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Wann wurden das letzte Mal Drachen in Backnang gesichtet? Wohin gehen Geister, wenn sie alt werden? Was tut man, wenn einem als pensionierter Polizist die Spürnase juckt? Wieso darf man sich nicht wundern, wenn der Akkordeonring Steinbach schräge Töne anschlägt? Warum sind die Ameisen im Plattenwald bald arbeitslos? Wie kam die Murrmetropole zu einem Superhelden? Warum sind die Mädels vom Handballclub Oppenweiler/Backnang nicht nur sportlich auf Zack? Und was bedeutete es, ein Freitagskind zu sein? Warum ist Ulfric ein stählerner Held ohne Hirn? Welches Schicksal erwartet ein Überlebender? Was plant der fiese Kobold unter der Murrbrücke? Warum es alles andere als öde ist, in Backnang Urlaub zu machen? Diese Fragen und noch mehr beantwortet dieses Buch. Die 21 besten Geschichten des Schreibwettbewerbes "Backnang Stories 2015"
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Seitenzahl: 223
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Leseratten Verlag
präsentiert
Backnang Stories 2015
Die 21 besten Geschichten
des Schreibwettbewerbes
aus dem Jahr 2015
Marc Hamacher (Hrsg.)
Backnang Stories 2015
ISBN 978-3-945230-12-1
Leiterin der Stadtbücherei in Backnang
Liebe Leserinnen und Leser,
vor zwei Jahren hörte ich zum ersten Mal davon: Eine Anthologie-Reihe mit Kurzgeschichten über Backnang sollte entstehen. Marc Hamacher und Tanja Kummer vom Leseratten-Verlag legten ein ausgefeiltes Konzept vor.
Ich war ganz spontan begeistert von der Idee, durch einen Schreibwettbewerb junge oder jung gebliebene Nachwuchs- oder Hobby-Autoren zu finden, die ein Herz für Kurzgeschichten haben. Das literarische Genre war nicht vorgegeben. Ob heiter oder ernst, ob Historisches oder Science-Fiction, nur Gedichte sollten es nicht sein. Die einzige Bedingung, die Geschichte musste in Backnang spielen und die TeilnehmerInnen mussten aus Backnang und Umgebung stammen oder hier leben. Die besten Geschichten sollten in einem Buch veröffentlicht werden.
Die Ausschreibung erfolgte und nach der ersten Begeisterung und der Ausschreibung fragt man sich natürlich, wie wird die Idee aufgenommen? Gibt es genügend AutorInnen, die es sich zutrauen, an einem solchen Schreibwettbewerb teilzunehmen? Welche Qualität erreichen die Geschichten, die eingereicht werden? Sind sie es wert ausgezeichnet und sogar gedruckt zu werden?
Ja; das waren sie. Die Resonanz war schlichtweg überwältigend. Die Kurzgeschichten erreichten ein unerwartet hohes Niveau. Wer jemals Geschichten von Jeffrey Archer, Henry Slesar und Ernst W. Heine gerne gelesen hat, konnte sich auch über diese Geschichten freuen. Sie mussten sich wahrlich nicht verstecken. Das Buch mit den besten Geschichten wurde gedruckt und in der Stadtbücherei Backnang durften einige Gewinner des Schreibwettbewerbes aus ihren Werken lesen.
Dieser Abend war ein ganz besonderer: Einfühlsam moderiert durch Marc Hamacher, der den zum Teil doch recht jungen Teilnehmern sofort die Scheu nahm. Die Begeisterung der Zuhörer kannte keine Grenzen und die Vorleser bekamen ihren verdienten Beifall. Lara Wingenfeld nahm ihre Zuhörerschaft auf „eine geheimnisvolle Reise“. Monika Grabke und Lisa-Marie Grimmer lasen aus ihren Backnang-Krimis. Marina Heidrich entführte uns mit einer Mischung aus Historie und Mystery in die Backnanger Vergangenheit um die Kirche Sankt Michael. Alle waren sie mehr als preiswürdig.
Ich freue mich schon jetzt auf die neuen Geschichten der „Backnang Stories“ und wünsche diesem entzückenden Büchlein noch viele, viele Fortsetzungen.
Marianne Engelhardt
Stadtbücherei Backnang
Nun ist es ziemlich genau ein Jahr her, dass die »Backnang Stories 2014« erschienen sind und für ein »erstes Mal« sind der Verlag, die Autoren und viele Leser sehr zufrieden mit dem, was geliefert wurde. Schnell war klar, dass wir mit dem Projekt in eine weitere Runde gehen würden.
Bis zum Einsendeschluss des Schreibwettbewerbs erreichten uns nicht nur Geschichten von alten Autoren aus dem ersten Teil, es haben sich auch neue Autoren getraut.
So hatte die Jury wieder einen bunten Strauss an Geschichten zu bewerten. Die besten dieser Geschichten halten Sie nun in ihren Händen. Wieder ist es eine Mischung aus phantastischen Erzählungen, Krimis, Humoristisches, aber auch nachdenkliche Themen haben den Weg ins Buch gefunden.
Viele Details zu den »Backnang Stories« stehen ja schon im Vorwort der ersten Ausgabe. Deswegen will ich Sie gar nicht zu sehr damit langweilen.
Auch 2016 wird es wieder einen Wettbewerb geben. Geschichten können ab sofort bis zum 1. Mai 2016 beim Verlag eingereicht werden. Für das kommende Jahr haben wir uns ein Spezialthema ausgedacht: Weihnachten!
Schreiben Sie uns eine Weihnachtsgeschichte, die in Backnang spielt. Auch das kann wieder ein kleiner Krimi sein, oder ein Märchen, eine Satire oder gar ein Weihnachtsfest in ferner Zukunft. Seien Sie also auch als Autor dabei, wenn es 2016 in eine Weihnachtsrunde geht!
Ansonsten wünsche ich Ihnen erst einmal viel Vergnügen beim Lesen der »Backnang Stories 2015«. Und vergessen Sie nicht, eine unserer Lesungen zu besuchen.
Marc Hamacher
Leseratten Verlag
Der erste Dank geht an die Autorinnen und Autoren, die bei dieser Ausgabe der »Backnang Stories 2015« mitgemacht haben. Gratulation, wenn die Geschichte es ins Buch geschafft hat, aber auch ein »Kopf Hoch« an diejenigen, die diesmal nicht aufgenommen wurden. Ihr habt jetzt schon die Gelegenheit auf eine neue Chance.
Dann will ich mich bei der Jury bedanken, welche die Geschichten alle gelesen und dann bewertet hat. Dies waren diesmal Cornelia Floeth, Jürgen Nabel, Pia Newman, Karin Riefert und Stephan Wonczak.
Unser Dank gilt auch den Sponsoren für die Spende der Sachpreise: Buchhandlung Kreutzmann, Lars Schürer vom Tafelhaus, das Hofgut Hagenbach, die Parfümerie Dorn, dem Schwarzmarkt, dem Wonnemar und dem Universum Kino.
Danke an Frau Engelhardt von der Stadtbücherei für das nette Grußwort.
Der größte Dank geht aber an alle Leser des ersten Buches, denn der Zuspruch nicht nur beim Verkaufstand, sondern auch bei den Lesungen hat uns Mut gemacht, das Projekt weiter fortzusetzen.
Tabea Ebinger ist in der Nähe von Backnang aufgewachsen.
Falls jemand von ihnen vor ein paar Jahren in Backnang auf ein Kind getroffen ist, welches unbedingt zur „Gummibärcheneisdiele“ gehen wollte, dann war das vermutlich Tabea Ebinger.
Derzeit geht sie am Max-Born-Gymnasium zur Schule. Sie liebt Musik und spielt Querflöte. Außerdem liest sie sehr gerne und natürlich schreibt sie Geschichten.
»Mama?«
Sarah spürte, wie zwei kleine Hände an ihrem Hosenbein zogen und ein kleiner Körper sich an sie schmiegte. Überrascht blickte sie hinunter in das verschmierte Gesicht eines braun gelockten Jungen und sah zu, wie er feststellte, dass es das falsche Hosenbein gewesen war. Er hüpfte weiter zu einer Frau mit der gleichen Haarfarbe, die gestresst wirkte und versuchte, ein schreiendes Baby im Kinderwagen zu beruhigen.
Warum? Warum ich?, schoss es ihr zum hundertsten Mal durch den Kopf. Nie würde solch ein kleines Gesicht seine Rotznase an ihrer Hose abputzen und sie Mama nennen.
Schnell wandte sie sich ab und wischte die Tränen aus dem Augenwinkel.
Sie versuchte, sich auf das, was sie gerade tat, zu konzentrieren, um all die Gedanken zu verdrängen.
Sie zog eine Tafel ihrer Lieblingsschokolade aus dem Regal, griff wahllos nach einer Packung Früchtetee und ging zur Kasse.
Als der Betrag erschien, musste sie schlucken: 47,42 Euro. Dabei hatte sie weder ihr Lieblingsparfum noch den neuen Nagellack aus der Werbung gekauft, und auch beim Shampoo hatte sie zum Billigimitat gegriffen. Wenn man kaum Geld hatte, machte das Einkaufen keinen Spaß. Und Sarah war eigentlich immer knapp bei Kasse, seit sie umgezogen war.
Mit schlurfenden Schritten verließ sie die Müller-Filiale. Ihr Blick fiel auf den Rohbau gegenüber und sie fragte sich, wie lange der Baulärm und der ganze Staub in der Luft der Innenstadt wohl noch andauern würden.
Sie folgte der Straße nach rechts, da sie noch in die Bäckerei wollte, um ein neues Brot zu kaufen.
Als sie am Schaufenster des flippigen Modegeschäfts „Ananas” vorbeikam, entdeckte sie ein hübsches ärmelloses Kleid. Oben war es hellblau und der Ausschnitt fiel in Falten. Der Rock aus einem seidigen Stoff reichte bis übers Knie. Er war in einem dunkleren Blau gehalten und mit weißen Blümchen bedruckt. Sarah blieb stehen, um das Kleid zu bewundern. Doch ihre Augen suchten automatisch nach dem Preisschild und sie wandte sich schnell ab: 178 Euro. Wenn ihr das Geld nicht einmal zum Alltäglichen reichte, wie konnte sie sich einbilden, sich etwas Besonderes leisten zu können? Sie bog nach links in die nächste Querstraße ab und betrat die Bäckerei Mildenberger, die mit einer goldenen Brezel gekennzeichnet war. Die Verkäuferin grüßte sie freundlich. Sarah gehörte zu den Stammkunden, seit sie nach Backnang gezogen war.
»Was darf‘s denn heute sein? Ich kann ihnen unser Vier-Korn-Krusti empfehlen, es ist noch ganz frisch und das Angebot des Tages.«
»Das hört sich gut an«, antwortete Sarah und versuchte, ein Lächeln aufzusetzen.
»Geschnitten wie immer?«
»Ja, bitte.«
»Und was macht die Arbeit?«
»Es geht. Es ist in letzter Zeit immer viel los. Alle wollen jetzt Sandalen kaufen, wo doch der Sommer kommt.«
Es war Samstagnachmittag. Glücklicherweise musste Sarah da nicht arbeiten. Eigentlich tat sie ihre Arbeit ja gern. Zumindest war das früher so gewesen. Sie war gelernte Schuhfachverkäuferin und mochte die vielen unterschiedlichen Menschen, denen sie bei ihrer Arbeit begegnete. Es brachte Abwechslung, einmal eine 17-Jährige bei der Auswahl von preiswerten und vor allem modischen High Heels für die nächste Party zu beraten und dann wieder für einen Senioren altbewährte Lederschuhe mit Tragekomfort zu finden.
Nun lebte und arbeitete sie schon fast ein Jahr in Backnang. Sie hatte dringend einen Tapetenwechsel gebraucht. Doch vergessen konnte sie es dadurch nicht. Es hatte sich ja nichts daran geändert. Nie, nie, NIE würde sie ein Kind bekommen.
Sie überquerte die Straße, um in der Bank noch schnell ihren Kontostand zu überprüfen. Nachdem sie auf den Türöffner gedrückt hatte, betrat sie den Vorraum und wartete, bis ein Automat frei wurde. Nach ihr trat ein Mann mittleren Alters in die Bankfiliale. An seiner Hand hielt er einen etwa fünfjährigen Jungen, der aufgeregt auf und ab hüpfte.
»Du, Papa, krieg ich nachher noch ein Eis?«, fragte der Kleine und blickte mit seinen unschuldigen Kinderaugen zu seinem Vater hinauf.
»Mal sehen. Wenn wir uns mit Mama und Oma wieder treffen, können wir sie fragen, ob sie auch ein Eis möchten.«
»Au ja! Ich will das blaue Schlumpfeis. Und wir müssen in die Gummibärcheneisdiele gehen! Das ist die beim Müller und beim Dönerladen«, plapperte er weiter.
»Gummibärcheneisdiele?«, fragte sein Vater.
»Ja, Papa. Da kriegen die Kinder noch ein Gummibärchen auf ihr Eis. Und wenn man Geburtstag hat, dann sogar zwei. Da war ich nämlich, an meinem Geburtstag, mit Mama ein Eis essen.«
Inzwischen war ein Bankautomat frei geworden. Sarah tippte ihre Geheimzahl ein und wählte „Kontostand überprüfen” aus. Ihr entwich ein Seufzen: 235,10 Euro. Nur noch, dabei hatte der Monat gerade erst angefangen. Und sie musste sich dringend etwas Neues zum Anziehen kaufen. Ihren Bikini konnte sie nicht mehr tragen. Er würde sie in jeder einzelnen Sekunde an den letzten Sommer erinnern. Diese glücklichen Wochen, in denen sie tatsächlich geglaubt hatte, sie würde Mama werden. Die Zeit, in der sie nicht so allein gewesen war.
Alles, was ihr geblieben war, war ein Berg Schulden. Und ein aufgewühltes Meer voll von ungeweinten Tränen.
Plötzlich spürte sie, wie jemand sie von hinten antippte. Sie konnte fast fühlen, wie er sich immer von hinten angeschlichen und ihr in die Seiten gepiekt hatte. In ihrem Kopf hallte ihr Quieken und Lachen wieder, wenn sie sich dann zu ihm umgedreht hatte, um ihm auf die Finger zu klopfen. Sehnsucht nach dem Unmöglichen ergriff ihr Herz.
Wieder wurde sie von hinten angetippt und hörte ein Räuspern.
»Hm, hm. Junge Dame, Sie starren da schon seit fünf Minuten Löcher in die Luft. Sind Sie fertig? Dann wäre es nämlich sehr freundlich, wenn Sie Platz für die anderen machen würden, bevor es mit mir noch vollends zu Ende geht.«
»Oh, Verzeihung«, sagte Sarah und blickte in das Gesicht eines alten Mannes.
Sie war so in ihrer Erinnerung versunken gewesen, dass sie gar nicht gemerkt hatte, wie sie immer noch vor dem Bankautomaten stand und auf das Display starrte.
Mittlerweile waren auch der kleine Junge und sein Vater an die Reihe gekommen und nun dabei, das Gebäude zu verlassen.
»Möchtest du die Tür aufmachen?«
»Au ja!«
Sarah wartete, bis der Kleine freudestrahlend auf den Schalter gedrückt hatte, der die Türe aufgehen ließ, und lief hinaus.
Sie ging weiter durch die Fußgängerzone, überquerte den Rathausplatz und kramte ihren Schlüsselbund aus der Tasche. Dann schloss sie die Tür des Fachwerkhauses, in dem sie nun wohnte, auf. Im unteren Geschoss befand sich ein Geschäft.
Sarah schleppte ihre Taschen die Treppe hinauf; vorbei an den Wohnungstüren im ersten und zweiten Stock, vor denen fein säuberlich aufgereiht die Schuhe der anderen Bewohner standen. Die kleinen rosa-weiß gepunkteten Gummistiefel im zweiten Stock versetzten ihr jedes Mal einen Stich. Schließlich erreichte sie die Tür zu ihrer kleinen Wohnung im Dachgeschoss. Weil die Wohnung nahe der Innenstadt gelegen war, war sie trotz ihrer Größe so teuer, dass Sarah die Miete fast nicht bezahlen konnte. Aber sie war froh, diese Wohnung gefunden zu haben. So musste sie zur Arbeit und zum Einkaufen keine weiten Strecken zurücklegen. Denn ein Auto konnte sie sich nicht leisten.
Außerdem war die Wohnung recht hübsch und sie saß gerne an dem großen Fenster im Wohnzimmer, das sich genau in der Hausmitte befand, und beobachtete die Menschen, die unten vorbeigingen, um ihre Einkäufe zu tätigen oder um den Arzt zwei Häuser weiter aufzusuchen.
Sie verstaute ihre Einkäufe in der Küche und ließ sich auf das kleine Sofa sinken, das sie beim Schlussverkauf eines insolventen Einrichtungshauses erworben hatte.
Aus ihrem Augenwinkel löste sich eine Träne. Überall wimmelte es von glücklichen Familien. Und was war mit ihr? Sie hatte nichts. Sie hatte alles verloren.
Sarah nahm die Fernbedingung ihres CD-Players vom Sofatisch und drückte auf „Play”. Zarte Klavierklänge erfüllten den Raum. Jetzt konnte sie ihre Tränen nicht mehr zurückhalten. Es war das Lied. Wieso hatte sie nicht mehr daran gedacht, welche CD in ihrer Musikanlage lag? Dieses Lied hatte sie zusammen mit ihrem Baby angehört. Zumindest hatte sie das gedacht. Bis die ernüchternde Diagnose kam.
Sie schlang ihre Arme um das dunkelrote Kissen, das neben ihr lag. Sein Kissen.
Am Abend beschloss Sarah, noch einmal nach draußen zu gehen. In ihrer Wohnung machte sie sich nur verrückt. Sie zog eine leichte Sommerjacke über und verließ das Haus.
Sie beschloss, zu dem Fluss, der sich durch Backnang schlängelte, zu gehen. Weit war es nicht. An der Apotheke zwei Häuser weiter bog sie rechts ab und stieg schließlich die Stufen neben der Zeitungsredaktion hinab. Auf dieser Seite des Ufers befand man sich in der Natur. Links war der leise rauschende Fluss, dessen Ufer von Bäumen, Büschen und Gräsern gesäumt war, und rechts befand sich ein bewachsener Steilhang. Irgendwo hoch oben thronten die alte Stiftskirche und der Stadtturm, der – wie Sarah von der Stadtführung wusste, die sie vor zwei Wochen mitgemacht hatte – früher einmal der Turm der Bürgerkirche gewesen war, die es nun nicht mehr gab. Den einfachen Bürgern war der Zutritt zur Stiftskirche, in der der Adel seine Toten ehrte, verwehrt geblieben. So wie ihr der Zugang zum Glück. Seufzend ging Sarah ein Stück zwischen den Bäumen entlang, aber dann beschloss sie, die Brücke zu überqueren, da ihr die vielen Geräusche und Schatten unheimlich waren. Auf der anderen Seite war es heller. Die Brücke gab einem das Gefühl, von der Einsamkeit mitten in die Stadt zu treten. Hier war ein großer Parkplatz, der an einer viel befahrenen Straße lag. Auf der anderen Seite der Straße reihten sich die Geschäfte im sogenannten „Schweizerbau” dicht an dicht.
Früher einmal eine Fabrik zur Lederverarbeitung, erinnerte sich Sarah. Über den Schaufenstern, die die Straße säumten, bestand das Gebäude aus hübschen roten Backsteinen.
Um diese Uhrzeit war hier allerdings nicht mehr viel los und die Läden hatten längst geschlossen.
Doch auch das Licht der Straßenlampen konnte Sarahs Einsamkeit nicht vertreiben. Sie schlenderte am Ufer entlang zu den großen Treppen. Diese wurden erst vor wenigen Jahren, bei der Neugestaltung des Ufers nach einem Hochwasser, angelegt. Langsam stieg Sarah die Stufen hinunter und setzte sich. Sie war einsam, an einem Ort, an dem tagsüber so viele glückliche Menschen lachten. Eine sanfte Brise spielte mit ihrem Haar. Sie streifte ihre Flip-Flops ab und tauchte ihre Füße in das kalte Wasser der Murr, das über die unterste Stufe floss. Sie lauschte dem Murmeln des Flusses, doch sie hatte den Eindruck, dass es eher ein Murren war. Passend zum Namen des Flusses. Und passend zu ihrer Stimmung. Der Wind trug das Klagen eines kleinen Kätzchens auf der anderen Seite des Flusses zu ihr hinüber.
Langsam wurde ihr trotz der milden Luft kalt und sie beschloss, in ihre Wohnung zurückzukehren. Seufzend erhob sie sich und sah auf zum Mond, der zwischen den Wolkenfetzen am Himmel hing. Sie zog ihre Schuhe an, stieg die Stufen wieder hinauf und ging am Parkplatz vorbei. Irgendwo wurde eine Autotür zugeknallt. An der Straße mussten gerade einige Autos an der roten Ampel anhalten, da ein paar Jugendliche auf dem Weg zur Spätvorstellung im Kino die Straße überqueren wollten.
Sarah schritt über die Brücke und verließ für einen Moment die Stadt. Den Ort, an dem sie eine gebrochene Frau war. Der Ort, an dem ihr Neuanfang von Erinnerungen behindert wurde. Der Ort, an dem es ihr nicht gelang loszulassen.
Hier konnte sie für einen Moment jemand anderes sein. Hier zwischen den Bäumen, im Schatten der Nacht, wo der wissende Blick des Mondes nicht hinscheinen konnte. Der rauschende Fluss trug sie fort in eine andere Welt. Sie war nicht allein, da war jemand, der sie vor der Dunkelheit beschützte. Und sie war glücklich. Lebte wie in einem Märchen. Doch Märchen existierten nicht.
Was waren das für seltsame Schreie, die in ihre Traumwelt drangen?
Bestimmt nur das Kätzchen. Sie ging weiter, auf die enge Treppe bei der Zeitung zu. Doch das seltsame Jammern hielt an. Ein kalter Schauer lief ihr über den Rücken.
Oh Gott! Ich werde verrückt, dachte sie. Jetzt höre ich mein Baby schreien.
Schnell wollte sie dieser seltsamen Stimmung entfliehen. Doch es zog sie hin zu dem Schreien. Ganz eigenartig. Und so folgte sie dem Geräusch und blieb schließlich vor einem Busch stehen und bückte sich.
Warum hatte sie ihr Handy bloß nicht mitgenommen? Dann hätte sie jetzt wenigstens Licht, um etwas zu erkennen. Vorsichtig schob sie die Äste beiseite und tastete sich langsam vor. Doch ihre Hände stießen nicht auf das Fell eins verirrten Kätzchens. Sie fühlte Stoff. Sarah zuckte zurück, als sich unter dem Busch etwas bewegte. Sie hielt einige Sekunden inne, doch nichts passierte. Noch einmal griff sie mit zitternden Händen unter den Busch und bekam ein Bündel zu fassen. Vorsichtig zog sie es hervor und legte es vor dem Busch ab. Sie hielt den Atem an und konnte ihren Augen nicht trauen.
Spielten die Dunkelheit und all die Schatten ihrer Wahrnehmung einen Streich? Sie streckte ihre Hände zögernd nach dem Bündel aus. Ja, sie konnte sie eindeutig fühlen. Die kleinen Beine, die verzweifelt versuchten, sich von der Decke freizustrampeln. Und den dünnen Haarflaum auf dem Köpfchen. Ein kleines Baby starrte sie unverwandt mit großen Augen an.
»Oh mein … Wie kommst du … Was …«, begann sie zu stottern und schlug sich die Hand vor den Mund.
Ein Baby? Eingewickelt in eine Decke? Versteckt unter einem Busch?
»Sarah, wach auf!«, sagte sie sich. »Du drehst durch. Das ist alles ein verrückter Traum!«
Doch nichts passierte. Mit einem lauten Seufzer stieß sie Luft aus. Sie hatte gar nicht gemerkt, dass sie den Atem angehalten hatte. Ein Windhauch fuhr durch die Blätter der Bäume und ergriff eine ihrer Haarsträhnen, sodass sie dem Baby übers Gesicht streichelte. Daraufhin begann es wieder zu weinen.
»Okay. Ganz ruhig. Du musst etwas tun«, versuchte sie sich zu beruhigen und etwas Ordnung in ihr wirres Gedankenkarussell zu bringen. »Das Baby kann nicht hierbleiben. Es friert bestimmt und hat Hunger.«
Das Weinen des Babys drang in ihre Gedanken. Sie beschloss, zuerst das Baby zu versorgen, und sich dann weitere Gedanken zu machen. Sie musste die Polizei anrufen. Denn ohne Auto war es zu weit, um zur Backnanger Polizeiwache zu gehen. Behutsam wickelte sie das kleine Wesen wieder in die Decke und nahm es auf den Arm. Sarah schaukelte das Baby langsam hin und her, um es zu beruhigen. Und tatsächlich verstummten seine kläglichen Schreie und es schloss die Augen. Vermutlich war es ziemlich erschöpft. Wer weiß, wie lange es schon unter dem Busch gelegen und geschrien hatte.
Sarah ging auf die Treppen bei der Zeitungsredaktion zu. Plötzlich hatte sie es eilig, diesen unwirklichen Ort zu verlassen. Die Dunkelheit wirkte nicht mehr wie eine Traumwelt auf sie, sondern schien ihr aufzulauern.
Wer konnte so grausam sein und ein kleines, hilfloses Baby aussetzen? Womöglich hat diese Person etwas dagegen, dass Sarah es retten wollte. Sie begann zu rennen. Als sie am Fuß der Treppe ankam, hastete sie hinauf. Endlich hatte sie das Licht der Stadt erreicht. Doch die Unwirklichkeit ließ sich nicht abschütteln. Denn Sarah hielt ein echtes, lebendiges Baby im Arm, das sich an sie schmiegte.
Eilig ging sie auf ihr neues Zuhause zu und versuchte zugleich, das Baby nicht zu sehr durchzuschütteln.
Als sie in ihrer Wohnung angelangt war, breitete sie einhändig ein weiches Handtuch auf dem Sofa aus und bettete das Baby darauf. Ihr Blick glitt zu dem Kissen, das neben dem Kopf des Kleinen lag. Doch Sarah schob die Erinnerungen und den Schmerz der Vergangenheit beiseite. Dieses winzige, engelsgleiche Baby brauchte sie jetzt.
Sie zog ein sauberes Leinentuch aus der unteren Schublade ihres Kleiderschranks, um ihm eine provisorische Windel anzulegen. Als sie das schlafende Baby vorsichtig auszog, machte ihr Herz einen Hüpfer. Es war ein Mädchen!
Sanft strich sie der Kleinen über den dunklen Haarflaum des Kopfes. Sarah fühlte etwas Nasses auf ihrem Gesicht und sah, wie eine glitzernde Träne auf das Gesicht der Kleinen fiel. Sie sah aus wie eine Perle. Plötzlich war ihr nach Tanzen zumute. Was auch geschehen war und wie auch immer die Geschichte enden würde, sie war dankbar für diesen Moment. Und da fühlte Sarah, wie neue Hoffnung in ihr aufstieg.
Monika Grabke wurde 1995 im Krankenhaus in Backnang geboren. Ihre schulische Laufbahn ist mit Backnang verflochten: Mörikegrundschule, Schickhardt-Realschule und Abitur am Berufsgymnasium in Backnang.
In ihrer Freizeit liest sie sehr gerne, zeichnet und malt, backt oder betätigt sich sportlich.
Dem Deutschunterricht und dem Geschichten- und Aufsätzeschreiben konnte sie bis jetzt nichts abgewinnen. Trotzdem ist sie auch im zweiten Jahr der »Backnang Stories« wieder mit einer Geschichte vertreten.
Ich faltete die heutige Wochenblattausgabe auseinander, schaute auf die Titelseite und legte sie sogleich weg. Wie konnte es sein, dass ein Orgelkonzert in der Stiftskirche wichtiger war als die Beerdigung letzten Sonntag, der ich beiwohnte. Mir war klar, dass die Welt nur für mich grauer geworden war. Wirklich nur für mich. Ich war die einzige Person auf dieser Bestattung gewesen, was die Angelegenheit noch trauriger machte. Der Verstorbene war mein Nachbar, theoretisch. Praktisch aber war er Vater- und Mutterersatz in einem, sozusagen die einzige Familie, die ich in meiner Nähe hatte. Mein biologischer Vater war früh gestorben. Meine Mutter lebte weiter weg, außerdem war sie schon immer gefühlskalt. Nur ich wohnte in Backnang.
Ich entschied mich kurz nach meinem Studium dafür, hierher zu ziehen. So viel hatte ich von meinen Eltern und Großeltern über Backnang gehört, die hier aufgewachsen waren. Also zögerte ich nicht lange, als im Industriegebiet Lerchenäcker eine Stelle als Programmiererin frei wurde. Nichts hielt mich dort, wo ich früher wohnte, und so wagte ich einen Neuanfang.
Anfangs froh, von der Kontrolle meiner Mutter frei zu sein, hatte ich schnell genug von dieser Einsamkeit. Es war diese Einsamkeit, die mich an einem schönen Samstag an die frische Luft drängte. Ich genoss die Sonnenstrahlen auf meinem Gesicht, das Geräusch von dem nicht asphaltierten Weg in dem kleinen Park an der Murr. Spontan entschied ich, mich auf die Bank zu setzen, die schon von einem älteren Herrn, der mit einem silbernen Anhänger spielte, besetzt war, und meine Seele baumeln zu lassen. Ich schloss die Augen und vergaß die Welt um mich herum, in die Geräusche der Bäume und Vögel völlig vertieft. Das Geräusch von etwas, das auf den Sandkies unter meinen Füßen fiel, lenkte meine Aufmerksamkeit auf meinen Sitznachbarn. Ich bückte mich im selben Moment vor wie er, um den Gegenstand aufzuheben.
Meine Finger berührten die glatte Oberfläche des Anhängers vor seinen langsameren Fingern. Das Silber war warm von seinen Berührungen. Ich sah, dass es sich um ein Halbherz handelte. Eins von diesen, die Verliebte bei sich trugen und die zusammenpassten, wenn man sie aneinander steckte. Ich hob es auf und reichte es dem Mann. Dabei schaute ich ihn an und lächelte ihm zu. Auch er sah mich an.
Sein Blick schien in mich reinzuschauen. Seine Miene konnte ich nicht deuten, irgendetwas zwischen nachdenklich und verwirrt. Schnell glätteten sich seine Züge und mir kam es so vor, als ob ich mich getäuscht hätte. Daraufhin redete ich den ganzen Nachmittag über mit ihm, bis es dunkel und kühler wurde. Ich weiß nicht, was dieser ältere Mann an sich hatte, dass ich ihm meine Seele anvertraute, ohne ihn zu kennen. Ich erzählte ihm von meiner Mutter, meinem Vater, meiner Arbeit und meinem tristen Singledasein. Aus irgendeinem Grund war mein Leben für ihn so faszinierend, wie es nicht mal für mich wäre, wäre ich ein Supermodel. Immer wenn ich aufhörte zu erzählen, fragte er weiter nach. So lernten wir uns kennen. Als Monate später eine Wohnung neben meiner frei wurde, erzählte ich ihm sofort davon. Ich sagte ihm, dass ich mich um seine Wohnung kümmern und seine Wäsche machen könnte. Ich wollte ihm helfen und für ihn da sein, so wie er immer ein offenes Ohr für meine Probleme hatte. Als er einzog, war ich froh, ihn in meiner Nähe zu haben. Auch wenn ich ihm einredete, dass er mich brauchte, so war ich es in Wahrheit, die ohne ihn nicht leben konnte.
In kürzester Zeit wuchs mir dieser Herr so sehr ans Herz, dass ich ihn als meine Familie betrachtete. Spaziergänge am Samstag wurden bei uns zur Tradition. Jeden Samstag nahm er mich unter den Arm und wir gingen zu „unserer Bank”, wie wir sie inzwischen nannten. Oft kam es vor, dass er an meiner Tür klingelte, als ich geschafft von meiner Arbeit nach Hause kam. Mit einem mit Frischhaltefolie bedeckten Topf stand er vor meiner Tür und erklärte mir rührend, dass er zu viel gekocht hatte und nicht wollte, dass es verdarb. In solchen Momenten tat ich so, als ob ich ihm seine Lüge abkaufen würde, insgeheim froh über etwas Anständiges zu essen. Und er tat so, als ob er seiner Lüge vollends glauben würde und mich nicht gerade vor dem Tod durch Fertigkost rettete.
Auch in den letzten Wochen waren wir jeden Samstag spazieren gegangen. Wir mussten unsere Route aber kürzen, denn er hatte nicht mehr die Kraft, lange Märsche zu unternehmen. So waren wir auch am Samstag vor zwei Wochen an der frischen Luft. Der feine Frühlingsgeruch lag in der Luft. Ich stütze ihn von der einen Seite, mit dem freien Arm stützte er sich auf seinem Gehstock ab. Bei unserer Bank angekommen, ließen wir uns nieder. Einen Moment saßen wir stumm da, beide in Gedanken versunken.
»Weißt du, du solltest nicht so streng mit deiner Mutter sein«, durchbrach er die Stille plötzlich.
Zu mehr als einem zusammenhangslosen „Hmmm?” war ich nicht fähig.
»Deine Mutter hat bestimmt Gründe dafür, dass sie laut dir so gefühlskalt und abweisend ist. Du solltest sie nicht bewerten. Du kennst ihre Vorgeschichte nicht, sie war ja nicht immer deine Mutter.«