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Man erzählt sich, alle Völker seien von den Göttern erschaffen worden. Selbst die Cric. Bestialische Kreaturen, seelenlose Mörder, grotesk in ihrem Aussehen und ihrer Gestalt. Schwarze Schattengestalten der Menschen in einem natürlichen Panzer, mit langen scharfen Krallen und gefährlichen Reißzähnen. Ihr Auftrag soll es gewesen sein, das Gleichgewicht zwischen den Völkern, der Natur und der Magie der Götter wiederherzustellen. Also begannen die Cric zu jagen. Erfolgreich. Zu erfolgreich. Und die Kreaturen, die dazu geschaffen worden waren die Welt zu retten, drohten sie nun noch schneller in den Untergang zu reißen. Doch den Göttern gelang es, die Cric rechtzeitig zu verbannen und eine neue Harmonie zu schaffen. Heute erzählt man sich die Überlieferung über die Cric als ein Ammenmärchen, um unartige Kinder zu erschrecken. Doch was, wenn alles wahr ist? Und was, wenn der Bann gebrochen wäre?
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Seitenzahl: 414
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Sturm der
Verbannten
Leseratten Verlag
Sturm der Verbannten
ISBN 978-3-945230-27-5
1. Auflage, Allmersbach im Tal 2017
Cover: Christine Schlicht
Satz und Layout: Tanja und Marc Hamacher
Lektorat: Stephan Wonzcak
© 2017, Leseratten Verlag, Allmersbach im Tal
www.leserattenverlag.de
Wendy & Richard Pini
Danke, dass ihr mich mit eurer Elfquest-Serie zu dieser Geschichte inspiriert habt.
Für meine Liebe Marc.
Ohne dich könnte ich weder träumen noch fliegen.
Für Stephan, der nicht ganz unbeteiligt an meinen Schwingen ist.
Für meine Eltern. Und für meine lieben Schwestern.
Danke für euren unerschöpflichen Einsatz.
Für Julia.
Für Marina.
Danke für eure Unterstützung und euer Feedback.
Danke an alle, die noch lesen.
»Siehst du sie irgendwo?«, fragte der Wind den Stein.
»Ja, sie sind in den flüsternden Wäldern.«
»Ich kann sie ebenfalls sehen«, sprach die Eiche. »Du musst es tun!«
»Der richtige Zeitpunkt ist gekommen!«, wisperte das Feuer.
»Ja«, stimmten die anderen zu.
»Dem, was ihr von mir verlangt, kann ich unmöglich nachkommen. Wir dürfen uns nicht auf diese Art in ihr Leben einmischen. Es ist nicht richtig«, säuselte der Wind.
»Das Leben bedeutet Veränderung«, erklärte die Linde. »Wenn der Herbst kommt, dann verliere ich meine Blätter. Im Winter friere ich, und meine Äste drohen zu sterben. Im Frühling aber erwache ich zu neuer Blüte.«
»Genau«, stimmte ihr die Kastanie zu.
»Wir alle werden sterben, wenn du es nicht tust!«, erhob sich die mahnende Stimme der Blauen Rose. Ihre Worte hatten mehr Gewicht.
»Dann soll es seinen Anfang nehmen«, fügte sich der Wind dem Willen der anderen.
Die schmale Sichel des Mondes hatte sich vom Horizont der Welt aus immer weiter in die Höhe geschoben und nun ihren höchsten Punkt erreicht. Der fahle Schein der Dämmerung war längst der Dunkelheit der Nacht gewichen.
Die aufziehende Wolkenwand kündigte Regen an. Sie verdeckte das letzte Licht des Mondes und der Sterne. Der Sommer war trocken, heiß und unerträglich schwül, doch das Grollen des Unwetters in der Ferne versprach eine baldige Abkühlung.
Eine sanfte Brise war des Sturmwindes Vorbote. Sie streifte durch die großen Wipfel der jahrhundertealten Eichen. Sachte umspielte sie das Laubdach und erzählte flüsternd Geschichten ihrer langen Reise. Und der Wind kannte viele Legenden, denn es gab ihn seit Anbeginn dieser Welt.
Im Schutz einer Eiche verharrte eine lauschende Gestalt. Ihre Haltung war in der Bewegung erstarrt und leicht vornüber gebeugt, den hölzernen Bogen in einer zärtlichen Umarmung. Noch befand sich der Grund, der seine Aufmerksamkeit erregt hatte, nicht in unmittelbarer Nähe. Schleichend setzte er seinen Weg fort. Die Schritte waren auf dem trockenen Blattwerk nicht zu hören. Wie ein Geisterwesen schien er darüber hinweg zu schweben. Kurz darauf verharrte die Gestalt wieder und tauchte dann in das Unterholz, das sich vor ihm erstreckte. Den Bogen ließ er geräuschlos ins Laub sinken und blickte, unsichtbar für die Beobachteten, aus seinem Versteck hinaus.
Die Reisenden hatten am anderen Ende der Lichtung unter dem dichten Blätterdach einer Eiche Schutz vor der Nacht gesucht. Das Feuer erhellte ihre Gesichter und der Unbekannte konnte erkennen, dass es zwei Männer waren. Einer davon groß, kräftig und eindeutig ein ausgebildeter Krieger. Der andere war klein und schmal, fast schmächtig. Zugleich wirkte er weder zerbrechlich noch schutzlos. Stärke in Form von Macht umgab die Gestalt wie eine würdevolle Aura. Dem Gesicht des Mannes war die große Verantwortung abzulesen, welche er trug. Gram und Sorgen hatten darin tiefe Falten hinterlassen.
Ein Blick auf die Kleidung von guter Qualität, die Ausrüstung und die drei Pferde ließen keinen Zweifel zu. Es war eindeutig, dass die Reisenden wohlhabend waren. Dennoch entsprachen sie nicht dem gewohnten Bild von reichen Kaufleuten, die ihre wertvollen Frachten wohl bewacht in Handelszügen durch das Land fuhren. Sie waren nicht unterwegs, um ihre Waren auf den Märkten der Städte feilzubieten. Jeder Dieb oder Räuber konnte das sehen.
Die Wolkenwand des Unwetters war heran. Mit kräftigen Händen packte der Wind nun nach den Bäumen, begann sie zu schütteln, streifte durch ihre Äste und ließ die schweren Eichen ächzen.
Wer sind diese Leute, Vater?, fragte die Gestalt im Busch in seinen Gedanken. Um ihn herum war nichts außer der Nacht, dem Wald und dem Unwetter. Trotzdem gab ihm eine säuselnde Stimme auf dieselbe stumme Art eine Antwort.
Ihre Namen spielen keine Rolle, wisperte sie ihm ins Ohr.
Warum hast du mich hergebracht?, fragte die Gestalt.
Doch die Stimme des Vaters, deren Ursprung so ungreifbar war wie ein Gedanke, schwieg. Ein leises, unglückliches Seufzen entrann der Kehle des Fremden.
Ich verstehe. Du möchtest, dass ich ihnen meine Hilfe anbiete. Aber der Vater schien nicht mehr gewillt zu sein, den ungeduldigen Fragen seines Sohnes Gehör zu schenken oder sie gar zu beantworten.
Die Gestalt erhob sich, schulterte den Bogen und sprang auf die kleine Lichtung. Fast im selben Augenblick zuckte ein Blitz vom Himmel und erleuchtete die Nacht für den Moment eines Atemzuges mit einem grellen, unwirklichen Licht.
Die Reisenden sahen erschrocken auf und erhaschten in der kurzen Helligkeit einen menschlichen Schatten, bevor die Dunkelheit zurückkehrte. Trotzdem starrten sie weiter auf die umrisshafte Gestalt des Fremden, der wie aus dem Nichts erschienen war.
Der ohrenbetäubende Schlag des Donners mahnte die Menschen, genau wie die Bewohner des Waldes, sich rasch Schutz zu suchen.
Die Gestalt ging los, schritt über die Lichtung, trat an die Männer heran und nickte ihnen höflich zu.
»Setzt Euch an unser Feuer, Fremder«, bot ihm der kleinere der beiden die Gastfreundschaft ihres Nachtlagers an.
Dankbar nickend ließ er sich nieder, damit das Licht sein Gesicht erhellen konnte. Abschätzende Blicke streiften ihn und er erwiderte sie freundlich.
Der Fremde konnte dem Bild, welches er sich bereits gebildet hatte, kaum etwas hinzufügen. Außer der Tatsache, dass die Männer fast gleichaltrig waren und die Leichtigkeit ihrer Jugend hinter ihnen lag. Sie waren in einem Lebensabschnitt, in dem man Kinder hatte und sich stolz deren Fortschritten widmete: zu Hause, bei der Familie. In Frieden.
Wieder zuckte ein Blitz gen Boden. Gleich darauf grollte der Donner. Sehr viel lauter und bedrohlicher.
»Es ist noch etwas von unserer Abendmahlzeit übrig. Falls Ihr hungrig seid, könnt Ihr Euch von dem verbliebenen Fleisch so viel nehmen, wie Ihr wollt.«
Der Mann ihm gegenüber machte eine Geste auf das Essen. Dankbar nickte er, hob aber ablehnend die Hände.
»Was ist mit Euch los, Fremder?«, knurrte die tiefe und dunkle Stimme des Kriegers. Sie klang wie das feindselige Grollen eines Bären. »Sind wir Euch zu gut, Herr? Redet Ihr nicht mit Leuten unseren Standes?«
Traurig schüttelte er den Kopf und klopfte mit der rechten Hand gegen seinen Kehlkopf.
»Halte dich zurück, Silbur«, sagte der Wortführer zu seinem Gefährten, als er die Geste erkannte. »Er ist stumm.«
»Tut mir leid, Fremder«, entschuldigte sich Silbur.
Die Finger des Fremden formten nun verschiedenartige Figuren, so langsam und deutlich, dass sie für die Reisenden gut zu erkennen waren. Der Kleinere der beiden schüttelte bedauernd den Kopf.
»Einst beherrschte ich die Sprache der Jäger«, sagte er dann. »Im Laufe der Zeit habe ich vieles vergessen, da ich kaum Möglichkeiten fand sie anzuwenden.« Er sah niedergeschlagen und müde aus.
Erneut formte er Worte in seiner Fingersprache und der Mann nickte.
»Ihr wollt uns helfen? Sieht man so deutlich, dass wir Hilfe benötigen?« Der Wortführer lächelte traurig und Silbur neben ihm knurrte, um ihn zu ermahnen, niemandem zu vertrauen. »Ihr seid von hier?«
Er nickte.
»Ein Bauer erzählte uns, dass wir in den Flüsternden Wäldern Antworten auf unsere Fragen bekommen würden. Dass wir hier Hilfe finden könnten und unsere Suche ein Ende fände. Seit zwei Tagen irren wir aber nun schon umher, ohne jemandem begegnet zu sein. Ihr seid das erste menschliche Wesen, das wir in diesem alten Wald treffen. Vielleicht wisst Ihr, wohin wir gehen müssen? Fremder, wir suchen nach dem Ort, an dem wir die Blaue Rose finden. Niemand weiß, wo sich dieser befindet. Doch wir benötigen dringend das Wissen und die Weisheit der Hüterin. Zahlreiche Plätze haben wir aufgesucht, heilige Männer und Gläubige befragt, aber keiner konnte uns helfen.«
Er seufzte und versuchte erneut, sich den Männern mitzuteilen.
»Mehr als dass Ihr uns helfen wollt, verstehe ich leider nicht, Fremder. Wisst Ihr etwa, wo wir die Blaue Rose finden können?«
Er nickte sehr deutlich und ohne Zweifel. Es sollte ihnen vermitteln, dass er es wirklich wusste. Mehr als einmal war er dort gewesen und hatte selbst Rat gesucht. Doch er konnte es ihnen nicht sagen. Auch nicht, dass sie im falschen Teil des Landes nach ihr forschten. Ebenso wenig, wie beschwerlich und gefährlich die Reise dorthin werden würde.
Silbur grunzte abfällig. »Woher sollen wir wissen, dass es nicht ein Ort ist, an dem wir schon gesucht haben, wenn er uns nicht sagen kann, wo er ist?«
»Natürlich hast du Recht, Silbur. Doch ich möchte ihm glauben. Er ist der Erste, der behauptet den Ort zu kennen. Kein anderer hat je so überzeugend auf mich gewirkt. Und außerdem, was kann es schaden? Es ist besser, ihm zu folgen, als im Wald herumzuirren.«
Silbur gab einen widerwilligen, aber dann doch zustimmenden Kehllaut von sich.
»Finden wir die Blaue Rose in der Nähe?«
Er schüttelte den Kopf. Dann machte er eine Geste zu den Pferden. Zusammen mit der deutlichen Erklärung, dass sie ein weiteres Tier und Vorräte benötigten. Schließlich zeigte der Fremde in südöstliche Richtung.
»Wir müssen nach Wyrett, ein Pferd kaufen und unseren Proviant aufstocken. Richtig?«
Er nickte.
»So soll es geschehen, Freund!«, bestimmte der Wortführer und ein neuer Hoffnungsschimmer glühte in seinen Augen. »Ich bin Ansgar, und das ist mein Beschützer und Weggefährte Silbur.«
Höflich nickte er.
»Morgen früh brechen wir auf.«
Wieder zuckte ein Blitz aus dem Himmel. Diesmal schlug er knapp neben dem Lager der Reisenden ein und spaltete eine der riesigen Eichen in zwei Teile. Wind stob dazwischen und Feuer begann aus dem Holz zu züngeln, während die Baumteile ächzend und krachend zu Boden sanken. Die Blicke der drei Männer richteten sich auf den Baum jenseits ihres Ruheplatzes. Sie starrten auf die Flammen, die sich bald in dem trockenen Laub und dem Geäst ausbreiten würden, während der Donner über ihr Lager rollte.
Die Pferde neben ihnen blähten die Nüstern, warfen die Köpfe erschrocken zurück und schauten sich gehetzt um. Das Weiße in ihren Augen wurde sichtbar und sie legten die Ohren an, während sie an ihren Fußfesseln zu zerren begannen.
Silbur wollte bereits aufspringen um die Tiere zu beruhigen, doch der Fremde hielt den Krieger zurück. Im selben Moment lösten sich schwere, dicke Silberperlen aus dem Himmel und fielen funkelnd in milchigen Perlmuttfarben herunter. Als sie auf den Boden trafen, verblasste ihre Schönheit und sie ließen feuchte und kalte Flächen auf Erde, Haut und Kleidung zurück. Das Wasser, welches sich nun in Strömen über sie ergoss, löschte den Brand des Baumes und ihr Lagerfeuer fast augenblicklich.
Obgleich sie unter dem gewaltigen Blätterdach der Eiche hockten, vermochte dieses nicht sie zu schützen. Die Wassermassen waren zu groß, zudem trug der Wind die Tropfen von der Lichtung an ihren Platz.
Ansgar und Silbur zogen die Decken heran, die sie mitgebracht hatten und kuschelten sich schützend darunter. Er besaß keine. Der Regen prasselte auf seine Haut und auf seine Kleidung. Der Umstand war ihm nicht unangenehm. Stattdessen hieß er die Feuchtigkeit mit jeder Pore seines Körpers willkommen. Die Tränen des Himmels waren erfrischend und führten eine kühle Brise mit sich.
Dampfschwaden quollen aus Ritzen und Spalten des trockenen Bodens und brachten den Geruch von erfrischter Erde mit sich. Die Pferde beruhigten sich und drängten dichter zueinander.
Die beiden Männer zogen sich bis zum Stamm der Eiche zurück, wo es nicht ganz so feucht war. Hier legten sie sich nieder. Er jedoch blieb sitzen und wachte in der Nacht, während er seinen eigenen Gedanken nachhing. Ihm war der Umstand verhasst, dass er sich seinem Umfeld gelegentlich nicht verständlich machen konnte. Er war es leid und stellte einmal mehr diese eine Frage.
Sag mir, Vater, womit habe ich diese Strafe verdient?
Alles folgt einer Ordnung, mein Sohn. Zu sein, was und wer du bist, hat dich die Stimme gekostet.
Und dich? Was war dein Preis für die Unsterblichkeit?
Was ich bezahlen musste, um der Wind zu sein? Schau mich an, wenn du kannst. Ich bin überall und nirgends richtig. Mich hat es meinen Körper gekostet. Und du bist mein Sohn. Du bist der Prinz des Windes, flüsterte ihm sein Vater ins Ohr.
Ich habe nie darum gebeten. Ich wurde nie danach gefragt. Du hast diese Entscheidung bei meiner Zeugung getroffen. Aber ich bin dieser Bürde nicht gewachsen.
Schweig! Erzürne mich nicht, mein Sohn! Ich werde diese Unverschämtheiten von dir nicht länger dulden. Du bist unsterblich! Das ist kein Joch, es ist eine Ehre, heulte der Wind und fegte in einer kräftigen Böe über das Lager hinweg.
Er schwieg. Alleine mit sich und seinen Gedanken.
Er gehörte zu einem Volk, das nur noch in den Legenden existierte. Schöpfer, die längst aus dem Leben der Wesen dieser Zeit verschwunden waren. Sein Geschlecht trug zahlreiche Namen: Altes Volk, oder Erstgeborene. Sie waren all das und mehr. Sehr viel mehr. Geister der Elemente. Götter.
Einst, zu Beginn der Zeit, waren sie mit dieser Welt vereint – durch Magie mit ihr verbunden. Dann lernten sie, ihre Macht zu nutzen. Sie formten sich Körper und suchten ihre Freiheit darin. Das war die Geburtsstunde seines Volkes. Es folgten Jahrhunderte, in denen sie sich frei entwickelten und ihre Magie einsetzten. Sie veränderten die Welt so, dass sie sich ihren Bedürfnissen besser anpasste. Einige von ihnen kehrten zum Ursprung dessen zurück, was sie zu Beginn gewesen waren. Sie ermöglichten es den anderen, sehr viel einfacher über die Elemente zu verfügen. Sie opferten ihren Körper und ihren freien Geist, um den Willen der Erstgeborenen zu erfüllen. Von da an hatten sie keinen Einfluss mehr darauf, was die Erstgeborenen taten. Diese seines Volkes nannten sich von nun an die Verschmolzenen.
Einer der Verschmolzenen war Jeseth gewesen, sein Vater, nun das Element des Windes. Andere vereinigten sich mit dem Wasser, dem Feuer und der Erde. Sie verbanden sich mit dem Gestein und den Tieren der Welt. Eine von ihnen wurde die Blaue Rose, die Wächterin über die Geheimnisse des Lebens und des Todes. Sie verbarg in der Weichheit ihrer Blütenblätter den Ursprung des Lebens, in ihrem Duft die süßen Verlockungen und in ihren Dornen den Tod. Sie war die Hüterin des Wissens und der Zeit. Viele aus seinem Volk gingen zu ihr, um Antworten zu bekommen, die sonst keiner wusste.
Nachdem die letzte aller Fragen gestellt worden war, und sein Volk nach etwas Neuem gierte, begannen sie mit ihrer Kraft erneut Leben entstehen zu lassen. Sie schufen Kreaturen, deren Erscheinungsbild ihrem eigenen ähnelte. Doch sie machten sie minderwertig, denn sie gaben ihnen nur irdische Existenz, aber keine Magie. Ihre erste Schöpfung waren kleine haarige Wesen, kaum größer als ein Wolf. Diese gingen gebeugt, weil ihre Arme zu lang und die monströsen Hände zu schwer waren. Ihre schmalen, glitzernden Augen in den einfältigen Fratzen glühten stumpf und ohne Intelligenz, doch von einer künstlichen Leidenschaft beseelt, wann immer sie Erz sahen.
Die Erstgeborenen erfreuten sich viele Jahre an diesen Wesen. An ihrer verbissenen Suche nach dem Erz, welches sie glücklich machte, sie ernährte und ihre Zahl wachsen ließ. Dann wurde es seinem Volk langweilig und sie schufen neues Leben. Dieses war gewaltig. Titanen, die alles zertraten, was sich ihnen in den Weg stellte und die Steine liebten. Aber ihr Gewicht machte sie träge und sie schliefen viel. Manche von ihnen Tage und Wochen. Danach wuchsen neue Rassen wie Pflanzen aus dem Boden. Unzählige Varianten. Zahlreiche Begierden. Bald begannen sie einander zu bekriegen, weil sie zu viele waren und die Rohstoffe knapp wurden. Andere bekämpften sich, weil sie die benachbarten Wesen fürchteten und es entstanden Legenden und Sagen.
Die Erstgeborenen sahen im Verborgenen zu und ergötzten sich an den Kriegen ihrer Geschöpfe, die sie liebevoll als ihre Kinder bezeichneten. Jene Rasse, die sie Menschen nannten, erwies sich als besonders lernfähig, überlegen und zäh. Sie zu beobachten wurde sein Volk nicht überdrüssig. Mit den Jahren wuchs ihre Anzahl rasch an. Gut organisiert verteilten sie sich im ganzen Land. Die Erstgeborenen, die unentdeckt bleiben wollten, zogen sich an die entlegensten Orte dieser Welt zurück. Doch die Zahl ihrer Möglichkeiten schwand im Laufe der Jahrzehnte rasch dahin.
Eines Tages geschah es, dass dem Alten Volk eine Veränderung auffiel. Das Land wurde krank. Und damit ihre Magie. Dies war etwas, was sie nicht erwartet hatten. Hilflos sahen sie zu, wie ihre Welt starb, ohne dass sie die Ursache fanden. Eine Panik ergriff sie, derer sie nicht Herr werden konnten. Erst als es fast zu spät war, erinnerten sie sich daran, dass die Blaue Rose alle Antworten kannte.
Die Hüterin sagte ihnen, dass das Land stürbe, weil es zu sehr ausgebeutet wurde. Dass es der Rassen zu viele seien. Die Flüsse wären verschmutzt, die Erde hätte ihre Nährstoffe verloren und die Berge würden durch unzählige Tunnel einstürzen. Sie prophezeite das Sterben der Welt und damit auch das Ende der Magie. Niemand würde überleben.
Nach den erschreckenden Worten der Blauen Rose waren sich die Erstgeborenen einig, dass ihre Kinder die Schuld an dem traf, was in dieser Welt geschah.
Sie beschlossen, die Zahl der Rassen zu verringern, damit sich das Land erholen konnte. Dazu formten sie mit ihrer Magie neue Wesen. Eine erbarmungslose Armee, welche die von ihnen geschaffene Vielfältigkeit ausdünnen sollte. Bestialische Kreaturen, seelenlose Mörder, grotesk in ihrem Aussehen und ihrer Gestalt. Schwarze Schattengestalten der Menschen in einem natürlichen Panzer, mit langen scharfen Krallen und gefährlichen Reißzähnen. Die Cric waren geboren. Und sie begannen zu jagen. Mit Erfolg.
Doch schon bald ließ sich die unfassbare Zahl der Cric nicht mehr kontrollieren. Sie taten das, wozu sie geschaffen worden waren. Viele Völker wurden in diesem Krieg gänzlich ausgelöscht. Zuerst jene Rassen ohne kriegerische Neigungen. Andere widersetzten sich anfänglich sehr erfolgreich. Doch letzten Endes würden auch sie fallen, da die Cric zu übermächtig waren. Zudem starb die Welt weiterhin, und das sogar noch viel schneller.
Fassungslos erkannten die Erstgeborenen ihren Fehler. Ihre neu erschaffenen Mörder waren es jetzt, welche das Land mit ihrem Gift zerstörten. Erneut trat sein Volk vor die Blaue Rose. Diese offenbarte ihnen die schwierigste aller Aufgaben. Nur gemeinsam konnten Erstgeborene und Kinder es jetzt noch schaffen, ihr Land vor dem Untergang und den Cric zu retten. Wenn nicht, wäre das Ende der Welt unabwendbar.
In jener Stunde der größten Angst überwanden die Erstgeborenen die Mauer der Abgeschiedenheit und offenbarten sich den Rassen. Sie ersuchten sie um Schutz und Hilfe. Der Anführer der Menschen, ein alter und weiser Mann namens Roderok, kannte all die zahlreichen Legenden über das Alte Volk. Er hoffte, dass ihre Magie noch nicht zu sehr geschwächt war, und sie zu mächtigen Verbündeten werden würden. Roderok war es auch, der die verschiedenen Rassen vereinte und sie gemeinsam mit den Erstgeborenen in den Krieg gegen die Cric führte.
Angetrieben und mitgerissen vom Gefühl der Zugehörigkeit, trunken von Kampfeslust und Hoffnung, rafften die Erstgeborenen all ihre Magie zusammen. Gemeinsam beschworen sie Naturgewalten und ließen eine gewaltige Spalte in der Erde entstehen. Dorthin verbannten sie die Cric. Um die Schlucht zu versiegeln, erschufen sie einen lebendigen Stein. Den Stein der Völker. Von nun an galt es, diesen zu beschützen und zu pflegen, um zu gewährleisten, dass die Cric ihrem Gefängnis niemals mehr entkommen würden.
Zum Zeichen der Einigkeit aller Rassen wurde der magische Gegenstand in einen Schrein, der Die Wache genannt wurde, inmitten des Landes gebettet. Um diesen Ort zu verteidigen, erbauten die Völker gemeinschaftlich einen Palast. Gleichzeitig entstand eine Stadt, welche von einer gut befestigten Wehrmauer umschlossen war. Seitdem lebte von allen Rassen ein ausgewähltes Mitglied im Goldenen Palast, um das eigene Volk in der neu gebildeten Regierung zu vertreten.
Er, der Fremde, war in die Welt des gemeinschaftlichen Friedens geboren worden. Möglicherweise als Beweis dafür, dass die Erstgeborenen und die Verschmolzenen sich von ihren Kindern nicht so sehr unterschieden. Immerhin war er das Zeugnis einer solchen Vereinigung.
Doch er glaubte, in Wahrheit genau aus demselben Grund wie die anderen Rassen erschaffen worden zu sein: Er sollte ein weiteres Geschöpf zur Unterhaltung der Erstgeborenen werden.
Gleich wie, eines war sicher. Sein Vater, der angeblich körperlose Wind, belog ihn immer wieder. Denn das, was er trotz allem nicht ganz ohne Stolz seinen Erzeuger nannte, besaß durchaus Stofflichkeit. Oder wie wäre es dem Wind sonst möglich gewesen, ihn zu zeugen? Möglicherweise aber war es ihm durch Magie gelungen, denn sein Vater war wie alle aus dem Volk der Erstgeborenen sehr mächtig. Und unsterblich. Und diese Unvergänglichkeit, zusammen mit der Fähigkeit Magie zu nutzen, hatte er geerbt.
Er seufzte. Ja, er war hier und das schon seit vielen Jahrhunderten. Seitdem hatte sich so manches verändert. Oft fühlte er sich fremd, und das in seiner eigenen Welt. Erneut seufzte er und stand auf. Er würde trockenes Brennholz suchen gehen, denn inzwischen war es unangenehm frisch geworden.
Als der neue Tag endlich dämmerte, hatte es aufgehört zu regnen und die Wolken waren weitergezogen. Regentropfen lagen wie Perlen auf dem sanften Grün der Gräser und Farne, die auf der Lichtung wuchsen. Zwei mutige Rehböcke standen am anderen Waldrand und kosteten von den erfrischenden Halmen. Als sich Silbur unruhig im Schlaf bewegte, scheuchte er das Wild von ihrem Frühstück auf. Mit anmutigen Sätzen verschwanden sie im Unterholz. Der Fremde blieb noch eine Weile sitzen, dann entzündete er ein neues Feuer. Daran konnten sich die Reisenden die kühlen Gliedmaßen wärmen. Das taten sie dann auch, nachdem sie wach geworden waren.
Silbur kramte ein paar Vorräte heraus und bot ihm etwas davon an, doch er lehnte dankend ab.
»Seid Ihr gar nicht neugierig zu erfahren, weshalb wir die Blaue Rose suchen?«, fragte Ansgar nun.
Natürlich war er das.
»Ich hatte einen Traum«, begann Ansgar darum. »Es war genau vor einem Mondwechsel, als ich in Angst und schweißgebadet erwachte. Mein Herz raste vor Furcht und es dauerte Minuten, bis ich mich daran erinnern konnte, was mich aus dem Schlaf gerissen hatte. Ich stand auf, kleidete mich an und verließ mein Schlafgemach, um zur Wache zu eilen.«
Der Fremde legte den Kopf schief. Offenbar machte ihm etwas an der Erzählung stutzig. Das freute Ansgar, denn es bewies ihm, dass der Mann nicht so weltfremd war, wie er den Eindruck erweckte.
»Als ich diese erreichte, lagen die Soldaten der Palastwache erschlagen am Boden. Mein Albtraum war wahr. Der Stein der Völker war geraubt worden.«
Die Finger des Fremden bewegten sich.
»Ja, ich bin König Ansgar. Ein direkter Nachkomme aus der Familie des Roderok, Herrscher über die Rasse der Menschen.«
Erneut nickte der Mann und stellte in der Fingersprache eine Frage, aber der König schüttelte den Kopf.
»Ich verstehe euch nicht. Es tut mir leid.«
Der Fremde zuckte mit den Achseln und machte eine auffordernde Geste, mit der Erzählung fortzufahren.
»Am frühen nächsten Morgen riefen wir eine Versammlung der Vertreter der Rassen ein. Wie Ihr sicher wisst, wohnen im Goldenen Palast nur noch die Gesandten der Marwens. Und diese waren uneinsichtig und starrköpfig.«
»Mehr als das«, grollte Silbur verärgert über die milde Umschreibung der Ereignisse. »Sie beschuldigten uns, wir hätten den Stein selbst gestohlen, um unsere Rasse zu bereichern. Dabei weiß jedes Kind, dass dieser magische Gegenstand keinem einzelnen Volk von Nutzen wäre.«
Der Fremde stimmte Silbur zu, zumindest für all jene, die nicht über Magie verfügten. Doch wer steckte hinter dem Diebstahl? Hatte jemand den Stein nur gestohlen, um sich daran zu erfreuen? Um Geld zu erpressen? Oder trachtete wirklich jemand danach ihn zu missbrauchen? Und wer wäre in der Lage so etwas zu tun?
»Die Marwens waren ziemlich aufgebracht. Sie sprachen die Drohung eines Krieges aus, würde der Stein nicht binnen einer Frist von sechs Monaten an seinen ursprünglichen Platz zurückkehren. Sie beauftragten mich mit der Suche.« Ansgar hob die Hände, offenbar ahnte der König, welche Frage er ihm nun gestellt hätte. »Selbstverständlich hätte ich meine Soldaten und Vertrauten schicken können, doch ich bin fest davon überzeugt, dass sie den Stein nicht finden werden. Es ist Vorsehung! Erneut ist meine Familie dazu bestimmt die Welt zu retten!«
Der Krieger neben Ansgar brummte missbilligend. Offenbar war der König alleine mit seiner Überzeugung. Schließlich gab es für solche Aufgaben Soldaten und Helden wie Silbur.
»Seitdem sind wir unterwegs und haben alle uns bekannten Tempel in unserem Land abgesucht. Aber nichts und niemand war in der Lage uns zu helfen.«
Der Fremde nickte, schlug die Handinnenflächen gegen seine Brust und machte eine große, umarmende Bewegung.
»Ja, ich hoffe auch, dass uns das Glück nun endlich hold sein wird«, seufzte Ansgar.
Sein Blick ruhte auf der Gestalt des Königs, während er das eben Gehörte verarbeite. Die Geschichte warf neue Fragen auf, die seine ganze Aufmerksamkeit benötigten, so erschreckend waren sie. Was würde geschehen, wenn der Stein der Völker nicht mehr an seinen angestammten Platz zurückkehrte? Das Siegel der Verbannung wäre gebrochen. Die Cric wären frei, um neues Leid, Krieg und Tod über das Land zu bringen.
Die ersten Folgen des Verschwindens hatten, soweit er das einschätzen konnte, bereits begonnen. Zwar waren die Marwens schon immer eine aggressive Rasse gewesen, doch diese schnelle Bereitschaft zum Krieg war erschreckend.
War es vorstellbar, dass sie den Stein selbst gestohlen hatten, um eine Auseinandersetzung zu provozieren? Nein, das war unwahrscheinlich.
Sein Vater, der Wind, brachte ihm ab und an Neuigkeiten. Darum wusste er, dass in den vergangenen Jahrzehnten die Rassen ihre Vertreter abgezogen hatten. Jede davon hatte ihre eigenen Beweggründe dafür gehabt. Doch die meisten waren wohl gegangen, weil ihre weitere Anwesenheit unnötig erschien. Der Stein und seine Legende waren nun nur noch eine Geschichte, welche man erzählte, um kleine Kinder zu erschrecken.
Viele der Rassen hatten sich abgekapselt und waren letzten Endes vom Antlitz dieser Welt verschwunden, weil sie sich nicht weiter anpassen konnten. Jetzt gab es nur noch vier, wenn er das Alte Volk dazurechnete.
Während er darüber nachdachte, erinnerte er sich daran, dass sich seit Monaten beunruhigende Meldungen von streitenden Nachbarn häuften. Auseinandersetzungen, die oft in Gewalt endeten. Was immer der Stein der Völker zusammenhielt, es hatte bereits vor dem Diebstahl zu bröckeln begonnen. Und derjenige, der ihn gestohlen hatte, wusste das vermutlich auch.
»Wie viel Zeit verbleibt uns, bis die ersten Cric ihrem Gefängnis entkommen können?« Ansgar sprach aus, was der Fremde in diesem Augenblick dachte. In den Augen des Königs war die Angst deutlich zu sehen. »Ja, Freund. Es wird geschehen, wenn wir es nicht verhindern.«
Bestätigend nickte er und stand auf. Er machte eine Geste auf die Pferde und das Lager. Der König lächelte.
»Ich stimme Euch zu. Es wird Zeit aufzubrechen.«
Rasch packten Silbur und Ansgar die Decken zusammen, während er das Feuer löschte. Dann ging er voran und zeigte den Männern den kürzesten Weg nach Wyrett. Die Stadt der Menschen lag an der Grenze zum Gebiet der Marwens.
Sie brauchten den ganzen Tag um die Stadt zu erreichen.
Der Fremde führte sie sicheren Fußes durch den Wald. Oft bogen sie von den Hauptwegen ab, um kleine und ebenso verborgene Seitenwege zu begehen. Ab und an knurrte Silbur missbilligend, um deutlich zu machen, was er von der Wahl der Wege hielt.
Sie rasteten immer nur kurz, dafür aber öfter. Ihr Appetit war nicht groß, denn es war trotz des Schattens der riesigen Bäume zu warm, um viel zu essen. Der Durst nagte deutlich mehr an ihren Körpern und verlangte ihnen und den Pferden diese Pausen ab. Als sie die Stadt erreichten, war die Dämmerung bereits vorüber. Sie suchten sich ein Wirtshaus aus und schliefen schon bald darauf tief und fest in ihren Zimmern.
Am Morgen trafen sich die Reisenden im Gastraum, um ein kleines Frühstück einzunehmen. Danach führte der Fremde sie auf den allmorgendlichen Markt der Stadt. Es war ziemlich voll und es gab fast kein Vorankommen. Sie benötigten hauptsächlich Vorräte und hatten wenig Zeit, sich den Auslagen der einzelnen Händler zu widmen.
Der Fremde führte sie mit verblüffender Zielsicherheit von einem Stand zum nächsten. Er kaufte Proviant und Ausrüstung, welche Silbur bezahlen sollte. Er erkundigte sich nicht danach, ob genügend Kaufkraft vorhanden war, was Silbur verärgerte. Ansgar merkte, dass sich Silbur unwohl fühlte, wie er mit dem Geld um sich werfen musste, während die anderen Marktbesucher zumeist Ware gegen Ware tauschten.
»Wir sind viel zu auffällig«, knurrte Silbur leise und sah sich nervös um. Und obwohl Ansgar keine Furcht verspürte – immerhin war Silbur sein bester Kämpfer und Vertrauter – stimmte er Silbur im Stillen zu. Anderseits waren sie so, ohne noch lange verhandeln zu müssen, mit ihren Besorgungen rasch fertig. Und das kam Ansgar entgegen.
Nachdem sie genügend Proviant für mehrere Tage und ein weiteres Pferd erworben hatten, machten sie sich auf den Rückweg. Kurz vor Mittag erreichten sie wieder das Wirtshaus und tranken Bier, während sie auf eine Mahlzeit warteten. Silbur und Ansgar unterhielten sich. Der Fremde aber lauschte den Geschichten der Einkehrenden. Darunter war auch der eine oder andere Bericht, der Unruhe und Hast in ihm weckte. Ihnen blieb nicht mehr viel Zeit, ehe sich die ersten Cric aus ihrer Verbannung befreiten. Dessen war er sich jetzt gewiss. Ihre Aufgabe war längst nicht mehr nur, den Stein zu finden und zurückzubringen. Sie brauchten zudem König Ansgars Führungsqualitäten und sein Verhandlungsgeschick, um eine neue Verbannung der Cric zu erzielen. Nur das konnte sie jetzt noch retten.
Irgendwann brachte eine beleibte Frau das Essen aus der Küche. Mit einem entschuldigenden Lächeln, weil es so lange gedauert hatte, stellte sie die Teller ab.
Sie beendeten gerade ihre Mahlzeit, als die Wirtshaustür kräftig aufgestoßen wurde. Eine Gruppe von Männern, übelst gelaunt und laut grölend, kam herein. Es war ein halbes Dutzend Marwens, die wohl aus dem angrenzenden Silbergebirge heruntergekommen waren. Die Gespräche verstummten. Alle blickten zur Tür, auch Ansgar und Silbur.
Er hingegen hatte nur Sekunden gebraucht, um die Männer zu erkennen. Daher drehte er sich auf seinem Stuhl von ihnen weg, in der Hoffnung, dies unauffällig genug zu tun. Streit war das Letzte, was sie jetzt gebrauchen konnten. Leider sahen die Marwens danach aus, als würden sie genau diesen suchen.
Silbur und Ansgar wechselten einen Blick. Offensichtlich fragten sie sich, was ihr Führer zu verbergen hatte. Niemand war ein Freund der Marwens, wenn sie eine solche Stimmung verbreiteten. Und sein Benehmen war zudem eher verdächtig als beruhigend.
Ansgar seufzte niedergeschlagen. Statt einer Hilfe hatten sie sich noch mehr Ärger eingehandelt. Zumindest schloss er das aus dem Verhalten des Fremden.
Der Anführer der Marwens blickte sich herausfordernd um, entschied sich dann aber, zuerst einen Humpen Bier zu trinken. Er steuerte bereits auf die Theke zu, als einer seiner Begleiter ihn zurückhielt und etwas zu ihm sagte. Dabei zeigte er in Richtung von Ansgars Tisch.
Die Marwens waren etwa einen Kopf kleiner als die Rasse der Menschen, dafür aber stämmig und muskulös. Ihr Volk lebte im Silbergebirge, wo sie Edelmetalle schürften und zu allerlei nützlichen und schönen Dingen verarbeiteten. Danach verkauften sie diese im ganzen Land. Keine der anderen Rassen war so geschickt darin, feinstes Geschmeide und dergleichen herzustellen und darum wurden ihre kunstfertigen Waren sehr geschätzt. Allerdings wussten die Marwens das ebenfalls. Sie verkauften ihre Handelsgüter nur zu ihren Preisen.
König Ansgar hingegen war jemand, der durchaus über diese Zahlungsmittel verfügte. Die Brosche, die seinen Umhang zusammenhielt, war von den Marwen gefertigt. Offenbar war die Arbeit wiedererkannt worden.
»Verehrte Herren«, der Marwen machte eine Verbeugung. Ansgar und Silbur nickten ihm höflich zu. »Ich sah eines meiner Stücke und wollte fragen, ob Ihr damit zufrieden seid.« Mit einer Geste wies er auf die Brosche.
»Ein wunderbares und sehr zweckmäßiges Kleinod. Einzigartig schön. Ihr müsst ein angesehener Künstler sein!«, lobte Ansgar und lächelte dem Mann zu. Er wusste, wie wichtig es war, den Marwens zu schmeicheln. Silbur neben ihm nickte bekräftigend.
»Danke, mein Herr.« Erneut verbeugte sich sein Gegenüber. »Ich bin Welf. Solltet Ihr wieder etwas benötigen, wäre es mir eine große Ehre, würdet Ihr mich anfordern«, bot er seine Dienste an und Ansgar dankte ihm. Er hatte die Brosche damals über einen Zwischenhändler gekauft und den Schmied nie persönlich getroffen. Das war gut so, denn es hätte ihm noch gefehlt, wenn Welf ihn als König erkannt und ihn mit seinem Titel angesprochen hätte.
Während des kurzen Gesprächs hatte er sich nicht bewegt. Er hielt den Kopf gesenkt und schwieg. Welf schien das aber zu beleidigen und er stieß ihn grob an.
»Was ist mit Euch, Herr? Gehört Ihr zu denen, die unsere Arbeiten nicht zu würdigen wissen?«
Er hätte ihm gerne darauf geantwortet, dass die Kunstfertigkeit und der Sinn für Schönes, welche die Marwens besaßen, überall gelobt und geliebt wurden. Auch von ihm. Dass er nicht zu den Neidern gehörte, die sich zusammenschlossen, um ihre eigene, ebenfalls beeindruckende Schmiedekunst anzupreisen. Dass er weder zu der einen, noch zu der anderen Gruppe zählte. Und das, obwohl er die Marwens für ihre selbstgefällige Art, sich Lob und die überhöhten Preise zu erschmeicheln, durchaus verachtete. Jetzt und hier wollte er nur in Ruhe gelassen werden.
»Er ist stumm«, sagte Ansgar.
»Zufällig verstehe ich die Sprache der Jäger und ich hätte gerne eine Antwort!«, forderte der Marwen.
Er seufzte. Es gab offenbar keine friedliche Lösung in dieser Angelegenheit.
Er richtete sich auf und wandte sich Welf zu. Sofort ließ er seine Finger sprechen, doch der Marwen achtete gar nicht darauf. Stattdessen konnte er zusehen, wie blinder Hass und Wut dessen Gesicht entstellten.
»Du!«, schrie Welf wütend. Empört trat der Marwen einen Schritt zurück und richtete seinen ausgestreckten Zeigefinger anklagend auf ihn.
Wieder bewegten sich seine Finger und formten Zeichen, die Sätze ergaben.
»So, so. Ihr seid also nur auf der Durchreise und habt es sehr eilig. Ich glaube dir kein Wort, Myron. Ich habe unseren Streit nicht vergessen. In diese Angelegenheit hättest du dich besser nicht eingemischt. Aber du musstest ja, weil dich jemand um Hilfe gebeten hat«, spöttelte Welf. »Oh, warte, das war ja nicht nur einfach ein Jemand!«
Myrons Finger bewegten sich erneut, aber der Marwen wischte seine Einwände mit einer Handbewegung beiseite.
»Es ist mir völlig egal, wie das damals war. Ihr habt mich bloßgestellt und meinem guten Ruf beträchtlichen Schaden zugefügt. Niemals werde ich das verzeihen!«, keifte Welf wie ein altes Weib. Dann warf er sich brüllend und mit geballten Fäusten auf Myron.
Silbur sprang nun ebenfalls auf und stellte sich grinsend den herankommenden Marwens entgegen. Er verschmähte keine gute Prügelei und dies schien eine solche zu werden. Wer also nicht hineingezogen werden wollte, ergriff die Flucht.
Ansgar mischte sich ebenfalls ins Getümmel. Er stellte aber gleich darauf fest, dass die kleine Gruppe aus dem Silbergebirge mit Raufereien viel mehr Erfahrung hatte.
Zwei der Marwens waren inzwischen zu Welf geeilt und hatten Myron, der sich kaum zur Wehr setzte, rasch zu Boden geworfen. Sie begannen ihn zu fesseln. Zusätzlich dazu umwickelten sie seinen Kopf mit Stoff, so dass seine Ohren damit bedeckt waren.
Ansgar beobachtete dieses seltsame Verhalten beider Parteien misstrauisch und runzelte die Stirn. Sein Gegner nutzte das Zögern aus und boxte ihm in die Magengrube. Der König keuchte über die Härte des Schlages überrascht auf und spürte, wie das eben Gegessene nach oben drückte. Neben ihm brüllte Silbur, der sich zu seiner selbst für einen Menschen beeindruckenden Körpergröße aufrichtete. Er überragte die kleinen Marwens um fast das Doppelte. Dann packte er seine Gegner an den Hälsen, hob sie empor und schleuderte sie wie Puppen von sich. Der eine von ihnen stieß mit Ansgars Angreifer zusammen und riss ihn zu Boden. Der andere wurde quer durch den Raum geschleudert. Doch die Marwens waren zäh und standen rasch wieder auf. Nun warfen sie sich gleich zu dritt auf Silbur und beachteten Ansgar überhaupt nicht mehr. Zwei von ihnen rammten den Krieger und brachten ihn ins Wanken, während der letzte einen gezielten Magenhieb setzte. Ansgar verzog mitfühlend das Gesicht.
Endlich erwachte er aus seiner Starre und trat von hinten an den verbliebenen Marwen heran. Gerade, als er nach ihm greifen wollte, drehte sich dieser um und schlug Ansgar mit einem abgebrochenen Stuhlbein auf den Kopf. Die Haut über dem Auge platzte auf. Blut rann in einem dünnen Rinnsal herab und tropfte Ansgar ins Auge. Der König wich schwankend zurück. Im nächsten Moment waren die beiden anderen heran und setzten mit Schlägen und Tritten nach. Halb blind schlug Ansgar um sich, traf aber niemanden.
Der Kampf wurde abrupt unterbrochen, als weitere Marwens in das Wirtshaus eindrangen.
Die Marwens trugen die eigenwilligen Uniformen ihres Herrschers und vertraten auch hier in der Grenzstadt das Gesetz. Die Uniformen bestanden aus drei Teilen. Eine schwarze Hose, welche die Soldaten in ihren Stiefeln trugen, um mit den Hosenbeinen nicht in den Bergwerken irgendwo hängen zu bleiben. Dazu ein ebenfalls einfaches und zweckmäßiges Hemd, welches aber dunkelblau war und am Ende der Ärmel gelbe Rangstreifen hatte. Die Uniformjacke bestand aus schwarzem Stoff mit einem dunkelblauen Kragenaufsatz. Anstatt eines Gürtels trugen die Soldaten einen Strick um die Taille und hatten so immer ein Seil griffbereit. Auf ihren Ärmeln waren wieder die Rangabzeichen zu sehen, zudem bunt gestickte, seltsame Symbole, welche die Einheit und das Aufgabengebiet verrieten, wenn man die Zeichen kannte. Die Soldaten waren unterschiedlich bewaffnet. Manche trugen Schwerter, andere kurze Handbeile. Offenbar überließ man die Waffenwahl den Männern. Weiterhin waren auf die Jacken große Zierknöpfe genäht, die an den Schultern und am Kragen saßen. Sie zeigten das Wappen ihres Volkes, die Silhouette des Silberberges mit Spitzhacke und Feuer.
Rasch gingen die Soldaten dazwischen und brachten die Kämpfenden auseinander.
Doch anstatt der erhofften Hilfe offenbarten sich neue Schwierigkeiten.
»Ihr werdet in Gewahrsam genommen«, erklärte der offenbar ranghöchste Soldat und zeigte auf Silbur und Ansgar. »Unser Herrscher Foernlok will euch sehen.«
Ansgar nickte benommen und deutete auf Myron.
»Er ist unser Begleiter. Ihn müsst ihr ebenfalls mitnehmen.«
»Er gehört mir!«, keifte Welf. »Er hat meine Ehre beschmutzt und es ist mein Recht, Vergeltung zu fordern!«
Der Soldat nickte. »Ihr dürft uns begleiten, Herr. Ihr könnt Eure Forderungen erneut stellen, wenn unser Herrscher entschieden hat, was mit ihnen geschehen soll.« Der Mann verbeugte sich und Welf tat es ihm gleich, obwohl er mit der Entwicklung der Situation offensichtlich mehr als unzufrieden war.
Man führte Ansgar und Silbur hinaus, während Welf sich noch mit dem ranghöchsten Soldaten unterhielt. Er zeigte wild gestikulierend immer wieder auf Myron, der reglos am Boden lag.
Ansgar blinzelte heftig, um seine Augen an das grelle Licht der Mittagssonne zu gewöhnen. Die klobige Kontur vor ihm auf der Straße nahm weiter Formen an, bis er darin einen Gefängniswagen erkannte. Eigentlich ein ganz normaler Anblick für den König, doch niemals hatte er damit gerechnet, dass er selbst einmal mitfahren würde. Gefangen wie ein gewöhnlicher Verbrecher.
Die Wachen stießen Ansgar zu mehr Eile an und dieser stolperte zu dem Wagen und stieg als Erster die Stufe in das Innere empor. Schwärze und Hitze empfingen ihn und er keuchte. Das Licht, welches durch den Einstieg hereinfiel, beleuchtete die auf beiden Seiten angebrachten Pritschen. Er setzte sich auf die Linke, Silbur auf die Rechte. Dann warteten sie stumm.
Es vergingen Minuten, ohne dass etwas geschah. Schließlich waren Geräusche und Schritte zu hören.
»Abfahren!«, rief der Soldat, der eben auch ihre Verhaftung angeordnet hatte. Die Tür des Wagens wurde zugeworfen und ein Riegel vorgelegt. Das einzige Licht, das ihnen blieb, kam nun durch das kleine Gitterfenster darin.
»Halt!«, brüllte Ansgar. Er sprang auf, eilte zum Eingang und sah zu dem Fenster hinaus.
»Was denn?«, fragte der Wortführer ungeduldig.
»Hier fehlt noch einer!«
»Der wird nicht mit euch fahren«, erklärte der Soldat knapp und grinste. »Der geht zu Fuß.«
Damit setzte sich der Wagen ruckelnd in Bewegung. Der König blickte hinaus, um Myron zu erspähen, doch er sah nur sehr viele Soldaten. Und dann den entrüsteten Wirt, der sich darüber beklagte, wer nun die Rechnung der Reisenden begleichen würde.
»Was jammerst du? Die Wertsachen der Gefangenen werden deinen Schaden ausreichend entschädigen. Du kannst alles morgen auf dem Markt verkaufen.« Der Marwen zeigte zum Wagen. »Die hier brauchen die Sachen nicht mehr. Das wird ihre letzte Reise!«, lachte der Soldat gehässig.
Ansgar schwieg. Er spürte den vorwurfsvollen Blick Silburs auf sich ruhen. Nein, der König war auch jetzt noch nicht bereit sich einzugestehen, dass er in seiner Menschenkenntnis versagt und Myron falsch eingeschätzt haben sollte. Genau so, wie er auch jetzt noch nicht bereit dazu war hier aufzugeben. Ganz gleich, wie aussichtslos die Lage schien, sie würde erst dann wirklich aussichtslos sein, wenn sie Looh, die Regierungsstadt der Marwens, erreichten. Denn erst dort, in den ausbruchsicheren Gefängnissen der Marwens, würde eine Flucht wirklich unmöglich werden. Bis dahin klammerte er sich an die Hoffnung, nicht gescheitert zu sein.
Die Minuten verstrichen, während der rumpelnde Wagen sie alle Knochen im Leibe spüren ließ.
Silbur brummte und knurrte weiter vor sich hin, doch er war klug genug nichts zu sagen. Die Laune des Königs war ebenso schlecht wie die Lage, in welcher sie sich befanden.
Unvermittelt hielt der Wagen an.
Sie konnten hören, wie der ranghöchste Soldat lautstark protestierte. Offenbar ohne viel Erfolg, denn gleich darauf wurde die Tür geöffnet und die schlanke Silhouette eines Mannes trat in das gleißend helle Rechteck. Das, was Ansgar und Silbur von ihm sehen konnten, war feingliedrig und dunkelhaarig.
»Deredorn«, grüßte dieser freundlich.
Kaum dass er ganz im Wagen war, wurde die Tür wieder zugeworfen. Ruckelnd ging die Fahrt weiter. Der Neuankömmling schwankte kurz, fand aber gleich darauf sein Gleichgewicht wieder.
Ein Xayer, dachte Ansgar überrascht, nachdem er die eigenwillige Begrüßung gehört hatte. Früher hatten viele Rassen ihre eigene Sprache gehabt, bis der Kampf gegen die Cric die Völker vereinte. Nun sprachen alle nur noch eine Sprache. Das Volk der Xayer jedoch hatte sich ihre Sprache und Schriftkultur erhalten. Irgendwann hatten sie den Palast verlassen. Sie waren als erste gegangen. Ansgar seufzte innerlich. Das war lange vor seiner Geburt gewesen. Der König wusste nur das, was er in Büchern über die Rasse der Xayer gelesen hatte.
»Kein guter Ort für freundliche Worte«, erwiderte Ansgar schließlich. Der Fremde kam heran und setzte sich neben ihn. Seine Hände waren vor seinem Körper mit Ketten gefesselt.
»Wohl wahr«, stimmte dieser gut gelaunt zu. »Doch ab jetzt werden die Tage sicherlich immer schlechter werden.«
»Auch wahr,«, knurrte Silbur.
»Ich bin Bow«, stellte sich der Neuzugang vor.
»Ansgar. Das ist mein Reisegefährte Silbur.«
»Was habt Ihr verbrochen?«, fragte Silbur neugierig.
Bow lachte herzlich.
»Ach nun ja, nichts wirklich Schlimmes. Ich habe in einer Schmiede ein wenig meiner Kunstfertigkeit gefrönt. Der Besitzer verriet mich an die Marwens, um eine Belohnung zu kassieren.«
»Das war dumm und leichtsinnig. Die Grenzstadt ist dafür bekannt, dass sie eigentlich unter der Herrschaft der Marwens steht. Es ist ihr alleiniges Recht Geschmeide herzustellen.«
»Ich weiß!« Der Xayer klang nicht frustriert, eher belustigt.
»Aber?«, fragte Ansgar. Irgendwie verwirrte ihn das Verhalten des Mannes.
»Es hat viel Geld gebracht.«
»Das verstehe ich nicht«, brummte Silbur.
»Ich bekomme die Hälfte der Belohnung.«
»Denkt Ihr wirklich, Ihr könnt den Marwens entkommen?« Silbur lachte. Offensichtlich dachte er, dass der Xayer ziemlich naiv sein musste und Ansgar stimmte ihm im Stillen zu.
»Warum nicht?«, fragte Bow zuversichtlich.
»Noch nie ist einer aus den Gefängnissen des Silbergebirges bei Looh geflohen«, erklärte Ansgar.
»So weit will ich erst gar nicht fahren«, lachte Bow.
Ansgar und Silbur wechselten einen kurzen, vielsagenden Blick. Der König wagte es vorsichtig, ein wenig mehr Hoffnung zu schöpfen. Sollte sich das Schicksal wirklich auf unsere Seite geschlagen haben?
»Und ihr?«, fragte Bow.
»Nur ein Missverständnis!«
»Oh!« Bow nickte verstehend, glaubte Ansgar aber offensichtlich kein Wort. »Und der arme Kerl da draußen?«
»War zum falschen Zeitpunkt am falschen Ort!«
»Ja dann«, sagte Bow und wirkte etwas gekränkt.
Stille breitete sich aus und jeder von ihnen hing seinen eigenen Gedanken nach. Das Knirschen des Wagens, das Getrappel der Pferdehufe und die Stimmen der Soldaten drangen als dumpfer Lärm zu ihnen herein.
Irgendwann räusperte sich Ansgar.
»Darf man fragen, ob wir Euch bei Eurem Plan unterstützen können?«, fragte er leise.
»Aber sicher. Doch um ehrlich zu sein, weiß ich selbst nicht, wie dieser aussieht«, erklärte Bow vergnügt.
Silbur grunzte warnend und der König verstand. Ja, das letzte Mal habe ich mich auch geirrt.
»Seit meiner Festnahme läuft alles ganz anders, als wir das geplant hatten«, fuhr Bow unbeeindruckt fort. »Ehrlich gesagt hatten wir mit dem Aufwand hier«, er machte eine umfassende Geste und seine Ketten klimperten lautstark, »nicht gerechnet.«
»Wer ist wir?«, wollte Silbur wissen.
»Meine Schwester Shirl und ich«, erklärte der Fremde.
Diesmal lachte Silbur herzhaft auf.
»Eure Schwester? Euer ganzer Fluchtplan besteht nur aus einer Frau?« Silbur rang um Fassung, während er sich die Lachtränen aus den Augenwinkeln wischte. »Eine einzelne Frau?« Der Krieger bekam einen erneuten Lachanfall und zeigte zur Tür. »Da draußen sind ein halbes Dutzend Soldaten und ein paar Bergarbeiter, die darauf brennen, uns nach Looh zu bringen.«
»Um Euch zu verbessern, ehrenwerter Herr, es sind mehr als zwei Dutzend Soldaten und die Arbeiter aus dem Silbergebirge! Ihr müsst einen hohen Wert haben – dafür, dass es sich um ein Missverständnis handelt«, spöttelte Bow und grinste. Jedoch wirkte er keinesfalls beunruhigt und das machte Ansgar nachdenklich. Entweder war er wirklich davon überzeugt, dass es seiner Schwester gelingen könnte sie zu befreien, oder aber er war verrückt. Und dann war es fraglich, ob es diese Shirl überhaupt gab.
Silbur hingegen mühte sich, den immer wieder aufkeimenden Lachanfall zu unterdrücken.
Ansgar schüttelte frustriert den Kopf.
»Natürlich konntet Ihr mit einem derartigen Aufgebot nicht rechnen.«
»Stimmt!«, pflichtete Bow ihm bei. Entspannt rekelte sich der Xayer auf der harten Bank.
Wenn man ihn so betrachtet, bekommt man den Eindruck, wir würden lediglich eine Spazierfahrt mit der Kutsche machen, dachte Ansgar verwirrt.
»Aber Shirl macht das schon«, erklärte Bow zuversichtlich.
Stunden verstrichen. Die Gefangenen saßen schwitzend und bangend in ihrem schwankenden Gefängnis. Inzwischen war auch Bow längst nicht mehr so entspannt wie zu Beginn ihrer Fahrt. Offenbar begann er sich zu fragen, wo Shirl blieb.
Einmal war ihnen Wasser hereingereicht worden, aber das war in dieser übergroßen, stickigen und heißen Holzkiste kaum eine Erleichterung gewesen.
Nun stand Bow auf und trat an das kleine Gitterfenster an der Tür. Eine Zeit lang spähte er stumm hinaus.
»Wir sind jetzt seit einer Ewigkeit im Gebirge!«
»Uns bleiben noch einige Stunden, ehe wir Looh erreichen.« Die Stimme des Königs klang zunehmend mutloser, obwohl seine Worte das Gegenteil ausdrücken sollten.
»Ja, sie könnte sich wirklich beeilen«, bestätigte Bow. »Das macht sie bestimmt mit Absicht, weil ich ihr verboten habe, den feinen, teuren Stoff für das Kleid zu kaufen. Unser gesamtes Vermögen hätte sie dafür ausgegeben«, lamentierte er.
Silbur gluckste zustimmend.
»So etwas tun Frauen schon mal, ganz gleich welche Rasse!«
»Wer ist der Mann da draußen eigentlich?«, fragte Bow so nebensächlich wie möglich und sah zu Ansgar. »Ich weiß, dass es mich nichts angeht, aber ich frage mich, warum sie ihm die Ohren zugebunden haben. Ich meine, zuerst dachte ich, es wäre ein Verband, doch inzwischen bin ich mir sicher, dass es keiner ist.« Er zuckte mit den Schultern. »Also, warum die Ohren?«
»Wir wissen nicht viel über ihn. Er ist erst seit gestern unser Wegbegleiter«, stellte Ansgar klar. »Sein Name ist Myron und wir haben ihn im Flüsternden Wald getroffen.«
»Myron!« Bow sprach den Namen geradezu ehrfürchtig wie etwas sehr Mächtiges aus. Er drehte sich wieder um und spähte erneut hinaus. »Hmm«, brummte er. »Es gibt eine alte Legende, die das Verhalten der Marwens erklären würde. Doch der Held darin, so dachte ich, wäre größer, sähe gut aus und wäre stark wie ein Bulle.« Bow lachte. »Dieser Myron da draußen ist wirklich unscheinbar!«
»Ist es nicht oft so?«, fragte Ansgar. »Dass gerade die unscheinbaren Dinge wichtig sind?« Dabei dachte der König an die leere Wache im Goldenen Palast. An den kleinen Stein, dessen Diebstahl so großes Unheil anrichten würde.
»Richtig.«
»Was hat Myron mit der Legende zu tun?«, fragte Silbur neugierig.
»Darin ist Myron ein Held. Nein, eigentlich ist er mehr als das. Göttlich, sozusagen. Aber ihr werdet nicht von ihm gehört haben«, antwortete Bow.
»Einst habe ich mal von einer sagenumwobenen Gestalt gelesen, die in der Lage ist, sich den Wind zu Nutzen zu machen. Sein Streben war es, die Rassen zu unterstützen. Zu helfen, wo immer er helfen kann. Doch an seinen Namen kann ich mich nicht erinnern«, berichtete Ansgar.
»Ihr seid gut belesen, Herr«, stimmte Bow ihm zu. »Seine Geschichte ist lang. Es war die Zeit nach der Vereinigung aller Völker mit den Erstgeborenen und der Verbannung der Cric. Einer aus dem Alten Volk, sein Name ist in Vergessenheit geraten, teilte sein Lager mit einer Xayer. Myron wurde geboren und er wuchs auf wie ein ganz normales Kind. Eines Tages aber entdeckte er seine Magie, lernte damit umzugehen und den Wind zu nutzen. Als junger Mann verließ Myron dann seine Heimat. Er zog aus, um dem Wunsch seines Vaters zu entsprechen. Myron ging und half da, wo man ihn um Hilfe bat. Zuerst nur in unserem Gebiet. Schließlich aber zog es ihn in die Ferne und er bereiste das ganze Land. Seine Magie lässt ihn sehr langsam altern, nahm ihm aber die Stimme, so dass er nur mit seinen Fingern sprechen kann. Mit seinem Vater jedoch kann er sich normal unterhalten und die Antworten hört er im Wispern und Säuseln des Windes.«
»Ihr verehrt ihn?«, fragte Ansgar.