel/ Die Scherben krönen die Mauern/ Oder öffnen Adern“.
Was der Regisseur in den Jahren arbeitete, ist zu verschiedenen bildlichen, akustischen, textlichen Dokumenten erstarrt. Das Schicksal allen Theaters. Werden und Vergehen als Gleichzeitigkeit, „dem Mimen flicht die Nachwelt keine Kränze“. Nachwelt, das ist schon die Sekunde, die der jetzigen folgt. Die Gedichte aber, die er schrieb, sie fragen weiter. Den Dichter Tragelehn lesen heißt: Verse erfahren über unsere Stimme, wenn wir sprachlos sind. Variationen der Distanz zu Zeit und Geschehen. Nachsicht und Unnachgiebigkeit im richtigen Verhältnis. Verteidigungsreden für jede Narrheit, die das Leben ist - wenn es denn gehörig ungeschützt gelebt wird. Poesie als weitgeöffnete Tür zu einem Zimmer, das keinen Boden hat. Reiseführer zu den Zwischenräumen von Gegensatz zu Gegensatz. Jeder blühende, windwogende Baum ist bekanntlich die wahre Feier der Dichter. Aber dann kommt dieses Dichters Frage: Was wissen wir von der Unterseite der Blätter? Es gibt, von dieser Frage ausgehend, eine große Treue zu Bäumen, die nicht in den Himmel wachsen.
Elegien sind ihm ein bevorzugtes Genre. Elegien und Oden. Das Euphorische begegnet den Gefühlen von Abgesang und Nachklang; alle Wehmut hat ein Zwinkern. Als Brechts letzter Meisterschüler hat er das gelernt, was ihn wohl auch Freund Heiner Müller lehrte: hellwach zu bleiben, hauptsächlich für Finsternisse. Gewiss hat er bei den Meistern auch das Listigsein trainiert, das kichernd daherkommt. Als unverhohlene, dann wieder dezente sächsische Breitguschigkeit. Eine Wortspielernatur ist er. Er macht gern kräftige Sätze - direkt auf den Widerspruch zu, der ihm willkommen im Wege steht. „Jäte ich das Unkraut, verletze ich die Blumen./ Gieße ich die Blumen, pflege ich das Unkraut.“
Er weiß: Mit jedem Wort erschweren wir den Zugang zur Wahrheit. Tragelehn arbeitet dagegen an, alles in Floskeln zu pressen, alles Große rasant kleinzureden, nur um Sprachlosigkeit zu überbrücken und darüber hinwegzutäuschen, dass das Meiste tief in uns zeugenlos bleibt, alle Zeit. Er ging stets, Theater und Dichtung betreibend, beharrlich auf das zu, was sterblich hält. Er musste sich weltwärts erfahren, also in Verwitterung - der aber doch Schönheit abgewonnen werden kann. An Tragelehn perlt somit jene Selbstübertreibungstechnik ab, die das Individuum zu einer so glänzenden, so elenden europäischen Kopistennatur gemacht hat. Am Eis der Zeit erhitzt er seine Poesie. Die ist spiritueller Glanz überm Grau. Ist geistiger Wärmestrom gegen die praktische Raserei der konkurrierenden Zwecke. Er schreibt über Kämpfe. Im Bett und auf Bühnen. Gegen Weiber und Welten. Für Weiber und eine bessere Welt. Ein Komödiant also. Fähigkeit ist ihm nicht alles, denn: Unfähigkeit kann die größere Gabe sein. Etwa das Unvermögen, einer Lage oder einer Sache just dann beizuwohnen, wenn die Mehrheit dafür stimmt. Oder Minderheiten ihre ganz eigene Empörungstyrannei versuchen. Es ist das simplizische Talent. „Zwei Stühle kaufen/ Und sich dazwischen setzen.“
Ein Transit-Empfinden stellt sich beim Lesen ein. Denken als Durchgangsstadium. Ein Transit, das du selber bist; wir haben alles hinter uns, nur uns selbst nicht. Und die Übersetzungen, die er schuf, geben nichts auf von der Kraft der Quellen. Tragelehns verdichtungspräzise Feinfühlung, vor allem hinein ins elisabethanische Zeitalter, lässt an Karl Kraus denken, Tragelehn zitiert ihn wohlbedacht: dass nämlich „kein Wort anders aussieht, als sein Inhalt klingt und dass jedes so schmeckt, wie es riecht“. Er sagt: „Das Besondere ist das Lebendige, das Allgemeine ist das Tödliche.“ So redet er über das einzelne Wort, das einzelne Gedicht, den einzelnen Menschen, das einzelne Leben, alles Einzelne, was die Welt trägt. Wenn wir in einer Epoche der Faktensucht leben, des Katechismus der Information, des Vertrauens in eine Wahrheit, deren Verbreitung mediale Wucht voraussetzt – dann ist dieser Tragelehn ein Vertrackter, dem es nicht um diese Art Wahrheit geht, sondern um die listigste poetischste Weise, beschriebener Auffassung vom Wahren nicht gerecht werden zu müssen.
Die Editionen von Tragelehns poetischem wie theaterdenkendem Werk über die Jahre hin sind insbesondere auch das Einfühlungsprodukt von Herausgeber Gerhard Ahrens. Ein Dramaturg der belesenen Zuneigung. Ein präziser Anmerker und Aufbereiter. Bei Geleitworten, Kommentierungen, Textdramaturgien, in seiner berührend sachlichen Empfindungsart ist er dem Dichter sehr nah, rege und sorgfältige Notizen zu den Anlässen seiner Gedichte dokumentieren eine große Lust, sich zu Welt- und Literaturgeschichte jeweils das Eigene zu denken, aber das Werden der eigenen Verse nicht unabhängig von Tag und Zeitgeschehen zu betrachten. Tragelehns gesamtes Lyrikwerk erschien 2021 in einer dreibändigen Edition im Berliner Verlag Vorwerk 8. Früher publizierte er im Verlag Stroemfeld/Roter Stern, der 2019 in Konkurs ging. Ein Ende, paradoxerweise oder gar zynisch begleitet vom Lebenswerk-Preis an den Verleger K. D. Wolff im gleichen Jahr! „Eine Konstellation, die auf den Grund deutscher Kulturpolitik sehen lässt“ (Ahrens).
Heiner Müller, der wiederkehrende Name: Tragelehn empfand ihn wie einen großen Bruder, der des jungen Regisseurs Leichtsinn und Jähzorn zügelte. Gerade bei der Arbeit an der „Umsiedlerin“. Ein Grundlagenstudium fürs Leben als Außenseiter. Wegen einer Hoffnung, die im Gesinnungschor gesungen werden kann, hat Müller nie das einsame Einverständnis mit der Verzweiflung verraten. Seine Poesie zog - schwer und genau gelotet - stets hinunter zu jenen wahren Gründen, die das Nichts erhellen, erzählen, erwärmen. Und doch waren da Farben einer Utopie konserviert. Die „wieder aufscheinen wird, wenn das Phantom der Marktwirtschaft, die das Gespenst des Kommunismus ablöst, den neuen Kunden seine kalte Schulter zeigt, den Befreiten das eiserne Gesicht, das Gesicht der Freiheit“. Mit diesem Müller-Gedanken im Gefühl hat Tragelehn stets Theater betrieben. Kunst wie eine „wütende Liebe“ zur Alternative, die überkommt dich „wild wie die Umarmung einer totgeglaubten/ Herzkönigin am Jüngsten Tag“ (Müller).
Im Herbst 1989 kehrt der in den Westen gedrängte Tragelehn in die DDR zurück, nun selber ein Umsiedler, der am Umbau teilnehmen möchte. Als sich die Einheit auf uns stürzt, überstürzt, entdeckt der Dramatiker zufällig ein Stückmanuskript, das er vor Jahrzehnten für die Schublade geschrieben hatte. Nun, zur endlichen Drucklegung, setzt Tragelehn ein Motto davor, aus einem Geschichtsbuch von 1874: „Wussten sie am Ende noch, dass sie einmal begonnen hatten mit einer Aufgabe? Die Spur im Gedächtnis war zugeschüttet. Sie hatten sich eingemauert. Sie wurden belagert. So lebten sie hin, die Belagerung dauerte, es schien das Normale zu sein. Schließlich gaben sie auf. Am Ende standen sie zusammen mit den Siegern im Freien. Vor der Aufgabe.“
Aufgabe? Der Doppelsinn. Eine Aufgabe angehen, aber das Aufgeben mittrainieren. Das ist der Adel des Waffenlosen.
Heiner Müller. 1995. Vorletzter Tag des Jahres. Da geht einer, geht für immer. „Über den mit Schnee bedeckten Berg / Ich sehe ihn um den Felsen verschwinden / Ich sehe seine Spur / Verschwinden im fallenden Schnee // Die Spur seiner schreibenden Hand / Vor meinem Auge / Schwarz auf weiß Krieg ohne Schlacht / Dauernd“. Ein Gedicht Tragelehns zum Tod Müllers, „Der Abschied“. Wahrer Abschied geschieht nur in jenem Verlust, der dem Überlebenden an den eigenen Leib geht. An Leib und Seele. An den Körper, diesen Seelensitz - der zwangsläufig ein verletzlicher, unsicherer Ort bleibt, wenn die Seele es denn durchhält, ein Wachorgan zu sein. Kalt gegen Verheißungen, heiß auf Verhängnisse. Im Elend der Realität verbrennen dich die Verheißungen, die Verhängnisse lassen dich gefrieren - also muss befreiendes Spiel her, wo der Unmut über die unterdrückende Welt und die Anmut, sie zu überschreiten, ein Paar bilden. Theaterspiel.
Und so erzählt Tragelehn, und die Galerie ist von guten Leuten belebt, und ich empfinde Glück, Freunde des Regisseurs ins Boot zu locken. Freundschaft ist auch Kopfarbeit, die sich mitteilen möchte. Wo und mit wem man auf Tragelehn zu sprechen kommt, ich habe es ausprobiert, hellen sich die Mienen auf. Es ist plötzlich Gelegenheit da, auf gute Weise miteinander zu reden. Erlösung wird ein naheliegendes Wort. Und zwar Erlösung vom Gram, dass man fällig werden könnte für die Grobheit. Überrascht hält man vieles wieder für möglich. Unzeitgemäßes, so lange nicht mehr empfunden. Reden über Kleines, Großes, die gelogenen Unterschiede gibt es nicht mehr. Gespräche, in denen kein Platz ist für die Frage: Und womit verdienst du dein Geld?
Zwei auch hier im Boot. Friedrich Dieckmann und Josef Bierbichler.
Friedrich Dieckmanns ausschwingender Aufsatz für dieses Buch, über den Freund B. K. T.: wie alle Essays dieses Autors – sie ziehen hinaus, unterm Diktum eines Themas; dieses Thema steht fest, aber dann wird rasch ein Auszug ins Freie daraus, nicht ins Ungebundene, jedoch ins Höhere oder Tiefere, ins Raumzeitliche, das solche banalen Unterscheidungen nicht mehr anstellt. Ihn zu lesen, ist eine schöne Arbeit, es ist wahre Vergnügung, die etwas kostet, um sich auszuzahlen.
Dieckmann: selber ein Teil von Theaters Geschichte. Bezeugender Geist erster Strahlung. Bewundert habe ich früh seine Kritiken, lange Texte, selbstredend, eingeteilt in Kapitel mit römischen Ziffern, wie es Kerr tat; sie erschienen in der DDR-Tageszeitung „Neue Zeit“, und eine dieser Kritiken doch tatsächlich in Fortsetzungen!, was für Zeiten, als man in Chefetagen noch nicht infiziert war von jener Modekrankheit, die über Wohl oder Wehe einer Auflage entscheidet: nämlich, dem Leser möglichst wenig Mühe zu bereiten, ihn nicht stolpern zu lassen über unebene, hakenreiche Stellen eines Textes. Wie hielt er seinen freien Geist durch, der auch im Tragelehn-Essay schwingt, und der auch jetzt noch Widerstandsarbeit genug hat, weit nach dem Ende der DDR, oder, wie Dieckmann schrieb, nach dem Ende „jenes plebejischsozialabsolutistischen Biedermeiers, in das sich die Erwartungen des historischen Morgenrots verwandelt hatte“.
Der Sohn des einstigen (beliebten!) Volkskammer-Präsidenten Johannes Dieckmann, der 1937 in Dresden geboren wurde, dort und in Birkenwerder aufwuchs, Germanistik und Physik studierte, einige Jahre Dramaturg am BE war, zu Zeiten von Ruth Berghaus - er hat klug Differenzierendes über den Sicherheitstrakt Sozialismus geschrieben, er ist der wohl bedeutendste Essayist, der aus diesem staatlichen Zustand hervorging, aus diesem östlichen Deutschland, das sich dem westlichen „einbeschrieb“. Ja, auf solche Worte stößt man. In einem anderen Text las ich: „gemachsam“. Abenteuer Sprache. Allein im Freigeist findet's wirklich statt. Er lebt sein Schreiben, es lebt ihn. So empfangen beide Stütze.
Dieckmann sprach mal von jenem typisch Deutschen: der „Erstarrung des Ganzen in einer haltlosen Balance, einem eingefrorenen Widerspruch“. Der Osten gab seine Geheimnisse auf, der Westen brauchte keine. In diesem Frost betrieb Tragelehn sein Theater, seine Poesie. Aus der besorgten Ostfrage, wieviel Freiheit die Kunst brauche, wurde die besorgte Westfrage, wieviel Freiheit die Kunst vertrage. „Erweiterte Freiheitsräume bedeuten auch Motivationsschwund, das ist das, was dich in der Freiheit der Entfremdung ereilt. Du musst aufpassen, dass du nicht diffuser wirst.“ Sagt Tragelehn. „So weit sind wir doch: Von Moderne darf überall dort gesprochen werden, wo einer sagt: Versteh ich nicht!“
Ich denke an den Moment, da Dieckmann, vor vielen Jahren, bei der Präsentation eines Buches von Adolf Dresen den Regisseur bat, eine bestimmte Erzählung zu lesen. Es war die Erzählung vom Zirkus des Altmärkers Heilig, der sich von der sozialistischen Kulturpolitik weder qualifizieren noch liquidieren lässt, dessen missliebig beäugte Privatbühne „unausrottbar“ bleibt in ihrer volkskünstlerischen Bodenständigkeit. „Heiligs Liquidierung“ entstand um 1960 herum, und wenn Dresen später von der entscheidenden, letzten künstlerischen Hoffnung seines Lebens sprach („dass ein Stück echter Dichtung sich auf keine Philosophie der Welt reduzieren lässt, dass da immer etwas überschießt, was durch keine Interpretation zu zähmen ist“), so schließt sich ein Kreis, der mit Tragelehn zu tun hat, gerade mit diesem, Anfang der Sechziger, da dieser Regisseur auf die folgenreiche „Umsiedlerin“ zusteuerte und seine ersten Gedichte schrieb. Wie sich Dresens Zirkus- und Jahrmarktsmensch Heilig als eine Existenz gegen die grobe Verstaatlichung kräftig-unbekümmerten Volks-Theaters behauptet, so hat sich auch Tragelehn stets gegen einen ideologischen Zerstörungsdruck gewehrt, der seine Arbeit von Beginn an begleitet hat.
Die wunderbar unkrautige Lebenskraft dieses Provinz- Barden Heilig, von Dresen notiert, von Dieckmann an einem öffentlichen Abend aufgerufen - in Sachen Tragelehn ist das eine so gar nicht abwegige Assoziation: Poesie, die ganz aus dem Irdischen kommt; Identität, deren Kraft von Tradition gespeist wird. Man fiel irgendwann aus dem offiziellen Kanon, weil die Ensembles an Gewicht verloren, aus Ensemblebildnern wurden Machthaber an den blitzenden, nun rostenden Hebeln des Apparats.
Das Nachwort zu diesem Buch hat Josef Bierbichler geschrieben. Ein Tragelehn-Spieler. Einer der irdischsten. Bierbichler kann nicht abheben, um die Welt von oben zu sehen, von wo alles viel schöner aussieht, manchmal sogar verführerisch schön. Es zieht ihn immer wieder, wenn es ihn auf eine Bühne zieht, hinunter. Dorthin, wo es eng wird mit den Ausflüchten. Also dorthin, wo „das Unbetreute in der Welt“ seinen Platz hat. Sagt Bierbichler.
Just im Wissen ums Enge ist der Mann aus Bayern, Jahrgang 1948, das Urbild eines Menschen, der prunkend in sich ruht. Ein Gastwirtskönigsohn. Ein Waldbesitzer. Ein Holzfäller. Ein Schauspielhüne, der als Tschechows Lopachin (bei Zadek) die Liebe suchte, als Horváths Kasimir (bei Marthaler) die Liebe opferte. Wo andere seiner Statur grobschlächtig sind, ist er grobschmächtig. In schönster Wucht ein Zarter. Bei Tragelehn war er Totengräber, Galilei, Krapp.
Schauspieler wurde er, „weil ich mir zu wenig war“. Aber auch, weil er keine Arbeit haben wollte, der man die Mühe ansah, sie zu tun. Listigfreches Lob der Faulheit. Er ist am Theater – besonders in München und dort sehr eingeladen von Tragelehn – ein proletarischer Provokateur gewesen gegen alles, was nach CSU aussah. Er ist kein Kunstweltgenüssling, kein Verwandlungsgieriger. Für Aura reicht ihm eine Bewegung seiner Schaufelhände. Ein Anarch aus den schwarzen Wäldern, mit einer erschütternden Lakonik und einer hochprozentigen Kunstlosigkeit. Ein einsamer Gegenentwurf zur Gruppendynamik eines Verstellungs-Betriebes, in dem sich Fertigkeitsvirtuosen für fremde Texte feiern lassen. Bierbichler zog sich stets aus diesem Betrieb zurück, man sah dem Spiel diesen Rückzug an.
Einmal, in einem Film über ihn, singt er mit hoher, zitternder, hauch-dünner, schwebender Stimme Heiner Goebbels’ „Eislermaterial“, singt das Lied, das zum Holzhacken und zum ganz großen Frieden passt: „Anmut sparet nicht noch Mühe“. So begründet Bierbichler seine Entscheidung gegen den Wirbel des Geschäftigen, das uns aufzehrt, indem es uns an lauter eingebildete Wichtigkeiten wie an einen Gifttropf anschließt: Er möchte sich an die Einsamkeit des Sarges erinnern, solange er noch am Leben sei. Lächelt zum Weißbier. „Der nahe Tod ist sehr erhellend.“
Tragelehn über ihn: „Nachdenken ist der Grundgestus dieses Schauspielers, dem er alle Gesten, das Material, aussetzt. So sind sie einer Versuchsanordnung unterworfen. Er korrigiert sich, auch mitten in der Aufführung, nicht immer zur Freude der anderen.“
B. K. Tragelehn besitzt das triebige Phlegma desjenigen, dem sich alle Tragik - auch der eigenen Erfahrungen - stets lebensrettend in die Komik drehte. Der zeitweilige künstlerische BE-Partner Einar Schleef hat das in seinem „Tagebuch 1964-1976“ drastischer ausgedrückt. Tragelehn habe eine „schwierig lahme Art … auch zwischen uns arbeitet der Konflikt“.
Schwierig lahme Art? Es ist eine mit den Jahren gewachsene Geduld: das Arbeiten gleichsam als fortwährende Demutserklärung ans Wasser, das dem Fels so geschmeidig weicht, dass der nicht mitbekommt, dass es ihn weicht. Er ist frohgemut und frohgemütlich ein Beobachter von „Staaten auf Sand gebaut, also wozu Erdbeben“. Sagt's, grinst und stößt den Rauch seiner Zigarre sternenstubenwärts.
In unseren Gesprächen oft ein Innehalten und dann Tragelehns Satz: „Wie bin ich jetzt dahin geraten?“ Erinnerungen und Assoziationen im freien Auslauf, Vorlauf, Rücklauf, Fortlauf. Ja, manches lief fort, und wie war das eigentlich genau? „Ach, wie auch immer …“ Die Hand, die abwinkt, hält die Zigarre, sie ist das Zepter, und das regiert eine schöne Fahrigkeit des Erzählens. Fahrig: wie etwas, das in Fahrt kommt, fährt, sich frei bewegt. So wie nicht Gesundheit beglückt, sondern Gesundung, nicht Freiheit, sondern Befreiung, so beglückt nicht Sinn, sondern Sinnieren, nicht das Gedachte, sondern das Denken. Der Theaterregisseur zieht an seiner Zigarre und lächelt. Wieder ist Grinsen nicht weit.
Friedrich Dieckmann
Eine Langzeitbeobachtung
Auf B. K. Tragelehn, den ich einfach Klaus nenne, blicke ich aus zwei Perspektiven. Die eine ist griffbereit: die Bücherperspektive. Ich steige auf die Leiter oder kniee mich auf den Boden, da sind sie, die Tragelehn-Bände, Gedichte, Übertragungen, Theaterschriften, auch ein Theaterstück ist dabei; es heißt „Die Aufgabe“ und nicht nur, weil darin von einer solchen die Rede ist, sondern auch, weil es sich um ein als Fragment aufgegebenes Werk handelt, das den Autor aus dem Innern des Stoffes so nah an immanente Aporien des sozialistischen Wirtschaftens heranführte, dass er es aufgab und das Ganze vergaß. Erst, als die Wirklichkeit dreißig Jahre später das Ende des Stücks geliefert hatte, fiel ihm das vergessene wieder ein; er fand das Skript in einem Winkel seines als umfangreich vorzustellenden Schreibtischs. Die im Aufbau-Verlag überlebende Zeitschrift „Neue Deutsche Literatur“ druckte das Fragment 1994 mit einem Präludium von mir, in dem ich der Realgeschichte des Landes die Strukturen eines fünfaktigen Dramas nach dem von Aristoteles und Gustav Freytag formulierten Schema aus Exposition, Höhenpunkt und Peripetie unterlegte.1 Das funktionierte vollkommen und machte deutlicher denn je, dass es sich bei der untergegangenen sozialistischen Republik um ein Staatskunstwerk gehandelt hatte.
Im Innern dieses wohnlich-unwohnlichen Gebäudes war Tragelehn frühzeitig in das Theaterzimmer eingedrungen. Sich aus seiner Dresdner Oberschule (ich hätte, wäre ich in Dresden geblieben, dieselbe besucht) herauskatapultierend, hatte er in Berlin bei Brecht vorgesprochen und ihm das Ansinnen vorgetragen, bei ihm das Theater zu lernen, speziell das Brechtsche Theater, von dem der Achtzehnjährige durch ein Dresdner „Courage“-Gastspiel entscheidende Anregungen empfangen hatte. Brecht prüfte ihn, indem er ihn aus einer großen Serie von Szenenaufnahmen der von Ruth Berlau durchfotographierten „Mutter“-Inszenierung eine Auswahl treffen ließ. Tragelehn bestand die Probe, bekam den Rat, sein Sächsisch zu mildern und sich durch Shakespeare-Lektüre das Englische anzueignen, und wurde Meisterschüler der Akademie der Künste.
Davon und von allem weiteren wird in Hans-Dieter Schütts Buch noch hinlänglich die Rede sein, auch davon, wie B. K. Brechts guten Rat in einer Weise beherzigte, die sich auf meinem Schreibtisch in der imponierenden Gestalt von fünf großen, schöngedruckten Bänden mit Shakespeare-Übersetzungen aus dem Frankfurt-Baseler Verlag Stroemfeld/Roter Stern stapelt: drei Komödien („Maß für Maß“, „Was ihr wollt“, „Troilus und Cressida“), einem Trauerspiel („Romeo und Julia“) und einem Endspiel („Der Sturm“), sie alle im Anhang reich versehen mit Materialien und Kommentaren.
Ich schlage den „Sturm“ auf, er enthält auf 80 Seiten die Tragelehnsche Übersetzung, gefolgt von 200 Seiten mit Anmerkungen und einem Gespräch; darin findet sich auf zwei Seiten eine Beschreibung der Nachkriegssituation, die nicht bündiger vorzustellen ist: „Die Kommunisten, die nicht Hitler und nicht Stalin hatte umbringen können, waren nach Deutschland zurückgekommen, aus dem Exil oder aus Zuchthäusern und Konzentrationslagern. In der SBZ, dann in der DDR, wurden sie die Lehrer, ja die Väter einer vaterlosen Generation. Hoffnung und Enttäuschung, Enttäuschung und Hoffnung in immer wiederkehrendem Wechsel, die schon ihr Leben begleitet hatten: das war es, was sie den Kindern vererbten. In einer Phase der Hoffnung, die auf den XX. Parteitag der russischen Partei, den Parteitag der Entstalinisierung, folgte, wurden in Deutschland neue Theaterstücke geschrieben und aufgeführt. … Diese Stücke sind, eins nach dem andern, verboten worden. Aber einen Augenblick lang, ehe die Reformation der Arbeitermonarchie endgültig scheiterte, hat es so ausgesehn, als ob es eine neue deutsche Dramatik und, ihr folgend, ein neues Theater hätte geben können. Die Wirkung in der DDR war vulkanischer Art, zunächst unterirdisch. Die Zahl der Ausbrüche, kleinere und größere, nahm mit den Jahren zu. Nicht immer gelang es, die Löcher zu stopfen. Es schien dann oft so, als ob nach und nach mehr möglich würde. Es wurde mehr möglich. Aber das lag nicht daran, dass die Hauptverwaltung Ewige Wahrheiten etwa Einsicht erworben hätte. Sie wurde nur müde. Typisch der erschrockene Ausruf des Ideologie-Sekretärs Hager auf die Nachricht von einer Beckett-Aufführung in der DDR: Lassen wir denn jetzt schon alles zu! Da war es fast schon vorbei.“2
Außer den fünf Shakespeare-Bänden finden sich noch drei andere Elisabethaner bzw. Jakobäer an, Stücke von Christopher Marlowe, John Ford und dem Duo Thomas Middleton und William Rowley. Nach ihrem Abschied von RBI (Radio Berlin International), dem Auslandssender der DDR, dessen Mitarbeiterin sie jahrzehntelang gewesen war, aber auch schon vorher hatte Christa Tragelehn, B. K.s Frau, an allen diesen Bänden wesentlichen Anteil. In dem 70-Seiten-Gespräch, das Holger Teschke 2012 mit ihm führte, hat Tragelehn sich ein Wort von Peter Brook zu eigen gemacht, mit dem dieser Shakespeares anhaltende Modellhaftigkeit erklärt hat: „Was wir heute immer unter Autorschaft verstehn, sagt er, ist personal expression – und eben das bekommt man von Shakespeare nicht. Da redet das Leben selber…“3
Als B. K. in den siebziger Jahren mit dieser Übersetzungsarbeit begann, konnte ich ihm mit einem Erbstück, dem Großen Muret-Sanders, beispringen. Seine Gegengabe war kostbar: die beiden Auswahlbände, die Theodor W. Adorno im Suhrkamp Verlag 1955 mit Texten von Walter Benjamin herausgegeben hatte; Tragelehn hatte sie als Meisterschüler der Akademie für 52 DDR-Mark in der Berliner Karl-Marx-Buchhandlung erstehen können. Ich hatte damals von dieser aufsehenerregenden Edition gehört und Ernst Bloch, bei dem ich studierte, auf den Autor angesprochen: „Ein bedeutender Mikrologe“, war zwischen Tür und Angel die Antwort. Ich erfuhr es später: das Verhältnis dieser beiden hatte beträchtliche Ambivalenzen durchmessen, und finde bei Peter Zudeick die Präzisierung jener Bemerkung: „Benjamin hatte einen einzigartigen Blick fürs bedeutsame Detail“.4
Die Ausgabe, 1200 Seiten in zwei braunen Leinenbänden, war bahnbrechend für die Wirkungsgeschichte des bis dahin weithin unbekannten