Bedingungsfaktoren für die Teilnahme an nachholender Alphabetisierung - Susanne Ulm - E-Book

Bedingungsfaktoren für die Teilnahme an nachholender Alphabetisierung E-Book

Susanne Ulm

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Beschreibung

In den modernen Wissensgesellschaften mit ihren stetig steigenden Anforderungen an ihre Mitglieder gilt die Bereitschaft zum Lebenslangen Lernen als Voraussetzung für eine aktive soziale Teilhabe. Die wachsenden Ansprüche an die Kompetenzen und die Lernbereitschaft der einzelnen Gesellschaftsmitglieder stellen jedoch insbesondere jene, die Schwierigkeiten im Bereich der grundlegenden Kulturtechniken wie dem Lesen, Schreiben und Rechnen haben, vor kaum lösbare Probleme. Die Erwachsenenbildungslandschaft in Deutschland versucht die Betroffenen zwar verstärkt mit dem Ausbau zielgruppengerechter Angebote und der Professionalisierung des pädagogischen Personals zu unterstützen, jedoch ist die Nachfrage nach Grundbildungsangeboten noch immer gering. Der Fokus der vorliegenden Arbeit lag auf der Frage, welche Bedingungsfaktoren für die Aufnahme und das Gelingen nachholender Alphabetisierungsprozesse verantwortlich sind. Rückgebunden an die biographieorientierte Theorie des transitorischen Lernens nach Alheit und den systemisch-konstruktivistischen Ansatz des Emotionslernens nach Arnold wurden problemzentrierte Interviews mit Alphabetisierungskursteilnehmenden geführt und auf Grundlage der Grounded Theory Methodologie ausgewertet. Als zentraler Erkenntnisgewinn konnte herausgestellt werden, dass das nachholende Lernen funktionaler AnalphabetInnen durch ein Zusammenspiel komplexer Prozesse und Bedingungen begründet werden kann, in welchem individuelle Gefühlslagen kognitiven Begründungen entgegenstehen, die wiederum sowohl eingebettet sind in den jeweiligen biographischen Erfahrungskontext des Individuums als auch beeinflusst durch aktuelle lebensweltliche sowie Lehr-Lernbedingungen im Alphabetisierungskurs.

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Vom Fachbereich Sozialwissenschaften der Technischen Universität Kaiserslautern zur Verleihung des akademischen Grades doctor philosophiae (Dr. phil.) genehmigte Dissertation

D 386

2014

Dekanin: Prof. Dr. Shanley Allen

Vorsitzender der Promotionskommission: Prof. Dr. Jochen Mayerl

Erstgutachter: Prof. Dr. Rolf Arnold

Zweitgutachter: Prof. (em.) Dr. Joachim Münch

Datum der Disputation: 11.09.2014

Danksagung

Diese Arbeit wäre ohne die Unterstützung vieler bedeutsamer Menschen nicht möglich gewesen. An dieser Stelle möchte ich ihnen hiermit meinen aufrichtigen Dank aussprechen.

Mein besonderer Dank gilt Professor Dr. Rolf Arnold für die anregende Beratung und konstruktive Kritik während der letzten Jahre. Ebenso danke ich Prof. (em.) Dr. Joachim Münch, der sich als Zweitgutachter für diese Arbeit zur Verfügung gestellt hat. Weiterhin bedanke ich mich herzlich bei meiner Betreuerin Dr. Anita Pachner für ihre geduldige Unterstützung und den immer wieder produktiven, ertragreichen Austausch.

Für den fachlichen Austausch, sowie fruchtbare Diskussionen und konstruktives Feedback danke ich besonders meinen geschätzten Kollegen am Fachgebiet Pädagogik sowie den externen Promovenden im Doktorandenkolloquium.

Weiterhin danke ich meinen Interviewpartnerinnen und -partnern aus den Alphabetisierungskursen, die den Mut und die Offenheit besaßen, mich an ihren Erfahrungen und Erlebnissen teilhaben zu lassen. Ebenso gilt den Kursleitenden mein Dank für ihre Kooperationsbereitschaft und Unterstützung bei der Realisierung meiner Studie.

Zuletzt möchte ich meinen Eltern und meinem Lebensgefährten Brian meine tiefe Dankbarkeit aussprechen. Ohne ihren emotionalen Rückhalt und ihren unermüdlichen Zuspruch wäre dieses Vorhaben nicht realisierbar gewesen. Auch meiner restlichen Familie und meinen Freunden gilt mein Dank für ihr Verständnis und ihr offenes Ohr in dieser Zeit.

Köln, Sommer 2015

Inhaltsverzeichnis

Danksagung

Inhaltsverzeichnis

Abkürzungsverzeichnis

Einleitung

1.1 Problemstellung

1.2 Fragestellung und Zielsetzung

1.3 Aufbau der Arbeit

Lerntheoretische Konzepte der Erwachsenenbildung

2.1 Klassische Lerntheorien in der Kritik

2.2 Erwachsenenpädagogische Lerntheorien – Von der Vermittlungs- zur Aneignungslogik

2.2.1 Lernen als biographischer und lebensweltbezogener Prozess – bildungssoziologische Lerntheorien

2.2.2 Lernen als reflexiver Prozess – subjektorientierte und systemischkonstruktivistische Lerntheorien

2.3 Zusammenfassung und Bezugnahme zur Fragestellung

Das Forschungsfeld Alphabetisierung und Grundbildung in Deutschland

3.1 Begriffe und Konzepte der Alphabetisierungsforschung

3.1.1 Analphabetismus

3.1.2 Grundbildung

3.1.3 Literalität

3.2 Die Entwicklung der Alphabetisierungsbemühungen in Deutschland

3.3 Ergebnisse der Alphabetisierungsforschung zum Lernen funktionaler AnalphabetInnen

3.3.1 Biographische Erfahrungen und deren Einfluss auf Lernprozesse – Ergebnisse der Teilnehmendenforschung

3.3.2 Lernförderliche didaktisch-methodische Gestaltungsweisen – Ergebnisse der Lehrforschung

3.3.3 Objektive und subjektive Sichtweisen auf Lernmotivation, Lernbarrieren und Lernerfolg funktionaler AnalphabetInnen – Ergebnisse der Lernforschung

3.3.4 Zusammenfassung der Forschungsergebnisse und Bezug zu biographischen und reflexiven Lerntheorien

Studie zu den Bedingungsfaktoren nachholender Alphabetisierung

4.1 Forschungsfragen der Untersuchung

4.2 Design und Methode der Untersuchung

4.2.1 Begründung des qualitativen Forschungszugangs

4.2.2 Das Gebiet der Alphabetisierung und Grundbildung als Forschungsfeld: Methodische Vorarbeiten, Feldzugang und Sample

4.2.3 Das problemzentrierte Interview als Erhebungsmethode

4.2.4 Das Verfahren der Transkription

4.2.5 Vorstellung und Begründung der Auswertungsmethode

4.3 Ergebnisse der Untersuchung

4.3.1 Biographische Einspurungen und Lebensweltbedingungen

4.3.2 Bewusstwerdungs- und Reflexionsprozesse

4.3.3 Transformationsprozesse

4.3.4 Lehr-Lernbedingungen nachholender Alphabetisierung

Diskussion

5.1 Verknüpfung der Ergebnisse mit den lerntheoretischen Konzepten

5.1.1 Biographische „Einspurungen“ und lebensweltliche Bedingungen

5.1.2 Reflexions- und Transformationsprozesse

5.1.3 Lehr-Lernbedingungen im Alphabetisierungskurs

5.2 Erkenntnisgewinn der Studie

5.3 Stärken und Grenzen der Untersuchung

5.4 Anknüpfungspunkte für die Forschung und pädagogische Handlungsempfehlungen

5.4.1 Forschungsdesiderata

5.4.2 Handlungsempfehlungen

Literaturverzeichnis

Wissenschaftlicher Werdegang

Abkürzungsverzeichnis

BMBFBundesministerium für Bildung und ForschungCONFINTEAInternationale Konferenz zur ErwachsenenbildungDIEDeutsches Institut für ErwachsenenbildungDVVDeutscher VolkshochschulverbandOECDOrganization for Economic Co-operation and DevelopmentPASPädagogische ArbeitsstelleUNESCOUnited Nations Educational, Scientific and Cultural OrganizationVHSVolkshochschule(n)

1 Einleitung

1.1 Problemstellung

Im Zeitalter der Wissensgesellschaften, welches nicht nur einen sich ständig beschleunigenden Wandel an Technologien und Informationen mit sich bringt, sondern auch parallel dazu steigende Bildungs- und Ausbildungsniveaus sowie in der Folge wachsende soziale und berufliche Ansprüche an die Gesellschaftsmitglieder, ist die Bereitschaft zum Lebenslangen Lernen zu einer unabdingbaren Notwendigkeit geworden. So müssen immer mehr Wissen und Kompetenzen in immer kürzeren Abständen angeeignet und adäquat angewendet werden, andernfalls drohen beruflicher Abstieg und im schlimmsten Fall soziale Exklusion. Die Bedeutsamkeit von Lernen im Lebenslauf wurde bereits im Jahr 2008 im Innovationskreis Weiterbildung des BMBF thematisiert:

„Die Globalisierung und die Wissensgesellschaft stellen die Menschen vor große Herausforderungen, die durch den demographischen Wandel noch erheblich verstärkt werden: Wissen sowie die Fähigkeit, das erworbene Wissen anzuwenden, müssen durch Lernen im Lebenslauf ständig angepasst und erweitert werden. Nur so können persönliche Orientierung, gesellschaftliche Teilhabe und Beschäftigungsfähigkeit erhalten und verbessert werden.“1

Diese wachsenden gesellschaftlichen Anforderungen stellen vor allem bildungsferne Gruppen vor kaum lösbare Probleme – insbesondere jene, die Schwierigkeiten im Bereich der grundlegenden Kulturtechniken wie dem Lesen und Schreiben oder auch dem Rechnen haben, sind davon betroffen. Damit steht das Individuum

„im Spannungsfeld zwischen gesellschaftlichen Anforderungen (Bildung, Qualifikation, Verwertbarkeit im Berufssystem) und den subjektiven Aneignungs- und Lernprozessen in der es umgebenden Lebenswelt“2.

Eine unzureichende Grundbildung, welche die gesellschaftliche Teilhabe bedrohen oder zumindest einschränken kann, wurde von den modernen Industrienationen aufgrund der Einführung der allgemeinen Schulpflicht lange Zeit ausschließlich als ein Problem der Entwicklungsländer betrachtet. In Deutschland begann die zunehmende Beschäftigung mit dieser Thematik erst in den späten 1970er Jahren, als sich vermehrt MuttersprachlerInnen zu Lese- und Rechtschreibkursen anmeldeten, welche von verschiedenen Erwachsenenbildungseinrichtungen insbesondere für MigrantInnen angeboten wurden. Nach einer Welle von Forschungsarbeiten, überwiegend aus dem Kreis engagierter PraktikerInnen, geriet das Analphabetismus-Phänomen jedoch zunehmend in Vergessenheit und rückte erst wieder mit der Ausrufung der UNESCO Weltalphabetisierungsdekade im Jahr 2000 verstärkt in den Blickpunkt der Öffentlichkeit. Neuere Untersuchungen zum Thema Analphabetismus, wie z.B. die Leo.-Level One Studie3, konnten aufzeigen, dass in Deutschland trotz allgemeiner Schulpflicht schätzungsweise 7,5 Millionen Menschen zu den sogenannten „funktionalen AnalphabetInnen“4 zählen, ein Anteil von über 14% an der erwerbsfähigen Bevölkerung. Die Betroffenen sind besonders stark von sozialem Ausschluss, Arbeitslosigkeit und Armut bedroht. Tatsächlich verlassen in Deutschland pro Jahr immer noch durchschnittlich 80.000 SchülerInnen ohne Abschluss die Schule – nicht wenige mit gravierenden Schwächen im schriftsprachlichen Bereich. Diejenigen von ihnen, die überhaupt die Chance einer beruflichen Ausbildung erhalten, stehen vor der kaum bewältigbaren Herausforderung, diese auch erfolgreich abschließen zu können. Zudem bleibt ihnen zumeist ebenso im weiteren Lebensverlauf der Zutritt zu vielfältigen (Fort)Bildungsmöglichkeiten verwehrt. Ihre schlechten Zukunftsaussichten geben sie mit hoher Wahrscheinlichkeit an die nachfolgende Generation weiter. Um diesen Betroffenen eine aktive soziale und berufliche Teilhabe zu ermöglichen, ist die Bereitstellung von vielfältigen Möglichkeiten einer nachholenden Alphabetisierung unerlässlich. Die Erwachsenenbildungslandschaft in Deutschland versucht dies in den letzten Jahren verstärkt durch den Ausbau zielgruppengerechter Grundbildungsangebote und die Professionalisierung des erwachsenenpädagogischen Personals zu ermöglichen. Doch trotz der beschriebenen Problematik bei den Betroffenen und der verbesserten erwachsenenpädagogischen Angebotslage ist die Nachfrage nach Grundbildungsangeboten noch immer recht gering. So zeigt sich z.B. in der VHS-Statistik aus dem Arbeitsjahr 2011 lediglich eine deutschlandweite Belegungszahl von weniger als 30.000 Teilnehmenden im Bereich Alphabetisierung/Elementarbildung – gegenüber ca. 7,5 Mio. geschätzter funktionaler AnalphabetInnen eine verschwindend geringe Zahl.5 Welche Faktoren das nachholende Lernen dieser Zielgruppe letztendlich entscheidend beeinflussen, liegt bislang noch weitgehend im Dunkeln. Die Alphabetisierungsforschung widmete sich bisher kaum den Bedingungen und Einflussfaktoren von Lernprozessen funktionaler AnalphabetInnen. Eine Vernachlässigung der Lernforschung ist jedoch ebenso in der Erwachsenenbildung allgemein zu beobachten. Auch dort lassen sich bisher nur wenige Arbeiten zum Lernen Erwachsener finden.

1.2 Fragestellung und Zielsetzung

Vor dem Hintergrund der oben skizzierten Problemstellung widmet sich diese Arbeit der wissenschaftlichen Ergründung von Einflussfaktoren für die Aufnahme und Weiterführung nachholender Lernprozesse bei der Gruppe der funktionalen AnalphabetInnen. Die zentralen Ziele sind (1) einen Beitrag zur Theoriebildung auf dem Gebiet der Lernforschung sowie der Alphabetisierungsforschung zu leisten und (2) aus den Untersuchungsergebnissen Handlungsempfehlungen für die Alphabetisierungspraxis abzuleiten.

Rückgebunden an die biographieorientierte Theorie des transitorischen Lernens nach Alheit und den systemisch-konstruktivistischen Ansatz des Emotionslernens nach Arnold soll daher der Versuch unternommen werden, Einflussfaktoren auf individuelle Lernprozesse aus der Perspektive des Lernsubjekts zu rekonstruieren. Dazu sollen Prozesse und Bedingungen beleuchtet werden, die für die Aufnahme von nachholender Alphabetisierung von Bedeutung sein können, wie z.B. biographische Erfahrungen oder aktuelle Lebenslagen Betroffener. Zudem sollen beeinflussende Faktoren identifiziert werden, welche für das Gelingen bzw. die Aufrechterhaltung von nachholender Alphabetisierung förderlich sind. Zu dieser Frage soll in Bezug auf die Theorie des Emotionslernens nach Arnold ermittelt werden, ob und inwiefern vor bzw. innerhalb von Nachlernprozessen individuelle Reflexions- und Transformationsprozesse in Bezug auf Deutungs- und Emotionsmuster stattfinden. Auch geht es um lernbegünstigende und lernhinderliche Einflussfaktoren innerhalb der Lebenswelt der Betroffenen sowie im Alphabetisierungskurs als Nachlernkontext.

Besonders für die Praxis der Alphabetisierung und Grundbildung muss unbedingt eingehender erforscht werden, wie Betroffene bei der Aufnahme von nachholenden Lernprozessen unterstützt und positive Lernerlebnisse ermöglicht werden können, um eine nachhaltige Entwicklung in Richtung Lebenslanges Lernen sicherzustellen.

Letztlich soll durch diese Arbeit die Gesellschaft für das Phänomen Analphabetismus stärker sensibilisiert werden und eine größere Toleranz und Akzeptanz sowie mehr Entgegenkommen gegenüber den Betroffenen erreicht werden.

1.3 Aufbau der Arbeit

Nachdem in diesem Kapitel ein erster Einstieg in die Thematik gegeben werden sollte, werden im nachfolgenden Kapitel grundlegende lerntheoretische Zugänge der Erwachsenenpädagogik vorgestellt und für die Untersuchung überprüfbar gemacht. Als besonders fruchtbar erweisen sich hierbei zwei Theorierichtungen: biographie- und lebensweltorientierte Konzepte, welche Lernprozesse in Abhängigkeit von biographischen Erfahrungen und Lebenslagen betrachten sowie systemisch-konstruktivistische und subjektwissenschaftliche Lerntheorien, die nachhaltiges Lernen als einen subjektgesteuerten, reflexiven und transformativen Prozess definieren. Für die vorliegende Untersuchung soll insbesondere Bezug zu den Theorien des transitorischen Lernens nach Alheit und des Emotionslernen nach Arnold hergestellt werden.

Zur weiteren theoretischen Fundierung der vorliegenden Arbeit sowie zur Erhaltung der Anschlussfähigkeit der Untersuchungsergebnisse soll im dritten Kapitel der Forschungsstand der Alphabetisierung und Grundbildung insbesondere in Bezug auf das Lernen funktionaler AnalphabetInnen dargestellt werden, nachdem zuvor die wichtigsten theoretischen Begrifflichkeiten sowie die geschichtliche Entwicklung der Alphabetisierungsforschung in Deutschland näher beleuchtet wurden. Es zeigt sich, dass bislang nur wenige differenzierte Befunde zu den Lernprozessen funktionaler AnalphabetInnen vorliegen. Zwar lässt sich ein fruchtbarer Erkenntnisfortschritt innerhalb der Teilnehmendenforschung verzeichnen, welche die Aufschichtung negativer biographischer Erfahrungen in den Sozialisationsfeldern Familie und Schule als Verursachungsfaktoren von funktionalem Analphabetismus identifizierte, jedoch gibt es bis zum jetzigen Zeitpunkt nur wenige lerntheoretische Studien sowohl auf dem Gebiet der Alphabetisierungsforschung als auch innerhalb der Erwachsenenbildungsforschung allgemein. Erste Untersuchungen zu diesem Thema stellten spezifische Teihabeorientierungen der Betroffenen als bedeutsam für die Aufnahme von Lernprozessen heraus.

Im vierten Kapitel wird die empirische Untersuchung der vorliegenden Arbeit vorgestellt. Zur Beantwortung der Forschungsfragen wurden problemzentrierte Leitfadeninterviews mit 22 Alphabetisierungskursteilnehmenden geführt und nach dem Verfah-Verfahren der Grounded Theory nach Strauss und Corbin6 ausgewertet. Es zeigt sich, dass die Aufnahme und Aufrechterhaltung von Nachlernprozessen bei funktionalen AnalphabetInnen von vielfältigen biographischen, aber auch innerpsychischen Faktoren und Prozessen beeinflusst ist. So erweisen sich insbesondere „emotionale Einspurungen“ als besonders handlungseinschränkend und damit auch als lernhinderlich. Als lernförderlich sind dagegen reflexive und transformative Prozesse im Denken, Fühlen und Handeln der Betroffenen anzusehen. Auch aktuelle lebensweltliche Bedingungen, z.B. das Vorhandensein spezifischer Belastungsfaktoren oder die Unterstützung durch Vertrauenspersonen, wirken sich auf eine Wiederaufnahme und Weiterführung nachholender Alphabetisierung aus. Innerhalb von Alphabetisierungskursen sind für die Teilnehmenden vor allem vertrauensvolle Beziehungen innerhalb Lerngruppe und zu den Lehrenden bedeutsam.

Im letzten Kapitel werden die Ergebnisse der Analyse vor dem Hintergrund der theoretischen Basis interpretiert und kritisch diskutiert. Außerdem sollen die Stärken und Schwächen der vorliegenden Arbeit erörtert werden. Zuletzt werden Anknüpfungspunkte für die weitere Forschung herausgestellt und Handlungsempfehlungen für die Alphabetisierungspraxis gegeben.

1 BMBF (2008), S. 7.

2 Mikula (2009), S. 3.

3 Grotlüschen, Anke/Riekmann, Wibke (2011): leo. – Level-One Studie. Literalität von Erwachsenen auf den unteren Kompetenzniveaus. Presseheft. URL: http://blogs.epb.uni-hamburg.de/leo/files/2011/12/leo-Presseheft_15_12_2011.pdf (Stand: 07.06.2015).

4 Ein funktionaler Analphabet bzw. Analphabetin ist eine Person, die „zwar einzelne Sätze lesen oder schreiben kann, nicht jedoch, zusammenhängende – auch kürzere – Texte. Betroffene Personen sind aufgrund ihrer begrenzten schriftsprachlichen Kompetenzen nicht in der Lage, am gesellschaftlichen Leben in angemessener Form teilzuhaben. So misslingt etwa auch bei einfachen Beschäftigungen das Lesen schriftlicher Arbeitsanweisungen“ (Grotlüschen/Riekmann 2011, S. 2).

5 Huntemann, Hella/Reichart, Elisabeth (2012): Volkshochschul-Statistik. 50. Folge, Arbeitsjahr 2011, S. 30. URL: www.die-bonn.de/doks/2012-volkshochschule-statistik-01.pdf (Stand: 07.06.2015).

6 Strauss, Anselm/Corbin, Juliet (1996): Grounded Theory: Grundlagen qualitativer Sozialforschung. Weinheim.

2 Lerntheoretische Konzepte der Erwachsenenbildung

Die Praxis der Erwachsenenbildung ist seit ihren Anfängen darum bemüht, Erwachsene in ihrem Lernprozess bestmöglich zu unterstützen. Entsprechend sollte auch die empirische Erforschung des Lernens Erwachsener das „Herzstück einer Erwachsenen- und Weiterbildungsforschung“7 sein. Tatsächlich spielt dieses Forschungsgebiet jedoch bislang noch immer eine eher untergeordnete Rolle. Dies kann nach Ludwig und Müller vier Bedingungen zugeschrieben werden8: Zum einen ist der „Planungsgedanke“ innerhalb der Didaktik der Erwachsenenbildung vorherrschend, daher werden bislang überwiegend Untersuchungen zur Lehr- und Teilnehmendenforschung durchgeführt. Zum anderen gelten Lernprozesse in einigen theoretischen Ansätzen (z.B. im Konstruktivismus) als nicht direkt, sondern nur indirekt „über die Inputleistungen der Pädagogen und die Outputleistungen der Lernenden“9 beobachtbar, was deren Betrachtung demzufolge unmöglich machen würde. Desweiteren ist die Lernforschung noch immer durch die pädagogische Psychologie und in den letzten Jahren auch verstärkt durch die Neurowissenschaft geprägt, wodurch eigenständige erwachsenenpädagogische Lerntheorien eher an den Rand gedrängt werden. Das erwachsenendidaktische Erkenntnisinteresse versucht außerdem nicht nur durch äußere Faktoren beeinflusste Lernprozesse zu erklären, sondern fragt auch nach ihrer Gestaltbarkeit. Aufgrund der genannten Faktoren besteht noch immer eine breite Kluft zwischen erwachsenenpädagogischer Praxis und wissenschaftlich rückgebundener Lernforschung.10

Diese Arbeit schließt sich an biographieorientierte und reflexive Lernkonzepte an, die Lernprozesse aus dem Blickwinkel der Lernenden heraus betrachten. Zur Begründung der theoretischen Fundierung soll im Folgenden zunächst ein kritischer Überblick über die traditionellen Theorien und Konzepte der Lernforschung gegeben werden, welche auch die Erwachsenenpädagogik maßgeblich beeinflusst haben. Daran anschließend sollen die in der Erwachsenenbildung sowie speziell in der Erwachsenenalphabetisierung etablierten Ansätze zum Lernen Erwachsener beschrieben werden. Die dargestellten Konzepte bilden die theoretische Grundlage dieser Arbeit und erweisen sich als fruchtbare Ansätze zur Identifizierung der inneren und äußeren Einflussfaktoren auf nachholende Alphabetisierungsprozesse.

2.1 Klassische Lerntheorien in der Kritik

Auf dem Gebiet der Lernforschung gelten der Behaviorismus und der Kognitivismus als die traditionsreichsten theoretischen Konzepte innerhalb der Psychologie sowie angrenzender wissenschaftlicher Disziplinen. Der Behaviorismus wurde zu Beginn des 20. Jahrhunderts als ein neues psychologisches Paradigma entwickelt, beherrschte beinahe ein halbes Jahrhundert den wissenschaftlichen Diskurs und war Grundlage für zahlreiche weiterführende kognitions- und lerntheoretische Forschungsarbeiten. In dieser klassischen Lerntheorie wird die Psychologie als exakte Naturwissenschaft verstanden, deren zentrale Ziele die Erklärung beobachtbaren Verhaltens („behavior“) und die Untersuchung der Bedingungen von Verhaltensänderungen und deren Kontrolle darstellen.11 Das „Reiz-Reaktions-Modell“ von Thorndike stellt dabei zusammen mit Pawlows Experimenten zur „Klassischen Konditionierung“ das Fundament für die von John B. Watson begründete Lerntheorie dar und erreichte besondere Bekanntheit durch die Arbeiten zur „operanten Konditionierung“ von B.F. Skinner.12 Allen Ansätzen gemeinsam ist die Beobachtung, dass Lernprozesse durch eine Reiz-Reaktions-Kette angestoßen werden, wobei auf bestimmte, von außen gesetzte Reize bestimmte Reaktionen des Rezipienten folgen.

So konnte Iwan P. Pawlow in seinem Ansatz zur „klassischen Konditionierung“ nachweisen, dass Lernen insbesondere durch ein zeitlich unmittelbares Aufeinandertreffen verschiedener Reize13 ausgelöst werden kann: Wird wiederholt ein zunächst neutraler, für das Individuum unbedeutender Reiz (z.B. ein Glockenton) kurz vor oder nach einem unbedingten, d.h. angeborenen und damit nicht erfahrungsbedingten Reflex (z.B. der Speichelfluss des Hundes beim Anblick von Futter) gesetzt, kann auch der ursprünglich neutrale Reiz diese Reaktion auslösen – der Reiz wurde somit „konditioniert“.

Edward L. Thorndike machte in seinen Experimenten zur „instrumentellen Konditionierung“ die Entdeckung, dass sich Lernen durch ein „trial-and-error“-Prinzip bzw. „Ausprobieren“ in einem immer gleichen Schema wiederholt: ein Stimulus, d.h. ein äußerer Reiz wie z.B. schwer erreichbares Futter, wirkt auf den Organismus ein, welcher daraufhin in einer bestimmten Art und Weise reagiert, z.B. in dem Versuch, das Futter zu erreichen. Wird in der Folge auf den gleichen Reiz immer die gleiche Reaktion („Response“) gezeigt, ist eine Verknüpfung zwischen Reiz und Reaktion geschaffen worden – nach Thorndike eine „Stimulus-Response (S-R)-Association“. Diese Verknüpfung kommt allerdings nur zustande, wenn sie durch eine für den Organismus befriedigende Nachwirkung (z.B. Futter) verstärkt („reinforcement“) wird.

Als einflussreichster und bekanntester Vertreter des Behaviorismus kann B.F. Skinner mit seinem Konzept zur „operanten Konditionierung“ genannt werden.14 Er war, entgegen der anderen Vertreter der behavioristischen Lerntheorie der Ansicht, dass der Mensch nicht erst durch äußere Reize aktiv wird, sondern prinzipiell aktivitätsbereit ist. In seinen Experimenten machte er die Beobachtung, dass die Auftretenswahrscheinlichkeit von erwünschtem Verhalten durch Verstärkung (Belohnung) oder Nichtverstärkung (Ignorieren) erhöht und gleichzeitig nicht erwünschtes Verhalten „gelöscht“ werden könne. Dieses Konzept des „Lernens am Erfolg“ oder „Lernen durch Belohnung bzw. Bestrafung“ hatte großen Einfluss auf die Erziehungs- und Unterrichtspraxis der damaligen Zeit.

Bei einer kritischen Betrachtung dieser verhaltenstheoretischen Ansätze fällt auf, dass diese insgesamt auf einem eher schlichten, mechanistischen Menschenbild beharren, das von der Formbarkeit und Passivität der Individuen ausgeht. Die in den Anfängen des Behaviorismus recht extreme Sichtweise, dass das Individuum eine „black box“ sei, die lediglich auf von außen kommende Reize reagiert, wird von den heutigen Anhängern der Theorie zwar nicht mehr vertreten, jedoch wird den von außen kommenden Stimuli in Form von Belohnung oder Bestrafung eine tragende Funktion zugeschrieben. Damit steht der Lehrende in diesem Konzept im Vordergrund, indem er Anreize setzt und Feedback gibt. Weiterführende Untersuchungen zur behavioristischen Lerntheorie konnten jedoch zeigen, dass das gewünschte bzw. gelernte Verhalten nicht immer automatisch (z.B. in Anwesenheit einer Lehrkraft) und nachhaltig eintritt. Letztlich können zwar einfache Lernvorgänge mit dieser Theorie recht gut erklärt werden, jedoch sind ihre Grenzen bei komplexeren Lernprozessen schnell erreicht. Kritik wurde beispielsweise auch von Robert Gagné geäußert, der das Reiz-Reaktions-Lernen als nur eine von vielen Lernarten bezeichnete.15 Er unterschied insgesamt acht Lernarten: das Signal-Lernen, Reiz-Reaktions-Lernen, Lernen motorischer Ketten, Lernen sprachlicher Ketten, Lernen von Unterscheidungen, Begriffsbildung, Regel-Lernen und Problemlösen.

Die anfängliche Vorherrschaft des Behaviorismus wurde durch die „kognitive Wende“16 in der Mitte des letzten Jahrhunderts beendet. Im Gegensatz zu behavioristischen Lerntheorien wird menschliches Erleben und Verhalten im Kognitivismus nicht durch äußere Reize erklärt, sondern primär über innere, kognitive Prozesse. Als determinierend für Lern- und Handlungsprozesse werden dabei

„(…) nicht mehr allein das Verhältnis von Außenreiz zur Reaktion angesehen, sondern zusätzlich wurden interne Steuerungsmechanismen wie Selbstreflexion, selektive Wahrnehmung, kognitive Strategien, Ideen und Wünsche hinzugenommen“17.

Die kognitive Perspektive geht davon aus, dass der Mensch zielgerichtet handelt und somit der Zweck im Vordergrund der Handlung steht. Damit wird dem Lernenden erstmals eine aktive Rolle im Lernprozess zugesprochen. Außerdem wird im Kognitivismus nicht nur die Aneignung von Neuem („Assimilation“), sondern auch die Anwendung, Restrukturierung und Weiterentwicklung bereits vorhandener kognitiver Strukturen („Akkommodation“) beschrieben.18

Als bekanntester Vertreter der kognitivistischen Lerntheorie gilt Leon Festinger mit seinem Konzept der „kognitiven Dissonanz“.19 Der zentrale Ausgangspunkt der Theorie ist das grundsätzliche Streben des Menschen nach Harmonie, Konsistenz und Kongruenz in der kognitiven Repräsentation seiner Umwelt und der eigenen Person. Die Unvereinbarkeit zwischen einer aktuellen und einer vergangenen Erfahrung würde dagegen eine kognitive Dissonanz erzeugen, d.h. einen unangenehmen Gefühlszustand, der sich aversiv auswirkt. Das Individuum sei daher motiviert, einen Zustand ohne Dissonanz zu erreichen. Dazu müssten jedoch die entsprechenden Kognitionen miteinander vereinbar gemacht werden, indem entweder Einstellungen (z.B. Überzeugungen, Werte etc.) oder Verhaltensweisen geändert werden, wobei ersteres leichter zu verändern sei als letzteres. Eine dauerhafte Veränderung von Einstellungen und/oder Verhalten kann vor allem durch die Überwindung einer besonders starken Dissonanz, welche eine Bedrohung für das eigene Selbstkonzept darstellen kann, hervorgerufen werden.

Eine weitere einflussreiche kognitivistische Theorie ist die sozial-kognitive Lerntheorie20 nach Albert Bandura. Diese hatte ihre Wurzeln zwar im Behaviorismus, sie entwickelte sich jedoch schnell in Richtung der kognitivistischen Theorieansätze. Bandura ging davon aus, dass Menschen nicht nur aufgrund von Verhaltensanreizen, sondern auch durch Beobachtung und Imitation lernen. Im Gegensatz zu den Ansätzen der klassischen und operanten Konditionierung, in denen Lernen ausnahmslos in Abhängigkeit von Reiz-Reaktions-Verbindungen stattfindet, kann nach dem Konzept des Modelllernens auch bisher unbekanntes Wissen oder Verhalten in kurzer Zeit angeeignet werden. Das relevante Verhalten oder Wissen wird bei anderen Individuen bzw. „Modellen“ wahrgenommen, beobachtet und nachgeahmt. Dies geschieht jedoch nur, wenn (1) das Modell eine bedeutsame Person darstellt und (2) positive Konsequenzen erwartet werden. Bereits die erfolgreiche Ausführung des beobachteten Verhaltens kann sich bei der bzw. dem Nachahmenden positiv verstärkend auswirken.

Das Konzept des Kognitiven Lernens21 nach Köhler22 basiert dagegen auf der Annahme, dass Wissen mithilfe kognitiver Fähigkeiten wie Imagination oder Introspektion intentional angeeignet und umstrukturiert werden kann. So käme es in der Folge eines „trial-and-error“-Verhaltens zu einem sprunghaften Wissenszuwachs, indem ein Sachverhalt oder Ursache-Wirkungs-Zusammenhang plötzlich erkannt und verstanden wird. Dieses absolute Prinzip bezeichnet Köhler als „Alles-oder-nichts-Prinzip“, da die Vertiefung bzw. Wiederholung des Gelernten bei dieser Lernform keine Bedeutung hat. Stattdessen kommt es beim einsichtigen Lernen zu einem „Aha-Erlebnis“, also einer schlagartig veränderten Wahrnehmungsperspektive auf den Lerngegenstand.

Die vorgestellten kognitivistischen Lerntheorien sind im Gegensatz zu verhaltenstheoretischen Konzepten besser geeignet, komplexere Lernprozesse zu erklären, da ihre Betonung auf dem problemlösenden, einsichtsvollen und schlussfolgernden Lernen liegt. Doch obwohl das Individuum selbst stärker berücksichtigt wird, stehen in diesen Ansätzen meist ebenso wie in den behavioristischen Lerntheorien die Lehrenden sowie die didaktische Aufbereitung von Lerninhalten im Vordergrund. Innere Aspekte wie Emotion, Interesse, Selbstbestimmung, aber auch äußere Einflussfaktoren (z.B. kulturelle, gesellschaftliche) auf Lernen werden dagegen kaum berücksichtigt.

Zusammenfassend lässt sich feststellen, dass die traditionellen Theorien des Behaviorismus und des Kognitivismus Lernen als Produkt bzw. als abhängige Variable betrachten, welches sich von außen beliebig steuern und gestalten lässt. Der Lernprozess selbst stellt eine lineare Abfolge dar und gilt als beobachtbar und planbar.23 Im Fokus stehen daher die Lehrenden, die Lerninhalte sowie das sichtbare, geplante Lernergebnis. So kritisieren auch Faulstich und Ludwig, dass

„in der Lernpsychologie des Mainstreams (…) nach wie vor eine Vorherrschaft eines naturwissenschaftlichen Ursache-Wirkungs-Denkens (existiert), welches Instruktionsansätze und entsprechende instrumentelle Lernarrangements stützt“24.

Von den traditionellen psychologischen Lerntheorien haben sich weitere Theorien abgespalten, welche sich im Zusammenhang mit Lernhandeln insbesondere mit innerpsychischen Einflussfaktoren und Prozessen beschäftigen, z.B. Lernmotivation, Interesse, Volition, Flow-Erleben u.a. Diese betrachten jedoch ebenso wie die weiter oben beschriebenen Ansätze zumeist nur einseitig bestimmte Faktoren, während die vielfältigen bedingenden Aspekte des Lernens sowie ihr komplexes Zusammenspiel dagegen weitgehend unberücksichtigt bleiben.

Die erwachsenenpädagogischen Lerntheorien, welche im Anschluss vorgestellt werden sollen, versuchen sich in einer ganzheitlicheren Sichtweise und nehmen die Lernenden sowie individuelle Lernprozesse stärker in den Fokus.

2.2 Erwachsenenpädagogische Lerntheorien – Von der Vermittlungszur Aneignungslogik

Der erwachsenenpädagogische Diskurs der letzten drei Jahrzehnte legte seinen Fokus bei der Ergründung von Lernprozessen vorrangig auf die Biographieforschung und orientierte sich dabei besonders an den Bildungstheorien der Soziologie, wodurch es zu einer zunehmenden Soziologisierung der Erwachsenenbildungsforschung kam.25 Erst im Zuge der „reflexiven Wende“26 in den 1980er Jahren gewannen auch systemisch-konstruktivistische sowie subjektwissenschaftliche Lerntheorien, welche ihren Blick stärker auf innerpsychische Prozesse im Lernenden selbst richteten, an Auftrieb.

Im Folgenden sollen zunächst aus der Bildungssoziologie entlehnte biographie- und lebensweltorientierte Konzepte von Lernen vorgestellt werden, die sich als fruchtbar zur Beantwortung der Fragestellung der vorliegenden Arbeit erweisen könnten.

2.2.1 Lernen als biographischer und lebensweltbezogener Prozess – bildungssoziologische Lerntheorien

Biographie- und lebensweltorientierte Ansätze bieten konstruktive Einblicke sowohl in formelle als auch in informelle und selbstorganisierte Lernprozesse Erwachsener.27 Ausgehend von der Vorstellung, dass „eine wechselseitige Beziehung zwischen Lern- und Bildungsprozessen einerseits und biographischen Bedingungen und Konstellationen andererseits existiert“28, wollen sie einen Beitrag dazu leisten erwachsene Lernende verstärkt als Subjekte in ihrer „Historizität und Autonomie“29 zu betrachten. In Abgrenzung zum Lebenslauf, der den chronologischen Verlauf von Ereignissen innerhalb eines menschlichen Lebens aus objektiver Sicht offenlegt, geht es in der Biographie insbesondere um subjektive, nicht nachprüfbare Erfahrungen von Individuen, die sich identitätsbildend und -stabilisierend auswirken:30

„Biographietheoretische Ansätze in der Erwachsenenbildung betonen somit eine Perspektive, die das Individuum mit seinen je eigenen Handlungsweisen und Ressourcen sowie seinen Kompetenzen in den Mittelpunkt der Aufmerksamkeit rückt und vor allem dessen Individualität hervorhebt, dessen Eigensinn und Stärken respektiert und zum Gegenstand theoretischer und praktischer Überlegungen macht“31.

In den letzten Jahrzehnten konnten sich biographie- und lebensweltorientierte Zugänge zunehmend als eigenständige Theorien etablieren. Bereits seit dem Ende des 19. Jahrhunderts befasste sich die Erwachsenenbildung in Deutschland einhergehend mit ihrer zunehmenden Verwissenschaftlichung verstärkt mit den Lebenslagen und Lebensverläufen ihrer AdressatInnen bzw. Zielgruppen und ihrer Teilnehmenden.32 Interesse an diesem Forschungsgegenstand kam insbesondere durch das Prinzip der Freiwilligkeit in der Erwachsenenbildung auf: Erwachsene können im Gegensatz zu schulpflichtigen Kindern und Jugendlichen (in aller Regel) selbst darüber entscheiden, ob und wann sie ein Bildungsangebot wahrnehmen bzw. beenden. Für eine verbesserte Programmplanung versuchte die Erwachsenenbildungsforschung daher Informationen zu Bildungsinteressen, -barrieren, -motiven etc. ihrer (potentiellen) Teilnehmenden zu sammeln, z.B. in Form von Teilnehmendenstatistiken, bildungssoziologischen Erhebungen bis hin zu sozialwissenschaftlichen Milieustudien.33 So sollten beispielsweise in den drei „klassischen“ bildungssoziologischen Leitstudien der deutschen Erwachsenenbildung, der Hildesheim-, der Göttinger- und der Oldenburg-Studie34, unter anderem manifeste und latente Bildungsmotive und Lerninteressen ermittelt werden. Problematisch an dieser Art von Forschung war die zumeist rein deskriptive Datenerfassung mittels geschlossener Fragebögen. Es wurden folglich kaum individuelle Lernprozesse betrachtet, sondern vorrangig situativ gebundene Teilnahmemotive und Bildungsbedarfe erfragt; emotionale, kognitive und soziale Einflüsse wurden dabei weitgehend außer Acht gelassen. Erst einige Zeit später konzentrierte sich die Erwachsenenbildung stärker auf die individuellen Biographien und Lebenslagen ihrer Teilnehmenden. Dies geschah aufgrund des Zusammenspiels unterschiedlicher Entwicklungen: Zum einen hatten die Bildungsreform der 1960er und 1970er und die sogenannte „Alltagswende“35 zu einer veränderten Betrachtungsweise von Lernen geführt. Lernen galt nun als ein Prozess, der nicht mehr mit dem Erreichen des Erwachsenenalters abgeschlossen war, sondern sich über die gesamte Lebensspanne erstrecken sollte. Das „Lebenslange Lernen“ war damit zu einer unbedingten Voraussetzung für eine aktive soziale und berufliche Teilhabe innerhalb der modernen Gesellschaft geworden. Aus dieser Entwicklung resultierten wachsende Bildungsansprüche und -bedarfe, die in Deutschland durch einen verstärkten infrastrukturellen Ausbau von Erwachsenenbildungseinrichtungen aufgefangen wurden. Zugleich erfreuten sich qualitative Methoden in der wissenschaftlichen Forschung ab Mitte der 1970er Jahre immer größerer Beliebtheit, wodurch auch die qualitativ orientierte Biographieforschung stärkeren Zulauf erfuhr. Auch die Einführung der „Teilnehmerorientierung“36 als Leitmaxime der erwachsenenpädagogischen Praxis sowie der „Subjektorientierung“37 als Radikalisierung der Teilnehmerorientierung, welche durch die „reflexive Wende“38 bzw. „subjektive Wende“39 in den 1980er Jahren aufkam, führten zu einer intensiveren Betrachtung biographischer Erfahrungen von Teilnehmenden: Dreh- und Angelpunkt didaktischer Planung in der Erwachsenenbildung waren nun nicht mehr Lerninhalte, sondern die Subjektivität der Lernenden und deren Lernerfahrungen, -bedürfnisse und -voraussetzungen.40 Zudem lag das zentrale Ziel der Erwachsenenbildung in der Entwicklung einer „biographisch fundierten Handlungsfähigkeit“41 bei den Bildungsgangteilnehmenden.

Biographie- und lebensweltorientierte Ansätze finden sich heute in beinahe allen Teilbereichen der Erwachsenenbildung: So spielen sie nicht nur innerhalb der Adressaten- und Teilnehmendenforschung, sondern ebenso in der Organisations-, Professions- und der Lehr-Lernforschung sowie in der erwachsenenpädagogischen Praxis eine wesentliche Rolle. Auch im wissenschaftlichen Diskurs zum Lebenslangen Lernen oder zur Wissensgesellschaft nehmen sie einen wichtigen Platz ein.42

Nachfolgend soll das „Habituskonzept“ nach Bourdieu beschrieben werden, welches bereits auf eine Vielzahl biographieorientierter Studien großen Einfluss ausgeübt hat, und desweiteren das daran anschließende Konzept des „Lernhabitus“ nach Herzberg. Außerdem sollen der Ansatz des „biographisch-transitorischen Lernens“ und die Kompetenz der „Biographizität“ nach Alheit vorgestellt werden.

Bourdieus Habituskonzept

Das Habituskonzept des Kulturtheoretikers und Soziologen Pierre Bourdieu nimmt innerhalb der Bildungsforschung eine gewichtige Stellung ein43 und wurde vielfach für biographieorientierte Ansätze herangezogen, da sich der explizite Bezug zur Alltagspraxis für die Rekonstruktion von Lebens- und Lerngeschichten besonders zu eignen scheint. Bourdieu suchte nach den Ursachenfaktoren, durch welche individuelle Verhaltensweisen, Einstellungen etc. erzeugt werden und setzte sich dabei unter anderem auch mit der Biographieforschung auseinander. Da sich diese jedoch seiner Ansicht nach nicht hinreichend mit gesellschaftlichen Kontexten, der Herkunft oder sozialen Positionen befasste,44 entwickelte er mit seinem Habitus-Konzept einen eigenen Ansatz, in dem er „zugleich die Einheit der Person, die Kohärenz ihres Handelns, schließlich ihre Identität als sozialer Akteur“45 thematisierte. Nach Bourdieus Vorstellung stellt der Habitus eine „sozial vermittelte Handlungsgrammatik“, ein kulturelles Regelsystem charakteristischer Denk- und Handlungsmuster einer Person oder einer Gruppe dar. Er zeigt sich als System dauerhafter Dispositionen in der Gesamtheit aller Lebensäußerungen eines Individuums, z.B. in bestimmten Verhaltensweisen, Werten, Einstellungen, Vorlieben etc.46 Durch primäre familiäre Sozialisation und sekundäre gesellschaftliche Sozialisation (z.B. durch die Schule) wird er zu im Individuum „inkorporierter Gesellschaft“ und stellt damit eine Vermittlungsinstanz zwischen Gesellschaft und Individuum dar: „Im Habitus schlägt sich die Gesellschaft im Individuum auf der Leibebene nieder, er ist das Leib gewordene Soziale.“47 Der Habitus ist also nicht angeboren, sondern ansozialisierter „Instinktersatz“.48 Seine Struktur ist abhängig von historischem und individuellem Handeln. Die vergangenen biographischen Erfahrungen wirken durch ihn unbewusst bis in die Gegenwart hinein, werden dem Menschen zur „zweiten Natur“49 und machen damit einen Großteil seiner personalen und sozialen Identität aus. In seiner Kernstruktur verändert sich der Habitus im Erwachsenenalter kaum noch. Als „soziales Unbewusstes“ kann er kaum durch die Manipulation äußerer Umstände nachhaltig beeinflusst, oder so einfach selbstreflexiv erfasst und verändert werden.50 Eine Transformation des Habitus würde einen Bruch mit der gesamten sozialen Lage bedeuten. Käme es dennoch dazu, wären zwei idealtypische Prozesse denkbar: Zum einen könnte es durch die Wahrnehmung einer dauerhaften Nicht-Passung zwischen Habitus und sozialem Kontext (d.h. Situationen, in denen die eigenen Verhaltensweisen und Einstellungen nicht mehr funktionieren) zu kreativen Lernprozessen kommen, die eine unbewusste Habitustransformation und damit eine Veränderung bestehender Einstellungen, Wertvorstellungen, Ziele usw. bewirken.51 Besonders angesichts nationaler und internationaler Krisen sowie ständig steigenden Anforderungen innerhalb der Gesellschaft und Arbeitswelt nimmt die Wahrscheinlichkeit dieser Form der Habitustransformation zu.52 Eine andere Form der Transformation des Habitus kann durch eine bewusst getroffene Entscheidung des Individuums bewirkt werden.53 Die Veränderungen des Habitus sind dann „das Resultat einer aktiven Auseinandersetzung mit den erweiterten Möglichkeiten der Öffnung des sozialen Raums und den erfahrenen strukturellen Zwängen“54. Mit anderen Worten: Das Individuum nimmt die vorgeprägten Begrenzungen und Muster seiner Herkunft (und die des Habitus) wahr und versucht sich durch bewusste und aktive Auseinandersetzung aus diesen zu befreien. Dieser Prozess kostet jedoch erhebliche Zeit und Mühe, da zunächst jahrzehntelang einverleibte Muster aufgebrochen werden müssen.

Bourdieus Habituskonzept kann als kultursoziologischer Ansatz zwischen der interaktionistischen und der klassisch-strukturalistischen Position verortet werden. Seine Auffassung zur unbewussten Entfaltung des Habitus steht im Gegensatz zu interaktionistischen Ansätzen, die von einer generellen Offenheit aller kommunikativen Prozesse ausgehen. Das Habituskonzept grenzt sich jedoch auch vom klassischen Strukturalismus ab, welchen Bourdieu als „objektivistisch verkürzt“ ansieht und damit gleichzeitig behavioristische Ansätze angreift.

Innerhalb seiner Forschungsarbeiten setzte sich Bourdieu u.a. mit den Wechselwirkungen zwischen Bildungsinstitutionen und Habitus auseinander und stellte fest, dass Bildungsinstitutionen gerade über den Habitus gesellschaftliche Machtverhältnisse und Ungleichheiten reproduzieren und stabilisieren, indem sie einerseits elitäre Habitusformen belohnen und durch ein falsches Gleichheitspostulat diejenigen nicht genügend fordern, die mit ungünstigeren Habitusvoraussetzungen ihren Bildungsweg begehen.55 Folglich können gesellschaftliche Strukturprobleme seiner Auffassung nach auch nicht pauschal auf die Ebene individueller Verantwortung abgeschoben werden.

Insgesamt betrachtet, stand das Habitus-Konzept trotz seiner allgemeinen Beliebtheit bereits mehrfach dahingehend in der Kritik, dass es individuelle psychologische Aspekte zu sehr vernachlässigen würde.56 Dagegen weisen El-Mafaalani und Wirtz darauf hin, dass das Habitus-Konzept durchaus zumindest aus der Perspektive einer verstehenden Psychologie bedeutsame Anregungen und Hinweise liefere.57 Inwieweit die erklärende Psychologie mit dem Habitusbegriff vereinbar ist, bedürfe aus ihrer Sicht jedoch einer weiteren Prüfung.58 Eine Weiterentwicklung der Habitustheorie stellt das Konzept des „Lernhabitus“ von Herzberg dar, welches im Folgenden vorgestellt werden soll.59

Das Konzept des Lernhabitus nach Herzberg

Heidrun Herzberg erweiterte Bourdieus gesellschaftstheoretisches Konzept um den Begriff des Lernhabitus und nahm dabei eine biographietheoretische Perspektive ein: In ihrer empirisch-qualitativen Studie zum Bildungsverhalten des Rostocker Werftarbeitermilieus konnte sie nachweisen, dass ein starker Zusammenhang zwischen Lern- und Verlernprozessen Erwachsener und „Lernmustern, die in der jeweiligen Herkunftsfamilie und im Milieu erworben wurden“60, besteht. Aus ihren Erkenntnissen leitete sie das Konstrukt eines biographischen Lernhabitus ab, welcher das „Produkt inkorporierter sozialer Strukturen, zugleich aber auch das Erzeugungsprinzip biografischer Lern- und Bildungsprozesse“61 sei. Die individuelle Gestalt des Lernhabitus entfalte sich erst im Zusammenspiel jeweils spezifischer Lernstile, Lernmotive, Lerninteressen etc., er beinhalte daher die „Gesamtheit der Lerndispositionen eines Individuums, die es im Verlauf seiner Geschichte in primären und sekundären sozialen Kontexten erworben hat“62. So sei er genau wie der Habitus selbst ein Teil der Identität des Lernenden und daher ebenfalls nur schwer veränderbar.

Durch das Konzept des Lernhabitus kann laut Wolf insbesondere das Auftreten von Diskrepanzen zwischen den Einstellungen zum Lernen und dem tatsächlichen Lernverhalten erklärt werden63: So muss z.B. die Einsicht in die Notwendigkeit des Lernens nicht unbedingt eine sofortige, weitreichende Verhaltensänderung auslösen, denn

„(…) mit dem – wenn auch nur unbewussten – Eingeständnis eines defizitären Lernhabitus werden womöglich auch tiefere Schichten der Persönlichkeit, vielleicht sogar der individuelle Habitus als solcher, in Frage gestellt. Dass gerade jene Personen, die von ihrer gesellschaftlichen Stellung her ohnehin verunsichert sind, jede zusätzliche Infragestellung ihrer Identität als weitere Verunsicherung empfinden müssen, macht verständlich, warum Bildungsferne Lernen nicht einfach als Lebenshilfe begreifen, sondern manchmal als ein unerträgliches Risiko erleben.“64

Mit ihrem biographisch verstehenden Zugang kann Herzbergs Konzept vor allem einen wichtigen Beitrag zur Ergründung von Lernstörungen und Lernbarrieren bei Erwachsenen leisten. Eine hinreichende wissenschaftliche Erforschung steht jedoch bislang noch weitgehend aus.

Biographisch-transitorisches Lernen und Biographizität nach Alheit

Der Pädagoge Peter Alheit befasste sich bis in jüngste Zeit mit dem Konzept Biographie und den individuellen Lernprozessen Erwachsener. Mit seinem sozialkonstruktivistischen Ansatz prägte er die moderne erziehungswissenschaftliche Biographieforschung in Deutschland nachhaltig. Für Alheit ist die Biographie keine Trivialität, sondern „ein sehr spezifischer Lernprozess der europäischen Moderne“65. In der Vormoderne lag die Bedeutung von Biographie nicht wie in heutiger Zeit in der „Entwicklung konkreter Individuen“ bzw. der „Entfaltung subjektiver Einzigartigkeit“; vielmehr waren diese „didaktisch“ motiviert, sie dienten der Belehrung, der Herrschaftslegitimation oder der Unterhaltung.66 Erst im Zuge der europäischen Moderne und mit steigender Lebenserwartung der Menschen entwickelte sich ein neues Verständnis: Biographie war individuell planbar geworden. Nichtsdestotrotz sei diese vorgebliche Handlungs- und Planungsautonomie durch biographische „Prozessstrukturen“67 geprägt, die nur eingeschränkt beeinflussbar sind.68 Alheit bezieht sich dabei auf den Soziologen Fritz Schütze, welcher davon ausgeht, dass „institutionalisierte Ablaufmuster“69, wie z.B. der Familienzyklus, die Schule, die Berufsausbildung etc., das Individuum nachhaltig prägen.70 Biographie wäre damit einerseits „Modus und Prozess der Konstruktion sozialer Realität“ und andererseits das „Produkt kollektiver und individueller Aktivitäten“.71 Trotz dieser Einschränkungen ginge den Menschen in aller Regel das Gefühl individueller Planungsautonomie nicht verloren, was der Art und Weise der biographischen Wissensverarbeitung zugeschrieben werden könne72: Das Wissen um Abhängigkeiten, die nicht beliebig auflösbar sind, neige dazu „mit dem Hintergrundwissen unserer Erfahrung zu verschmelzen“73. In „biographischen Krisen“74, in denen der Anschluss neuer Erfahrungen misslingt, würden die Grenzen der eigenen Handlungsmöglichkeiten jedoch schmerzhaft bewusst.75 Dieser gefühlte Verlust intentionaler Handlungsfähigkeit innerhalb der eigenen Biographie sei bedrohlich und irritierend zugleich, berge aber auch „lebendiges Potenzial zur Veränderung bestehender Strukturen“76: Eine „Modifikation individueller Selbst- und Weltreferenzen“ würde dann nicht nur Chancen zur Transformation spezifischer Le-Lebenskonstruktionen, sondern auch zur Veränderung institutioneller gungen sozialer Existenz mit sich bringen.77 Diesen Prozess des Übergangs in eine „neue Qualität des Selbst- und Weltbezuges (…), der weder das lernende Subjekt noch den umgebenden strukturellen Kontext unverändert lässt“78, bezeichnet Alheit als „biographisch-transitorisches Lernen“. Ein solches Lernen führt durch die Entdeckung verborgener Ressourcen innerhalb biographischer Erfahrungen zu einer legenden Transformation des eigenen, bereits etablierten Wissenskontextes. Transitorisch-biographische Lernprozesse sind daher „abduktiv“, das verarbeitete Wissen bekommt eine neue Qualität. Sie stehen damit im Gegensatz zu einem Lernen, bei dem es lediglich zu einer Erweiterung bzw. Stabilisierung eines bereits den Wissensgebäudes kommt, wie es beispielsweise häufig in konventionellen Bildungsprozessen stattfindet.79 In diesem Zusammenhang geht Alheit auch auf den Begriff der „Biographizität“ ein, welche er als eine individuelle „Schlüsselkompetenz der Moderne“ betrachtet.80 Sie stellt den persönlichen Code dar, mit dem sich ein Individuum neue Erfahrungen erschließt und damit Handlungsautonomie über das eigene Leben gewinnt81:

„Nur wenn konkrete Menschen sich derart auf ihre Lebenswelt beziehen, dass ihre selbstreflexiven Aktivitäten gestaltend auf soziale Kontexte zurückwirken, ist jene moderne Schlüsselqualifikation „Biographizität“ (…) berührt, die noch kaum ins Bewusstsein moderner Bildungs- und Lerntheorien getreten ist. Biographizität bedeutet, dass wir unser Leben in den Kontexten, in denen wir es verbringen (müssen), immer wieder neu auslegen können und dass wir diese Kontexte ihrerseits als „bildbar“ und gestaltbar erfahren. Wir haben in unserer Biographie nicht alle denkbaren Chancen, aber im Rahmen der uns strukturell gesetzten Grenzen stehen uns beträchtliche Möglichkeitsräume offen. Es kommt darauf an, die „Sinnüberschüsse“ unseres biographischen Wissens zu entziffern, und das heißt: die Potenzialität unseres ungelebten Lebens wahrzunehmen.“82

In seinen zusammenfassenden Überlegungen fordert Alheit die Theorie und Praxis der Erwachsenenbildung zu einem sensibleren und professionelleren Umgang mit den biographischen Lebenserfahrungen der Lernenden auf, diese könnten nicht pauschal „auf die gleiche Weise angesprochen, auf dieselbe didaktische Art erreicht“83 werden; stattdessen müssten Zielgruppen stärker differenziert und Pädagogik individualisiert werden.84

Zusammengefasst betrachten Biographie- und lebensweltorientierte Lerntheorien das Lernen Erwachsener als eingebettet in deren biographische Erfahrungen und lebensweltliche Lagen. So können diese Konzepte wichtige Hinweise dazu liefern, welche erfahrungsbedingten oder lebensweltlichen Faktoren die Aufnahme von Lernprozessen beeinflussen oder sich in Lernkontexten als lernförderlich bzw. lernhinderlich herausstellen können. Kritisch zu betrachten ist jedoch, dass sie der familiären und gesellschaftlichen Sozialisation eine sehr starke Bedeutung zuweisen, aber deren konkrete Wirkung auf individuelle innerpsychische Prozesse kaum beschreiben. Damit nehmen sie äußere Bedingungen zu stark in den Fokus und vernachlässigen, wie diese sich konkret auf Emotionen und Sichtweisen von Individuen auswirken, welche wiederum Lernhandeln beeinflussen können. Einen stärkeren Fokus auf diese Prozesse legen reflexive Konzepte von Lernen aus dem systemischen Konstruktivismus und der Subjektwissenschaft, welche nachfolgend beschrieben werden sollen.

2.2.2 Lernen als reflexiver Prozess – subjektorientierte und systemischkonstruktivistische Lerntheorien

Im Zuge der sogenannten „reflexiven Wende“85 bzw. „subjektiven Wende“86 in den 1980er Jahren prägten zwei theoretische Strömungen die Entwicklung von lerntheoretischen Konzepten innerhalb der Erwachsenenbildung maßgeblich: der systemische Konstruktivismus und die Subjektwissenschaft. Durch ihren Einfluss wandelte sich das Verständnis von Lernen als Ergebnis von Prozessen der Lehre und Vermittlung zu einem „konstruktiven und selbstorganisierten Akt der Aneignung“87.

Die Ursprünge des systemischen Konstruktivismus liegen u.a. im bereits oben beschriebenen Kognitivismus sowie in der Systemtheorie Luhmanns und in der biologischen Theorie Maturanas begründet.88 Mit der Etablierung konstruktivistischer Lerntheorien kam es zu einem radikalen Umdenken über Lernen: Darin wurde der „Subjekt-Objekt-Dualismus“89 der klassischen lerntheoretischen Konzepte und deren Anspruch auf objektive Erkenntnis abgelehnt und stattdessen ein Erkenntnismodell vorgezogen, in dem „(...) das erkennende Subjekt, das zu erkennende Objekt und das Erkennen als Prozess untrennbar verknüpft sind“90. Dabei wurde postuliert, dass es kein objektiv bestimmbares und vermittelbares Wissen gibt („Subjektivismus“), sondern dass Lernen ein individueller, selbstgesteuerter Vorgang aktiver Wissenskonstruktion durch den Lernenden bzw. das Subjekt selbst sei.91 Reich spricht hierbei von den Modi Erfinden („Konstruktion“), Entdecken („Rekonstruktion“) und Enttarnen („Dekonstruktion“) der Wirklichkeit.92 Zusammengefasst ist Lernen nach systemischkonstruktivistischer Auffassung also „ein je individuelles, aber in sozialen Kontexten stattfindendes Konstruieren und Umkonstruieren von inneren Welten“93. Dabei ist es immer abhängig und beeinflusst vom Vorwissen des Lernenden, d.h. Lernende nehmen Inhalte nicht uninterpretiert auf, sondern verarbeiten diese intern nach ihren je eigenen subjektiven Anschlussmöglichkeiten, die durch ihre biographischen und lebensweltlichen Erfahrungshintergründe mit bedingt werden.94 In Bezug auf die Bildungspraxis bedeutet dies, dass Lernprozesse aus systemisch-konstruktivistischer Perspektive weder erzeugt noch gesteuert, sondern lediglich „perturbiert“ bzw. angeregt und unterstützt werden können.95 Zusammengenommen führen diese Vorstellungen zu einer „pädagogischen Kränkung“, da die Lernerfolge der Teilnehmenden nun nicht mehr als „lineare Auswirkung der intendierten Lehranstrengungen ihrer Lehrenden“ betrachtet werden können.96 Systemisch-konstruktivistische Ansätze stehen damit im Gegensatz zu den mechanistischen Denkmodellen des Behaviorismus und des Kognitivismus, welche den Lernenden lediglich als passiven (Wissens)Empfänger betrachten und ihren Fokus einseitig auf Methoden der Instruktion legen.97