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Das Nachdenken über die Barmherzigkeit führt zu den Grundfragen der Gotteslehre. Sie stellt den Kern und die Summe der biblischen Gottesoffenbarung dar. Das vorliegende Buch verbindet theologische Reflexion mit geistlichen, pastoralen und auch gesellschaftlichen Überlegungen, da ja das Thema Barmherzigkeit in viele Fragen christlicher, kirchlicher und sozialer Praxis hineinführt. Kasper regt dazu an, die christliche Gotteslehre und die daraus sich ergebenden praktischen Konsequenzen neu zu durchdenken, um damit dem, was mit der heute dringend notwendigen theozentrischen Wende in der Theologie und im Leben der Kirche gemeint ist, Konturen zu geben.
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Seitenzahl: 431
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Walter Kardinal Kasper
Barmherzigkeit
Grundbegriff des Evangeliums - Schlüssel christlichen Lebens
Titel der Originalausgabe: Barmherzigkeit
Grundbegriff des Evangeliums– Schlüssel christlichen Lebens
© Verlag Herder GmbH, Freiburg im Breisgau 2012, 2014
ISBN 978-3-451-30642-6
© Verlag Herder GmbH, Freiburg im Breisgau 2014
Alle Rechte vorbehalten
www.herder.de
Umschlaggestaltung: Finken & Bumiller, Stuttgart
E-Book-Konvertierung: epublius GmbH, Berlin
ISBN (E-Book): 978-3-451-80300-0
ISBN (Buch): 978-3-451
[Titelinformationen]
[Impressum]
Vorwort
I. Barmherzigkeit – ein aktuelles, aber vergessenes Thema
1. Der Schrei nach Barmherzigkeit
2. Barmherzigkeit – ein grundlegendes Thema für das 21. Jahrhundert
3. Barmherzigkeit – ein sträflich vernachlässigtes Thema
4. Barmherzigkeit unter Ideologieverdacht
5. Empathie und Compassion als neuer Zugang
II. Annäherungen
1. Philosophische Denkansätze
2. Religionsgeschichtliche Spurensuche
3. Die Goldene Regel als gemeinsamer Bezugspunkt
III. Die Botschaft des Alten Testaments
1. Die Sprache der Bibel
2. Gottes Gegenaktion gegen das Chaos und die Katastrophe der Sünde
3. Die Offenbarung des Namens Gottes als Offenbarung seiner Barmherzigkeit
4. Barmherzigkeit als Gottes unerforschliches, souveränes Anderssein
5. Barmherzigkeit, Heiligkeit, Gerechtigkeit und Treue Gottes
6. Gottes Option für das Leben und für die Armen
7. Der Lobpreis der Psalmen
IV. Die Botschaft Jesu von Gottes Barmherzigkeit
1. Es ist ein Ros entsprungen
2. Jesu Evangelium vom Erbarmen des Vaters
3. Die Botschaft der Gleichnisse vom barmherzigen Vater
4. Jesu Proexistenz
5. Gottes Barmherzigkeit – seine Gerechtigkeit – unser Leben
V. Systematische Überlegungen
1. Die Barmherzigkeit als Grundeigenschaft Gottes
2. Barmherzigkeit als Spiegel der Trinität
3. Die Barmherzigkeit Gottes – Ursprung und Ziel der Wege Gottes
4. Gottes universaler Heilswille
5. Das Herz Jesu als Offenbarung der Barmherzigkeit Gottes
6. Der in seiner Barmherzigkeit mitleidende Gott
7. Hoffnung auf Barmherzigkeit angesichts unschuldigen Leidens
VI. Selig, die Barmherzigkeit tun
1. Liebe – das christliche Hauptgebot
2. »Vergebt einander« und das Gebot der Feindesliebe
3. Die leiblichen und geistlichen Werke der Barmherzigkeit
4. Keine Laissez-faire Pseudobarmherzigkeit!
5. In den Armen Christus begegnen
6. Barmherzigkeit als christliche Stellvertretungs-Existenz
VII. Die Kirche unter dem Maß der Barmherzigkeit
1. Die Kirche – Sakrament der Liebe und der Barmherzigkeit
2. Verkündigung von Gottes Barmherzigkeit
3. Die Buße – das Sakrament der Barmherzigkeit
4. Kirchliche Praxis und Kultur der Barmherzigkeit
5. Barmherzigkeit im Kirchenrecht?
VIII. Für eine Kultur der Barmherzigkeit
1. Größe und Grenzen des modernen Sozialstaates
2. Weiterführung der kirchlichen Soziallehre
3. Die politische Dimension von Liebe und Barmherzigkeit
4. Liebe und Barmherzigkeit als Inspirations- und Motivationsquelle
5. Gesellschaftliche Bedeutung der Werke der Barmherzigkeit
6. Barmherzigkeit und die Frage nach Gott
IX. Maria, Mutter der Barmherzigkeit
1. Das Zeugnis von Maria im Evangelium
2. Das Zeugnis im Glauben der Kirche
3. Maria, Typos der Barmherzigkeit
Anmerkungen
Abkürzungen
Namenregister
Das vorliegende Bändchen geht zurück auf Entwürfe zu einem Vortragszyklus für Exerzitien. Doch der Vortrag über die Barmherzigkeit Gottes wollte nicht gelingen. Alle theologischen Nachforschungen halfen nicht weiter. In den folgenden Jahren griff ich das Thema immer wieder auf. Das Nachdenken und Nachforschen führte mich zu Grundfragen der Gotteslehre und der Eigenschaften Gottes wie zu Grundfragen christlicher Existenz. Ich stellte fest, dass die in der Bibel so zentrale Barmherzigkeit in der systematischen Theologie weitgehend in Vergessenheit geraten ist oder nur sehr stiefmütterlich behandelt wird. Die christliche Spiritualität und Mystik ist in dieser wie in anderen Fragen der Schultheologie um Längen voraus. So versucht die vorliegende Schrift theologische Reflexion mit geistlichen, pastoralen und auch gesellschaftlichen Überlegungen zu einer Kultur der Barmherzigkeit zu verbinden.
Vieles ist nur angedacht. Ich wage aber zu hoffen, dass das Gesagte einer jüngeren Generation von Theologen Anregung sein kann, den Faden aufzugreifen, um die christliche Gotteslehre und die daraus sich ergebenden praktischen Konsequenzen neu zu durchdenken und so der notwendigen theozentrischen Wende in der Theologie und im Leben der Kirche Konturen zu geben. Die Überwindung der Entfremdung zwischen der akademischen und der geistlichen Theologie wird dabei ein wichtiges Anliegen sein müssen.
Dem Kardinal Walter Kasper Institut in Vallendar, Herrn Professor P.Dr.George Augustin, Herrn Stefan Ley und Herrn Michael Wieninger, danke ich für die Durchsicht des Manuskripts und für die redaktionelle Bearbeitung, dem Verlag Herder für die gute verlegerische Betreuung.
Rom, in der Fastenzeit
Das hinter uns liegende 20.Jahrhundert war in vieler Hinsicht ein fürchterliches Jahrhundert und das noch junge 21.Jahrhundert, das am 11.September 2001 mit dem Terroranschlag auf das World-Trade-Center in New York mit einem wenig Gutes versprechenden Paukenschlag begonnen hat, verspricht bisher nicht besser zu werden. Im 20.Jahrhundert waren es zwei brutale totalitäre Systeme, zwei Weltkriege mit 50 bis 70Millionen Toten allein im Zweiten Weltkrieg sowie millionenfache Völker- und Massenmorde, Konzentrationslager und Gulags, im 21.Jahrhundert sind es die Bedrohung durch einen gnadenlosen Terrorismus, himmelschreiende Ungerechtigkeit, missbrauchte und verhungernde Kinder, Millionen Menschen auf der Flucht, zunehmende Christenverfolgungen, dazu verheerende Naturkatastrophen in Form von Erdbeben, Vulkanausbrüchen, Tsunamis, Überschwemmungen, Dürrekatastrophen. Das alles und vieles andere sind ›Zeichen der Zeit‹.
Angesichts dieser Situation fällt es vielen schwer, von einem allmächtigen und zugleich gerechten und barmherzigen Gott zu reden. Wo war er und wo ist er, wenn all dies geschah und geschieht? Warum lässt er all das zu, warum greift er nicht ein? Ist nicht – so wird gefragt – all das ungerechte Leiden das stärkste Argument gegen einen Gott, der allmächtig und barmherzig ist?1 Tatsächlich wurde das unschuldige Leiden in der Neuzeit vielen zum Fels des Atheismus (Georg Büchner); die einzige Entschuldigung für Gott sei – so sagte man–, dass er nicht existiert (Stendhal). Muss man – so wird weiter gefragt – angesichts eines geradezu diabolischen Ausbruchs des Bösen Gott nicht zur größeren Ehre Gottes leugnen (Odo Marquard)?2
Oft genug fällt das Sprechen von Gott auch denen schwer, die an Gott glauben; auch sie befinden sich oft in einer dunklen Nacht des Glaubens, in der es ihnen die Sprache verschlägt angesichts des unendlichen Leids und des ungerechten Leidens in der Welt, angesichts von schweren Schicksalsschlägen, von schmerzvollen unheilbaren Krankheiten, angesichts des Horrors von Kriegen und von Gewalt. Fjodor Michailowitsch Dostojewski, der im eigenen Leben wie bei anderen viel Leid erfahren hat, schreibt in seinem Roman Die Brüder Karamasow angesichts eines Kindes, das ein Gutsherr vor den Augen seiner Mutter von einer Meute seiner Hunde zerreißen ließ, dass solch himmelschreiendes Unrecht und Leiden eines Kindes durch keine künftige Harmonie aufgewogen werden kann. Darum gebe er sein Eintrittsbillet zum Himmel zurück.3 Romano Guardini, ein tief gläubiger, aber auch ein tief melancholisch veranlagter Mensch, hat, als er bereits vom Tod gezeichnet war, gesagt, »er werde sich im Letzten Gericht nicht nur fragen lassen, sondern auch selber fragen.« Er hoffe, dann eine Antwort zu erhalten »auf die Frage, die ihm kein Buch, auch die Schrift selber nicht, die ihm kein Dogma und kein Lehramt hat beantworten können: Warum, Gott, zum Heil die fürchterlichen Umwege, das Leid der Unschuldigen, die Schuld?«4
Das Leiden in der Welt ist das wohl gewichtigste Argument des modernen Atheismus. Andere Argumente kommen hinzu, etwa die Nichtvereinbarkeit des traditionellen christlichen Weltbilds mit dem heutigen wissenschaftlichen, etwa durch die Evolutionstheorie oder die neuere Hirnforschung bestimmten naturalistischen Weltbild.5 Alle diese Argumente haben Wirkung gezeigt. Sie haben dazu geführt, dass Gott heute für viele Menschen nicht mehr existiert, sie leben zumindest so, als ob Gott nicht existiere. Die meisten scheinen damit sogar ganz gut leben zu können, zumindest nicht schlechter als die meisten Christen. Das hat die Art der Frage nach Gott verändert. Denn wenn Gott für viele nicht existiert oder wenn er ihnen gleichgültig geworden ist, dann macht der Protest gegen Gott keinen Sinn mehr. Die Fragen ›Warum all das Leiden?‹ und ›Warum muss ich leiden?‹ lassen dann eher verstummen und sprachlos werden. Die Frage nach einem gnädigen Gott, die den jungen Martin Luther so sehr umtrieb, stellt sich heute für viele nicht mehr; sie lässt sie gleichgültig und kalt.
Die Resignation vor der Sinnfrage und der damit verbundene Defätismus findet sich nicht nur bei Menschen, die wir oft viel zu vorschnell abschätzig als oberflächlich abtun; sie findet sich – wie Jürgen Habermas gezeigt hat – heute auch im Bereich hochreflektierten philosophischen Denkens.6 Bei vielen Nachdenklichen ist aber ein Gefühl von dem, was fehlt, übrig geblieben.7 So gibt es neben den vielfältigen, schon schwer genug zu ertragenden leiblichen Nöten auch die geistige Not, die Orientierungslosigkeit und Sinnlosigkeitserfahrungen. »Wenn die utopischen Oasen austrocknen, breitet sich eine Wüste von Banalität und Ratlosigkeit aus.«8 Denn wenn die alten Antworten aufgegeben werden, sind deswegen noch keine überzeugenden neuen Antworten gefunden. Es ist eine Leere entstanden.
Viele können diese Situation tapfer ertragen und durchstehen. Sie verdienen unseren Respekt. Andere treibt sie zur Verzweiflung. Sie fragen sich angesichts einer als absurd empfundenen Welt: Wäre es nicht besser, nicht geboren zu sein? Für Albert Camus war der Selbstmord das einzig ernst zu nehmende philosophische Problem.9 Doch damit negiert der Mensch nicht nur Gott, sondern mit der Negation Gottes auch sich selbst. Für wieder andere sind an die Stelle der Götter und der Furcht vor dem richtenden Gott die Ängste vor immer wieder anderen und neuen, anonymen Gespenstern getreten.10
Viele nachdenkliche Menschen spüren den Ernst der Situation und machen sich neu auf die Suche. Es gibt mehr suchende Menschen und unerkannte, anonyme Pilger, als wir gewöhnlich ahnen. Sie spüren, dass, wenn man die Sinnfrage nicht mehr stellt, dies letztlich die Abdankung des Menschen als Mensch und den Verlust seiner wahren Würde bedeutet. Ohne die Frage nach Sinn und ohne Hoffnung kreuzen wir uns zurück zu einem findigen Tier, das sich einzig an materiellen Dingen erfreuen kann. Dann aber wird alles öde und banal. Die Frage nach Sinn gar nicht mehr zu stellen bedeutet, die Hoffnung aufzugeben, dass doch noch einmal Gerechtigkeit sein wird. Dann aber hätte der Gewalttäter am Ende doch Recht bekommen, dann hätte der Mörder triumphiert über sein unschuldiges Opfer.
Deshalb sind es nicht nur gläubige Christen, sondern auch viele andere nachdenkliche und wache Menschen, die erkennen, dass die Botschaft vom Tod Gottes, ganz anders als Nietzsche hoffte, eben nicht die Befreiung des Menschen ist.11 Wo der Glaube an Gott verdunstet, da hinterlässt er – das wusste selbst Nietzsche – eine Leere und eine unendliche Kälte.12 Ohne Gott sind wir vollends und ausweglos den Schicksalen und Zufällen der Welt und den Drangsalen der Geschichte ausgeliefert. Ohne Gott gibt es keine Instanz mehr, an die man appellieren kann und vollends keine Hoffnung auf einen letzten Sinn und auf eine letzte Gerechtigkeit mehr.
Das zeigt: Der Tod Gottes in den Seelen vieler Menschen (Friedrich Nietzsche), das »Fehl Gottes« (Martin Heidegger),13 die »Gottesfinsternis« (Martin Buber)14 sind die eigentliche und tiefste Not. Sie gehört zu den »Zeichen der Zeit« und »zu den ernstesten Gegebenheiten dieser Zeit.«15 Bekannt ist der Satz von Max Horkheimer: »Einen unbedingten Sinn zu retten ohne Gott, ist eitel.«16 Theodor W.Adorno sprach von der »Unausdenkbarkeit der Verzweiflung«17 und schrieb: »Philosophie, wie sie im Angesicht der Verzweiflung einzig noch zu verantworten ist, wäre der Versuch, alle Dinge so zu betrachten, wie sie vom Standpunkt der Erlösung sich darstellten. Erkenntnis hat kein Licht, als das von der Erlösung her auf die Welt scheint: alles andere erschöpft sich in der Nachkonstruktion und bleibt ein Stück Technik.«18 Im Sinne Kants kann man von einem Postulat sprechen, das besagt: wenn absolute Würde des Menschen sein soll, dann nur, wenn Gott ist und wenn er ein Gott des Erbarmens und der Gnade ist.19
Das war im Sinne Kants kein Gottesbeweis. Kants Postulat beruht ja auf der Voraussetzung, dass menschliches Leben glücken soll. Diese Voraussetzung aufzugeben, kann im Nihilismus und von dort sehr schnell im Zynismus von Mord und Todschlag enden. So ist Kants Postulat kein Beweis, aber ein deutlicher Hinweis darauf, dass sich zumindest die Frage nach Gott nicht erledigt hat. Mit ihr entscheidet sich Sinn und Unsinn des Menschseins. Das ist der Grund, weshalb sich das Gottesgerücht gegen alle aufgeklärten und auch pseudo-aufgeklärten Argumente so hartnäckig halten kann.20 Nicht der Gottesglaube, sondern die Theorien derer haben sich blamiert, die eine unaufhaltsam fortschreitende Säkularisierung und ein allmähliches Erlöschen der Religion prophezeit haben und die meinten, dem Gottesglauben schon das Totenglöckchen läuten zu können.21
Man muss kein Vertreter der problematischen These von einer Wiederkehr der Religion sein; es gibt ja auch eine Wiederkehr des Atheismus.22 Aber man darf die Einladung aussprechen, nochmals neu über Gott nachzudenken. Dabei geht es nicht nur um die Frage ›Existiert Gott?‹, so wichtig diese Frage auch ist. Es geht um den gnädigen Gott, den Gott, der »reich ist an Erbarmen« (Eph 2, 4), der uns tröstet, damit auch wir andere trösten können (2Kor 1, 3f.). Denn angesichts des Teufelskreises des Bösen kann es Hoffnung auf einen Neuanfang nur geben, wenn wir auf einen gnädigen, barmherzigen und zugleich allmächtigen Gott hoffen können, der allein einen neuen Anfang setzen kann und uns Mut zu einer Hoffnung gegen alle Hoffnung und Kraft zu einem Neuanfang schenken kann. Es geht also um den lebendigen Gott, der die Toten lebendig macht und der am Ende alle Tränen abtrocknet und alles neu macht (Offb 21, 4f.).
Augustinus, der große Kirchenlehrer des Westens, hat nach seinem eigenen Zeugnis in seinem Leben die Barmherzigkeit und Nähe Gottes besonders dann erfahren, wenn er sich am meisten von ihm fern wusste. Er schrieb in seinen Bekenntnissen: »Dir sei Dank, dir sei Ruhm, du Quell der Erbarmung! Ich wurde elender und du wurdest mir näher.«23 Und er fügte hinzu: »Es schweige mit seinem Gotteslob, wer nicht zuerst die Barmherzigkeitserweise Gottes betrachtet.«24 In der Tat, wir müssten von Gott schweigen, wenn wir den Menschen in so viel leiblicher und geistiger Not nicht die Botschaft von Gottes Barmherzigkeit neu zu sagen wüssten. Die Frage nach dem Erbarmen Gottes und nach erbarmenden Menschen ist nach all den fürchterlichen Erfahrungen des 20. wie des noch jungen 21.Jahrhunderts heute dringender denn je.
Zwei Päpste in der zweiten Hälfte des 20.Jahrhunderts haben die ›Zeichen der Zeit‹ klar erkannt und die Frage nach der Barmherzigkeit neu in die Mitte kirchlicher Verkündigung und Praxis zu rücken gemahnt. JohannesXXIII., der Papa buono, wie ihn die Italiener liebevoll nennen, hat die Herausforderung zuerst aufgegriffen. Bereits in seinem geistlichen Tagebuch finden sich viele tiefe Betrachtungen über die Barmherzigkeit Gottes. Sie ist ihm der schönste Name und die schönste Anrede Gottes und unsere Armseligkeiten sind ihm der Thron der göttlichen Barmherzigkeit.25 Er zitiert Psalm 89, 2: »Misericordias Domini in aeternum cantabo.«26
Es entsprach deshalb einer bei JohannesXXIII. schon lange zuvor gereiften inneren Überzeugung und einem tiefen persönlichen Anliegen, dass er am 11.Oktober 1962 in seiner wegweisenden Rede zur Eröffnung des Zweiten Vatikanischen Konzils sagte, es gehe dem Konzil nicht darum, die überlieferte Lehre der Kirche nur zu wiederholen; die Lehre ist – so sagte der Papst – bekannt, und sie steht fest. Die Kirche habe »den Irrtümern aller Zeit widerstanden.« »Oft hat sie sie auch verurteilt, manchmal mit großer Strenge. Heute dagegen möchte die Braut Jesu Christi lieber das Heilmittel der Barmherzigkeit anwenden als die Waffe der Strenge erheben.«27
Damit war ein neuer Ton angeschlagen, der viele aufhorchen ließ. Er verfehlte im weiteren Verlauf des Konzils seine Wirkung nicht. Denn die insgesamt 16Konzilsdokumente wollten ebenso wenig wie der Papst selbst etwas von der überlieferten Lehre der Kirche aufgeben oder abändern. Sie wollten keinen Bruch mit der bisherigen Tradition der Kirche. Aber sie schlugen einen neuen Ton an und regten einen neuen Stil in Verkündigung und Leben der Kirche an. Sie haben – wie der Papst selbst – den Zusammenhang zwischen Barmherzigkeit und Wahrheit erkannt.28 JohannesXXIII. charakterisierte diesen neuen Stil, indem er von der pastoralen Zielsetzung des Konzils sprach.
Um den Begriff ›pastoral‹ gab es während des Konzils und nach dem Konzil viele Diskussionen, auch manche Missverständnisse.29 Ohne uns hier auf die fachliche Diskussion einzulassen, kann man sagen: Der neue pastorale Stil, den JohannesXXIII. meinte, hat viel mit dem zu tun, was er in seiner Eröffnungsrede mit dem Wort vom Heilmittel der Barmherzigkeit angesprochen hat. Seither ist das Thema Barmherzigkeit grundlegend geworden, nicht nur für das Konzil, sondern für die ganze pastorale Praxis der nachkonziliaren Kirche.
Papst Johannes PaulII. hat das, was JohannesXXIII. angeregt hatte, weitergeführt und vertieft. Ihm ist das Thema der Barmherzigkeit nicht am Schreibtisch in der Studierstube eingefallen. Dieser Papst hat wie kaum ein anderer die Leidensgeschichte der Zeit gekannt und sie am eigenen Leib erfahren. Er war in der Nähe von Auschwitz aufgewachsen; er hatte in seiner Jugend, in seinen frühen Priesterjahren und in seiner Krakauer Bischofszeit die Schrecken von zwei Weltkriegen und zwei brutalen totalitären Systemen erlebt und viel Leid im eigenen Volk und im eigenen Leben erfahren. Sein Pontifikat war von den Folgen eines Attentats und in den letzten Jahren von persönlichem Leiden geprägt. Das Zeugnis seines Leidens war eine stärkere Predigt als seine vielen Predigten und seine zahlreichen Schreiben. So hat er die Botschaft von der Barmherzigkeit zum Leitthema seines langen Pontifikats gemacht. Er hat sie der Kirche des 21.Jahrhunderts ins Stammbuch geschrieben.30
Bereits die zweite Enzyklika seines Pontifikats, Dives in misericordia (1980), war dem Thema Barmherzigkeit gewidmet. Der deutschen Ausgabe wurde der Titel Der bedrohte Mensch und die Kraft des Erbarmens gegeben.31 In dieser Enzyklika erinnerte der Papst daran, dass Gerechtigkeit allein nicht genügt; denn ›summa iustitia‹ kann auch ›summa iniuria‹ sein. Die erste Heiligsprechung im neuen dritten Jahrtausend galt am 30.April 2000 bewusst und programmatisch dem Thema der Barmherzigkeit. Denn an diesem Tag hat er die bei uns bis dahin nur wenig bekannte polnische Schwester und Mystikerin Faustina Kowalska († 1938) heiliggesprochen. Diese einfache Schwester ist in ihren Aufzeichnungen über die neuscholastische Schultheologie und deren weithin rein abstrakt-metaphysische Lehre von den Eigenschaften Gottes hinausgegangen und hat ganz im Sinn der Bibel die Barmherzigkeit Gottes als die größte und höchste der Eigenschaften Gottes bezeichnet und sie als die göttliche Vollkommenheit schlechthin herausgestellt.32 Sie steht damit in einer großen Tradition der Frauenmystik. Es sei hier nur an die heilige Katharina von Siena und die heilige Therese von Lisieux erinnert.
Bei seinem Besuch in Lagiewniki, einem Vorort von Krakau, wo Schwester Faustina gelebt hatte, sagte der Papst am 7.Juni 1997, das Thema der Barmherzigkeit habe die Geschichte in die tragische Erfahrung des Zweiten Weltkriegs eingeschrieben als eine besondere Hilfe und eine unerschöpfliche Quelle der Hoffnung. Diese Botschaft habe gewissermaßen das Bild seines Pontifikats geprägt. In seiner Predigt bei der Heiligsprechung von Schwester Faustina sagte er, diese Botschaft solle wie ein Lichtstrahl sein für den Weg der Menschen im dritten Jahrtausend. Beim letzten Besuch in seiner polnischen Heimat weihte er am 17.August 2002 in Łagiewniki die Welt feierlich der göttlichen Barmherzigkeit. Bei diesem Anlass beauftragte er die Kirche, das Feuer des Erbarmens an die Welt weiterzugeben. Auf Anregung von Schwester Faustina erklärte er den Sonntag nach Ostern, den ›Weißen Sonntag‹, zum Sonntag der Barmherzigkeit.
So wurde es von vielen als ein Zeichen der Vorsehung verstanden, dass dieser Papst am Vorabend des Sonntags der Barmherzigkeit, am 2.April 2005, in das Haus des Vaters heimgerufen wurde. Papst BenediktXVI. hat sich diese Deutung bei der Seligsprechung von Papst Johannes PaulII. am Sonntag der Barmherzigkeit, dem 1.Mai 2011, zu eigen gemacht. Schon bei der Begräbnisfeier am 8.April 2005 hat der damalige Kardinal Ratzinger als Kardinaldekan auf dem Petersplatz die Barmherzigkeit als das Anliegen seines Vorgängers herausgestellt und dieses Anliegen als Selbstverpflichtung übernommen. Er sagte: »Er (d. i. Papst Johannes PaulII.) hat uns das österliche Geheimnis als Geheimnis der göttlichen Barmherzigkeit aufgezeigt. In seinem letzten Buch schreibt er: Die dem Bösen gesetzte Grenze ›ist letztendlich die göttliche Barmherzigkeit.‹« Das ist ein wörtliches Zitat aus dem Buch, das Johannes PaulII. unter dem Titel Erinnerung und Identität nur wenige Monate vor seinem Tod veröffentlicht hat und das sein zentrales Anliegen nochmals zusammenfassend zum Ausdruck bringt.33
Schon bei der Eucharistiefeier zu Beginn des Konklaves am 18.April 2005 sagte Kardinal Ratzinger: »Wir hören voll Freude die Ankündigung des Jahres der Barmherzigkeit: die göttliche Barmherzigkeit setzt dem Bösen eine Grenze – hat der Heilige Vater uns gesagt. Jesus Christus ist die göttliche Barmherzigkeit in Person: Christus begegnen heißt, der Barmherzigkeit Gottes begegnen. Der Auftrag Christi ist durch die priesterliche Salbung zu unserem Auftrag geworden; wir sind aufgerufen, ›das Jahr der Barmherzigkeit des Herrn‹ nicht nur mit Worten, sondern mit dem Leben und mit den wirksamen Zeichen der Sakramente zu verkünden.«
So kann es nicht überraschen, dass Papst BenediktXVI. bereits in seiner ersten Enzyklika Deus caritas est (Gott ist Liebe) (2006) die Linie seines Vorgängers fortgesetzt und sie theologisch weiter vertieft hat. In seiner Sozialenzyklika Caritas in veritate (Die Liebe in der Wahrheit) (2009) hat er dieses Thema im Blick auf die neuen Herausforderungen konkretisiert. Anders als die bisherigen Sozialenzykliken ging er nicht mehr von der Gerechtigkeit, sondern von der Liebe als Grundprinzip der christlichen Soziallehre aus. Damit hat er einen neuen Ansatz der kirchlichen Soziallehre gewählt und neue Akzente gesetzt, die das Anliegen der Barmherzigkeit in einem größeren Zusammenhang nochmals neu aufnehmen.
Drei Päpste aus der zweiten Hälfte des 20.Jahrhunderts und vom Beginn des 21.
Die Herausstellung der Barmherzigkeit als zentrales Thema für die Theologie des 21.Jahrhunderts, das heißt für die rational vom Gottesglauben Rechenschaft gebende Rede von Gott, bedeutet, der zentralen Bedeutung der Botschaft von der Barmherzigkeit Gottes im Zeugnis des Alten wie des Neuen Testaments neu nachzugehen.34 Sobald man dies versucht, macht man die erstaunliche, ja erschreckende Feststellung, dass dieses für die Bibel zentrale und für die gegenwärtige Wirklichkeitserfahrung aktuelle Thema in den Lexika und in den Handbüchern der dogmatischen Theologie bestenfalls am Rande vorkommt. In den traditionellen wie neueren dogmatischen Handbüchern wird die Barmherzigkeit Gottes nur als eine der Eigenschaften Gottes unter anderen und meist nur knapp erst nach den Eigenschaften, welche aus dem metaphysischen Wesen Gottes folgen, behandelt. Die Barmherzigkeit ist also in keiner Weise systembestimmend.35 In neueren Handbüchern fehlt sie oft ganz,36 und wenn sie überhaupt auftaucht, dann eher nebenbei. Ausnahmen bestätigen die Regel, können aber den allgemeinen Befund nicht grundsätzlich verändern.37
Dieses Ergebnis kann man nicht anders denn als enttäuschend, ja als katastrophal bezeichnen. Es verlangt danach, die gesamte Lehre von den Eigenschaften Gottes neu zu bedenken und dabei der Barmherzigkeit den ihr gebührenden Platz zukommen zu lassen. Denn dieses Ergebnis kann weder der zentralen Bedeutung der Barmherzigkeit im biblischen Zeugnis, noch den schrecklichen Erfahrungen des 20.Jahrhunderts und den Zukunftsängsten im beginnenden 21.Jahrhundert gerecht werden. In einer Situation, in der viele Zeitgenossen entmutigt, hoffnungs- und orientierungslos geworden sind, müsste die Botschaft von Gottes Barmherzigkeit als Botschaft der Zuversicht und der Hoffnung zur Geltung gebracht werden. So stellt die Herausstellung der Bedeutung der Barmherzigkeit Gottes angesichts der gegenwärtigen Situation für die Theologie eine gewaltige Provokation dar.
Der Ausfall theologischer Reflexion der biblisch zentralen Botschaft der Barmherzigkeit hat zur Folge, dass dieser Begriff oft verkommen und herabgekommen ist zu einer ›soften‹ Pastoral und Spiritualität und zu einer blut- und kraftlosen Weichheit, der jede Entschiedenheit und jedes klare Profil abgeht, die es nur jedem irgendwie recht machen will. Eine solche weiche Praxis mag als Reaktion auf eine unbarmherzig rigide legalistische Praxis bis zu einem gewissen Grad verständlich sein. Aber Barmherzigkeit wird zur Pseudobarmherzigkeit, wenn in ihr nichts mehr zu spüren ist von der Erschütterung vor dem heiligen Gott, seiner Gerechtigkeit und seinem Gericht, und wenn das Ja nicht mehr ein Ja und das Nein nicht mehr ein Nein ist und sie die Forderung der Gerechtigkeit nicht über-, sondern unterbietet. Das Evangelium lehrt die Rechtfertigung des Sünders, aber nicht der Sünde; darum sollen wir die Sünder lieben, aber die Sünde hassen.
Der Grund der stiefmütterlichen Behandlung der Barmherzigkeit wird ersichtlich, wenn man sieht, dass in den Handbüchern die Eigenschaften Gottes im Vordergrund stehen, die sich aus dem metaphysischen Wesen Gottes als das subsistierende Sein selbst (›ipsum esse subsistens‹) ergeben: Einfachheit, Unendlichkeit, Ewigkeit, Allgegenwart, Allwissenheit, Allmacht und andere. Die metaphysische Wesensbestimmung Gottes, welche die gesamte theologische Tradition seit der Frühzeit der Kirche geprägt hat, soll keineswegs grundsätzlich in Frage gestellt werden; auf ihr Recht und ihre Grenzen wird noch ausführlich einzugehen sein.38 Es soll hier lediglich gezeigt werden, dass im Rahmen der metaphysischen Eigenschaften Gottes für die Barmherzigkeit, die sich ja nicht aus dem metaphysischen Wesen, sondern aus der geschichtlichen Selbstoffenbarung Gottes ergibt, kaum Raum ist, ebenso wenig wie für die Heiligkeit und den Zorn Gottes, das heißt seinen Widerstand gegen das Böse. Das Vergessen der Barmherzigkeit ist also kein irgendwie nebensächliches Randproblem der Gotteslehre; sie stellt uns vielmehr vor das grundsätzliche Problem der Wesensbestimmung Gottes und der Eigenschaften Gottes ganz allgemein und macht ein Neudenken der Gotteslehre notwendig.
Der traditionelle metaphysische Ausgangspunkt der Gotteslehre brachte noch ein weiteres Problem für die Rede von der Barmherzigkeit Gottes mit sich. Wenn nämlich Gott das Sein selbst ist, dann folgt aus dieser absoluten Seins-Fülle die absolute Seins-Vollkommenheit Gottes, welche, da Leiden ja als Mangel verstanden werden muss, die Leidensunfähigkeit (ἀπάθεια) Gottes einschließt. So hatte die Dogmatik aufgrund ihres metaphysischen Ausgangspunktes Schwierigkeiten, von einem mitleidenden Gott zu sprechen.39 Sie musste ausschließen, dass Gott in einem passiven Sinn mit seiner Kreatur leidet (pati); sie konnte nur in dem aktiven Sinn von Mitleid und Barmherzigkeit sprechen, dass Gott dem Leiden seiner Kreatur widersteht und ihm abhilft.40 Die Frage, die bleibt, ist, ob damit dem biblischen Verständnis Gottes, der mit seiner Kreatur mitleidet, der als misericors ein Herz (cor) bei den Armen und für die Armen (miseri) hat, Genüge getan wird.41 Kann ein so apathisch gedachter Gott wirklich sympathisch sein?
Pastoral war dies eine Katastrophe. Denn ein so abstrakt gedachter Gott scheint den meisten Menschen weit weg zu sein von ihrer persönlichen Situation; er scheint ihnen wenig oder nichts zu tun zu haben mit der Situation einer Welt, in der sich fast tagtäglich Schreckensmeldungen überschlagen und viele Menschen von Zukunftsängsten umgetrieben werden. Dieses Auseinanderklaffen von Wirklichkeitserfahrung und Glaubensverkündigung hat katastrophale Folgen. Denn die Botschaft von einem leidunempfindlichen Gott ist mit ein Grund dafür, dass Gott vielen Menschen fremd und letztlich gleichgültig geworden ist.
Schließlich konnte im Rahmen des metaphysischen Gottesverständnisses das Thema der Barmherzigkeit in den Handbüchern nur im Zusammenhang mit der Frage der Gerechtigkeit Gottes behandelt werden, und zwar der Gerechtigkeit, wie sie in der antiken Philosophie verstanden wurde, nämlich als die Haltung, die jedem das Seine gibt (suum cuique). Dazu gehörte die Gesetzesgerechtigkeit (iustitia legalis), die Zuteilungsgerechtigkeit (iustitia distributiva) und die Lohn- und Strafgerechtigkeit (iustitia vindicativa). Aufgrund seiner Lohn- und Strafgerechtigkeit belohnt Gott die Guten und bestraft die Bösen. Das wiederum musste die Frage aufwerfen, wie die Barmherzigkeit Gottes mit der Lohn- und Strafgerechtigkeit in Einklang zu bringen sei. Wie kann es mit der Gerechtigkeit Gottes vereinbar sein, wenn er barmherzig ist und den Sünder nicht bestraft? Die Antwort war: Gott ist barmherzig gegenüber den umkehrwilligen reuigen Sündern, aber er bestraft diejenigen, die ihre bösen Taten nicht bereuen und die nicht umkehren. Diese Antwort leuchtet ein, wenn man die Lohn- und Strafgerechtigkeit als übergeordneten Gesichtspunkt anerkennt, dem man die Barmherzigkeit sozusagen als Casus der Lohn- und Strafgerechtigkeit unterordnet.
Die Vorstellung von einem strafenden und rächenden Gott hat viele Menschen in Ängste um ihr ewiges Heil gestürzt. Das bekannteste und kirchengeschichtlich folgenreichste Beispiel ist der junge Martin Luther, dem die Frage ›Wie kriege ich einen gnädigen Gott?‹ lange Zeit Gewissensängste einjagte, bis er erkannte, dass im Sinn der Bibel die Gerechtigkeit Gottes nicht Gottes strafende, sondern Gottes gerecht machende Gerechtigkeit und damit seine Barmherzigkeit ist. Darüber hat sich die Kirche im 16.Jahrhundert gespalten. Das Verhältnis von Gerechtigkeit und Barmherzigkeit wurde so zur Schicksalsfrage der abendländischen Theologie.42
Es hat bis ins 20.Jahrhundert hinein gedauert, bis wir in dieser Frage der Rechtfertigung des Sünders einen fundamentalen Konsens zwischen Lutheranern und Katholiken finden konnten.43 Das war nur möglich, weil wir gemeinsam erkannten, dass Gottes Gerechtigkeit seine Barmherzigkeit ist. Doch die Konsequenzen aus der Einigung in der Rechtfertigungslehre für die Gotteslehre und für ein neues Sprechen von einem befreienden und gerecht machenden Gott sind bisher kaum gezogen worden. Hier stellt sich im Zeichen einer neuen Evangelisierung noch eine grundlegende gemeinsame Herausforderung.
Die Barmherzigkeit ist nicht nur ein innertheologisches Problem; sie ist in der Auseinandersetzung mit der modernen Ideologie auch ein gesellschaftliches Problem. Das Problem begegnet uns vor allem bei Karl Marx und im Marxismus. Marx hat die Religion als »Trost- und Rechtfertigungsgrund« der Welt bezeichnet. Das religiöse Elend war für ihn in einem Ausdruck des wirklichen Elends und zugleich Protestation gegen das wirkliche Elend. »Die Religion ist der Seufzer der bedrängten Kreatur wie sie der Geist geistloser Zustände ist. Sie ist das Opium des Volkes.«44
Dieser viel zitierte Satz wird oft einseitig religionskritisch interpretiert. Er ist jedoch in Bezug auf die Religion nicht nur negativ; er anerkennt durchaus ein berechtigtes Moment des Protests in der Religion: Religion als Protest gegen das Elend, das Unrecht und die spießbürgerliche Selbstgenügsamkeit. Marx ist aber der Überzeugung, dass dieser Protest in der Religion ideologisch fehlgeleitet ist, zur bloßen Vertröstung wird und zu einer falschen Weltflüchtigkeit führt. Dass es solchen ideologischen Missbrauch der Religion gab und gibt, wird man ehrlicherweise nicht bestreiten können.
Doch solcher Missbrauch kann kein Grund dafür sein, den Zuspruch von religiösem Trost allgemein mit dem Verdikt der Ideologie zu belegen. Das wäre neues Unrecht an den Menschen, die in ihrer Not in der Religion Hilfe gesucht und Kraft für die Bewältigung des Lebens in dieser Welt gefunden haben. Im Namen der Religion und der Barmherzigkeit ist auch schon oft gegen Unrecht und Gewalt protestiert und kraftvoll dagegen gehandelt worden. Das Aufkommen einer christlich sozialen Bewegung schon zur Zeit von Karl Marx ist ein Beleg für diese These.45
Doch der Versuch, alles Leid und Leiden mit Gewalt abschaffen zu wollen, wie es der ideologische und totalitäre Kommunismus unternommen hat, war, wie man aus leidvoller Erfahrung weiß, nicht nur erfolglos, sondern hat erst recht unsägliches Leid und Leiden über Millionen von Menschen gebracht. Es gibt erschütternde Zeugnisse dafür, in welches menschliche Elend und in welche Trostlosigkeit die gott- und gnadenlose Welt ohne Barmherzigkeit im stalinistischen Kommunismus führte. In ihr zählte angeblich nur Gerechtigkeit und nicht Barmherzigkeit, die als veraltete bürgerliche Haltung galt. Gerade in der totalen Abwesenheit von Barmherzigkeit war der Schrei nach Barmherzigkeit präsent.46
Eine Kritik an Mitleid und Barmherzigkeit ganz anderer Art als im Marxismus findet sich bei Friedrich Nietzsche. Er setzte dem vernünftigen, von ihm als apollinisch bezeichneten Denken das dionysische, alle Formen sprengende schöpferische Denken und das rauschhafte Lebensgefühl entgegen. Aufgrund der dionysischen Bejahung des Lebens sieht er im Mitleid eine Vermehrung des Leidens. Barmherzigkeit ist für ihn kein Altruismus, sondern, weil der Barmherzige den Armen herablassend die eigene Überlegenheit zeigen und fühlen lassen will, eine raffinierte Form des Egoismus und des Selbstgenusses.47 In seinem Hauptwerk Also sprach Zarathustra verkündet Nietzsche gewissermaßen ein Gegenevangelium zum christlichen Evangelium von der Barmherzigkeit: »Gott ist tot; an seinem Mitleiden mit den Menschen ist Gott gestorben.« Durch den Tod Gottes ist Platz für den Übermenschen und seinen Willen zur Macht. Deshalb kann Nietzsche in Antithese zur Bergpredigt sagen: »Ich mag sie nicht die Barmherzigen.« »Alle Schaffenden aber sind hart.«48 So steht bei Nietzsche am Ende Dionysos gegen Christus den Gekreuzigten.49
In den nationalsozialistischen Eliteschulen zählte – ob sinngemäß oder sinnverdreht gebraucht, mag dahingestellt bleiben – Nietzsches Wort »Gelobt sei, was hart macht.«50 Nietzsches Worte von der Herrenmoral51 und von der Herrenrasse52 hatten eine böse Nachgeschichte. Die Konsequenzen der nationalsozialistischen Ideologie waren menschenverachtend. Deshalb mag heute niemand mehr solche Worte wie Herrenrasse auch nur in den Mund nehmen. Das heißt nicht, dass Unbarmherzigkeit nicht sehr oft auch in den westlichen Gesellschaften regiert. Fremdenfeindlichkeit verbunden mit Überheblichkeit gegenüber anderen Kulturen gibt es leider nach wie vor.
Dazu kommen in unserer Gesellschaft sozialdarwinistische Tendenzen; für sie gilt das Recht des Stärkeren und die rücksichtslose Durchsetzung eigener und eigennütziger Interessen. Diejenigen, die nicht mithalten können, geraten leicht unter die Räder und zwischen die Mühlsteine. Vor allem im Zug der Globalisierung der Wirtschaft und der Finanzmärkte sind unkontrollierte entfesselte neokapitalistische Kräfte mächtig geworden, für die Menschen und ganze Völker oft erbarmungslos zum Spielball der eigenen Gier nach Geld geworden sind.53
Bezeichnend ist, dass Worte wie Barmherzigkeit und Mitleid weitgehend aus der Mode gekommen sind; sie klingen in den Ohren vieler sentimental. Sie haben sich verbraucht und sehen alt und verstaubt aus. Dahinter steht die Einstellung: Wer sich den geläufigen Spielregeln der Gesellschaft der Starken, Gesunden, Erfolgreichen nicht beugt oder sich in ihnen nicht zurechtfindet, wer also an den Seligpreisungen der Bergpredigt festhält, die eben diese Ordnung in Frage stellen und sie geradezu umkehren, der wird als naiv und deplatziert empfunden und wie Fürst Myshkin in Dostojewskis Roman Der Idiot mitleidig belächelt. Das Wort Mitleid hat so oft eine negative, fast zynische Note erhalten.54 Es scheint also in unserer Gesellschaft nicht gut zu stehen um das Mitleid und die Barmherzigkeit. Es gibt zum Glück freilich auch Gegenbewegungen.
Der Schrei nach Mitgefühl und Barmherzigkeit ist in der Gegenwart keineswegs erstickt; er hat sich sogar verstärkt. Die Worte Mitleid und Barmherzigkeit mögen weitgehend ›out‹ sein, die entsprechenden Einstellungen und Haltungen sind es nicht. Es gab und gibt ein fassungslos machendes Erschrecken über die Kaltblütigkeit bürokratisch organisierter nationalsozialistischer Vernichtungspolitik, ebenso über die verbreitete Teilnahmslosigkeit und Kälte in einer individualistisch gewordenen Welt und über Gewaltausbrüche bei Jugendlichen mit Attacken, bei denen sie andere sinnlos zusammenschlagen, sie treten und quälen und dabei auch ihren Tod in Kauf nehmen. Natur- und Hungerkatastrophen in der Welt lösen immer wieder eine beeindruckende Welle von Mitgefühl und Hilfsbereitschaft aus. Nicht zu vergessen ist die Hilfsbereitschaft, die im familiären, nachbarschaftlichen und gemeindlichen Umfeld meist unbekannt und öffentlich wenig anerkannt geschieht. Mitleid und Barmherzigkeit sind uns heute – Gott sei Dank! – keineswegs völlig fremd geworden und uns nicht abhandengekommen.
Mitleid – oder wie man lieber sagt: Empathie (einfühlendes Verstehen) – sind in der modernen Psychologie und Psychotherapie, in der Pädagogik, Soziologie und Pastoral zum neuen und wichtigen Paradigma geworden.55 Sich in die Situation, in die Gefühls-, Gedanken- und Lebenswelt eines anderen einzufühlen und hineinzuversetzen, um so sein Denken und Handeln zu verstehen, gilt heute allgemein als Voraussetzung gelingender zwischenmenschlicher Beziehungen und als Ausweis wahrer Menschlichkeit. Sich in die Gefühls-, Gedanken- und Lebenswelt einer anderen Kultur und eines anderen Volkes hineinzuversetzen, ist außerdem Grundvoraussetzung interkultureller Begegnung, des friedlichen Auskommens und der Zusammenarbeit zwischen Religionen und Kulturen wie auch einer dem Frieden dienenden Politik und der Diplomatie.
Andere ziehen es vor, statt von Empathie neudeutsch von ›compassion‹ zu sprechen. So ist compassion der Name für ein Kinderhilfswerk, das für Not leidende Kinder in aller Welt nach einem Paten sucht, der mithilft, dass die Armut überwunden wird und das Patenkind in eine positive Zukunft gehen kann. Inzwischen steht compassion auch für ein Erziehungs- und Bildungsprojekt, das soziales Lernen, soziale Kompetenz und soziale Verantwortung vermitteln will.56 Schließlich gibt es eine Charta for Compassion, für die sich besonders Karen Armstrong einsetzt. Damit ist das scheinbar Veraltete unter neuem Namen und in neuer Form zurückgekehrt.
Die Theologie hat diese Anliegen aufgegriffen und theologisch fruchtbar zu machen versucht. Johann Baptist Metz hat compassion zum Weltprogramm des Christentums im Zeitalter des Pluralismus der Religionen und Kulturen erklärt.57 Schon in früheren Veröffentlichungen hat er die Gottesfrage im Horizont der Unrechts- und Leidenserfahrungen in den Mittelpunkt gestellt und eine leid- und theodizee-empfindliche Theologie gefordert.58
Natürlich ist damit kein bloß sentimentales Mitleid und eine sozusagen zahnlose Barmherzigkeit gemeint. Man darf das Wort compassion nicht nur als ein mitleidiges Verhalten verstehen, sondern muss in ›compassion‹ auch das Wort ›passion‹ mithören und das leidenschaftliche Verhalten angesichts der in unserer Welt bestehenden himmelschreienden Unrechtsverhältnisse sowie den Schrei nach Gerechtigkeit heraushören. Er ist schon bei den alttestamentlichen Propheten, dann wieder beim letzten der Propheten, bei Johannes dem Täufer, und schließlich bei Jesus selbst deutlich zu vernehmen. Man darf außerdem die zahlreichen harten Gerichtsworte des Alten wie des Neuen Testaments nicht aus dem Blick verlieren, sie nicht im Sinn einer missverstandenen Barmherzigkeit verharmlosen und die eindeutigen und verpflichtenden biblischen Forderungen nach Gerechtigkeit nicht aufweichen.
Aber die Bibel weiß auch, dass vollkommene Gerechtigkeit in dieser Welt nie und nimmer herstellbar ist. Deshalb ist in der Bibel angesichts von nicht aufhebbaren Unrechtsverhältnissen von der eschatologischen Hoffnung auf Gottes Gerechtigkeit die Rede. Dabei überbietet die Bibel den Schrei nach Gerechtigkeit mit dem Ruf nach Barmherzigkeit. Sie versteht die Barmherzigkeit als die Gott eigene Gerechtigkeit. Sie ist als Überbietung, nicht als Unterbietung der Gerechtigkeit das Herz der biblischen Botschaft. Das Alte Testament spricht davon, dass Gott ein gnädiger und barmherziger Gott ist (Ex 34, 6; Ps 86, 15 u.a.) und das Neue Testament nennt Gott »Vater des Erbarmens und Gott allen Trostes« (2Kor 1, 3; vgl. Eph 2, 4).
Auch heute gibt es unzählige Menschen, denen in menschlich aussichtslosen Situationen, bei unverschuldeten Katastrophen, verheerenden Erdbeben, Tsunamis oder persönlichen Schicksalsschlägen der Ruf um Erbarmen letzter Trost und letzter Halt ist. Immer wieder kann man erleben, wie auch Menschen, die nicht zu den Kirchgängern gehören, in solchen Situationen spontan im Gebet Zuflucht nehmen. Man kann an unzählige Menschen denken, die unter schwerer Krankheit leiden oder sich in ihrem Leben menschlich heillos in Schuld verstrickt haben; für sie ist es oft der einzige ihnen verbliebene Trost, zu wissen, dass Gott gnädig und barmherzig ist. Sie hoffen, dass er am Ende das ganze heillose Geflecht von Schicksal und Schuld, Unrecht und Lüge aufdecken und beenden wird und dass Gott, der in die verborgene Tiefe des menschlichen Herzens schaut und dessen verborgene Regungen kennt, ein gnädiger Richter sein wird. Vielen sagt darum auch heute das »Kyrie eleis« in vielen Kirchenliedern und am Anfang jeder Messe wie das in der orthodoxen Tradition gebräuchliche, zunehmend auch in der westlichen Kirche geschätzte Herzensgebet zu: »Herr Jesus Christus, erbarme dich meiner.« Wer könnte behaupten, diese Bitte nicht nötig zu haben?
So geht es beim Thema der Barmherzigkeit nicht nur um die ethischen und gesellschaftlichen Konsequenzen dieser Botschaft; es geht vor allem um die Botschaft von Gott und um seine Barmherzigkeit und erst in zweiter Linie um das daraus folgende Gebot für das Verhalten des Menschen. Die Rede von Empathie und compassion kann ein Ansatz für eine theologische Reflexion über dieses Thema sein. Denn Leid und Leiden sind so alt wie die Menschheit, sie sind eine universale Menschheitserfahrung. Alle Religionen fragen in der einen oder anderen Weise nach dem Woher und Warum des Leidens und nach dem Sinn des Leidens; sie fragen nach Erlösung von Leid und Leiden und sie fragen, wie wir mit Leid und Leiden umgehen und woher wir die Kraft nehmen können, das Leid und das Leiden zu bestehen.59 So ist Mitleid/compassion nicht nur ein der Leid- und Leidenserfahrung der Gegenwart, sondern auch einer universal menschheitlichen Erfahrung entsprechendes Thema. Eben damit eignet sich compassion als Ausgangspunkt der Theologie. Denn von Gott als der alles bestimmenden Wirklichkeit kann man nicht mit partikulären Kategorien, sondern nur mit Hilfe von universalen Kategorien reden; sie allein sind der Gottesfrage angemessen.
Aus der bisherigen, noch unvollständigen Problemskizze ergeben sich für die folgenden Überlegungen die Fragen: Was heißt es, an einen barmherzigen Gott zu glauben? Wie verhalten sich Gottes Barmherzigkeit und seine Gerechtigkeit? Wie können wir von einem sympathischen, das heißt einem mitleidenden Gott sprechen? Können unverschuldetes Leid und Gottes Barmherzigkeit miteinander in Einklang gebracht werden? Daraus ergeben sich ethische Fragen: Wie können wir Gottes Barmherzigkeit in unserem eigenen Tun entsprechen? Was bedeutet die Botschaft von der Barmherzigkeit für die Praxis der Kirche und wie können wir die zentrale Botschaft von der Barmherzigkeit Gottes im Leben der Christen und der Kirche zum Leuchten bringen? Schließlich: Was bedeutet diese Botschaft für eine neue Kultur der Barmherzigkeit in unserer Gesellschaft? Kurzum: Was bedeutet das Wort der Bergpredigt »Selig sind die Barmherzigen« (Mt 5, 7)?
Sprachliche und sachliche Vorüberlegung
Barmherzigkeit ist heute für viele ein schwieriges Wort. Mehr als die Barmherzigen imponieren oft diejenigen, die sich selbst durchzusetzen und sich selbst zu behaupten verstehen. Barmherzigkeit dagegen gilt vielfach als Schwäche. Deshalb müssen wir in einem ersten Schritt einige Mühe aufwenden, um den ursprünglichen und durchaus starken Sinn dieses Wortes neu zu erschließen. Dabei kann uns die Philosophie Hilfestellung leisten und neue Zugänge eröffnen.
Die christliche Botschaft von einem barmherzigen Gott ist zwar eine spezifisch biblische Botschaft, dennoch konnte die theologische Tradition schon früh an allgemein menschliche Erfahrungen und ihre philosophische Interpretation anknüpfen, um die Botschaft der Bibel von der Barmherzigkeit zu erschließen.1 Vor allem die urmenschliche Erfahrung des Mitleids mit leidenden Menschen war ein Ansatzpunkt. Die beiden Worte Mitleid und Barmherzigkeit meinen zwar nicht einfachhin dasselbe, aber schon rein sprachlich gehen zumindest im Lateinischen, wo von ›misericordia‹ die Rede ist, die beiden Begriffe ineinander über. Das gilt – wie noch zu zeigen sein wird – auch für den biblischen Sprachgebrauch.2
Das lateinische Wort ›misericordia‹ meint gemäß seinem ursprünglichen Wortsinn: sein Herz (cor) bei den Armen (miseri) haben; ein Herz für die Armen haben. Auch das deutsche Wort Barmherzigkeit weist in diese Richtung. Es meint: ein erbarmendes Herz haben.3 In diesem allgemein-menschlichen Sinn bedeutet Barmherzigkeit/misericordia die Haltung, welche den eigenen Egoismus und die eigene Ich-Zentriertheit überschreitet und das Herz nicht bei sich, sondern bei den Anderen, besonders bei den Armen und Notleidenden aller Art hat. Solche Selbstüberschreitung auf den anderen hin und solche Selbstvergessenheit ist nicht Schwäche, sie ist Stärke. Sie ist die wahre Freiheit. Denn sie ist weit mehr als die an das eigene Ego verfallene Selbstverliebtheit; sie ist freie Selbstbestimmung und damit Selbstverwirklichung. Sie ist so frei, dass sie auch von sich selbst frei sein, sich selbst überwinden, sich selbst vergessen und sozusagen über den eigenen Schatten springen kann.
Grundlagen in Antike und Mittelalter
Die antike Philosophie hat sich schon früh des Themas des Mitleids angenommen. Die Beurteilung war von Anfang an kontrovers. Schon Platon hat vieles von der späteren Kritik vorweggenommen. Er brachte die Rührung durch Mitleid in Gegensatz zu einem durch Vernunft und Gerechtigkeit bestimmten Verhalten. So kann das Mitleid mit einem Angeklagten einen Richter von einem gerechten Urteil abhalten.4
Demgegenüber kam Aristoteles zu einer positiven Sicht des Mitleids. Er war wohl der erste, der eine Art Definition des Mitleids gegeben hat. Er führte aus, dass uns die Erfahrung unverschuldeten Leids anderer deshalb betroffen macht, weil solches Übel auch uns selbst zustoßen könnte. Im Mitleid mit fremdem Leid schwingt also im ursprünglichen Sinn des Wortes verstandene Sympathie (wörtlich: Mitleiden) und Solidarität mit.5 So macht uns das unverschuldete Leid des anderen existentiell betroffen; weil sein Leid auch uns zustoßen könnte, identifizieren wir uns im Mitleid gewissermaßen mit ihm. In seiner Poetik zeigt Aristoteles, wie die Darstellung des Schicksals des Helden in der Tragödie in uns Mitleid (ἔλεος) und Furcht (Φόβος) bewirkt und so zu einer inneren Reinigung (ϰάθαϱσις) des Zuschauers führt.6
Ganz anders wieder die Stoa. Nach ihr ist der Affekt des Mitleides unvereinbar mit der ethischen Leitidee der Stoa, der Herrschaft der Vernunft über die Affekte und der Autarkie und Ataraxie (Ungerührtheit und Unaufgeregtheit). Mitleid ist darum für den Stoiker ein unvernünftiges Verzagen, sie ist Schwäche und eine Krankheit der Seele. Das Ideal des stoischen Weisen ist es demgegenüber, angesichts des eigenen wie des fremden Schicksals innerlich ungerührt zu bleiben und nach Leidenschaftslosigkeit (ἀπάθεια) zu streben. Der stoische Weise soll seinem eigenen Unglück wie dem fremden Leid emotionslos und gelassen gegenüberstehen. Das schloss nicht aus, dass auch die Stoiker die Haltung der Mildtätigkeit (clementia), der Philanthropie (humanitas) und der wohlwollenden Hilfsbereitschaft (benignitas) kannten und schätzten.7
Die Kirchenväter sprachen sich auf der Grundlage der Bibel nicht für dieses stoische Ideal aus. Augustinus8 und später Thomas von Aquin9 deuteten das Wort ›misericordia‹ in seinem sprachlichen Sinn: das Herz (cor) bei den miseri, den im weitesten Sinn des Wortes verstandenen Armen und Elenden zu haben. Sie definierten das Mitleid im Anschluss an Aristoteles als Mitleiden (compassio): »miserum cor habens super miseria alterius« (ein elendes Herz haben wegen des Elends eines anderen).10 Solches Mitleid und solche Barmherzigkeit sind für Augustinus und für Thomas nicht nur ein Gefühl, das durch die Erfahrung des Leidens eines anderen hervorgerufen wird; sie sind nicht nur affektiv, sondern zugleich effektiv und bestrebt, den Mangel und das Leid zu bekämpfen und zu überwinden. Das ist wichtig für das rechte Verständnis des Mitleids und der Barmherzigkeit Gottes. Denn Gott kann nicht durch fremdes Leiden passiv von außen affiziert werden, ihm kann Barmherzigkeit nur im zweiten Sinn des aktiven und effektiven Widerstands und der Überwindung des Mangels und des Leidens zugeschrieben werden.11
Yves Congar hat den Gedankengang des Thomas ausführlich nachgezeichnet.12 Er hat gezeigt, dass die Barmherzigkeit bei Thomas Gottes Souveränität ausdrückt. Gott ist nicht wie ein Richter oder ein Angestellter, der ein von einer höheren Autorität aufgestelltes Gesetz gerecht anwendet; Gott ist souveräner Herr, der nicht unter dem Gesetz eines anderen steht, sondern seine Gaben souverän zuteilt. Dabei geht er nicht willkürlich vor, er handelt vielmehr gemäß der ihm eigenen Güte.13 So steht die Barmherzigkeit nicht gegen die Gerechtigkeit; sie setzt sie nicht außer Kraft, sondern geht über sie hinaus; sie ist die Erfüllung der Gerechtigkeit.14
Anders als die griechische und römische Welt hat bereits das frühe Christentum eine Armenfürsorge nicht nur auf der privaten, sondern auch auf der gemeindlichen Ebene entwickelt. Dabei kam es schon früh zu einer institutionellen Armen- und Krankenpflege.15 Sie galt als Aufgabe der Bischöfe, die sich dazu der Diakone bedienten. Ab dem vierten Jahrhundert entstanden Kranken- und Pilgerhäuser beziehungsweise Armenasyle, die Vorbilder für die mittelalterlichen Spitäler für Armen- und Krankenpflege wurden, sowie bald auch eigene Krankenpflegeorden. Damit hat das Christentum einen bleibenden Einfluss auf die europäische Kultur und auf die Kultur der Menschheit ausgeübt. Dieser Einfluss wirkt bis heute oft in säkularisierter Form weiter. Ohne diesen christlichen Impuls ist weder die Kultur- und Sozialgeschichte Europas noch die der Menschheit zu verstehen.
Universalisierung und Kritik des Mitleids in der Neuzeit
Die neuzeitliche Entwicklung der Armen- und Krankenfürsorge ist nicht gleichsam aus dem Nichts entstanden; sie hat an die vom Geist des Christentums geprägte antik-mittelalterliche Sozialkultur angeknüpft. Sie hat aber aus dem Mitleid, das immer konkreten Personen galt, eine allgemeine Menschenliebe gemacht. Maßgebend wurde dafür vor allem Jean-Jacques Rousseau. Für ihn ist das Mitleid ein aller Reflexion vorausliegendes Gefühl; es ist Ursprung aller sozialen Tugenden. Denn dem Mitleid liegt die Fähigkeit zu Grunde, sich in einen anderen hineinzuversetzen; so erlaubt erst das Mitleid, dass sich das Individuum zu einem anderen in ein soziales Verhältnis zu setzen vermag.16 Damit wurde bei Rousseau aus dem Mitleid als Zuwendung zu einem konkreten leidenden Menschen eine allgemeine universale Menschen- und Menschheitsliebe.
Aus Nächstenliebe wurde so oft eine Fernstenliebe. Man kann fragen, ob solche Universalisierung des Mitleids nicht zu einer Überforderung führt.17 Diese Frage stellt sich auch dann, wenn heute vor allem das Fernsehen in einzelnen Fällen medial vermittelte und damit eben keine persönliche Unmittelbarkeit herstellen und eine an sich begrüßenswerte Mitleids- und Spendenwelle hervorrufen kann.
Eine ähnliche Position wie bei Rousseau finden wir bei Gotthold Ephraim Lessing. Er sieht das Mitleid vor allem aus einer ästhetischen Perspektive. Die zentrale Funktion der Literatur besteht für den Aufklärer Lessing in der Erziehung. Er zählt die Fähigkeit des Mitleidens zu den wichtigsten bürgerlichen Tugenden; bei ihm wurde das Mitleid zu der positiven menschlichen Eigenschaft schlechthin. In Auseinandersetzung mit Aristoteles geht es in Lessings Theorie der Tragödie um deren erzieherische Wirkung, weil sie beim Zuschauer Mitleid und Furcht erregt.18 »Der mitleidigste Mensch ist der beste Mensch, zu allen gesellschaftlichen Tugenden, zu allen Arten der Großmut der aufgelegteste. Wer uns also mitleidig macht, macht uns besser und tugendhafter, und das Trauerspiel, das jenes tut, tut auch dieses, oder – es tut jenes, um dieses tun zu können.«19
Friedrich Schiller hat diesen Gedanken in seiner Theorie der Tragödie aufgegriffen und weitergeführt. Schon der Titel seiner Schrift Die Schaubühne als eine moralische Anstalt macht deutlich, dass für ihn die Tragödie zu einer erzieherischen Institution wird.20
Auch bei Hegel geht es, wieder in Auseinandersetzung mit Aristoteles, beim Mitleid nicht nur um die Empfindung der Rührung. »Mit solchen Bedauern sind«–wie er sarkastisch bemerkt–»besonders die kleinstädtischen Weiber gleich bei der Hand.« Nach Hegel gehört zum Mitleid nicht nur die Erfahrung des Negativen, also die Rührung durch das Leid des anderen, sondern auch die »Sympathie mit der zugleich sittlichen Berechtigung des Leidenden, die in ihm vorhanden sein muss.« Für ihn ist das Mitleid also über die bloße Rührung hinaus Ausdruck der Anerkennung der Würde, welche dem leidenden Menschen zukommt.21
In ganz anderer Weise, nicht ohne Anregung durch den Buddhismus, wird bei Arthur Schopenhauer das Mitleid Mittelpunkt der Ethik. Mitleid ist nach Schopenhauer ein »alltägliches Phänomen«. Es ist die unmittelbare Teilnahme am Leiden eines anderen Wesens. Durch solches Mitleiden wird die zuvor unüberwindbare Mauer zwischen dem ›Ich‹ und dem ›Du‹ mehr und mehr abgebaut. So konnte Schopenhauer das Mitleid als Erkenntnis des Eigenen im Anderen beschreiben und es zum Prinzip aller Moral machen. Schopenhauer hat das Mitleid geradezu als das Mysterium der Ethik bezeichnet.22 Er ist so in der Neuzeit zum eigentlichen Philosophen des Mitleids geworden.
Wie die gesamte neuzeitliche Geistes- und Philosophiegeschichte, so verläuft auch die Entwicklung des neuzeitlichen Verständnisses von Mitleid und Barmherzigkeit nicht in einer Linie. Wie schon die antiken Anschauungen sind auch die neuzeitlichen Theorien über das Mitleid und die Barmherzigkeit widersprüchlich, je nachdem, ob sie sich am natürlichen menschlichen Empfinden oder an einer Vernunftethik orientieren.
Der klassische Vertreter einer Vernunftethik war Immanuel Kant, der wohl wichtigste und einflussreichste neuzeitliche Philosoph. Er zeigte sich kritisch gegen sich auf Gefühle wie Mitleid stützende universale Ethiken. Ihm ging es um eine rationale Pflichtethik. Für das ethische Verhalten jedes vernünftigen Wesens können nicht emotionale Gründe, sondern nur einsichtige Vernunftgründe zwingend sein. Kants kategorischer Imperativ lautet darum: »Handle nur nach derjenigen Maxime, durch die du zugleich wollen kannst, dass sie ein allgemeines Gesetz werde.«23
Da sich sittliches Handeln allein auf die Vernunft gründen kann und nicht auf sinnliche Triebfedern wie Erfahrung oder Gefühle, auch nicht auf Mitleid, schließt sich Kant der stoischen Weisheitslehre an und lehnt Mitleid als sittlich minderwertig ab. Mitleid mit einem, dem ich nicht helfen kann, vermehrt einerseits das Leid und ist zudem »eine beleidigende Art des Wohltuns«, indem es »ein Wohlwollen ausdrückt, was sich auf Unwürdige bezieht und Barmherzigkeit genannt wird, unter Menschen, welche mit Würdigkeit, glücklich zu sein, eben nicht prahlen dürfen und respektiv gegeneinander gar nicht vorkommen sollte.«24 Kant ist jedoch realistisch genug hinzuzufügen: Obwohl Mitleid und ebenso Mitfreude an sich nicht Pflicht sind, so ist es doch für die tätige Teilnahme am Schicksal anderer eine indirekte Pflicht, solche Gefühle »in uns zu kultivieren«, weil ohne solche Antriebe »die reine Pflichtvorstellung für sich allein nicht ausreichen würde.«25
Kant wäre nicht der große Philosoph gewesen, der er war, hätte er nicht die Grenzen der Vernunftethik auch noch ganz grundsätzlich gesehen. So stellt er am Ende seiner Kritik der praktischen Vernunft