Begegnungen in der Nacht - Jakobus Richter - E-Book

Begegnungen in der Nacht E-Book

Jakobus Richter

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Beschreibung

Eine Nacht, die alles verändert Claudia und Peter führen eine ganz normale Ehe. Sie haben Streit und versöhnen sich. An diesem Abend ist der Streit jedoch so heftig, dass Peter sich in seinen Wagen setzt und wegfährt. Es sind Peters verletzte Gefühle, die ihn von seiner Frau wegtreiben. Ganz unerwartet und unabhängig voneinander haben beide in dieser Nacht eine Begegnung. Sie werden mit sich selbst konfrontiert und gewinnen eine neue Sicht auf ihr Leben. Ihnen wird bewusst, dass sie mit Beleidigtsein, Selbstmitleid und Resignation ihren Konflikt nicht lösen können. Plötzlich werden Dinge möglich, die vorher unmöglich schienen. Die Folge ist eine neue Perspektive für ihr Miteinander. Auch ihre drei Söhne werden durch Begegnungen in dieser Nacht verändert. Eine spannende Erzählung, die erhellt, was man zum Thema Beziehungen unbedingt wissen sollte.

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Jakobus Richter

Begegnungen in der Nacht

Eine Beziehungsgeschichte für alle Fälle

GloryWorld-Medien

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

1. Auflage 2020

© 2020 Jakobus Richter

© 2020 GloryWorld-Medien, Xanten, Germany, www.gloryworld.de

Alle Rechte vorbehalten

Bibelzitate sind, falls nicht anders gekennzeichnet, der Neuen Genfer Übersetzung entnommen.

Das Buch folgt den Regeln der Deutschen Rechtschreibreform. Die Bibelzitate wurden diesen Rechtschreibregeln angepasst.

Lektorat: Traudel Knoblauch und Manfred MayerSatz: Manfred MayerUmschlagmotiv und -gestaltung: Marc Benseler, Ludwigsburg, www.benseler-design.de

ISBN (epub): 978-3-95578-475-1

ISBN (Druck): 978-3-95578-375-4

 

 

Inhalt

Vorwort

 

Erzählung

 

Anhang: Zusammenfassung der Inhalte

 

Über den Autor

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

FürDietlind und Dieter Galonske,meine treuen Wegbegleiter

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Ich dankeTraudel Knoblauchfür ihre hilfreichen Korrekturenund meiner Frau Annerosefür ihre Ermutigung, dieses Buch zu schreiben.

Vorwort

Verpackt in eine spannende Geschichte um eine Familie mit allerlei Problemen führt uns dieses Buch mit hoher Wahrscheinlichkeit an Punkte, wo wir selber Fragen an unser Leben haben, wo wir mit der Bewältigung mancher Herausforderung unseres Lebens ringen oder gar hadern und uns ebenfalls die Frage stellen: „Wie soll das nur weitergehen?“ Das Buch wirkt dadurch wie ein Spiegel für unsere eigene Lebensgeschichte. Aber genau dies ist ja die Intention von Jakobus Richter und stellt uns vor die Entscheidung: „Will ich mich darauf einlassen, oder nicht?“

Wenn sie das nicht wollen, dann nehmen sie jetzt einen schönen Bogen Geschenkpapier, wickeln das Buch sorgfältig darin ein und schenken es jemand, der es gerne lesen möchte, denn, es einfach ins Regal zu stellen, wäre viel zu schade. Dieses Buch sollte von jedem gelesen werden, denn jeder befindet sich in Beziehungen, und die gelingen gewöhnlich nicht immer von alleine und fordern uns täglich heraus.

Jakobus Richter, jahrzehntelang Seelsorger, Berater und geistlicher Leiter und für mich über viele Jahre ein guter Freund und Begleiter, bündelt in diesem Buch seine umfangreichen Erfahrungen aus unzähligen Beratungsgesprächen und fokussiert sie auf die Punkte, die Beziehungen misslingen oder gelingen lassen. Dabei stellt er diese „Beziehungskiller“, wie er sie nennt, so treffend und anschaulich dar, dass es dem Leser leicht gelingt, sie zu verstehen und letztlich für sich selbst zu adaptieren.

Durch die sehr lebendige Geschichte um Peter, seine Frau Claudia und ihre Familie wirkt dieses Buch schließlich trotz vieler hilfreicher Ratschläge gar nicht wie ein Lehrbuch oder Ratgeber, sondern wie ein Roman, dessen Überraschungen und Wendungen den Leser oder die Leserin bis zur letzten Seite fesseln – eine facettenreiche Erzählung, die auf eine Reise durch die Höhen und Tiefen einer ganz normalen Familie mitnimmt und immer wieder sichere Auswege aus den Krisen und Konflikten des täglichen Lebens aufzeigt.

Wer sich traut, bei der Lektüre auch seine eigenen Defizite anzuschauen, und sich darauf einlässt, erste Schritte zu tun, der wird erleben, dass gestörte Beziehungen wieder heilen werden. Ja, es ist nicht zu viel versprochen, wenn ich sogar behaupte: „Dieses Buch öffnet jedem die Tür zu glücklichen Beziehungen.“ Es bleiben also noch die beiden Fragen: „Will ich überhaupt glückliche Beziehungen? Und gehe ich dann durch diese Tür, oder mache ich sie wieder zu?“

Werner Gumprecht

 

 

 

 

Er saß in seinem SUV und fuhr los. Er hatte kein Ziel. Er wollte nur weg.

Die Landschaft entsprach seiner seelischen Verfassung: grauer Himmel, blattlose Bäume am Straßenrand und grauer Asphalt, der durch den leichten Regen matt glänzte, wenn ihm ein Auto mit Licht entgegenkam. Er hatte sich geschworen, nicht zurückzufahren. Der Streit, der ewige Streit um Nichts war ihm im Hals stecken geblieben. Könnte er weinen, würde er mit nassen Füßen im Auto sitzen, so viele Tränen würden den Fußraum überschwemmen. Aber er konnte nicht weinen. Das hatte er nie gelernt. Männer weinen nicht, darum fühlte er den Kloß in seinem Hals, der ihm die Luft zum Atmen nahm.

Die Ampelkreuzung vor ihm wäre eine gute Gelegenheit, diesem ganzen Elend ein Ende zu setzen, aber er wollte keine Unschuldigen in sein Dilemma verwickeln. Mit Vollgas auf einen der nahen Bäume zu steuern, dazu fehlte ihm der Mut. Der fehlte ihm immer schon, wenn er mit dem Gedanken spielte, seinem Leben ein Ende zu setzen. Also fuhr er und wusste nicht wohin.

Ja, sie hatten sich gestritten. Wieder einmal – und das lautstark, ohne ein Anzeichen von Versöhnung. Jeder hatte recht, jeder wusste es besser und jeder fühlte sich verletzt. Sie stand in der Küche und tat irgendetwas, um etwas zu tun. Nur dasitzen und heulen wollte sie nicht.

*****

Wie oft hatte sie schon daran gedacht, einfach Schluss zu machen. Die drei Kinder waren alle aus dem Haus und studierten. Warum müssen alle studieren? Es gibt doch auch andere Berufe, in denen man glücklich werden kann. Sie kennt ihre drei Jungen und weiß, dass sich Raphael sehr schwer mit dem Studieren tut. Eigentlich ist er ein Praktiker. Was er anfasst, wird zu einem wahren Schmuckstück.

Scheinbar gehört es zu unserer Familie, dass man studiert haben muss, um etwas zu sein. Peter wollte es unbedingt. Ich wehrte mich damals nicht. Heute ärgert es mich nicht nur, es tut mir auch furchtbar leid. Raphael könnte seine Begabung in einem praktischen Beruf viel besser einbringen. Warum haben wir nie darüber gesprochen? Manches läuft, entgleitet einem, und dann kann man es nicht mehr aufhalten. Raphael hätte Physiotherapeut werden sollen. Später hätte er sich fortbilden können und wäre ein guter Osteopath geworden.

Sie weinte still vor sich hin. Die Tränen fielen auf die Erde, aber das machte nichts. Weinen half ihr, die Spannung etwas zu lindern. Die Lösung lag woanders, nicht in den Tränen, aber sie wirken wie die Scheibenwischer beim Auto. Nachher sieht man klarer.

*****

Wir sind eine Familie, in der der Glaube eine gewisse Rolle spielt. Ich gehe mit meiner Frau in ihre Gemeinde, manchmal. Ob es einen Gott gibt oder Jesus weiß ich nicht. Es hat keine besondere Bedeutung für mich. Ich schätze aber die Werte, die durch den christlichen Glauben vertreten werden. Ehrlichkeit, Vergebung, Wertschätzung, Zuverlässigkeit und Treue. Ich frage mich, warum diese Werte in der Beziehung zu meiner Frau nicht greifen.

Die Fahrt durch die Nacht und der sich spiegelnde Regen machten die Fahrt nicht zum Vergnügen, aber ums Vergnügen ging es jetzt nicht.

Er dachte an den Anfang ihrer Ehe zurück. Alles war wunderbar gewesen. Sie hatten sich geliebt und gewusst, dass sie füreinander bestimmt waren. Dieses Wissen hatte sie durch manche Krise hindurchgetragen, und doch waren sie immer wieder an diesen Punkt gekommen, wo jeder von ihnen sich einsam und unverstanden fühlte. Warum greifen die gelernten Systeme nicht, wenn mansich ineinander verhakt hat? „Warum?“, schrie er in die Nacht hinein, und dann war es nicht die regenverschmierte Frontscheibe, die die Sicht wie hinter einem Schleier verbarg, sondern es waren seine Tränen.

Seine Gedanken überschlugen sich. Er dachte an Claudia, die jetzt sicher zu Hause saß und verzweifelt war, weil auch sie keinen Ausweg aus diesem Missverständnis fand.

Claudia versteht mich nicht. Ich empfinde im Streit mit ihr nur Vorwürfe, Erwartungen und Vermutungen. Wirklich hinhören, was in mir vorgeht, wie ich mit meinen Gefühlen zurechtkomme, das scheint sie nicht zu interessieren. Sie sieht nur sich selber und will, dass ich ihre Defizite auffülle. Aber womit? Ich habe nichts, was ich ihr geben kann. Nichts, gar nichts, nur mich selber, und das scheint ihr nicht genug zu sein. Was für ein beschissenes Leben. Man nennt es Ehe. Warum wurde ich nicht vor diesem Schritt gewarnt, vor dieser für mich nicht zu stemmenden Herausforderung? Ich kann nicht mehr.

Seit dreißig Jahren sind wir verheiratet. Es fing alles so schön, so verliebt an. Ich hatte schon damals eine gute Stelle, wo ich genug Geld verdient habe. Sie war in ihrem Arztberuf happy und ging darin völlig auf. Geldsorgen hatten wir nie. Freunde hatten wir, wenn auch nicht solche, auf die man wirklich zählen konnte. Aber sie waren da, und wir haben manche schöne Abende mit Freunden verbracht. An anderen Abenden waren wir ganz alleine mit uns selber. Musik, Kerzen und erfüllendes Sexleben. Das ging eine ganze Weile gut, und dann wurde Claudia schwanger.

Unser erster Sohn Johannes wurde geboren. Wir haben ihn so genannt, weil die Schwangerschaft mit ihm gnädig und sehr gut verlief. Später hat sich herausgestellt, dass Gottes Geschenke ganz schön anstrengend sein können. Aber wir liebten ihn und dann wurde Claudia wieder schwanger und gebar unseren Felix. Er war von Anfang an ein glückliches Kind und trug seinen Namen mit vollem Recht. Die beiden Brüder waren unser Stolz und sie entwickelten sich prächtig. Als Felix (der Glückliche) fünf wurde, wurde Claudia wieder schwanger. Diese Schwangerschaft war kompliziert und Claudia musste oft liegen. Die Wehen kamen viel zu früh, aber durch Gebet und ärztliche Hilfe konnte sie unseren dritten Sohn bis zum Ende austragen, und wir gaben ihm den Namen Raphael, Gott heilt. Wir wollten ihm damit etwas auf seinen Lebensweg mitgeben, an das er sich erinnern kann. Viel später mussten wir mit ihm durch viele gesundheitliche Täler gehen und machten dabei die Erfahrung, dass Gott in sein Leben eingriff. Er heilte ihn von einer unheilbaren Krankheit.

*****

Es klingelte. Eigentlich hatte sie niemanden erwartet und Peter würde nicht klingeln, wenn er nach Hause käme. Claudia ging zur Tür. Eine fremde Frau stand auf der Schwelle.

„Entschuldigen Sie bitte die Störung, aber ich bin hier fremd und habe mich scheinbar verlaufen! Da ich mich hier in der Gegend nicht auskenne und bei Ihnen Licht sah, habe ich mir ein Herz gefasst und bei Ihnen geklingelt.“ „Wo wollen Sie denn hin?“ „Eigentlich in meine Wohnung, nun vielleicht doch erst zu Ihnen, weil sie Tränen in den Augen haben, die mir sagen, dass sie jemanden zum Reden brauchen. Vielleicht darf ich hereinkommen, hier draußen ist es ungemütlich und etwas Wärme täte mir gut. Sie müssen sich nicht vor mir fürchten, ich bin vollkommen harmlos und friere.“

Claudia wusste nicht so recht, was sie tun sollte. In letzter Zeit gab es so viele Trickbetrüger, aber wenn sie in die Augen dieser Frau schaute, dann sah sie keinen Betrug, nur ein Licht, und im Licht kann sich keine Dunkelheit verbergen. Sie bat sie, hereinzukommen. Sie würde aufpassen, und im Notfall könnte sie das Handy nehmen und ihre Freundin von nebenan anrufen. Diese wäre in wenigen Augenblicken da.

Die Frau vor der Tür hielt ihr die Hand hin und sagte: „Deborah, mein Name ist Deborah. Ich weiß nicht so recht, warum meine Eltern mir diesen Namen gegeben haben. Er bedeutet Biene. Vielleicht wollten sie, dass ich so fleißig wie eine Biene bin, die nach Honig sucht und nicht müde wird.“

„Der Name würde besser zu mir passen“, erwiderte Claudia. „Wenn man drei Jungs hat und einen Mann, ist man ständig auf Trab. Man muss organisieren, aufräumen, kochen, gute Laune haben und stets bereit sein, für alle Fragen eine schnelle Antwort zu haben. Dann darf man Taxi spielen und sich halbe Nächte um die Ohren schlagen und niemals zeigen, dass man auch für sich selber Zeiten braucht, in denen man einfach mal nichts tut. Aber warum erzähle ich ihnen das? Sie sind ja nicht gekommen, um sich meine Sorgen und Nöte anzuhören.“ „Warum nicht? Wenn ich schon mal hier bin, können wir miteinander über uns sprechen.“

Die Situation nahm eine angenehme Wendung. „Soll ich uns eine Tasse Tee machen? Ziehen Sie doch Ihren Mantel aus. Ich gehe in die Küche und tue uns etwas Gutes.“

Auf dem Weg in die Küche kamen ihr wieder Zweifel. Was mache ich hier? Während ich in der Küche bin, räumt sie unsere ganze Wohnung aus. Aber ihre Augen waren anders. Sie ist keine Diebin.

Als Claudia wieder in das Wohnzimmer kam, saß Deborah im Sessel und strahlte ihr entgegen.

*****

Peter fuhr jetzt durch ein langgezogenes Waldstück. Der Regen nahm zu, und die Sicht wurde nicht besser. Die Bäume links und rechts der Straße schienen den Regen zu mögen. Nach der langen Trockenheit der letzten Jahre brauchten sie dringend Wasser. Nun kam es literweise auf sie herunter. Plötzlich wurde ihm klar, dass Bäume nur wachsen können, wenn sie bleiben –, ob es trocken ist oder regnet, stürmt oder schneit, ob jemand an den Stamm pinkelt oder eine Kerbe hineinschnitzt. Solange ein Baum steht und seine Wurzeln in der Erde hat, hält er alles aus und wächst. Was für ein Bild für die Ehe.

Ein Reflex riss ihn aus seinen Gedanken und er machte eine Vollbremsung. Vor ihm stand ein Mann mitten auf der Straße und stoppte ihn. „Vollidiot!“, schrie er gegen die Windschutzscheibe.

Als sein Wagen zum Stehen kam, klopfte der Mann an sein Fenster. „Könnten Sie mich ein Stück mitnehmen? Es ist kalt und nass hier draußen und ich könnte ein warmes Plätzchen gebrauchen.“

Etwas leuchtete in seinen Augen. Es war etwas, das ihm das Gefühl gab, nicht Nein sagen zu dürfen. Er hatte Platz, und warm war es auch in seinem Wagen.

Obwohl der Schrecken noch tief in ihm saß und er eigentlich viel zu wütend über die Dreistigkeit des Mannes war, sagte er ganz ruhig: „Steigen Sie ein.“ Der Mann von der Straße nahm Platz, reichte Peter die Hand und stellte sich vor: „Tobias, ich wollte eigentlich nur ein wenig Luft schnappen und bin dann in diesen Dauerregen geraten.“ „Peter, ich fahre nur ein wenig durch die Gegend, um meine Gedanken zu ordnen. Aber was geht Sie das an …“ „Oh, ich kenne das“, sagte Tobias. „Es gibt im Leben so viel Ungeklärtes und leider gibt es niemals eine einfache Lösung, weil unsere Probleme mit denen zusammenhängen, die wir schon als ungelöste Probleme mit uns herumtragen.“ „Wie meinen Sie das?“

*****

Claudia stellte den Tee ab und goss beiden eine Tasse ein. Sie liebte solche Gelegenheiten, in denen man gemütlich beieinandersaß und über Dinge sprach, die ins Herz gingen. „Wenn ich Sie so anschaue, sehe ich, dass Sie gerade ein Problem verarbeiten“, sagte Deborah.

Claudia wusste nicht so recht, ob sie dieser fremden Frau etwas anvertrauen konnte. Aber was soll’s. Da sie nun mal hier war und ein einladendes Lächeln hatte, erzählte sie ihr vom Streit mit ihrem Mann. Eigentlich war es kein richtiger Streit. Ja, sie hatten sich angeschrien, aber warum eigentlich? Jeder hatte recht und keiner wollte seine Position verlassen. Der Schmerz kam nicht durch unangebrachte Worte. Der Schmerz kam durch das Gefühl, nicht verstanden zu werden.

„Oh, das kenne ich. Wir verlieren uns in unseren Gefühlen und können nicht mehr richtig denken. Eine alte Sache, die wohl schon Generationen vor uns kannten. Wahrscheinlich ist die Lösung ganz einfach. Wir sollten lernen, einander zuzuhören und nicht die Konfrontation mit denen suchen, die anders denken als wir, auch wenn es der eigene Ehepartner ist.“

„Ein interessanter Gedanke“, sagte Claudia, „aber wie meinen Sie das?“

„Eine gemeinsame Schnittmenge finden, sollte unser Ziel sein. Bereit sein, die unangenehmen Fragen ernst zu nehmen und eine gemeinsame Lösung zu suchen. Sie kennen doch sicher den Spruch: ‚Auge um Auge, Zahn um Zahn.‘ Das ist jüdisch.“ „Ach“, fragte Claudia, „sind Sie jüdisch?“ „Nein, nicht direkt“, entgegnete Deborah. „In gewisser Weise haben wir ja alle jüdische Wurzeln, wenn man von Adam und Eva her denkt! Aber das Leben ist weitergegangen, hat sich verzweigt und viele Religionen sind inzwischen entstanden. Sind Sie auch religiös?“ „Ja, ich denke schon, wenn man als Christ religiös genannt werden kann!“

Deborah schaute Claudia verständnisvoll an und fuhr fort: „Ich spüre, dass wir uns auf die Lösung des Problems hinbewegen. Können Sie das auch sehen, dass Jesus auf die jüdische Aussage von ‚Auge um Auge‘ etwas Neues hinzufügt? ‚Wenn dich jemand auf die rechte Backe schlägt, dann halt ihm auch die linke hin.‘ Leider ist es so, dass wir in der Regel mehr zum Zurückschlagen tendieren. Die andere Meinung, die Andersartigkeit unseres Gegenübers fordert uns heraus. Wie schmerzlich erleben wir die Gefühle von Rechthaberei, Rache, Besserwisserei und haben dann Angst zu verlieren. Es bauen sich unüberwindliche Mauern zwischen uns auf. Kennen Sie das? Wir schlagen zurück. Wie viel einfacher wäre es, wenn wir in unserem Denken kooperativ wären. Wir würden lernen hinzuhören, würden die Meinung der anderen verstehen und würden dadurch leichter eine gemeinsame Schnittmenge finden, die die unterschiedlichen Meinungen und Ansichten verbinden.

Wenn es uns nicht gelingen sollte, eine gemeinsame Schnittmenge zu finden, bleibt unsere gegenseitige Wertschätzung immer noch ein heilsamer Boden. Um zu einem guten Ergebnis zu kommen, könnte ich vielleicht Folgendes sagen: ‚Ich finde deine Meinung interessant, kann sie aber im Augenblick nicht nachvollziehen. Lassen wir dieses Thema erst einmal ruhen und lass uns schauen, wo wir uns verstehen.‘ Dabei werde ich an eine Botschaft erinnert, die sehr weise und machbar ist: ‚Lasst nicht zu, dass euch etwas gegeneinander aufbringt, sondern begegnet allen mit der gleichen Liebe und richtet euch ganz auf das gemeinsame Ziel aus. Rechthaberei und Überheblichkeit dürfen keinen Platz bei euch haben. Vielmehr sollt ihr demütig genug sein, von euren Geschwistern höher zu denken als von euch selbst.‘ Auch wenn das eine echte Herausforderung ist, funktioniert es, wenn man es wagt, oder?

Wissen Sie Claudia, es braucht ein gemeinsames Ziel, mit dem wir unterwegs sind; nur so kommen wir gemeinsam an. Ich erlebe es, dass Rechthaberei und Überheblichkeit das Verständnis füreinander behindert. Ich glaube, dass Sie im Streit mit Ihrem Mann ein Problem mit der Rechthaberei haben – darf ich seinen Namen wissen?“ „Ja, er heißt Peter.“ „Oh, da haben Sie aber jemanden an Ihrer Seite, der Ihnen Halt und Festigkeit geben kann. Peter bedeutet Fels. Ist Ihnen das bewusst?“ „Ja, da kann ich ein Lied davon singen. Manchmal scheint er mir so unverrückbar in seiner Meinung. Er ist mit Sicherheit kein Kalkfelsen, eher einer aus Granit!!“

Deborah musste lachen. „Ich verstehe Sie gut. Vielleicht muss er lernen, dass er ein Fels für Ihre gemeinsame Sache ist und nicht nur für sich selber.“ „Ich wünschte, Sie könnten ihm das sagen, aber er ist abgehauen, und ich mache mir wieder Sorgen um ihn. Er geht nicht an sein Handy und lässt mich in dieser nagenden Ungewissheit zurück.“ „Machen Sie sich keine Sorgen. Er wird jemanden finden, mit dem er reden kann. Wenn alles geklärt ist, kommt er sicher zurück. Aber lassen Sie uns noch einmal über die Hindernisse sprechen. Um sie abbauen zu können, braucht es die Fähigkeit, den eigenen Maßstab, die eigenen Vorstellungen und Einsichten nicht zum Maßstab für sein Gegenüber zu machen. So sieht ein kooperativer Weg aus, der nach vorne weist. Es bleibt eine Herausforderung, nicht zu konfrontieren, weil man die eigenen Gefühle so schlecht unter Kontrolle hat.“

*****

Tobias hatte es sich inzwischen auf dem Sitz mit der Sitzheizung bequem gemacht. Langsam löste sich die ungewisse Spannung zwischen ihnen und eine Atmosphäre der Vertraulichkeit machte sich breit.

„Ja, die ungelösten Probleme sind unsere eigentlichen Probleme“, dachte Tobias laut. „Es ist interessant zu beobachten, dass es in unseren Beziehungen oft darum geht, wie man selber bestehen kann. Auf der einen Seite ist es wichtig, einen klaren Standpunkt zu haben, mit dem man Kompromisse eingehen kann. Das dürfte dir bei deinem Namen ja nicht schwerfallen. Ein Fels ist ein gutes Fundament. Nicht nur im Bauwesen! Auf der anderen Seite kommen wir aber nicht weiter, wenn jeder nur daran denkt, wie er allein überleben kann. Wir brauchen in Kirche, Gesellschaft und Beziehungen ein neues Denken, und das heißt Kooperation. Es ist viel spannender, beim Gegenüber herauszufinden, in welchen Bereichen des Lebens oder einer Organisation ich kooperieren kann. Abgrenzung geschieht meistens aus Angst, und Angst ist in diesem Fall unser schlechtester Berater. Wir brauchen einander. Keiner hat alles alleine. Wir brauchen die Ergänzung und die Freiheit, unseren Teil zum Ganzen dazuzugeben. Wer das im Blick hat, wird es leicht haben, seinen Teil für die Zukunftsgestaltung in der Gemeinde, in der Gesellschaft und in jeder Beziehung beizutragen. In der Abgrenzung liegt die Gefahr der Vereinsamung. Indem wir miteinander kooperieren, schließt sich der Kreis der gegenseitigen Hilfe und der Weg zum gemeinsamen Ziel wird breiter. Kannst du das für deine Ehe auch so sehen?“

Sie fuhren inzwischen aus dem Wald heraus und das Wetter änderte sich. Die Wolken hatten sich verzogen und ein heller Mond leuchtete auf ihrem Weg.