Banküberfall, Berghütte oder ans Ende der Welt - Nikita Afanasjew - E-Book

Banküberfall, Berghütte oder ans Ende der Welt E-Book

Nikita Afanasjew

4,8

Beschreibung

Jakob Ziegler ist jung, talentiert und erfolglos. Ein Künstler, der im Leben feststeckt. Um endlich vorwärtszukommen, erschafft er eine spektakuläre Kunstfigur: Johann Zeit. Was anfangs noch harmlos erscheint, wird bald zum Marketing-Coup. Dann aber entgleitet Jakob die Kontrolle über sein Alter Ego ... "Heute Nacht ist Berlin ein Abenteuerspielplatz. Afanasjew dreht das große Karussell der urbanen Selbstverwirklichung ‒ und er dreht es so schnell wie gekonnt." Benedict Wells

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Verlag Voland & Quist GmbH, Dresden und Leipzig, 2017

© by Verlag Voland & Quist GmbH

Korrektorat: Annegret Schenkel

Umschlaggestaltung: HawaiiF3

Satz: Fred Uhde

Druck und Bindung: CPI books GmbH, Leck

E-Book: zweiband.media, Berlin

ISBN: 978-3-86391-188-1

www.voland-quist.de

Nikita Afanasjew, geboren 1982 in Tscheljabinsk, Russland, lebt seit 1993 in Deutschland. Zur Finanzierung von Schule und Studium übte er diverse Gelegenheitsjobs aus, etwa als Bauarbeiter, Gerüstbauer und Bierzapfer. Als Reporter schreibt er unter dem Namen Nik Afanasjew für Tagesspiegel, 11 Freunde, Dummy u.a. Für seine journalistische Tätigkeit wurde er ausgezeichnet mit dem Deutschen Reporterpreis 2015 und nominiert für den Axel-Springer- sowie den Henri-Nannen-Preis. Banküberfall, Berghütte oder ans Ende der Welt ist sein Debütroman.

Inhalt

Cover

Titel

Impressum

Autoreninfo

1. Kein Zucker

2. Fontäne 9

3. Der gelbe Bach

4. Ein Kinn mit Mann dran

5. Endlich dagegen

6. Herzlichen Glückwunsch

7. Kunst am Bau

8. Papiertiger

9. Der kneifende Schritt

10. Gottes grosse Titten

11. Der letzte Schatz

12. Am Berg

13. Vorhang auf

14. Das Interview

15. Ausbelichtung

16. Überfahrt

17. Parallelaktion

18. Zeitlos schön

19. Auszugskiste

20. Dienst nach Vorschrift

21. Ex

22. Rotkehlchen

23. Feldarbeit

24. Dienstlich und privat

25. Krieg und kein Frieden

26. Hinter einer Kurve

27. Upside down

28. Utopian art

29. Zeilen

30. Guter Wille

1. Kein Zucker

Jakob Ziegler war dreißig Jahre, neun Stunden und siebzehn Minuten alt, als er zum ersten Mal Post von sich selbst bekam. Der vergilbte Briefumschlag war unbeschriftet und so dünn, als wäre er leer. Darin wartete ein unachtsam abgerissener Zettel mit einer Botschaft, die auf eine Visitenkarte gepasst hätte und in ihrer giftigen Konsequenz doch zu groß für diesen Augenblick war.

Jakob warf den Umschlag ungeöffnet auf den Boden und trug seinen Unmut den langen Weg von der Außentür seines Wohnateliers in die Küche. Er war erst durch jenes tobsüchtige Klingeln erwacht, das dem Brief vorausgegangen war. Er brauchte Kaffee.

Pulver ging in Wasser auf. Jakob hustete ausgiebig und suchte mit seinen Augen die Küche ab. Sie war im Verhältnis zum überdimensionierten Atelier winzig. Was nicht heißt, dass es leicht war, etwas darin zu finden. Jakob versteckte den Zucker stets an unterschiedlichen Orten. Es war eine gescheiterte Entwöhnungsstrategie, die aufzugeben er sich nicht traute. Gestern noch hatte er überlegt, das weiße Zeug ins Klo zu schütten, doch war ihm diese Geste zu kapriziös erschienen; es waren ja nicht George »Blow«Jung und das Koks, sondern nur Jakob und der Zucker.

Die Spüle erstickte in dreckigem Geschirr. Bierflaschen bevölkerten den Tisch. In dessen Mitte stand ein Aschenbecher, um den herum so viele Kippenstummel lagen, als hätte er sich aus Protest gegen seinen Dauerdienst erbrochen. Sieht aus wie nach einer Party, dachte Jakob, nach einer Geburtstagsparty. Dreißig Jahre, eine Wegmarke.

Zunächst hatte er fliehen wollen. An die Ostsee hätte er es sicher geschafft; weit genug, um bei ausgeschaltetem Handy seine Ruhe zu haben. Doch Jakob ertrug die Vorstellung nicht, dass seine Leute eine Überraschungsparty für ihn schmissen, auf der er fehlte und deshalb für eine nach Aufmerksamkeit lechzende Sechzehnjährige gehalten würde.

So hatte er nur auf allen Kanälen um Funkstille gebeten, sich mit Bier, Wodka und seiner Melancholie im Atelier verbarrikadiert. Zumindest so lange, bis seine Freundin Jolanda kurz vor Mitternacht geklopft hatte. Er besaß nie die Kraft, sie abzuweisen.

Jolanda hatte eine Flasche Sekt dabeigehabt und ihre Jolanda-Laune, diese gleichmütige Lebensfreude, die keinen bestimmten Grund hat und eher beruhigend als ansteckend wirkt. Ihre blassblonden Haare waren zu einem Zopf zusammengebunden, Sommersprossen umspielten ihre Nase. Sie roch nach sommerlichem Nachtwind. Jakob bat Jolanda herein und ignorierte sie. Jolanda hielt es eine Stunde bei ihm aus.

Er hätte sie ganz abweisen oder freudig empfangen müssen. Entweder oder. Den Rest der Nacht hatte Jakob mit seinen Selbstgedrehten zugebracht. Und mit Selbsthass.

Endlich entdeckte er den Zucker.

Das Paket stand auf dem obersten Regal hinter einem nicht beendeten Risiko-Brettspiel. Jakob kletterte auf einen Holzstuhl, hörte das Holz knarzen, hielt inne. Er stellte sich auf die Zehenspitzen und betrachtete seine weißen Truppen in Australien, die erfolglos um die Herrschaft auf dem Kontinent gekämpft hatten und tief im Westen endgültig aufgerieben zu werden drohten. Es musste toll sein, dort in Australien. Jakob griff nach dem Zucker, das Brett wackelte auf der Kante und fiel erst, als er zu Boden gesprungen war.

Nachdem er sich unter die Dusche in seinem Schlafzimmer gezwungen hatte, betrachtete Jakob sein Gesicht im Spiegel. Seine Augenringe erschienen ihm tiefer, seine Nase schiefer als zuvor. Fast wünschte er, irgendwo auf seinem Kopf ein graues Haar zu erkennen. Er wollte sich nicht in Selbstmitleid suhlen und redete sich ein, dass alles gar nicht schlimm war. Was wirklich stimmte. Darin lag ja das Problem. Sein Leben war nicht berauschend, nicht gut, aber eben auch nicht schlimm genug, um Fragen zu stellen, auf die neue Antworten fällig wären.

Jakob erinnerte sich an eine Weisheit seines Onkels Albert, der an sich eher selten mit Weisheiten auffiel. Ein richtig bekackter Morgen hätte ihm zufolge nur wenig mit einer beschissenen Nacht oder einem Kater zu tun. Einen bekackten Morgen würde auszeichnen, seinem Opfer zu vermitteln, von nun an in regelmäßigen Abständen wiederzukommen; will sagen: gar nicht mehr zu gehen.

Zurück in der Küche kippte Jakob zwei Löffel Zucker in den abgekühlten Kaffee. Er wartete. Er kippte einen dritten hinterher. Ex und weg. Jakob erfreute sich an dem Gedanken, dass sein bester Freund Ben diese Risiko-Partie nicht mehr gewinnen würde.

Er wusste immer noch nicht, ob er wütend auf Ben war. An seinem eigenen Geburtstag um kurz nach neun mit Sturmklingeln geweckt zu werden ging gar nicht. Doch Jakob selbst hatte Ben den Auftrag erteilt, ihm diesen Brief zuzustellen, beziehungsweise seinem späteren Ich. Vor sechs Jahren war das … oder war es schon sieben Jahre her?

Ben sollte den Brief jedenfalls zustellen, falls Jakob es mit dreißig nicht geschafft haben würde. Was sie früher unter geschafft haben verstanden, konnte Jakob nicht mehr genau sagen. Auf jeden Fall hatte diese Kategorie damals viel mit Geld zu tun. Wie er es heute definieren würde, wusste Jakob ebenfalls nicht. Nur dass Ben richtig geurteilt hatte, da von geschafft haben bei ihm keine Rede sein konnte, das sah Jakob ein. Unglaublich, dass Ben den Brief so lange aufbewahrt und ein so betrunkenes Versprechen eingelöst hatte.

Jakob ging zur Tür. Er griff nach dem Umschlag, riss ihn an der Außenkante auf, holte das unachtsam abgerissene Stück Papier heraus. Die einzige darauf geschriebene Zeile erschien ihm heimtückisch und banal, wie eine Erziehung, die sich in seltenen, unnötig harten Schlägen auf den Hinterkopf erschöpft.

Er las die Zeile, las sie so oft, dass sie in Worte zerfiel, die Worte zu Buchstaben, bis nichts mehr einen Sinn zu ergeben schien.

Wenn ich das lese, bleiben mir drei Optionen: Banküberfall, Berghütte oder ans Ende der Welt.

2. Fontäne 9

Die Schlange vor dem Club verstummte. Zigaretten wurden ausgedrückt, Bierflaschen abgestellt, Haare gezähmt: Nur wer sich beherrscht, verdient die Nacht. Jakob war diese Türsteher-Logik zuwider, doch führte an ihr kein Weg vorbei ins Kellerlabyrinth der Fontäne 9. Weder für ihn noch für Ben oder Carlo. Vor allem nicht für Carlo.

Ben pfiff eine traurige Melodie, unterbrach sie hin und wieder, um mit einer Asiatin aus der Gruppe vor ihnen zu reden. Sie trug gelbe Hotpants und verlagerte ihr Gewicht von einem Bein aufs andere. Wann immer Ben sie ansprach, reagierte sie mit abwehrenden Handbewegungen, als wäre Ben ein widerspenstiger Hund. So you came here extra for the Fontäne?, fragte Ben laut. Please don’t ruin my evening, antwortete sie, ohne ihn anzuschauen. Die Türsteher mit ihrem Urteil waren nur wenige Meter entfernt.

So you guys really came all the way from Bangkok to go to the Fontäne? Ben lachte. Die Asiatin zischte und stampfte energisch auf. Ben, lass mal gut sein, sagte Jakob, und dann fiel Carlo ihm um den Hals und begann zu murmeln: Leg deinen Schatten auf die Lemuren, und auf den Fluren stell die Winde bloß … Carlo, komm klar, fünf Minuten nur, sagte Jakob. Carlo verstummte. Er ließ Jakob los. Er stürzte. Jakob hob ihn auf. Er fragte sich, warum sie diese windstille Sommernacht in einer Warteschlange vergeudeten.

Jakobs Tag war unter der Last der morgendlichen Post kollabiert. Er hatte Anrufe ignoriert, halbherzig aufgeräumt, geraucht, vor allem viel geraucht …

Er hatte auch vom Fenster an seinem Schreibtisch aus beobachtet, wie im Nachbarschaftsgarten Kinder unter Anleitung eines glatzköpfigen Erziehers mit Lehm experimentierten. Jakob hätte alles darauf gewettet, dass der einzige Naturbursche der Glatzkopf selbst war und die Kinder sich mit ungeduldigen Klickfingern zu ihren Spielkonsolen wünschten.

Eigentlich hatte Jakob Jolanda im Brot & Spiele besuchen wollen, dem Café, in dem sie arbeitete. Aber er konnte sich nicht dazu überwinden.

Sein Galerist Severin Weiland hatte per WhatsApp gratuliert und gleichzeitig eine freudige Überraschung verkündet: Er habe zwei von Jakobs Arbeiten verkauft. Guter Sammler. Privatbesitz. Jakob glaubte ihm kein Wort. Zumindest den guten Sammler glaubte er ihm nicht. Trotzdem konnte er eine gewisse Freude nicht unterdrücken. Zwei Bilder. Immerhin.

Seit mindestens einem Jahr war sein Verhältnis zu Severin vergiftet. So lange hatte Jakob nichts Neues abgeliefert. Er ahnte, dass sein Galerist nicht genug für ihn tat. Er wusste, dass Severin ihn für unmotiviert hielt.

Jakobs ihm selbst unangenehme Freude über Severins Nachricht wurde innerhalb weniger Minuten von wohligem Zorn verdrängt. War es mittlerweile eine Überraschung, wenn seine Arbeiten Käufer gefunden hatten? Und was sollte das überhaupt für eine lachsfarbene Formulierung sein: freudige Überraschung? Geburtstagsglückwünsche per WhatsApp waren ohnehin eine Frechheit. Severin glaubte nicht mehr an ihn.

Abends waren unangemeldet Ben und Carlo aufgetaucht. Seit sie zu dritt in einer verqualmten Wohngemeinschaft am Stadtrand gelebt hatten, lösten gegenseitige Besuche in Jakob immer ein Gefühl der Heimkehr aus. Ben und Carlo lebten noch in dem Haus, in dessen Keller sich Bens Tischlerwerkstatt befand. Hinter dem Haus war ein Kanal, schwarz, stinkend, kaum fünf Meter breit und doch fester Bestandteil der lokalen Mythologie. Für eine Party hatten Jakob und Ben einmal eine Kofferraumladung Sand ans Ufer gekippt. Schön war das. Dieses klotzige, der Umgebung wie ein Stein auf dem Herzen liegende Backsteinhaus aus der Zeit der vorletzten Jahrhundertwende wurde an diesem Abend auf den Namen Strandhaus getauft und Ben verkündete, niemals aus diesem Haus ausziehen zu wollen, selbst wenn die Welt unterginge oder die Party aus Berlin weiter ostwärts nach Warschau oder Minsk ziehen sollte. Das hatte Jakob ziemlich beeindruckt.

Ben und Carlo kamen also ins Atelier und klirrten Jakob die Ohren voll. Ben riss Witze über sein famoses Sturmklingeln am Morgen, weiter besprachen sie Jakobs Brief nicht. Auf Jakobs Frage, warum er um so eine unmögliche Uhrzeit schon wach gewesen war, antwortete Ben mit: Noch!, nicht schon, sondern noch wach!

Danach begann jenes Trinkgelage, das sie in zu viele Kneipen und schließlich in die Schlange der Fontäne geführt hatte. Endlich ging es vorwärts.

Die Asiatin wurde samt ihrer Hotpants an der Tür ohne Angabe von Gründen abgewiesen. Sie warf Ben einen genervten Blick zu und zog ab. Ben umarmte einen der Türsteher. Beide überragten sie alle Anwesenden um einen Kopf.

Gut, dich zu sehen, Ben, sagte der Türsteher.

Ben zündete sich eine Zigarette an und erklärte, dass er gemeinsam mit König Carlo dem Verwirrten und dem Geburtstagskind Jakob aufmarschiert sei.

Sie hakten Carlo unter und stolperten in einen dunklen Vorraum voller Menschen.

Die Tür zu einem Industrieaufzug öffnete sich. Zwei Mädchen mit pinken Halstüchern saßen drin. Gäste rein, Tür zu. Schwarzlicht. Enge. Dort unten hört dich keiner schreien! Gelächter.

Während sie sanken, spielte das eine Halstuch-Mädchen Kontrabass, saß das andere Mädchen neben der Tür und rauchte. Jakob konnte nicht wegsehen. Sie war sicher kaum älter als achtzehn, inhalierte den Rauch tief und mit diesem heiligen Ernst, mit dem sich nur sehr junge Mädchen einer Zigarette widmen können. Erst als sie Jakob mit ihren Schattenaugen ein Ist was? zuwarf, ließ er von ihr ab.

Sie waren unten.

Hitze schlug Jakob entgegen. Jemand wollte Eintrittsgeld, Zigaretten, wissen, wo Timbuktu liegt, und dass er verdammt noch mal seinen Freund vom Boden aufhebt. Jakob schloss seine Augen, ließ den Bass wirken, der die Realität im Sekundentakt ein- und ausschaltete. Die Herzfrequenz der Wirklichkeit, dachte Jakob. Er wollte das aufschreiben, aber für Notizen war keine Zeit, wie es nie die Zeit für Notizen war.

Augen auf.

Jakob sprach, zahlte, atmete.

Er zog Carlo vom Boden hoch.

Sie waren drin.

Die Fontäne war nicht ein Ort, sie war viele. Zähne knirschten, Brüste schwitzten vorbei. Auf einer Leinwand zerplatzten Seifenblasen. Es war chaotisch, aber … irgendwie schien Jakob dieses Chaos so strukturiert.

Er ging Stationen ab: Bar, Toilette, Tanzflächen – Jakob schaute niemandem in die Augen, so weit war er noch nicht. Er sah einen Kicker, dessen Spielfiguren Menschen waren, Watte, die auf Schnee machte, er sah eine Ziege aus Pappmaschee. Ein Halbnackter lief herum und verteilte Pillen. Er ließ Jakob aus, der sich ärgerte. Er wollte keine Pillen, aber er hätte gerne eine angeboten bekommen.

Jakob kaufte Mate mit Wodka, lief von einer Theke zur nächsten; er stand wieder am Eingang. Die vielen Räume der Fontäne waren in einem großen Ring angeordnet, wie bei diesem Teilchenbeschleuniger in der Schweiz. Die Menschen waren die Teilchen, sie umkreisten einander und prallten irgendwo zusammen. Doch was war in der Mitte? Diese Frage faszinierte Jakob. Er musste betrunkener sein, als er sich eingestand. Hier wie dort suchen sie nach dem Gottesteilchen, dachte er; das Wort Teilchenbeschleuniger hatte an einem Ort wie der Fontäne in späteren Konversationen sicher allerhand Potenzial.

Jakob streunte umher. In einem der Gänge sah er eine Frau, die mit grobem Pinsel an eine Wand schrieb. Sie streckte ihren dürren Rücken, kam nicht so hoch, wie sie wollte. Jakob bot ihr eine Räuberleiter an, sie lächelte an ihm vorbei und nickte. Es schien Jakob, als wäre ihre Mimik nicht mit ihren Gedanken koordiniert.

Jakob hatte ihren rechten Fuß in seinen Händen. Er blickte nach oben, bekam einen Klacks roter Farbe ins Gesicht. Er rieb seine Stirn gegen ihren Rücken. Ihr an den Schultern gepolsterter Achtziger-Blazer rutschte hoch. Sie blies Locken zur Seite, schaute nach unten, blinzelte, fuhr mit der Kinnlade hin und her. Die Frau wog nichts, jedenfalls kam Jakob das so vor, als sie von seinen Händen absprang. Sie starrten gemeinsam an die Wand.

¡NO PASARÀN!

Jakob verbarg seine geplatzte Illusion hinter einem Lächeln. Er las den Aufruf zum Widerstand erneut, als hoffte er auf einen verborgenen tieferen Sinn. Als er sich umschaute, war die Frau mit ihrem Mund nicht mehr da.

Wo trieben sich Ben und Carlo herum? Was machte er hier, hatte er noch Geburtstag? Jakob kontrollierte sein Handy; keine Anrufe, kein Netz. Er stellte es aus. Das hatte er in den letzten Jahren selten gemacht. Immer erwartete er einen Anruf, meistens von Severin, der ihm verkünden würde, dass der Durchbruch da war, dass Jakob mit sofortiger Wirkung aus der stimmlosen Masse ausgebrochen war, aus dieser lässigen Mittelmäßigkeit. Ja, diese Nummer mit der Hoffnung war schon eine echt fiese Sache.

Für dich, hörte Jakob von der Seite. Die Blazer-Frau hielt ihm ein Bier hin, ein chinesisches Bier mit aufwendigem Drachenlogo und Frucht. Es schmeckte wie schon einmal getrunken. Sie setzten sich an die Wand.

Schreibst du auch?, fragte die Frau. Ich male, antwortete Jakob. Lara, sagte das Mädchen. Jakob nannte seinen Namen. Sie schüttelten sich nicht die Hände.

Lara sagte: Ich hätte schwören können, dass du schreibst. Nachrufe oder so. Dein Gesicht ist so gleichförmig … so … Maler sehen anders aus. Die haben große Nasen oder ’nen krassen Bart oder so.

Jakob stellte sein Bier ab und fasste sich ins Gesicht, als könne er Mund und Nase verschieben, seine abstehenden Ohren einklappen, seinen Dreitagebart in die Länge ziehen. Sie war bestimmt auf Nachrufe gekommen, weil er heute ganz in Schwarz unterwegs war. Schwarzes Hemd, schwarze Jeans, schwarze Lederschuhe. Jakobs schwarzer Geburtstag. Wahrscheinlich war das sogar Absicht gewesen.

Lara schaute ihn fragend an.

Jakob schwieg.

Sie sagte: Ist echt schön, sich mit dir zu unterhalten.

Das Echo von brachialem Massenjohlen erreichte den Gang, ein neuer Track drehte sich von den Platten.

Aus der Dunkelheit kam eine Horde bunter Sonnenbrillen angetrabt. Dahinter hinkte Carlo heran. Er hinkte so stark wie immer, aber für Carlos Verhältnisse schwankte er kaum. Er grüßte wortlos. Jakob fragte ihn, ob er Ben gesehen habe, Carlo schwenkte seinen Kopf.

Jakob schwieg.

Ihr seid so was wie eine stumme Bruderschaft, oder?, sagte Lara. Jakob fühlte sich genötigt zu sprechen, aber er wollte nicht.

Carlo nahm sich Laras Pinsel. Er führte ihn dicht vor seine Augen und starrte ihn an.

Wenn er so viel schreibt, wie du sprichst, sitzen wir lange hier, sagte Lara.

Jakob wurde von der absurden Vorstellung übermannt, dass er alles Erdenkliche schon einmal ausgesprochen hatte, jede Konversation geführt und sämtliche Widersprüche geklärt. Warum sollte er sprechen?

Er betrachtete Lara. Ihn überkam das Verlangen, sie zu schlagen oder zu küssen, er wusste nur nicht, was davon.

Dann hatte Carlo endlich gedichtet. Seine Schrift war verworren, die Buchstaben drangen ineinander. Lara las laut.

Sie planten das Ungewisse, tranken planlos die Nächte durch, damit daraus Tage werden konnten und die Nächte bei Tageslicht zu Geschichten

Lara nickte beeindruckt. Carlo durchsuchte seine Mantel­taschen, Zettel segelten zu Boden, ein Notizbuch flog hinterher. Jakob nahm es an sich.

Vor Stunden hatte Carlo erklärt, das Gedicht geschrieben zu haben. Sein Gedicht. Es wurde immer gefährlich, wenn Carlo dieser Ansicht war, vor allem für ihn selbst. Zum Glück passierte das nicht häufig, aber leider doch viel zu oft.

Carlo bemerkte nicht, wie Jakob das Notizbuch nahm. Er kroch mit dem Rücken zu ihm auf dem Boden herum und wühlte in den Zetteln.

Jakob und Lara saßen noch eine Weile da, Carlo durchsuchte die Taschen seines Mantels. Er wandte sich an Jakob und sagte: Mann, ich habe es doch geschrieben!

Jakob sprang auf und lief zur nächsten Theke, Lara folgte ihm, Carlo auch. Jakob holte zwei Runden Wodka. Zu dritt setzten sie sich in eine Couch­ecke, wo die Musik kaum zu hören war und ein Typ mit Wollmütze über dem Gesicht schlief. Die Blätter einer künstlichen Fächerpalme griffen nach ihm. Lara schob die Blätter zur Seite, ging nah an den Typen ran, hielt eine Hand vor seinen Mund. Er atmet noch, sagte sie.

Der erste Schnaps brannte. Lara schüttelte sich. Sie sagte: Ich werde demnächst unter richtigen Palmen sitzen. Am Strand, in Rio. Das wird legendär.

Ist das Fotoalbum schon fertig, oder wie?, fragte Jakob. Lara sagte dann nichts mehr.

Irgendwann trug sie orangen Lippenstift auf und drückte ihre Lippen so ausführlich gegeneinander, als würde sie mit sich selbst rummachen.

Jakob fing an zu reden. Er erzählte Lara, wie er einmal versucht hatte, nach Indien zu trampen. Den alten Hippie-Pfad über Afghanistan. In Bulgarien hatte ihm ein Lastwagenfahrer als Gegenleistung für eine Stunde Landstraße seine Tasche samt Reisepass geklaut. Da war die Weltreise zu Ende. Dabei hatte der Typ ihm noch an einer Raststätte Bier spendiert. Aber so kann man sich täuschen, erklärte Jakob verbittert.

Dass der angerückte Dorfpolizist ihm vor lauter Bedauern einen kostenlosen Platz auf seines Schwagers Fähre nach Istanbul angeboten hatte, erzählte Jakob lieber nicht. Dort hätte er einen neuen Pass beantragen und weiterreisen können.

Wieso erzählte er überhaupt davon? Das alles war lange her.

Hier seid ihr! Ben stand vor ihnen, hielt eine Frau an der Hand, deren Gesicht von ihrem Afro verschluckt wurde. Lara pustete Asche vom Tisch, holte ein kleines Tütchen hervor, streute weißes Pulver auf und formte es mit einer EC-Karte zu einer Bergkette. Sie zog. Jakob lehnte ab, Carlo auch, Ben warf sich zwischen Jakob und Lara und zog ebenfalls.

Dann zog Jakob doch.

Bens Begleitung beugte sich kommentarlos von der anderen Seite über den Tisch und räumte mit ihren Haaren Schnapsgläser ab. Jakob zeigte auf Ben und sagte: Das ist Ben.

Lara verteilte neues Pulver auf dem Tisch und fragte Ben, ob ihm schon mal jemand gesagt hätte, dass er wie dieser Sänger von Coldplay ausssehe, dieser … Chris Martin. Ben wäre nur etwas zu groß, aber vom Gesicht her würde das voll hinkommen.

Ach, wirklich?, sagte Ben. Lara schaute Ben lange an und fragte ihn, ob er jemals Palmen gesehen habe. Wo, hier?, sagte Ben. Nein, so in echt, sagte Lara. Ja, habe ich, sind halt Bäume. Oder sind Palmen keine Bäume?, fragte Ben. Seine Begleiterin nickte irritiert; ihre Haare wackelten melodisch.

Ich glaube, man muss alles gesehen haben, sonst weiß man gar nicht, wie alles ist, sagte Lara aufgeregt.

Bist du so eine Backpackerin? Ein Land nach dem anderen, die Liste abarbeiten, oder was?, fragte Ben. Dieses ganze Reisen ist eine Flucht. Deswegen machen es alle, weil es so einfach ist.

Ben legte seinen Arm auf Jakobs Schulter.

Er sagte: Ein Profi ist ein Amateur, der nicht weggelaufen ist.

Jakob betrachtete Bens tailliertes Sakko, das eingerissen und voller Flecken war. In seiner Werkstatt sah Ben stets tadellos aus. Um ihn herum flogen Holzspäne, aber sein schwarzer Blaumann – eine Sonderanfertigung – schien immun. Warum zog er sich zum Ausgehen so schäbig an?

Jakob wollte diesem Abend ein Ende setzen. Er lief zum Tresen und investierte den Inhalt seiner Brieftasche in Schnaps. Es waren mehr als dreißig Euro. Obwohl Jakob unterwegs etliche Pinnchen vom Tablett rutschten, brachte er genug an den Tisch, damit sie die nächste Stufe erreichen konnten. Es war Zeit, ins Bewusstsein zurückzukehren, in eines, das nicht vom Bass geregelt wurde. Doch dafür musste es erst ausradiert werden. Sie tranken, wieder und wieder. Aber es wurde nicht besser. Es ging nicht zu Ende. Es ging nirgendwo hin. Jakob hätte in diesem Moment gerne Palmen gesehen, doch die Südsee war weit weg.

Er lief zur Toilette. Lara wollte hinterher, er machte eine abwehrende Handbewegung und schlängelte sich so schnell an Körpern vorbei, dass sie nicht folgen konnte. Als Jakob sich in einer Kabine eingeschlossen hatte, ging er in die Knie und wollte kotzen. Er zitterte hoffnungsfroh, doch sein Magen gab nichts her.

Jakob kramte Carlos Notizbuch hervor und blätterte es durch. Satzfetzen und verirrte Worte standen dort, die gleichen, die schon immer in Carlos Notizbuch gewartet hatten. Jakob blätterte weiter und schlug eine Seite auf, die mit DAS GEDICHT überschrieben war. Darunter folgten viele vollgekritzelte Zeilen. Jakob betrachtete diese Seite minutenlang und dachte an Carlos absurden Traum. Er hatte schon so oft darüber nachgedacht und immer war ihm die Idee, das eine, vollkommene Gedicht zu schreiben und sonst nichts, abwegig vorgekommen. Das endgültige Gedicht gewissermaßen. Carlo wollte die Erleuchtung – wer will sie nicht? Aus irgendeinem Grund kam Jakob diese Idee nun zum ersten Mal nicht schwachsinnig vor. Sie war zum Scheitern verurteilt, sicher, aber Jakob gefiel ihre Wucht.

Die Waschbecken befanden sich in einem schummrigen Nebenraum, in dem statt Spiegeln Bilder hingen, die meisten waren eingerissen. Ein Bild zeigte ein Stillleben, jemand hatte Zigaretten zwischen den von Würmern zerfressenen Äpfeln ausgedrückt. Ein anderes Bild zeigte Aliens, die mit leuchtenden Bierdosen in der Hand die Milchstraße entlangliefen. In einer Ecke des Raumes saßen zwei Typen und kifften.

Ganz rechts in der Dunkelheit hingen zwei Bilder, die ihre Begegnung mit Kippen und Bier noch vor sich hatten. Sie waren grobkörnig, zeigten neblige, verrauchte Landschaften. Auf dem ersten waren Fabrikschlote zu sehen, vielleicht waren es auch Bäume, und wenn Jakob die Augen zusammenkniff, hätte er sogar annehmen können, dass es in die Ferne gehende Menschen waren. Auf dem letzten Bild war eine nackte Frau, die sich in Richtung eines schwarzen Flusses entfernte. Über ihr kreisten Vögel.

Jakob drehte den Wasserhahn zu und trocknete seine Hände an seinem Hemd ab. Dann ging er zu dem Bild mit den Schloten-Bäumen-Menschen, nahm es von der Wand und schlug mit seiner Faust mittendurch. Er riss es in Stücke, erst langsam, dann immer schneller. Er merkte selbst kaum, wie er in Rage geriet.

Mach kaputt, sagte einer der Typen in der Ecke. Die Zerstörung des ersten Bildes kostete Jakob so viel Kraft, dass er das zweite nur von der Wand holte und an die Heizung stellte. Es rutschte von selbst zu Boden.

Jakob irrte durch Halblichter. Er lief zur Tanzfläche. Er wollte sich verlieren. Als der Bass ihn hatte, wollte der Wunsch nicht mehr. Er rempelte einen dicken Typen an, der sich entschuldigte und weiterging.

Jakob dachte an Jolanda und daran, sie anzurufen, besann sich im letzten Augenblick.

Er wollte die anderen finden, wollte nach Hause oder ganz weit weg, wollte Zucker. Es konnte doch nicht sein, dass nicht mehr in ihm steckte. Jetzt gerade. Und überhaupt. Es musste doch Wege geben. Jakob blieb stehen.

Plötzlich tauchte Carlo auf. Er war aufgeregt, für Carlos Verhältnisse. Er hatte etwas entdeckt. Sie liefen zu der Couchecke, wo sie vorher gesessen hatten. Lara war weg. Ben war noch da – in Haaren versunken. Carlo stupste ihn an. Ben löste sich aus dem Mund der Frau unter ihm. Komm mit, sagte Carlo. Jakob verstand nicht, warum, aber Ben stand auf und folgte.

Carlo lief mit ihnen an der Garderobe vorbei, zog einen Vorhang zur Seite. Vor ihnen war eine Metalltür, Carlo öffnete sie, zu dritt betraten sie einen schummrigen Raum. Carlo schloss die Tür. Er griff in eine Kiste dahinter, hatte eine Flasche Whiskey und zwei Bier in seinen Händen. Du verdammter Alki, sagte Ben und drehte sich um. Er wollte weg. Wenn man dem Gang hier folgt, kommt man irgendwann ganz nach oben, in den Turm, sagte Carlo. Ben blieb.

Als sie bei ihrem Aufstieg im Inneren des Turms auf der Höhe der Straße waren, hallten die Geräusche zufallender Autotüren wider.

Weiter.

Mühe kostete Jakob der Aufstieg erst, nachdem er sich umgedreht und in Carlos kaltschweißiges Gesicht geblickt hatte. Dann waren sie oben, auf einem Flachdach über der Stadt.

Endlich oben.

Jakob blickte in den stoisch morgenblauen Himmel. Einfältige Gedanken von der unendlichen Größe des Universums, die er mit der eigenen Unwichtigkeit verglich, schwirrten in seinem Kopf herum wie lästige Fliegen. Die Sonne klopfte an. Sie befanden sich auf einem großen Backsteinturm, sicher der Turm einer ehemaligen Brauerei.

Wo ist König Carlo der Verwirrte?, rief Ben laut. Jakob und er drehten sich um, Carlo lag hinter ihnen an einen Schlot gelehnt mit der Whiskeyflasche zwischen seinen Beinen. Seine geschlossenen Augen waren gen Himmel gerichtet. Ben pfiff die gleiche Melodie wie in der Schlange vor ein paar Stunden. Nun erkannte Jakob das Lied. Es war eines von Bens eigenen, eine der wenigen Balladen seiner früheren Rockband Phantasire. Jakob pfiff mit, Ben freute sich, dass sein Lied erkannt worden war, und pfiff lauter. Sie lachten, hörten plötzlich auf.

Sie schwiegen lange.

Ich muss Severin abschießen, das bringt alles nichts mehr. Von meiner letzten Bilderserie habe ich ihm gar nicht erst erzählt, sagte Jakob. Er wartete auf Protest. Doch Ben nickte nur. Jakob sagte: Meine Arbeiten haben Kraft. Severin hat nur keine Ahnung, wie man sie unter die Leute bringt.

Deine Strategie ist für den Arsch, sagte Ben. So ein Galerist kann dich gar nicht verkaufen. Das musst du selbst machen. Die Leute kaufen nicht die Kunst, sie kaufen den Künstler. Bei mir in der Werkstatt kaufen sie auch keinen Tisch. Sie kaufen den Tischler Ben. Oder den Musiker Ben. Oder den Typen, der so aussieht wie Chris Martin. Sie kommen rein, labern einen zu, die ganzen Alten haben ja nichts zu tun. Also nicht nur die Alten meine ich … die Jungen sind heute ja auch alt. Alle wollen sie wertgeschätzt werden. So gebauchpinselt.

Ben zog sein Jackett aus und warf es auf den Boden. Er setzte sich zu Carlo, nahm den Whiskey. Er trank und sagte: Hast du eine Ahnung, wie viele Typen da draußen Bilder malen? Bilder sind emotionale Wichsvorlagen. Und bei dir kriegt keiner einen hoch, weil du nicht da bist. Weil du keine Geschichten lieferst.

Jakob schwankte.

Ben fing ihn auf.

Gemeinsam vernichteten sie den Whiskey.

Sie schwiegen eine Weile.

Jakob torkelte zur Dachkante und und lehnte sich über das Geländer. Die aufblitzende Sonne malte den roten Backstein golden.

Er hätte gerne einen Fotoapparat gehabt, aber es war keiner zur Hand, wie nie einer zur Hand war, wenn Bilder entstanden.

Als Jakob sich nach einigen Minuten umdrehte, lag Ben auf dem Boden und starrte in die Luft. Jakob beugte sich über ihn, sagte: Welche Geschichten, he? Was habe ich zu erzählen? Glücklich aufgewachsen in hier und da, gereist an die Ostsee und nach Frankreich, studiert in Düsseldorf, einmal Ärger mit der Polizei wegen interessiert keinen. Was soll ich denn erzählen?

Ben richtete sich auf. Vielleicht musst du dich … verrückt anziehen, so mit Pelzmantel und Piratenhut.

Jakob schrie: Ich soll also wie eine Transe rumlaufen? Er schleuderte seine Bierflasche auf den Teerboden. Sie zerplatzte. Die Scherben spiegelten das bleiche, aufkommende Licht. Jakob sagte: Severin hat Arbeiten von mir an die Fontäne verkauft. Bestimmt hat der Besitzer ihm einen Gefallen geschuldet. Die haben sie ins Klo gehängt. Ins verschissene Klo.

Ben lachte, lachte und hustete. Jakob sagte: Ist also witzig, ja? Den Brief hast du auch eingeworfen, weil es witzig war?

Ben sagte: Jetzt komm mal runter. Das war ein Wisch, den du mir vor Lichtjahren gegeben hast. Ich weiß gar nicht mehr, was da stand. Irgendwas von Banküberfall und Weltreise, oder?

Ben wartete ab, doch Jakob schwieg. Ben sagte: Ich dachte, das wäre stark, wenn ich dir das Ding wirklich zustelle.

Dann schwiegen sie ziemlich lange, bis Jakob sagte: Vielleicht brauche ich ein Pseudonym?

Pseudonym?, sagte Ben. Du bist kein französischer Schriftsteller der Jahrhundertwende … ich meine … du musst schon mehr tun, als dir ein Pseudonym zuzulegen. Da muss eine ganze Geschichte dran oder eine ganze Person. Der neue Superkünstler muss es sein, und dem schiebst du deine Bilder unter, damit sie unter seinem Namen verkauft werden.

Ja!, brüllte Jakob und erschrak über seine eigene Lautstärke.

Du bist doch völlig besoffen, sagte Ben.

Jakob schaute Ben fragend an.

Ben sagte: Du hast dich doch damals in Düsseldorf durch den Musil gequält, oder? Habe ich allerdings, sagte Jakob. Der Mann ohne Eigenschaften … Eben, sagte Ben, du brauchst das genaue Gegenteil.

Jakob sprang auf. Ja, sagte er, der Mann mit allen Eigenschaften. Also allen positiven Eigenschaften. Ich meine mit allen Vorzügen. Du weißt schon, was ich meine, oder? So einer, der Geschichten erzählt, selbst wenn er nicht da ist, einer, der …

Ben unterbrach ihn, er zeigte nach Osten: Einer, der aufhört, herumzubrüllen, und hinguckt. Was für ein geiles Licht!

Jakob wollte sich setzen, aber sein Körper ließ ihn nicht. Er war konzentriert, derangiert, überwältigt.

Er nahm all seine Kraft zusammen und ließ sich fallen.