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Acht Jahre sind seit dem Fall des Dunklen Reiches in das Land gezogen und die Wunden des Krieges sind fast verheilt. Grace und Shawn genießen die Zeit des Friedens mit ihren beiden Kindern. Doch dann treffen aus dem ehemaligen Dunklen Reich beunruhigende Nachrichten ein. Rebellen kämpfen im Untergrund gegen die Herrschaft von Hochkönig Shawn. Gleichzeitig regt sich eine bedrohliche und finstere Macht in der alten Feste des im letzten Krieg getöteten Gegners König Kalidor. Shawn reist in das Neue Land, um sich dieser Probleme anzunehmen. Als Grace und die Kinder dann noch bei einem Besuch in ihrer alten Heimatwelt stranden, nimmt das Unheil seinen Lauf ...
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Seitenzahl: 535
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Tanja Kummer
Der Weltenbezwinger
Roman
Leseratten Verlag
Tanja Kummer
Der Weltenbezwinger
ISBN 978-3-945230-03-9
1. Auflage, Backnang 2014
© Alle Rechte vorbehalten
Leseratten Verlag, Marc Hamacher,
71522 Backnang
www.leserattenverlag.de
www.tanjakummer.de
Für meinen Mann, der Berater, Geliebter und Freund in einem ist.
Für Stephan, der jedem Fehler im Manuskript einen unerbittlichen Kampf angesagt hat ... ganz gleich, wie lang es dauert. Danke!
Und für alle, die bereits mit Sehnsucht die Fortsetzung erwartet haben.
Degger Thul war sich bewusst, dass er träumte, doch er war unfähig zu erwachen. Fast so, als ob ihn der Traum daran hindern wollte. Wirre Eindrücke, Bilder und Gefühle suchten ihn heim. Er sah Ländereien aus den unterschiedlichsten Epochen seiner Welt. Orte und Plätze, die es nicht mehr gab. Schon lange verschwundene Gebäude und Denkmäler, die entweder durch den Menschen selbst, oder durch den Zahn der Zeit zerstört worden waren. Doch da waren auch Blut und Tod. Und ein unstillbarer Hunger nach Vernichtung. Eine suggestive Macht, die Gehorsam verlangte, während um ihn herum alles in einem dichten, feuchten Nebel versank. Orientierungslos irrte er umher. Er war alleine. Völlig alleine.
Dann endlich lichtete sich der Nebel. Gebäude und Ländereien wuchsen vor ihm empor. Bilder von Ereignissen, die sich mit denen aus seinen Erinnerungen deckten, zogen an ihm vorbei. Zugleich waren es die Erinnerungen eines anderen Menschen, denn er sah sich selbst. Er war nicht länger Degger Thul, Sohn eines reichen Gutsherrn, sondern der Dunkle Prinz Yalynn, Erbe des grausamen Herrschers des Dunklen Reiches.
Gier war das stärkste Gefühl, das er verspürte. Gefangen in Yalynns Körper trat er in den Schrein, unfähig, den Körper zu beeinflussen. Greifbar nahe erschien Yalynn das Sonnenamulett und er streckte die Hand aus um es an sich zu reißen. Plötzlich brach unter ihm der Boden weg und er stürzte unsanft in eine Grube. Die Empfindung von Wut für seine Gegnerin, einer einfachen Frau, stieg ins Maßlose. Trotzdem lachte er und kletterte erwartungsvoll hinaus.
Die Druckwelle einer Explosion schleuderte ihn zu Boden. Flammen züngelten empor. Panik und Hektik umgaben ihn und legten sich nur langsam. Es folgte Enttäuschung, als er bemerkte, dass das Objekt seiner Begierde nur eine Fälschung war. Unmenschlicher Hass brannte in ihm, während er ins Freie trat.
Der Geruch von frischem Blut und Kampfeslärm weckte ein Verlangen in Yalynn, dessen Verlockung er nicht widerstehen konnte.
Dann erschien die Königin, stolz und anmutig auf dem Rücken eines Schimmels.
Yalynn sah, dass sie das Sonnenamulett nicht trug. Stattdessen hatte sie eine andere Kette umgelegt. Doch auch diese hatte er schon einmal gesehen. Die Erkenntnis, was der Anhänger wirklich war, traf ihn wie ein Schock. Dazu gesellte sich eine leise flüsternde Stimme, die von seiner Niederlage kündete.
Der magische Schutzzauber des Anhängers erlosch und die Hülle brach auf und fiel herab. Darunter kam das Sonnenamulett zum Vorschein. Es brannte so hell auf ihrer Brust, dass es der großen Schwester am Horizont in nichts nachstand. Grace’ blondes, langes Haar wehte wie die Strahlen der Sonne um sie herum und verlieh ihr eine übernatürliche Schönheit.
Die Königin nahm die Kette ab und streckte sie in den Himmel, der Sonne entgegen. Voller Zuversicht. Alles Lebende hielt erwartungsvoll inne, in dem was es tat.
Das einzige, was Yalynn empfinden konnte, war Überraschung.
Sein scharfer Befehl durchschnitt den Tag. Berittene Soldaten rückten mit gezückten Schwertern auf die Königin zu. Doch im nächsten Moment zerfielen all jene, die bereits tot waren, im Sattel zu Staub. Die Magie, welche ihre Seelen über den Tod hinaus an ihre Körper gebunden hatte, war gebrochen.
Angst und Panik brachen aus.
Doch in Yalynn war keine Angst, keine Panik. Gefühllos erkannte er, dass er sie unterschätzt hatte. Mit diesem Wissen machte er sich bereit, ihre Herausforderung anzunehmen. Doch Degger, der Träumer in Yalynn, wurde aus diesem Körper herausgezogen. Von einem unbekannten Wesen mitgenommen, sank er hinab, aus ihm heraus und suchte Schutz im Boden. Jetzt steckte Degger in diesem Wesen, welches sich nun sicher fühlte. Es lauerte mit dem Wissen einer Existenz, die unsterblich war. Sie blieben von der Königin unentdeckt, während er weiter beobachtete.
Das Duell war in vollem Gange. Licht und Dunkelheit, Hitze und Kälte warfen sich in Entladungen der Magie gegeneinander und versuchten die Konkurrenten zu schützen und zu vernichten. Die Königin und Yalynn verschwanden in der Dunkelheit finsterer Magie.
Ein Ring fiel zu Boden. Ein schönes Schmuckstück und wertvolles Gut zugleich. Er landete unweit des lauernden Wesens, das bereits neue Pläne schmiedete.
Kalt und ohne Gefühl.
Wartete.
Dann sah sich der Träumer selbst. Er, Degger Thul, schritt suchend über das Feld. Dann bückte er sich nach dem Ring. Und berührte das Wesen.
Esstieß zu.
Schnell.
Unbemerkt drang es in den Wirt ein. Riss den Träumer zurück in seinen Körper.
Verweilte dort.
Unentdeckt.
Lauernd.
Geduldig.
Zeit war ohne Bedeutung.
Schreiend erwachte Degger Thul. Der Schweiß perlte von seiner Stirn und sein Herz raste wie bei einem Kaninchen auf der Flucht vor dem Fuchs. Seine Beine hatten die Decke von sich gestrampelt und sie lag nun am Fußende. Trotzdem war er in Schweiß gebadet. Wieder und immer wieder hatte ihn der Traum heimgesucht. Anfangs nur selten und in so großen Abständen, dass er ihn immer wieder vergessen konnte. Vor einigen Wochen aber war er mit neuer, noch erschreckender Intensität zurückgekehrt. Jetzt sah er fast jede Nacht diese Bilder vor sich. Er fragte sich, was der Auslöser dafür war, aber er konnte keine Antwort darauf finden. Zugleich verstand er den Traum nicht; er sah Dinge, die ihn verwirrten, weil es darin auch um ihn ging.
Nur ein Albtraum? Oder wurde ihm die Realität gezeigt? Schickte ihm die Göttin eine Vorsehung als Warnung? War er Wirt für irgendetwas, das er weder sehen noch fühlen konnte? War es noch in ihm? Worauf lauerte es? Auf den Ring? Das Amulett? Und was oder wer war es?
Wie immer fand er keine Antworten auf seine Fragen. Es war niemand da, mit dem er über magische Ereignisse sprechen konnte. Niemand, der ihm mit Rat und Tat zur Seite stand. In den letzten Tagen hatte er bereits des Öfteren überlegt, eine Nachricht für Shawn nach Lywell zu senden. Doch er hatte nie die richtigen Worte gefunden, um seinen Schrecken, seine Zweifel und Ängste zu Papier zu bringen. Zudem wollte er nicht wie ein Narr aussehen. Darum tat er das, was er immer tat: Er verdrängte den Traum und die Fragen, die dieser aufwarf.
Als er sich etwas besser fühlte, stand er auf und wusch sich. Das vorbereitete Wasser vom vorigen Abend hatte bereits einen muffigen Geruch und war trübe geworden. Das hatte er hier schon oft beobachtet. Irgendetwas verdarb hier. Und das traf nicht nur auf das Wasser zu. Lebensmittel wurden ungenießbar, kaum dass man sie in die Festung gebracht hatte. Anfangs war es nicht so schlimm gewesen, aber seit einigen Wochen hatte es immer mehr zugenommen. Wie die Träume. Gab es da eine Verbindung?
Dann war da noch diese Kälte, die sich zunehmend in dem Gemäuer ausbreitete. Jene Schatten, die jeden Raum düster werden ließen. Er hatte versucht, das Problem dadurch zu lösen, die Lebensmittel nur noch in der Menge einzukaufen, wie sie sie verbrauchen konnten. Dann hatte er befohlen, die Kamine selbst jetzt im Sommer zu schüren, um Wärme in ihre frostigen Glieder zu bringen Er ließ bunte Teppiche, Gemälde und Blumen in der Feste verteilen. Aber all seine Versuche waren sinnlos. Je mehr er sich bemühte, desto schlimmer wurde es. Was immer es war, es ließ sich nicht aufhalten.
Zudem begann es sich auch auf die Menschen auszuwirken. Ihre Gemüter wurden immer trüber, alle waren übellaunig und leicht reizbar. In den letzten Tagen hatte er schon von dem einen oder anderen Zwischenfall gehört, der in einem hitzigen Streitgespräch geendet hatte. Noch. Er ahnte, dass der Prozess noch nicht abgeschlossen war. Degger fürchtete, es würde so lange weitergehen, bis sie wie wilde Tiere übereinander herfielen. Was konnte er tun? Er verstand nichts von Magie, wie sie hier eindeutig am Werke war.
Natürlich war er damals dabei gewesen, als Eweligo und Quinfee die verbotenen Räume in der Festung hatten zumauern lassen. Räume, in denen sie auf Zutaten und Zeugnisse dunkler Magie gestoßen waren. Gebrauchsgegenstände ihrer besiegten Widersacher König Kalidor und dessen Sohnes Yalynn. Es durfte nicht sein, dass sich daran jemand bediente. Dieser Teil der Festung unterlag strengsten Kontrollen, weil man sich so sehr vor dem fürchtete, was hinter den Barrieren lag. Es wäre vielleicht besser gewesen, den Inhalt zu vernichten, aber niemand, außer vielleicht Eweligo, hatte verstanden, wozu die vielen merkwürdigen Konstruktionen und Mixturen dienten. Und dieser hatte sich eindeutig gegen die Zerstörung ausgesprochen. Nicht nur, weil selbst er bei vielen unbeschrifteten Flaschen nicht wusste, was darin war und die Erforschung Jahre gedauert hätte. Sondern weil Eweligo selbst nicht ausschließen wollte, dass er dabei etwas erschaffen könnte, dass er nicht kontrollieren konnte. Vielleicht Schlimmeres noch als ihren alten Gegner König Kalidor. Andererseits war aber das, was hier am Werke war, nichts Gutes. War möglicherweise irgendetwas in den verschlossenen Räumen erwacht? Etwas, von dem sie nicht gewusst hatten, dass es da war?
Es schauderte ihn und er zog sich rasch an, verließ den Raum und schritt zielstrebig durch die Gänge. Auch das war so eine Sache, die ihm unheimlich war. Die Festung war innen wie außen eine schwarze Trutzburg aus glattem schwarzen Fels. Sie gehorchte einer Bauweise, deren Sinn er nicht verstand. Die Flure waren kreuz und quer angelegt und glichen geradezu Irrgängen. Er konnte sich des Eindrucks nicht verwehren, dass die Gänge beweglich gewesen sein mussten und dass König Kalidor sie mit Magie verschoben hatte, um bequem von einem Raum in den anderen gelangen zu können. Als er dann zu seinem letzten Feldzug gegen Tybay aufgebrochen war, hatte er die Gänge einfach so zurückgelassen, wie er sie zuletzt benutzt hatte. Degger hatte Wochen gebraucht, um sich einigermaßen in der Feste zurechtzufinden. Zudem gab es kaum Fenster in der Festung. Nicht so wie in Lywell, einem sonnendurchfluteten und freundlichen Palast, der geradezu zum Verweilen einlud. Diese Burg war ein großer, dunkler Bau, und das Ungeziefer wuchs und gedieh in ihren Gängen.
Er bekam eine Gänsehaut und Ekel ergriff ihn. Zudem packte ihn eine schmerzliche Sehnsucht nach dem Ort in Tybay, an dem er Freunde und Menschen wusste, die er schätzte und liebte. Degger machte auf der Stelle kehrt und eilte in seine Gemächer zurück.
Zu lange, viel zu lange hatte er sie alle nicht mehr gesehen. Eifrig, ohne weiter darüber nachzudenken, packte er einen Beutel mit Kleidungsstücken, einem Reiseumhang und einer Decke und hetzte wieder hinaus. Er schritt den Gang auf der Suche nach seinem Leibdiener herunter.
»Michael!«, brüllte er übellaunig, als er ihn nicht gleich finden konnte. »Taugenichts von Diener«, knurrte er zu sich selbst und eilte in den Hof hinaus. Ein sonniger Sommermorgen empfing ihn und er schritt noch schneller aus. Dann trat er in den Stall neben dem Haupttor.
»Sattelt mein Pferd!«, rief er in den Stall, warf dem Stallburschen sein Bündel zu und hetzte wieder davon. Er war wie auf der Flucht vor etwas, das er nicht verstehen konnte. In der Küche ließ er sich ein wenig Proviant packen und war schon wieder auf dem Hof, als ihn sein Leibdiener, sichtlich außer Atem, erreichte.
»Mylord, Ihr habt nach mir rufen lassen?«
»Ich werde nach Lywell reiten«, erklärte er. Die Augen des jungen Mannes wurden rund vor Überraschung.
»Aber die Termine?!« Michael gestikulierte hilflos mit den Händen.
»Sagt alles ab!«, befahl er.
»Wann werdet Ihr zurück sein?«
»Das weiß ich noch nicht«, gestand er und fragte sich, ob er überhaupt wieder hierher zurückkehren mochte. Im diesem Moment wollte er einfach nur von hier weg. Weit weg.
»Aber wer sorgt für alles während Eurer Abwesenheit, Mylord?«
»Du!«, befahl der König ohne zu überlegen. »Du brauchst dich auch um nichts weiter zu kümmern, als alles abzusagen und ansonsten gar nichts zu tun«, erklärte er, froh gelaunt über diesen sinnvollen Satz, und ließ Michael einfach stehen. Der junge Mann seufzte schicksalsergeben.
Degger trat in den Stall, nahm das Pferd entgegen, schwang sich darauf und ritt davon.
Michael blickte ihm hinterher und spürte die neugierigen Blicke all jener auf sich, die das Gespräch mit angehört hatten. Er war nur der Leibdiener des Königs. Immerhin der, der alle Diener, Mägde, Köche und Burschen befehligte, und manchmal im Namen des Königs Entscheidungen treffen durfte. Trotzdem war die Leitung einer ganzen Burg etwas, an das er sich nicht gewöhnen konnte. Nicht nur, dass er sich mit dieser Aufgabe überfordert fühlte, sondern er war auch ganz alleine damit. Dabei wäre er so gerne mit dem König gereist. Zum einen, weil das seine eigentliche Pflicht gewesen wäre, zum anderen, weil auch er sich nach Lywell zurück sehnte.
Das Bild, das sich ihm bot, war ihm nicht fremd, denn er hatte es in den letzten sieben Jahren fast täglich gesehen. Trotzdem kam es ihm auch heute noch immer so ungewohnt vor wie beim ersten Mal. Ein Lächeln spielte um seine Lippen und die kleinen Falten um seine Augen wurden tiefer. Shawn blickte voll tief empfundener Liebe zu der Frau, die im Sessel neben dem erkalteten Kamin saß und ein Tuch bestickte.
Sein Sohn Necom kniete vor dem Kamin und spielte Schach mit sich selbst. Dazu rutschte er immer wieder um das Brett herum. Der Anblick berührte ihn zutiefst und er fühlte sich, als ob er nach langer Zeit nach Hause zurückgekehrt sei. Dabei war er nur wenige Stunden aus dem Schloss gewesen.
Anastasia hüpfte unruhig auf einem kleinen Schemel umher, den sie neben den Sessel ihrer Mutter geschoben hatte. Sie stickte ebenfalls. Oder wenigstens versuchte sie es, denn die kleinen roten Flecken in dem weißen Stoff zeigten Shawn, dass seine Tochter es mit mehr Hingabe als Talent tat. Das überraschte ihn. Normalerweise brachte es das muntere kleine Mädchen nicht fertig, sich auch nur fünf Minuten mit irgendetwas intensiv zu beschäftigen, bevor es ihr wieder langweilig wurde. Es schmerzte ihn, ihr Blut auf dem feinen Gewebe zu sehen, trotzdem erfüllte es ihn mit Stolz, dass sie trotz ihrer sicherlich schmerzenden Finger weiterarbeitete.
Aber eigentlich war es nicht das, was ihn immer wieder erstaunte. Nicht sein ältester Sohn oder seine kleine Tochter, sondern seine Frau. Grace saß dort und stickte, als sei sie dazu erzogen worden, genau das zu tun. Ihre höfliche Art und ihr verantwortliches Denken konnten einen glauben lassen, dass sie ihr Leben lang auf ihre Rolle als Königin vorbereitet worden sei. Dabei stammte sie aus einer Welt, die sich mit seiner nicht vergleichen ließ. Dort herrschten Zivilisation, Fortschritt und Gleichberechtigung. Eine Welt, die luxuriöser, bequemer und hoch technisiert war. Und trotzdem hatte sie sich für ihn und Tybay entschieden. Er hatte nie wirklich verstehen können warum, aber es machte ihn glücklich; das und noch vieles mehr.
Es war jetzt fast acht Jahre her, dass er Grace zum ersten Mal begegnet war. Er war gerade von einem Erkundungsritt zurückgekehrt, als er Grace in der Halle des Schlosses hatte stehen sehen. Nach vielen Jahren, in denen sie sich nicht an diese Welt hatte erinnern können, war sie doch wieder zu ihren Freunden zurückgekehrt. Doch diese Rückkehr war nicht nur mit Erinnerungen verbunden, sondern auch mit Verpflichtungen, deren Ausmaß sie damals alle noch nicht erkannt hatten. In den Jahren vor dieser schicksalhaften Begegnung waren die Krieger des Erzfeindes von Tybay, dem Dunklen König Kalidor, wieder vermehrt in das Land eingefallen, und er, König Shawn, war gegen sie in die Schlacht gezogen. Doch gänzlich vergeblich.
Er und seine Mannen hatten keine Möglichkeit gefunden, die scheinbar unbesiegbaren Heerscharen des Dunklen Königs aufzuhalten oder gar zu besiegen. Doch dann widerfuhr ihm eine Vorsehung, die ihm zeigte, dass sein Land zerstört und sein Volk getötet werden würde, wenn Grace nicht in Tybay blieb. Nur sie allein konnte vollbringen, was sie alle erhofften: Sieg und Frieden.
Er kehrte nach Lywell, der Regierungsstadt von Tybay, zurück. In den Katakomben der Ahnen ersuchte er die Geister der alten Könige um Hilfe, um Grace zurückzuholen. Doch dann erschien die Göttin selbst und führte ihn in ihr eigenes Reich, denn Grace war inzwischen von Yalynn, dem Sohn König Kalidors, in eine Welt ohne Zeit und Wirklichkeit verbannt worden. Dank der Hilfe der Göttin gelang es ihm, Grace aus ihrem Gefängnis zu befreien. Mit Grace kehrte auch das lange Zeit verschollene, magische Sonnenamulett König Balinors nach Tybay zurück.
Und dann geschah etwas, womit keiner der beiden je gerechnet hätte. Die Magie führte Grace und Shawn zusammen, ohne Vorwarnung und ohne Rücksicht darauf, welche Meinungen und Gefühle sie einander entgegenbrachten. Sie entfachte eine Liebe in ihnen, die beständiger und leidenschaftlicher brannte als das Sonnenfeuer.
Schon bald nachdem Grace zu Shawns Frau und zur Königin Tybays geworden war, fiel König Kalidor mit seinen Heerscharen in das Tal vor Lywell ein und bedrohte die Stadt und das Schloss. Es kam zur Entscheidungsschlacht, in der Shawn und dessen Gefolge verraten wurden. In einem Kampf auf Leben und Tod streckte der Verräter den König nieder und fügte ihm eine tödliche Verletzung zu. Shawn wäre gestorben, hätte ihn nicht die Gnade der Göttin in die Welt der Lebenden zurückgeholt. Grace, die die Schlacht beobachtet hatte, war unterdessen in König Kalidors Gewalt geraten und auf das eroberte Schloss Lywell gebracht worden. Quinfee, Shawns treuer Berater, befreite Grace in einem riskanten Unternehmen aus den Fängen des Dunklen Lords.
Mit Heldenmut, Vertrauen und durch ihre Liebe gelang es Grace, das Land Tybay in die Freiheit zu führen und König Kalidor und seinen Sohn Yalynn zu vernichten. Das letzte Duell zweier Magien brachte Grace aber in solch große Gefahr, dass die Göttin sie aus Tybay in ihre Heimatwelt in Sicherheit bringen musste.
Shawn kehrte zum Schloss Lywell zurück, wo er durch das Weltentor in ihre Welt schritt. Dort hatte er sie auf der Veranda des Herrenhauses gefunden: Sie saß in einem Schaukelstuhl und wartete auf ihn.
Die Erinnerung ließ ihn unwillkürlich schmunzeln, denn heute war es fast derselbe Anblick wie damals. Sie lächelte, als sie ihn sah, legte ihre Arbeit aus der Hand und kam auf ihn zu. Ihre Lippen streiften flüchtig über seine, dann trat sie zurück.
»Wie war die Jagd?«, fragte sie im Plauderton.
»Großartig! Schade, dass du nicht mitkommen konntest.« Sie verzog das Gesicht.
»Du weißt, dass ich die Jagd nicht mag, ganz davon abgesehen, dass mir im Augenblick beim Reiten übel wird.« Necom kam schreiend heran gerannt, so dass Grace nicht hören konnte, was Shawn sagte, aber ein Blick in das Gesicht des stolzen Vaters war auch so Antwort genug.
»Vater hat gesagt, dass er mich das nächste Mal zur Jagd mitnehmen wird!«
»Nein«, sagten die Eltern wie aus einem Munde. »Ich sagte nur, dass ich dich eines Tages mitnehmen werde«, fügte Shawn hinzu, als er den Blick seiner Frau auf sich spürte.
»Das ist gemein! Ich bin alt genug, um auch jagen zu dürfen«, ereiferte sich der Junge.
»Die Jagd ist kein Spaß, sondern ein Ritual. Solange du dir darüber nicht im klaren bist, wirst du hier bleiben.«
»Sei doch nicht so streng«, schlug sich Grace plötzlich auf die Seite Necoms. »Nimm ihn einfach das nächste Mal mit, dann wird er begreifen, was du meinst.« Shawn sah Grace tadelnd an. Er hielt es für keine gute Idee. Er war sich sicher, dass Necom eine falsche Vorstellung von der Jagd hatte und dass ihn die eigentliche Tötung des Wilds erschrecken würde. Offenbar glaubte Grace, dass diese Abschreckung seinen ständigen Forderungen einen Dämpfer verpassen könnte. Bei Gelegenheit würde er mit Grace noch einmal darüber sprechen müssen.
»Los, Kinder, geht im Hof spielen. Ich muss alleine mit eurem Vater sprechen.« Necom seufzte enttäuscht, ging aber gehorsam hinaus.
»Auch du, kleine Dame«, forderte Shawn Anastasia auf. Das Mädchen stand schweigend auf und lief an ihnen vorbei aus dem Raum. Grace schloss hinter ihr die Tür.
»Was hat sie?«, fragte er.
»Sie schmollt! Du wolltest ja nicht, dass sie mitkommt, wenn Necom und ich nächste Woche nach Romanic gehen.«
»Ist das ein Vorwurf? Sie ist noch zu jung, um das alles zu begreifen«, rechtfertigte Shawn seinen Entschluss.
»Nein, Anna ist alt genug zu verstehen, was es bedeutet, ein Kind zweier Welten zu sein.«
»Wir haben doch lange über dieses Thema gesprochen und waren uns einig«, beschwerte sich Shawn.
»Wie lange wird Botschafter Deleil noch bleiben?«, wechselte Grace das Thema.
Shawn zuckte mit den Schultern. »Jede weitere Stunde ist eine Zumutung.«
Grace lachte hell auf und die aufgebaute Spannung verflog. Shawn trat heran, umarmte sie und küsste sie innig.
»Aber er ist doch nett, und die Empfehlung, die er seinem König und dessen Regierungsrat vorlegen wird, könnte Tybay viele Vorteile bringen.«
»Ja, ich weiß«, flüsterte er, während er sie weiterhin küsste, und seine Hände glitten über ihre noch immer jugendliche Figur und die spürbare Rundung ihres schwangeren Bauches. »Wie geht es euch?«
»Gut! Mir war heute ausnahmsweise mal nicht übel und ich konnte etwas essen.«
»Ich mache mir Sorgen. Du hattest diese Beschwerden während der ersten beiden Male nicht. Vielleicht wäre es besser gewesen, wenn wir ...« Sie unterbrach ihn sanft.
»Das wird schon. Vertrau mir!« Sie lächelte. »In mir wächst unsere Liebe, und je mehr Kinder um uns herumtoben, umso größer wird unsere Liebe sein. Bitte Shawn, es bedeutet mir so viel!« Sie küsste ihn leidenschaftlich.
Shawn nahm sie auf die Arme und trug sie in den benachbarten Raum. In den Königsgemächern bettete er sie auf ihr gemeinsames Lager und legte sich zu ihr. Er küsste sie, während seine Hände über ihre Brüste streichelten.
Grace lachte und schob ihn zurück. »Jetzt geschieht es gleich«, flüsterte sie prophezeiend, und nur einen Moment später klopfte es an der Türe. »Ich wusste es«, lachte sie triumphierend auf. »Es ist wie gestern und vorgestern und am Tag davor. Langsam fällt es auch mir schwer, unserem Gast noch freundlich gesonnen zu sein.«
»Wir könnten so tun, als seien wir nicht da«, raunte er und beugte sich bereits wieder über sie, aber Grace wehrte ihn sanft ab. Immerhin war es der Botschafter eines anderen Königs. Knurrend erhob sich Shawn und schritt zur Tür. »Was?«, brüllte er, während er die Türe aufriss. Grace schüttelte über sein unbeherrschtes Benehmen missbilligend den Kopf.
»Hallo Shawn!«, grinste ihm ein bärtiges Gesicht entgegen, und Shawns Gestalt straffte sich. Dann warf er sich, den Namen seines besten Freundes lauthals rufend, dem Besucher an die Brust.
»Degger! Wie schön dich zu sehen.« Grace stand eilig auf, zupfte an ihrem Kleid und trat zu den beiden Männern. Der Hüne hatte sich in den letzten fünf Jahren kaum verändert, sah man von den Silberfäden in seinem Haar und den ausgeprägteren Falten um seine Lippen und Augen ab. Aber sie waren alle älter geworden. Degger befreite sich von Shawn und umarmte Grace so stark, dass ihr das Atmen schwer fiel. Sie keuchte nach Luft ringend auf und der Hüne ließ sie erschrocken los.
»König Degger!«, begrüßte sie ihn förmlich, als sie wieder zu Atem gekommen war. Degger blickte sie entschuldigend an.
»Königin Grace! Wie ich sehe, seid Ihr schon wieder trächtig!«, witzelte er. Shawn lachte schallend auf. Grace hingegen warf Degger einen solch giftigen Blick zu, dass dieser ihr fast übertrieben zur Entschuldigung zuzwinkerte. Das ermunterte Grace wiederum, ihrerseits zu einem Seitenhieb auszuholen.
»Mylord Degger, gestattet mir die Anmerkung: Vielleicht solltet auch Ihr Euch mit dem Gedanken vertraut machen, einen Erben in die Welt zu setzen. Bevor Ihr es womöglich nicht mehr könnt«, neckte Grace Shawns Freund und König des Landes westlich der Grenzen Tybays.
»Gut gekontert, meine Liebe!« Degger verbeugte sich. »Aber das habe ich bereits getan.« Er lächelte schief. »Mir Gedanken darüber zu machen«, fügte er schnell hinzu, als er Shawns fragenden Blick bemerkte.
»Das ist sicher nicht der Grund deines Besuchs, oder?«
»Nein, Shawn, es ist etwas anderes. Etwas, das man nicht auf dem Gang besprechen sollte.«
»Außerdem ist Degger erschöpft, und sieh nur, der Staub von mindestens zwei Wochen beschwerlicher Reise hängt in seinen Kleidern und an seinem Körper. Keine Frau findet so etwas begehrenswert!«, kicherte Grace und rümpfte die Nase.
»Wie immer hat sie recht«, stimmte Shawn seiner Frau grinsend zu und schloss den Freund in eine erneute, herzliche Umarmung. Grace verdrehte die Augen und war froh, den Waschfrauen nicht bei der Arbeit helfen zu müssen.
Nach einem ausgiebigen Bad, etwas zu Essen und Stunden des Erzählens war Degger sehr schnell müde geworden und früh zu Bett gegangen. Da er weder Anna noch Necom gesehen hatte, führte Grace die Kinder an diesem Morgen zu Shawn ins Arbeitszimmer, wo die Männer bereits beieinander saßen und sich unterhielten.
Grace schob Necom vor und dieser machte einen Diener.
»Guten Morgen, Oheim Degger!«, nuschelte er verlegen.
»Mylord Degger!« Anastasia deutete einen Knicks an. »Ich bin wirklich sehr erfreut, Euch kennenzulernen«, absolvierte sie ihre Begrüßung tadellos.
»Die Freude liegt ganz auf meiner Seite, Lady Anna!« Das Mädchen mit dem schwarzen Haar und den hellen, blauen Augen verzog beleidigt das Gesicht.
»Ich heiße Anastasia!«, belehrte sie ihn tadelnd. Degger blickte zu Shawn, und dieser grinste seinen Freund über beide Ohren hinweg an.
»In der Tat, sie ist groß und hübsch geworden. Du kannst zu Recht stolz sein, mein Freund. Als ich sie das letzte Mal gesehen habe, war sie gerade mal ein paar Tage auf der Welt und so winzig.« Er hielt Daumen und Zeigefinger einen fingerbreit auseinander. Dann wandte sich Degger dem kleinen Thronerben zu. »Kannst du dich noch an mich erinnern?«, fragte der Hüne, doch der Junge mit dem blonden Haar und den blauen Augen schüttelte verlegen den Kopf.
»Er war noch zu klein, Degger. Fünf Jahre sind eine lange Zeit für Kinder, die jeden Tag etwas Neues entdecken«, belehrte ihn Grace.
»Ja, wer keine Kinder hat, kann das nicht wissen.«
»Nein, so war das nicht gemeint.«
Degger winkte lächelnd ab. »Schon gut, Grace, ich weiß, dass du es nicht böse meinst. Vielleicht hast du mit deinen Sticheleien ja sogar Recht!«
»Kommt, Kinder, es wird Zeit für den Unterricht.« Grace führte die Kinder aus dem Zimmer.
Nachdem Grace und die Kinder gegangen waren, sah Shawn Degger fragend an. Die dunklen Ringe unter seinen Augen zeigten dem König, dass dieser immer noch erschöpft war. Bis jetzt hatten sie es beide vermieden darüber zu sprechen, was Degger hierher geführt hatte.
»Du hast einen anstrengenden Ritt hinter dir. Eine Nacht Ruhe und tiefer Schlaf kann das nicht ausgleichen. Du bist ohne Gefolge gereist, nur mit dem Pferd. Warum?«
»Ich hatte es eilig, weil ich die Angelegenheit mit dir persönlich besprechen wollte. Weißt du Shawn, als du mir damals das ehemals Dunkle Reich übergeben hast, hat es viel böses Gerede gegeben. Natürlich bin ich dir dankbar für das Vertrauen, das du in mich setzt, aber ich glaube, das war ein Fehler. Ich bin nicht zum König geeignet.«
»Red dir das bloß nicht ein!«, wehrte Shawn ab. »Ich wollte dich dort haben, weil ich einen Freund westlich von mir wissen wollte. Jemanden mit gesundem Menschenverstand und dem Mut, auch mal etwas Unkonventionelles zu riskieren. Du bist der Beste dafür. Außerdem magst du zwar der König des Neuen Landes sein, aber ich bin noch immer der Hochkönig von Tybay. Das westliche Reich ist nur ein Teil davon.«
»Ja, und das Land wird wieder fruchtbar und du würdest dich wundern, wenn du es sehen könntest. Bei der Göttin, Shawn, es gibt dort mehr fruchtbaren Boden, als wir geahnt haben. Mehr Mineralien und andere Bodenschätze, als wir uns vorstellen können. Aber trotz aller Verbesserungen, die ich versucht habe, gibt es noch immer kleinere Unruhen im Volke. Die meisten Menschen sind im Grunde ihrer Herzen froh über das, was wir tun und akzeptieren die neue Zeit, doch es gibt einen kleinen, wirklich harten Kern von Widerständlern. Ich weiß wirklich nicht, was die wollen. Wir konnten ihrer noch nicht habhaft werden, doch da sie ohnehin keine große Gefahr darstellen, ist das nicht weiter von Belang.« Degger gähnte ungeniert. »Doch das ist nicht der Grund, weshalb ich dich aufsuche. Da ist etwas Anderes, etwas Unheimliches. Etwas, das ich nicht verstehe.«
»Du redest von Magie, nicht wahr?«, vermutete Shawn. Degger nickte.
»Du weißt, dass ich nicht abergläubisch bin, aber wenn du meine ehrliche Meinung hören willst, dann würde ich dir sagen, dass es dort spukt!«
»Spukt? Wo?«, fragte Grace. Sie war in diesem Moment in das Zimmer getreten und setzte sich nun zu den Männern.
»In der alten Festung von König Kalidor. Selbst an den Tagen, an denen ich die Räume so hell erleuchten lasse wie nur irgend möglich, sind sie immer ein wenig zu dunkel. Die Gänge sind immer düster und trostlos, ganz gleich, wie viele farbige Tücher, Teppiche und andere Dinge ich aufhängen oder auslegen lasse. Und trotz der größten Feuer im Kamin wird ein Raum nie wirklich behaglich warm. Das Gemäuer strahlt eine geradezu unnatürliche Kälte aus. Und der Ort verdirbt. In der Feste ist es unmöglich, längere Zeit Nahrungsmittel zu lagern. Sie verderben, unabhängig davon, was wir versuchen. Nach zwei, höchstens fünf Tagen ist beispielsweise Fleisch ungenießbar, egal, ob es frisches oder Pökelfleisch war. Und selbst Menschen, die für längere Zeit dort leben, verderben. Ihre Gedanken werden böse und gierig!« Degger senkte niedergeschlagen den Kopf. Ein Teil der Trübseligkeit, welche in der Feste vorgeherrscht hatte, war ihm bis Lywell gefolgt. »Ich glaube, ich bin mehr aus der Feste geflohen als dass ich wirklich abgereist bin.«
»Es klingt geradezu unglaublich, was du da erzählst!«, meinte Shawn mit einem leichten Tadel in seiner Stimme.
»Und doch ist es wahr, Shawn. Es ist ein schlechter Ort, und ihm wohnt der Odem des Bösen inne. Ich bitte dich um die Erlaubnis, die Festung aufzugeben und niederreißen zu lassen!«
»Das scheint mir nun aber doch etwas übertrieben! Du warst wohl zu lange in diesem Land, in dem du praktisch keine Freunde besitzt. Ich glaube, dass du schon anfängst, überall Feinde und üble Magie zu vermuten«, versuchte Shawn ihn aufzumuntern. »Wir sind deine Freunde, Degger. Wir werden ein Fest feiern, damit du dich wieder an Menschen gewöhnst.«
»Das ist es wirklich nicht, Mylord!«, verteidigte sich Degger verzweifelt und wechselte in seiner Not von dem vertraulichen ›du‹ in die förmliche Anrede. »Ich bilde mir das nicht ein! Es ist die Wahrheit! Kommt mit mir, wenn Ihr meinen Worten keinen Glauben schenken könnt. Überzeugt Euch selbst davon. Diese Burg ist böse!« Shawn zog nachdenklich die Stirn in Falten und blickte Degger lange Zeit schweigend an.
»Ich werde Quinfee und Eweligo rufen lassen, dann werden wir später gemeinsam beraten. Vielleicht wissen sie etwas, das uns weiterhelfen kann. Immerhin war Quinfee während der ersten Zeit nach dem Krieg im Neuen Land, und Eweligo weiß mehr über Magie als irgendjemand sonst.« Der Hochkönig erhob sich. »Jetzt muss ich nach dem Botschafter sehen. Ich glaube, er wollte heute abreisen.« Grace wusste zwar, dass er das nicht wollte, aber sie war sich andererseits sicher, dass es ihrem Mann gelingen würde, den Botschafter genau davon zu überzeugen. Mit schnellen Schritten war er aus dem Raum.
»Komm, Degger. Ich habe Jan vorhin im Flur getroffen und ihm die Kinder mit der Bitte übergeben, uns das Frühstück in den Garten zu bringen. Die Kinder sind dort und lernen die Geschichte Tybays. Es wird interessant werden.« Sie erhob sich, aber Degger packte sie grob am Handgelenk und hielt sie zurück. Er tat ihr unabsichtlich weh.
»Grace, du musst mir glauben! Ich bin nicht verrückt.«
»Das hat doch niemand gesagt, Degger. Aber du musst Shawn verstehen. Quinfee war fast drei Jahre im Neuen Reich, ohne dass er etwas Bedrohliches entdeckt hätte. Und Shawn hasst dieses Land und das Leid, das es uns angetan hat. Es widerstrebt ihm, sich Gedanken darüber machen zu müssen!« Sanft entzog sie sich seinem Griff.
»Ja, ich weiß, Grace. Ich vertraue Quinfee und ich weiß, dass er die Wahrheit gesagt hat. Als ich in die Feste einzog, war da auch noch nichts. Aber jetzt wird es immer stärker. Irgendetwas hat dort geruht. Und jetzt ist es erwacht.«
»Erwacht?« Grace fuhr erschrocken zusammen. Da war etwas in ihr, das bei diesen Worten wie ein wildes Tier voller Angst aufschrie. Jenes Wort war wie ein Losungswort für ein Wissen, das unbemerkt in ihr vorhanden war. Die Erinnerung an etwas, das sie erlebt hatte. Sie fühlte die Furcht vergangener Ereignisse. Ihr Herz begann ängstlich zu flattern, während sich verschwommene Bilder vor ihrem inneren Auge abspielten. Bis zu jenem Moment, an dem sie Yalynn gegenübergestanden und ihre Macht preisgegeben hatte. Da! Da war es. Es löste sich aus seiner Gestalt...
Doch bevor sie danach greifen konnte, löschte irgendetwas den Zugang zu der Erinnerung aus, und mit ihm Grace’ Bewusstsein.
»Grace?«, hörte sie wie aus großer Entfernung Deggers Stimme. Er schüttelte sie sanft, und sie öffnete die Augen. Sie lag von seinen Armen gestützt auf dem Boden. Verwirrt blickte sie sich um.
»Was ist geschehen?«, fragte sie nuschelnd. Das Sprechen fiel ihr schwer, und ihre Gedanken waren noch immer wie vernebelt.
»Du bist in Ohnmacht gefallen.«
»Wie lange?«
»Nur ein paar Minuten. Geht es dir gut?«
»Es geht schon wieder, danke!« Degger runzelte verunsichert die Stirn.
»Bist du dir sicher?« Sie lächelte ihn an und stand mit seiner Hilfe langsam auf.
»Ja, bin ich. Bitte sag Shawn nichts davon. Ich will nicht, dass er sich unnötig sorgt.«
»Unnötig? Vielleicht ist es besser, er macht sich zu viele Sorgen als zu wenig. Es würde ihm das Herz brechen, würde er dich verlieren.«
»Glaub mir, Degger, mir würde es nicht anders ergehen. Deshalb versprich mir, dass du es ihm nicht sagen wirst.«
»Grace, ich ...«, begann Degger protestierend, gab dann aber doch Grace’ bittendem Blick nach und nickte. »Ich verspreche es.«
»Dann komm«, lud sie ihn ein. Sie hakte sich bei ihm unter und gemeinsam schlenderten sie in den Garten.
Shawn holte Grace und Degger im Garten ab, um sie mit zur Versammlung zu nehmen. Dort hatte Grace dann geduldig Deggers Erzählungen ein weiteres Mal gelauscht, während ihre Furcht unaufhaltsam wuchs.
»Irgendwie überrascht es mich nicht, von all dem und deinen Träumen zu hören«, knurrte Quinfee.
Degger starrte ihn an. Fünf Jahre waren für sie alle eine lange Zeit gewesen, aber für den Berater des Hochkönigs schien ein halbes Jahrhundert vergangen zu sein. Das faltige Gesicht sah nun wirklich alt aus, und die dunkle Hautfarbe war eine Spur zu blass, um gesund zu wirken. Sein Haupthaar war lichter geworden, und wenn man ihn lange genug beobachtete, fiel auf, dass seine Hände leicht zitterten. Es erschreckte Degger, obgleich er nicht sagen konnte, warum. Hatte er geglaubt, der Berater sei unsterblich? Immerhin war Quinfee schon ein älterer Mann gewesen, als Degger ihm zum ersten Mal begegnet war.
»Was ist los mit dir, Degger? Was glotzt du Rüpel so?«, fragte der Berater unwirsch. Degger lächelte entschuldigend.
»Verzeih, Quinfee! Aber es ist so lange her und du bist älter geworden. Viel älter, als ich erwartet hatte.« Diese ehrliche Antwort verblüffte alle, und Grace trat Degger unter dem Tisch sogar gegen das Schienbein. Ihr Blick gab ihm zu verstehen, dass er sich sofort entschuldigen sollte. Aber Quinfee kam all dem zuvor.
»Endlich mal einer, der ausspricht, was er denkt!« Er lachte. »Was hast du geglaubt, Degger? Dass ich unsterblich bin? Da muss ich dich enttäuschen, mein Junge. Ich bin nicht unsterblich und ich bin froh darüber, dass meine Zeit irgendwann einmal zu Ende geht. Aber schau mich gefälligst nicht so an, als ob ich gleich tot vom Stuhl kippen könnte!«
»Entschuldige!«, bat Degger verlegen. Betretenes Schweigen breitete sich aus.
Eweligo räusperte sich. Der kleine Gestaltenwandler war kaum größer als eine Elle und besaß zwei große seidendünne, libellenartige Flügel. Diese entfaltete er nun und flatterte von seinem Platz auf einen großen Kerzenhalter in der Mitte des Tisches, um so die Aufmerksamkeit aller auf sich zu lenken. Seine Zehen, die in Saugnäpfen wie denen eines Frosches endeten, fanden dort mit Leichtigkeit Halt.
»Ja, ich stimme Quinfee zu. Auch mich überraschen Deggers Berichte nicht. Aber wir können ihm weitere zwei Stunden oder zwei Tage zuhören, es würde nichts ändern. Jemand muss sich auf den Weg machen und selbst nachsehen, was dort geschieht. Von hier aus können wir gar nichts ausrichten.«
Grace griff erschrocken nach Shawns Hand. Sie hatte befürchtet, dass dieser Vorschlag kommen würde, aber dennoch gehofft, dass ihn niemand machen würde.
»Ja, Eweligo hat recht. Degger könnte doch mit Quinfee und Eweligo zurückkehren, damit sie sich ansehen, was dort vor sich geht«, warf Grace nervös ein. Alle Gesichter wandten sich ihr zu und selbst Shawn blickte verwirrt auf. »Shawn muss ja nicht mit!«, flüsterte sie verlegen.
»Aber Grace, warum sollte ich hier blieben? Es wird langsam Zeit, dass auch ich akzeptiere, dass das Neue Land zu Tybay gehört. Ob ich nun will oder nicht. Und ich sollte mich auch um mein neues Volk dort kümmern und mir das Land ansehen, das unter meiner Krone steht.«
»Ich ... ich muss nach den Kindern sehen.« Sie erhob sich abrupt und lief so schnell aus dem Ratssaal, dass es beinahe einer Flucht glich. Shawn blickte ihr besorgt nach, richtete seine Aufmerksamkeit dann aber wieder auf die kleine Versammlung.
»Vielleicht ist jetzt wirklich der richtige Zeitpunkt, um mich mehr um mein neues Volk zu kümmern und für eine Weile dort zu bleiben und zu regieren. Doch Grace kann leider nicht mitkommen, denn wie ihr wisst, ist sie schwanger. Und wenn ich jetzt fortgehe, dann bin ich bei der Geburt meines Kindes sehr weit weg. Aber dieses Opfer werde ich wohl bringen müssen.« Shawn schwieg lange und schüttelte dann den Kopf. »Aber wer soll hier die Angelegenheiten regeln, während ich auf Reisen bin? Wären die Umstände anders, dann könnte es Grace gut schaffen, aber jetzt? Ich bin mir nicht sicher, ob es nicht zu viel für sie werden könnte.«
»Lass gut sein, Shawn. Später ist noch genug Zeit, sich eingehender um das Volk zu kümmern. Es reicht, wenn du Deggers Sorgen nachgehst und dann wieder nach Lywell zurückkehrst. Du hast noch das ganze Leben vor dir, Junge. Du musst nicht alles an einem Tag tun.« Shawn lächelte Quinfee dankbar zu.
»Ja, da hast du wohl Recht. Degger, bis wann wirst du dich genug erholt haben, dass wir aufbrechen können?«
Seine Schritte führten ihn zielstrebig in die königlichen Gemächer. Als er die Tür öffnete, sah er schon von Weitem den lilafarbenen Stoff des Gewandes, das Grace heute Morgen trug. Sie lag auf dem Bett und weinte, genau wie er es erwartet hatte.
»Geh weg«, schluchzte sie und warf ein Kissen nach ihm, allerdings ohne sich nach ihm umzudrehen. Shawn musste dem Geschoss nicht ausweichen, aber er verstand die Warnung der Geste sehr wohl.
»Grace, es ist doch nur für kurze Zeit. In zwei, spätestens drei Monaten bin ich wieder da.«
»Drei Monate!«, schrie sie schrill. »Das ist zu lange! Ich kann das alles nicht ohne dich!«
»Du wirst sehen, am Anfang wird es viel Arbeit sein, aber dann wird dir das Regieren Spaß machen.«
»Und? Wann gehst du?«, resignierte sie.
»In zwei Tagen brechen wir auf.«
»Ich muss nach Romanic und Vorbereitungen treffen, damit ich lange genug weg bleiben kann. Und was ist während dieser Zeit mit Anastasia? Wenn du nicht da bist, ist sie hier ganz alleine.«
»Dann wird sie dich wohl begleiteten müssen. Ich dachte, das wollte sie ohnehin«, erwiderte er barsch. Dies sollte ihr zeigen, dass er unter der bevorstehenden Trennung ebenso litt wie sie.
»Ach, jetzt ist es dir auf einmal recht, dass sie uns begleitet«, spie sie die Worte höhnisch aus. Grace setzte sich ruckartig auf und wandte sich um. Ihr blondes, hüftlanges und gewelltes Haar war unordentlich, ihre Augen rot und verquollen und ihre blasse Haut hatte einen rötlichen, hitzigen Schimmer angenommen.
Wie immer, wenn sie wütend ist, dachte Shawn traurig. Das Sonnenamulett um ihren Hals glomm in unheilvollem Licht. Shawn, der bisher immer darauf gepocht hatte, dass Grace die Trägerin des Magischen Erbes war, zweifelte auf einmal an seiner Entscheidung. Seine Frau war zwar eine herzensgute und fürsorgliche Mutter, aber sie war eine Frau. Eine schwangere Frau. Ihre Reizbarkeit war nicht zu leugnen.
»Was soll ich denn machen? Ich bin der König. Ich habe Verantwortung gegenüber dem Land und meinem Volk.«
»Und diese Verantwortung kommt vor deiner Familie?«, schrie sie und sprang auf. »Sind wir dir egal?«
»Nein, natürlich nicht, und das weißt du auch. Aber wäre ich ein Bauer, dann wäre ich den ganzen Tag aus dem Haus und käme erst abends müde und erschöpft heim. Dann würdest du mich noch seltener sehen.« Sie lachte bei dem Vergleich traurig auf.
»Du bist oft den ganzen Tag unterwegs, kommst abends heim und bist zu müde, um den Kindern auch nur eine Minute Gehör zu schenken. An anderen Tagen verschwindest du von morgens bis abends in dein Regierungszimmer und hast keine Zeit. Viel zu oft verbringst du Tage im Audienzsaal, um dir anzuhören, was dir dein Volk klagt. Aber hörst du auch zu, wenn wir etwas von dir wollen?«
»Das ist doch überhaupt nicht wahr. Es mag stimmen, dass ich oft weg bin, aber es ist doch nicht so, als wäre ich nicht für euch da.«
»Wirklich?« Grace lächelte siegessicher, denn sie hatte ihn nun genau da, wo sie ihn am liebsten hatte: in der Defensive. »Und wann hast du das letzte Mal mit Necom Bogenschießen geübt? Du wolltest es ihm doch beibringen! Und wann hast du das letzte Mal mit Anna zusammen eine Geschichte gelesen?«
»Ich habe im Moment keine Zeit für solche Dinge, ich...«
»Ganz genau!«, triumphierte sie. Ihre Augen hatten sich zu engen Schlitzen verengt, und sie lächelte böse.
»Ich wünschte, es wäre anders, aber manchmal muss die Politik einfach vorgehen. Ich bitte dich nicht darum, das zu verstehen, aber du wirst es akzeptieren müssen.«
»Ich muss?«, brauste sie auf. »Ich muss überhaupt nichts«, belehrte sie ihn trotzig.
»Das ist doch albern, Grace.« Er machte einen Schritt auf sie zu. »Hör auf, dich wie ein Kind zu benehmen.«
»Wie ein Kind! Ich? Werde du mal erwachsen! Das hier ist kein Spiel! Du bist der König und kannst tun und lassen, was du willst!«, schrie Grace. Vermutlich hörte man ihr Schreien noch unten im Stall.
»Nein, das kann ich nicht. Was ist nur los mit dir?« Shawn schüttelte den Kopf. »Du bist doch sonst so besonnen und ruhig. Ich verstehe gar nicht, warum du dich so aufführst.«
»Aufführst!«, rief sie schrill. »Ha, ich werde dir gleich zeigen, wie ich mich aufführen kann!« Erstaunlich schnell war sie heran und stieß mit den flachen Händen wuchtig gegen seine Brust. »Raus hier!«, schrie sie.
»Sei bitte nicht albern«, lachte Shawn, der durch den unerwarteten Stoß ein paar Schritte zurückgetaumelt war.
»Raus! Raus! Raus!«, schrie sie heiser. Ihre Hände boxten immer wieder gegen seine Brust, und langsam trieb sie ihn hinaus. Schließlich stand Shawn vor der Tür, die sich knallend vor ihm schloss.
Rasch verriegelte Grace die Tür von innen und wankte zum Bett. Sie schluchzte unkontrolliert und ihr Atem ging stoßweise. Ihre Kehle brannte vom schreien. Nur mit Mühe erreichte sie es und ließ sich darauf fallen. Grace beruhigte sich nur langsam, denn die stechenden Schmerzen in ihrem Unterleib, das wilde Schlagen ihres Herzen und das qualvolle Pochen in ihrem Kopf nährten ihren Zorn weiter. Sie wusste, dass sie Shawn verletzt hatte, doch der Schmerz, den sie sich selbst dabei zugefügt hatte, brannte noch heißer auf ihrer Seele.
Erst Stunden später, kurz vor Sonnenuntergang, stand Grace wieder auf. Sie zog sich andere Kleider an, richtete ihr Haar und verließ den Raum. Hoch aufgerichtet, den Kopf stolz erhoben, schritt sie durch das Schloss und in den Stall. Dort angekommen, ließ sie ihre Stute satteln und ritt den Berg hinab.
Shawn stand auf dem Turm Lywells und sah ihr nachdenklich hinterher.
»Sie hat den ganzen Tag nichts gegessen, weil sie sich unwohl fühlte. Und heute Mittag haben wir uns gestritten. Gestern hat sie noch behauptet, das Reiten nicht zu vertragen, und jetzt galoppiert sie davon. Ich mache mir große Sorgen!«
»Sie ist nicht wie die Frauen hier, Shawn. Sie kommt aus einer anderen Welt. Wir können nicht erwarten, dass sie so denkt wie wir.«
»Mag sein, Eweligo. Aber bisher war doch alles so gut. Ich glaube sie hat Angst, dass sich wiederholen könnte, was vor Jahren geschehen ist.«
»Du doch auch!«
Shawn lachte. »Natürlich, ich aber bin mit der Gefahr, jederzeit von einem Schwert bedroht werden zu können, groß geworden.«
»Grace’ Welt birgt andere Gefahren, Shawn. Du warst lange genug dort um zu wissen, wovon ich spreche.«
»Ja, und wenn meine Welt sie genau so verwirrt wie mich die ihre, dann habe ich vielleicht eine Ahnung davon, was in ihr vorgeht.«
»Ihr beide könnt dem Unvermeidlichen nicht ausweichen«, versicherte ihm der Gestaltenwandler. Nach einer Pause fügte er hinzu, »Shawn, darf ich dir einen Rat geben?«
»Nur zu, Eweligo«, forderte Shawn den Gestaltenwandler auf und folgte mit seinen Augen dem Fleck unter ihm, der Grace war.
»Trennt euch nicht mit Zorn im Herzen.«
Shawn lächelte. »Das werden wir nicht«, versprach der König, und verließ den Turm. Bald darauf konnte Eweligo ein zweites Pferd sehen, das sich schnell vom Schloss entfernte.
»Wo auch sonst solltest du sein, wenn du alleine sein möchtest!« Shawn lenkte sein Pferd auf die Lichtung im Wald.
Grace lachte bitter. »Pah! Ich sollte mir mal wieder einen neuen Platz suchen. Irgendwie ist es sinnlos, wegzureiten, um Ruhe zu haben, wenn jeder weiß, wo dieser Ort der Ruhe ist.« Grace saß am Boden, kaum fünf Schritte vom Ufer des Sees entfernt. Die Sonne war schon fast verschwunden und die Abendröte spiegelte sich in der sanft gekräuselten Oberfläche des Sees. In einer Hand hielt sie eine großblättrige Blume. Mit der anderen zupfte sie jedes Blütenblatt einzeln heraus, hielt es vor sich und warf die zarten, weißen Blätter in die Luft. Langsam segelten sie zu Boden.
Unweit der Stelle, an der sie saß, hatte sie ihre Stute angebunden. Shawn lenkte sein Pferd dorthin und band es daneben an, dann setzte er sich neben seine Frau. Allerdings nicht zu dicht, denn er wollte sie nicht bedrängen.
»Es tut mir leid, Grace. Glaube mir, ich würde auch viel lieber hier in Lywell bleiben, aber es gibt eben Dinge, denen man nicht aus dem Weg gehen kann. Man kann sie aufschieben, hinauszögern ... aber man kann ihnen nicht entkommen.«
»Rede nicht mit mir, als sei ich dumm. Ich weiß sehr wohl, warum es sein muss. Aber ich habe Angst.« Sie rutschte näher zu ihm und nahm seine Hand. »Ich kann das Gefühl nicht beschreiben, Shawn. Es entzieht sich mir, es bleibt nur der Nachgeschmack. Ein bitteres und beängstigendes Etwas. Wie ein Traum.«
»Wohl eher ein Albtraum, hmmm?« Er drückte sie an sich und sie kuschelte sich an ihn. »Mach dir keine Sorgen, Grace, es gibt nichts, das wir nicht gemeinsam schaffen könnten.«
Sie nickte stumm und blickte in den Himmel. Die Sonne war bereits verschwunden, aber noch war der Himmel hell und die Sterne kaum zu sehen. Minutenlang starrten sie gemeinsam hinauf und jeder hing seinen eigenen Gedanken nach. Da war etwas in ihnen, von dem beide wussten, dass es der andere spürte. Etwas, das sie trennte.
»Du darfst mich nicht alleine lassen!«, jammerte sie. Ihr Zittern rührte nicht von der Kühle der hereinbrechenden Nacht her, sondern von ihrem lautlosen Schluchzen. »Ich weiß, dass ich mir zu viele Sorgen mache, aber ich kann nicht anders.«
»Wenn du es doch weißt, warum machst du es noch?«, fragte er. Sie lächelte schwach, hörte aber nicht auf zu weinen.
»Gebrannte Kinder scheuen das Feuer.« Grace’ Stimme war ein Krächzen, in dem sich all ihre verwirrten Gefühle in Höhen und Tiefen widerspiegelten. »Sie haben mich alle verlassen. Zuerst Andrew, dann meine Eltern. Ich habe Angst davor, dass ich dich als nächstes verliere. Klingt das so dumm?«
»Nein, ganz und gar nicht. Auch ich hatte dich einst verloren geglaubt, und es war die schlimmste Zeit in meinem Leben. Glaubst du etwa, das alles fällt mir leichter als dir?«
»Nein, das nicht...« Sie zuckte mit den Schultern. »Es tut mir ja leid, ich habe mich wie eine hysterische Kuh verhalten, aber ich kann es nicht ändern. Ich würde alles dafür geben, mit dir gehen zu können!«
»Aber das kannst du doch!«, rief Shawn freudig.
»Ich kann nicht, das weißt du. Für euch wäre ich nur eine Last. Ich habe den Ritt hierher kaum geschafft«, sie machte eine Geste in Richtung des Waldes. »Mein Magen spielt verrückt. Wie soll ich da mit euch zwei Wochen Reise im Sattel überstehen?«
»Eweligo könnte doch ein Weltentor öffnen und...« Sie lächelte und legte ihren Zeigefinger auf seine Lippen.
»Geliebter!«, wisperte sie. »Wir wollten den Weltenring doch nicht mehr so benutzen, oder? Die Ängste der Menschen sitzen tief und oft braucht es nicht viel, um diese an die Oberfläche zu bringen. Um schnell von einem Ort zu einem anderen zu gelangen, ist es zwar angenehm, doch weder du, noch das Volk hätte so die Möglichkeit, einander zu sehen und kennenzulernen. Doch das ist doch genau das, was Quinfee möchte, oder? Dass sie sehen, dass du sie akzeptierst.«
Shawn zuckte die Schultern. Sie war so klug und geschickt. Grace wusste immer worauf es ankam.
»Außerdem weißt du sehr wohl, dass ich die Kinder nie alleine lassen würde.«
»Du machst dir immer zu viele Sorgen«, resignierte er. »Die Kinder sind alt genug, um auch mal ohne ihre Mutter auszukommen. Als ich in ihrem Alter war, da war ich fern von meinem Zuhause und meinen Eltern.«
»Mag sein, aber ich will, dass sie es besser haben. Ich will sie vor allem Unheil beschützen, selbst wenn es mein Leben kostet. Ist das so falsch in deinen Augen? Hat deine Mutter das nicht auch für dich getan?«
»Doch, das hat sie.« Shawn drückte sie zärtlich. Nur schwach war die Erinnerung an die Tage, in denen er mit seinen Eltern zusammen gewesen war. Aber er wusste, dass seine Mutter ihr Leben im Kampf gegeben hatte, um ihn zu beschützen. So, wie es Grace für ihre Kinder tun würde. So, wie auch er selbst es tun würde.
Shawn seufzte leise. Es war so schwer mit ihr, wenn sie unter diesen Stimmungsschwankungen und Ängsten litt. Hilflosigkeit war das einzige Wort, das seinen Zustand beschrieb. Teilnahmslos war er verdammt dazu, ihr nicht helfen zu können. Sie würde damit alleine fertig werden müssen, wie mit so vielen anderen Dingen. Er wusste, dass sie versuchte stark zu sein. Für sich, für ihn, für die Kinder und nicht zuletzt für das Land und sein Volk. Immerhin war sie die Königin. Aber manchmal, da zeigten sich Lücken in dieser Mauer aus Stärke und ihr wahres Ich kam zum Vorschein: das einer Frau mit Ängsten und Bedürfnissen und Wünschen, die er ihr viel zu oft nicht erfüllen konnte. Aber sie akzeptierte es und hatte es immer getan, denn sie wusste, dass das Leben oft nicht so war, wie sie es sich wünschte.
»Hast du Hunger?«, wechselte Shawn das Thema und stand im gleichen Augenblick auf, um den Proviant aus den Satteltaschen seines Pferdes zu holen. Er hoffte wohl, sie mit etwas Essbarem ablenken zu können, und dachte dabei gar nicht daran, dass sie in letzter Zeit kaum noch etwas aß und sich trotzdem oft schlecht fühlte.
Für sie stand dies jedoch im Vordergrund, und sie dachte einfach nicht daran, dass er ihre Appetitlosigkeit nicht teilte. Offensichtlich war er hungrig und ihre Antwort war unwichtig. Grace schloss verzweifelt die Augen. Sie liebte ihn so sehr, aber manchmal fragte sie sich, ob er sie nicht verstand, oder ob er nicht wusste, was er tun könnte. Ganz gleich wie, so oder so, es verkrampfte sie innerlich, dass er nicht erkannte, was sie brauchte. Doch sie musste sich eingestehen, dass sie es selbst nicht wusste. In jedem Fall aber brauchte sie jemanden, der ihr zuhörte und sie spüren ließ, dass sie geliebt wurde. Eine einfache Geste der Zuneigung hätte genügt, aber er hatte sie einmal mehr alleingelassen.
Sie stand ebenfalls auf und entfernte sich sehr schnell in die entgegengesetzte Richtung. Als Shawn zurückkehrte, war sie bereits außer Sichtweite, denn das Ufer war abseits der kleinen Lichtung mit Birken und kleineren Büschen und sogar ein paar Weiden bewachsen.
»Grace, komm zurück! Lass doch bitte diesen Unsinn.« Sie hörte ihn kramen. Offenbar hatte er etwas zur Versöhnung am Abend vorbereiten lassen, und sie war ihm mit ihrer Flucht zuvorgekommen. Auch jetzt war sie wieder fortgelaufen, ohne ihm die Möglichkeit zu geben, sich wirklich zu entschuldigen. Resignierend seufzte sie leise. Warum wollte er sich überhaupt entschuldigen? Sie war sicherlich an der Situation nicht weniger schuld als er. Trübe Gefühle, Apathie und Trauer umhüllten sie und sie setzte ihren Weg in die hereinbrechende Nacht fort.
»Grace?« Jetzt klang sein Rufen besorgt, und als er das dritte Mal ihren Namen rief, hörte sie leise Panik darin. Sie lief den Steg entlang und stieg in das Boot, ohne seine Rufe zu beachten. Grace konnte nicht verhindern, dass sie dabei einige Geräusche produzierte, und sie hörte, wie er schneller rannte. Schon konnte sie seine Silhouette herannahen sehen. Seine Stiefel verursachten donnernde Schläge auf den Bohlen des Steges. Gleich würde er sie eingeholt haben.
»Grace, nicht. Nicht mit dem Boot raus!«, rief er flehend. Doch da hatte sie das Boot bereits hastig abgestoßen. »Warum tust du das?«, fragte er verzweifelt, aber sie blieb ihm die Antwort schuldig. Das Boot schwankte bedenklich, als sie davon ruderte. Sie blickte zu ihm, sah in sein Gesicht und seine Augen und entdeckte dort Angst und Hilflosigkeit.
Er sah ihre kühle Zielstrebigkeit und einen lodernden Hunger nach Zuneigung in ihren Augen. Eine Gänsehaut wanderte über seinen Nacken, dann hechtete er vor und tauchte in den sanft gekräuselten, schwarzen See. Shawn tauchte bis fast an das Boot heran und überwand den Rest schwimmend.
Von da an ging alles ganz schnell. Unaufhaltsam. Als Shawn versuchte, sich in das Boot zu ziehen, brachte er es zum kentern. Das Boot kippte, warf Grace über Bord, vollführte einen Überschlag und begrub beide unter sich. Er sah, wie Grace unter Wasser gedrückt wurde. Sie strampelte wild um sich und irgendetwas traf ihn an der Schulter.
Shawn konnte einen Schrei nicht unterdrücken und sein Mund füllte sich mit Wasser. Er geriet in Panik. Sein linker Arm war taub vor Schmerz, doch es gelang ihm, sich an die Oberfläche hochzuarbeiten und nach Luft zu schnappen. Hastig sah er sich nach Grace um, doch sie war noch nicht aufgetaucht. Panik ergriff ihn, und er tauchte wieder, um sie zu suchen. Er sah fast nichts und konnte nur hoffen, Grace irgendwo zu finden. Langsam ließ der Schmerz in seiner Schulter nach. Zum Glück hatte ihn vermutlich nur das Ruder an der Schulter getroffen und nicht das ganze Boot.
Endlich sah er Grace schemenhaft in dem trüben Wasser. Ihre Bemühungen waren erlahmt und feine silberne Perlen stiegen aus ihrem Mund in die Höhe. Zielstrebig schwamm er auf sie zu, packte sie und zog sie mit sich. Es war schwer, so unglaublich schwer, wieder nach oben zu gelangen. Das Wasser des kleinen Sees war unterhalb der Oberfläche eiskalt und Shawns Muskeln begannen taub zu werden. Hinzu kam, dass ihre völlig durchnässten Kleidungsstücke seine Bewegungen erschwerten. Es war fast so, als wolle der See seine sicher geglaubte Beute nicht mehr hergeben.
Plötzlich begann Grace neben ihm wieder zu strampeln und ihn zu unterstützen, und sie erreichten die Wasseroberfläche. Beide rangen nach Luft, während Grace Mühe hatte, sich überhaupt über Wasser zu halten. Sie war bleich und er sorgte sich um sie und das ungeborene Kind.
»Grace, bei der Göttin! Warum hast du das getan?«, keuchte er. Doch auch jetzt antwortete sie nicht, stattdessen schwamm sie langsam los. Zum Glück war der See nicht sehr groß, und sie erreichten bald das Ufer. Sie liefen zurück zu den Pferden, und Shawn befahl Grace, die Kleider auszuziehen. Er tat es ihr gleich, dann holte er Feuerholz heran und entzündete es, die Kerzen warf er frustriert ins Feuer. Die Decke, die eigentlich als Unterlage für sie und das Essen hatte dienen sollen, legte er Grace um die Schultern.
»Danke!«, war das Erste, was sie sagte.
»Bitte«, knurrte er. Shawn hockte sich hinter sie und rubbelte über ihre Arme und ihren Rücken. Sie begann wieder zu weinen, kuschelte sich an ihn und schluchzte.
»Es tut mir leid!«
»Es ist ja glücklicherweise nichts passiert. Aber versprich mir bitte, dass du so etwas nie wieder tust. Du musst für uns und unsere Kinder leben.«
Sie nickte. Doch das genügte ihm nicht. Nicht jetzt. Er packte sie grob und schüttelte sie wütend.
»Verdammt Grace, du warst so leichtsinnig! Warum nur?« Er sprach weiter, denn sie hätte ihm auch jetzt nicht geantwortet. »Versprich es mir! Bei der Göttin!« Seine Hände hatte er wie Schraubstöcke um ihre Oberarme geschlossen. »Hörst du? Versprich es mir.« Der Schmerz riss sie endlich aus ihrer Depression und ihr Blick hellte sich auf.
»Ich verspreche es, Shawn. Bei der Göttin, ich werde so etwas nie wieder tun.«
»Gut!« Er ließ sie los und drückte sie an sich. »Wie soll das werden, wenn ich weg bin? Wer wird dann auf dich aufpassen?«, fragte er zärtlich.
»Niemand! Ich habe dir doch gerade versprochen, besser auf mich zu achten, oder?« Sie lächelte wieder und ihre Tränen versiegten langsam. »Außerdem habe ich bald wieder jemanden, der mich dringend braucht.«
»Was heißt hier bald? Ohne dich könnte es nicht leben, du hättest euch beide getötet«, warf er ihr vor und ihr Lächeln schwand. »Entschuldige!«, bat er, und begann wieder ihre Glieder zu massieren.
Ihre Hand tastete sich unter der Decke hervor und berührte seinen Körper. Sie war kalt, trotz des Feuers, das neben ihnen brannte. Eine Gänsehaut hatte sich darüber gelegt, so dass sich seine Haut stachelig anfühlen musste. Trotzdem richtete sie sich auf und öffnete die Decke. Kalte Nachtluft drang an ihren Körper und er sah, wie sie erschauerte.
Seine Augen saugten sich an ihrem hellen Körper fest, der sich gut vor dem dunklen Hintergrund der Decke abhob, und sich ihm darbot. Ihre runden, prallen Brüste, der kleine, schlanke Körper mit der deutlichen Rundung ihres Bauches. Shawn seufzte und seine Hände griffen nach ihren Brüsten, während er seinen Kopf an ihre Schulter kuschelte und seinen Unterleib an sie drängte.
Grace erwiderte die Umarmung und rieb über seinen Körper, der so viel kühler als die Nachtluft war. Spürte sein festes, lebendiges Fleisch, das sich bald wieder erwärmen würde.