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Gibt es ein Leben, in dem man nicht stolpert? Ein Leben ohne Einsamkeit, Mühsal, Angriffe und Herzschmerz? Einen Weg, auf dem es keine Irrtümer gibt? Nein, natürlich nicht. Deshalb werden wir immer wieder stolpern. Aber jeder dieser Stolpersteine soll uns die Augen öffnen, um einen besseren Weg zu finden. Es gibt eine Welt voller Frieden und Freundlichkeit, Schönheit und Geborgenheit. Wir dürfen Gott darum bitten, uns die Augen zu öffnen, damit wir diese Welt in und um uns erkennen. Dann erkennen wir, dass uns jeder Stolperstein an den erinnert, der diese Welt ganz anders schuf, als wir sie zumeist wahrnehmen. Diese Welt wird sichtbar, spürbar und lebbar, wenn wir sie an jedem neuen Tag entdecken. Darum geht es in diesem Buch. Eine spannende Geschichte von vier Menschen, die in eine mutmachende Zukunft gestolpert sind.
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Seitenzahl: 324
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Title Page
Vorwort
Teil 1
Teil 2
Teil 3
Teil 4
Über den Autor
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Jakobus Richter
Erst als ich stolperte, erkannte ich meinen Weg
Wenn unerwartete Begegnungen uns die Augen öffnen
GloryWorld-Medien
1. Auflage 2021
© 2021 Jakobus Richter
© 2021 GloryWorld-Medien, Xanten, Germany, www.gloryworld.de
Alle Rechte vorbehalten
Bibelzitate sind, falls nicht anders gekennzeichnet, der Luther Übersetzung 2017 entnommen. Weitere Bibelübersetzung: Neue Genfer Übersetzung (NGÜ).
Lektorat: Klaudia WagnerSatz: Manfred MayerUmschlagbild: Adobe Stock; Neugestaltung Marc BenselerUmschlaggestaltung: Marc Benseler, Ludwigsburg, www.benseler-design.de
ISBN (epub): 978-3-95578-499-7
ISBN (Druck): 978-3-95578-399-0
Für meine großartigen SchwesternHeidrun und Brigitte
und für
Peter Bugod,
meinen unvergesslichen Freund aus Israel.
Mein besonderer Dank gilt meinen Freunden,die ganz unterschiedliche Wege des Glaubens gehen.
Der Glaube an Gott darf niemals zum Streit führen.Jesus hat diese Sorge auch gesehen, als er sagte,dass es zu Trennungen kommen wird.Aber nicht, weil der Glaube an sich zur Trennung führt,sondern weil der Mensch in seiner Lieblosigkeitden anderen nicht akzeptieren kann,in der Art und Weise, wie er an Gott glaubt.Die Rechthaberei verblendet uns, darum ist Rechthabenwollendas schlechteste Geschäft im Glauben und in der Liebe.
Aussage von Josua in diesem Buch
Die Wege in unserem Leben sind nicht immer eben. Wenn wir meinen, wir würden den Weg kennen, auf dem wir gehen, kann es sein, dass wir in Situationen kommen, die alles in Frage stellen. Das sind die „Steine“, über die wir stolpern. Plötzlich achten wir mehr auf unseren Weg, der durch Täler und über Höhen führt.
Solche Stolpersteine haben einen Namen. Mal ist es die Einsamkeit, mal unser Charakter, in dem nicht alles so ist, wie wir es gerne hätten. Sogar unser Glaube kann ein Stolperstein sein, wenn wir uns entscheiden müssen, welchen Weg wir weitergehen möchten.
Wenn wir zu verzweifeln glauben, ist das nicht das Ende des Weges. Im Gegenteil – sind wir bereit zu lernen, entwickelt die Verzweiflung eine Kraft, die uns auf neue Wege führt.
Ich habe dieses Buch geschrieben, weil es sich um Themen handelt, die jeder von uns in seinem Alltag erlebt – glücklicherweise nicht alle gleichzeitig. Aber immer dann, wenn wir über einen dieser „Steine“ stolpern, gehen uns die Augen auf für den Weg, auf dem wir uns gerade befinden.
Die Protagonisten in diesem Roman sind fiktiv, aber irgendwie wird man das Gefühl nicht los, als würde man den einen oder anderen kennen.
• Vater Josua Kohn ist Schuhmacher (Jude).
• Mutter Susanne Kohn arbeitet als Erzieherin (Christin).
• Timo ist Doktor der Astrophysik und trifft in Dresden Tobias.
• Anna hat nach dem Abitur einen Masterstudiengang für Computer-Engineering an der TU in Berlin angefangen.
• Lars hat einen Realschulabschluss und macht eine Ausbildung zum Automechatroniker.
• Daniel hat den Realschulabschluss und wird Maßschneider. Mit 14 Jahren lässt er sich beschneiden und wird Jude.
• Davin Faranatz ist armenischer Christ.
• Stefan Feldmann und seine Frau Elisabeth mit den Söhnen Oliver und Leo.
• Rabbiner Friedland
• Deborah lebt in Portugal.
• Tobias kommt aus Stuttgart und ist Kriminologe.
Es war Frühling. Die Bäume, die den Uferweg säumten, wiegten ihr helles Grün im leichten Wind. Der Fluss, der die Stadt in zwei Teile teilte, nahm seinen unentwegten Lauf nach Norden und mündete in die Weite der Nordsee. Hier in Dresden erinnerte sich kaum jemand daran, dass der Fluss in Tschechien, wo er entspringt, Labe heißt.
An keinem europäischen Fluss gibt es eine größere Tierwelt als an den Ufern der Elbe. Für viele Menschen und Anwohner bringt sie das Leben, aber unzählige Menschen haben in ihr auch den Tod gefunden. Viele sind verunglückt, viele wurden in früheren Zeiten als Strafe für ihr Vergehen ertränkt. Und viele haben sich aus Verzweiflung in ihrem Wasser das Leben genommen.
Timo dachte manchmal daran, sich von einer der Elbbrücken zu stürzen, um endgültig seinem inneren Elend zu entkommen, das ihn schon sein ganzes Leben begleitete.
Er war bereits als Kind ein schlaues Kerlchen gewesen, hatte schon damals eine schnelle Auffassungsgabe gehabt und lieber Bilderbücher angeschaut, als mit anderen zu spielen. Er hatte es geliebt, wenn man ihm Geschichten vorlas, und gefragt, wenn er etwas nicht verstand. Manchmal waren seine Fragen so überraschend gewesen, dass seine Mutter Schwierigkeiten hatte, die richtige Antwort zu finden.
Kontakt zu anderen Kindern hatte er wenig gehabt. Ganz ungewollt entwickelte er sich in eine Außenseiterrolle hinein. Oft stand er allein irgendwo am Rand und schaute den anderen zu. Das Gefühl, nicht dazuzugehören, war sein stiller Begleiter. Es machte ihn traurig.
Je älter er wurde, desto gnadenloser zehrte diese Traurigkeit an seiner Seele. Oft sah er im Selbstmord den einzigen Ausweg aus der inneren Gefangenschaft – hatte aber bisher nicht den Mut dazu gehabt.
Doch immer dann, wenn es ihm wie heute ging und er die Brücken sah, war der Wunsch wieder da, aus dem Leben zu verschwinden.
Während er flussabwärts lief, sah er Lastkähne, die an ihm vorbeizogen. Wie gerne würde er seine eigene Last auf einen dieser Kähne legen und befreit zurückbleiben. Ein Ausflugsschiff legte am Steg an, nahm Touristen an Bord und setzte seine Fahrt fort.
Eigentlich wäre Timo lieber allein gewesen. Die vielen Menschen um ihn herum machten ihn noch einsamer. Erst an der Stadtgrenze würde es ruhiger um ihn werden. Heute hatte er den Eindruck, dass ihn in seinem Inneren die Einsamkeit zerriss. In solchen Momenten wie heute hörte seine Hoffnung auf eine Zukunft direkt vor seinen Füßen auf. Noch eine Brücke, dann würde er im Grünen sein …
Timo war in Dresden aufgewachsen. Er kam aus einer ganz normalen Familie. Aber was ist schon normal? Sein Vater war Schuhmacher und seine Mutter arbeitete als Erzieherin im Kindergarten. Er und seine Schwester Anna hatten das Abitur gemacht und seine beiden Brüder Lars und Daniel absolvierten gerade eine Lehre – der eine als Automechatroniker, der andere als Schneider. In der Wahl der Schule oder des Berufes hatten ihre Eltern sie nicht beeinflusst. Sie hatten ihre Kinder in ihren Berufsvorstellungen unterstützt und ihnen, soweit wie sie das konnten, geholfen, ihre Ziele zu erreichen.
Timo hatte sein Abitur mit 1,0 bestanden, dafür allerdings einen hohen Preis bezahlt. Andere hatten in der Schulzeit eine gewisse soziale Kompetenz erworben, während Timo Wissen angehäuft, sozial aber am Rand gestanden und zugeschaut hatte. Für ihn war schon sehr früh klar gewesen, dass er Astrophysiker werden wollte. Später hatte er den Master of Science an der Ludwig-Maximilians-Universität München gemacht.
Wie oft hatte er in München davon geträumt, ein Mädchen zu finden, für das er die Nummer eins war. Manchmal hatte er in seiner Studentenbude gesessen und still in die Nacht geweint, weil die Einsamkeit sich wie eine Kralle um sein Herz zog. Im Studium war er erfolgreich gewesen und hatte viele Einsen in seinen Beurteilungen erreicht. Aber er hatte niemanden gefunden, bei dem er selbst die Nummer eins war.
Nach München war er zwei Jahre lang an der University of Oxford gewesen, wo er seinen Doktortitel (DPhil) erworben hatte. Ein Stipendium vom deutschen Staat hatte ihm das ermöglicht. Auch diesen Abschluss hatte er mit summa cum laude bestanden, dem höchsten Lob, das man für eine solche Leistung bekommen kann. Alles was er bisher angepackt hatte, war ihm gut gelungen. Er hatte es mit Eifer und Hingabe gemacht. Trotzdem ließ ihn das Gefühl von Einsamkeit nicht los.
Er hatte viel dagegen unternommen. Er hatte gebetet, Sport getrieben und sich gesund ernährt. Aber das innere Loch wurde trotz aller Versuche immer größer. Ungeachtet der Hilfe, die er sich bei Ärzten und Psychologen geholt hatte, verlor er den Zugang zu seinem Selbst immer mehr. Es gab scheinbar nichts, was ihm wirklich half, dieses zermürbende Gefühl von Einsamkeit loszuwerden.
Bevor Timo nach Oxford gegangen war, hatte er bei einem Studienkollegen außerhalb von München gewohnt. Er konnte seine Sachen bei ihm lassen und durfte, wann immer er Zeit hatte und es brauchte, kommen und bei ihm übernachten. Das hatte er nach seiner Rückkehr von Oxford getan und seinem Freund mitgeteilt:
„Ich fahre für ein paar Tage nach Dresden. Ich habe gute Chancen, dort an einem bekannten Observatorium eine Stelle anzutreten. Ich versuche den Vertrag zu bekommen und mir eine Bleibe zu suchen. Dann komme ich zurück und hole meine Sachen.“
„Mach dir keinen Stress!“, antwortete sein Freund. „Bei mir bist du immer willkommen. Und wenn du nichts findest, dann komm zurück und bewirb dich von hier aus. Manche Dinge brauchen Zeit, aber mit deinen Abschlüssen wirst du sicher schnell ’was finden.“
Mit dieser Einladung hatte Timo erneut München verlassen und war mit dem ICE nach Dresden gefahren.
Inzwischen lag die letzte Brücke hinter ihm. Ohne weiter darüber nachzudenken, ging er zurück und lief auf die Brücke. Es war genug. Er wollte nichts mehr vom Leben, das ihm außer ein paar bemerkenswerten Abschlüssen nichts gab, was ihn noch am Leben halten konnte. Die Zukunft hatte aufgehört.
Immer wieder hatte er sich diese Situation vorgestellt. Er wusste, dass man nicht zu viel darüber nachdenken durfte, sonst würde man es nicht tun. Auf der Brücke angekommen, lief er bis zur Mitte. Hier, wo sie am höchsten war, wollte er sich hinunterstürzen. Er war allein … ein paar Autos noch abwarten … dann würde er springen …
Schon war er mit einem Bein auf der Brüstung, da spürte er plötzlich eine Hand, die sich sanft von hinten auf seine Schulter legte. Timo blickte zurück, sah den fremden Mann, der ihn anschaute, und hörte ihn sagen: „Wollen Sie wirklich springen?“
Der Fremde reichte ihm die Hand: „Ich bin Tobias. Da Sie sich gerade das Leben nehmen wollten, haben Sie jetzt viel Zeit. Ich würde mich gerne mit Ihnen unterhalten.“
Mit einem Bein hing Timo noch immer über dem Abgrund. Eigentlich müsste er sich nur nach vorne beugen und fallen lassen, dann wäre alles vorbei …
***
Anna hatte mit fester Entschlossenheit angefangen, in Berlin Computer Engineering zu studieren. Selbst wenn man gewollt hätte, wäre sie davon nicht abzubringen gewesen. Sie hatte ein gesundes Gottvertrauen, war bis zum Studium in der Jugendarbeit ihrer Heimatgemeinde engagiert gewesen und hatte ihre Leidenschaft zum Sport mit der Leidenschaft für den Glauben vereint. Manchmal wusste sie nicht, was ihr gerade wichtiger war. Darüber nachdenken musste sie nicht. Die Entscheidung war längst gefallen. Sie tat es einfach.
Ihre Eltern waren für sie immer die Glaubenshelden gewesen, und eines Tages hatte sie sich entschieden, diesen Glauben an Jesus auch zu ihrem eigenen zu machen. Dann hatte sie sich taufen lassen und war seither eine junge Frau, die wusste was sie wollte und was man von ihr verlangen konnte.
Eines aber machte ihr mehr und mehr zu schaffen: Sie hatte ein unfreundliches Wesen. Im Kurs für Selbstverteidigung hatte ihr Trainer ihr sehr deutlich gemacht, niemals aus einer üblen Laune heraus jemanden anzugreifen.
„Anna, Selbstverteidigung dient nur dem einen Zweck, wenn du angegriffen wirst, dich verhältnismäßig zur Wehr zu setzen! Ist dir das klar? Wenn nicht, wirst du einen Schaden anrichten, den du vielleicht nicht korrigieren kannst. Ich erkenne deine Fähigkeiten und bin begeistert von deiner Schnelligkeit, aber ich sehe auch etwas in dir, das einem Angst machen kann.“
Fünf Jahre hatte sie in diesem Club trainiert, darauf geachtet, stets pünktlich zu sein. Sie war diszipliniert beim Training, im Wettkampf und im Leben. Und sie hatte gekämpft, um auf der Matte nie die Beherrschung zu verlieren, auch nicht in Situationen, die ihr unfair erschienen. Sie hatte geübt, die Leistungen der anderen wertzuschätzen, wenn sie sah, wie sehr diese sich im Training gequält hatten.
Ihre größte Herausforderung war, ihre Trainingspartner, Wettkampfgegner und Mitmenschen wie Freunde zu behandeln. Die obligatorische Verneigung dem anderen gegenüber hatte sie nie vergessen, aber in ihrem Herzen war etwas anderes. Höflichkeit war eine Herausforderung für Anna. Sie gab sich Mühe, versuchte daran zu denken, aber es kam nicht aus ihrem Herzen. Trotzdem, sie war nicht nur eine der Besten, sie war die Beste.
Nachdem sie Dresden verlassen hatte, um in Berlin zu studieren, hatte sie sich einen neuen Club gesucht. Hier trainierte sie einmal in der Woche, mehr Zeit ließ ihr das Studium nicht.
Wann immer es möglich war, machte Anna einen Trainingslauf im Gelände, so auch heute. Sie fuhr mit ihrem Fahrrad die Dievenowstraße hinunter, bog in die Heiligendammer Straße ein, fuhr zum Platz am wilden Eber und dann durch die Pücklerstraße bis zum Grunewald. Mit zwei Ketten schloss sie ihr Fahrrad an einen Baum und lief in den Wald. Auf der rechten Seite der Pücklerstraße befand sich die äthiopische Botschaft, weshalb hier immer eine Polizeipräsenz war. Ihr Rad übergab sie im Stillen Gott und auch der Polizei.
Heute war ein besonders schöner Tag. Es war warm, und um diese Zeit waren nur wenige Leute im Grunewald unterwegs. Anna lief immer den gleichen Weg, in der Verlängerung der Pücklerstraße zur Umgehungschaussee, auf der sie nach Norden abbog, nach einem Kilometer nach rechts und die letzten 900 Meter zurück zu ihrem Fahrrad.
Auf der langgezogenen Geraden war der Wald etwas dichter, als sie jemanden hinter sich bemerkte. Sofort hatte sie das Gefühl, dass – wer auch immer es war – er nichts Gutes im Sinn führte. Sie erhöhte ihr Tempo und überlegte, welche ihrer Selbstverteidigungsmöglichkeiten sie bei einem eventuellen Angriff anwenden konnte.
Als sie erkannte, dass sie ihn nicht abschütteln konnte, verringerte sie ihr Tempo. Ihr Verfolger war nun direkt hinter ihr und sprach sie an: „Hallo Schwester, warum so schnell?“
Er hätte nicht „Schwester“ sagen sollen. Das war Alarmstufe rot. Sie blieb abrupt stehen und rammte ihr Knie zwischen seine Beine. Das zeigte Wirkung. Mit verzweifeltem Stöhnen landete ihr Verfolger auf dem Sandboden und krümmte sich vor Schmerzen.
Im selben Augenblick kam sein Komplize aus dem Wald, den sie vorher nicht gesehen hatte. Auch er sprach sie mit „Schwester“ an und hätte es nicht tun sollen, denn ehe er sich orientieren konnte, spürte er Annas Fuß an seiner Schläfe und sackte zu Boden. Im Fallen riss er seine Waffe hoch, und auch die flog mit einem weiteren Tritt von Anna in den Wald.
„Braucht ihr sonst noch etwas?“, fragte Anna, nahm ihr Handy und wählte den Notruf der Polizei.
Sie hatte Glück, dass eine Streife gerade an der Botschaft von Äthiopien war. In wenigen Augenblicken war diese am Tatort und die Beamten fragten, was passiert sei. Anna erklärte mit kurzen Worten und präzise den Angriff. Daraufhin wurden beide Angreifer festgenommen.
„Da liegt noch ihre Waffe“, dabei deutete Anna in die Richtung, in die sie sie katapultiert hatte.
„Ganze Arbeit! Alle Achtung. Es sieht so aus, als hätten Sie das nicht zum ersten Mal gemacht.“
„Doch, habe ich. Aber ich habe fünf Jahre darauf trainiert und bin jetzt stolz, dass ich das, was ich gelernt habe, auch anwenden konnte.“
Den beiden Männern wurden Handschellen angelegt, und als sie im Polizeiauto saßen, wandte sich einer der Polizisten an Anna und nahm ihre Personalien auf. In der Zwischenzeit hatten sich einige Interessierte versammelt und hätten gerne gewusst, was hier vorgefallen war. Der Beamte bat Anna, morgen zu ihnen auf das Revier zu kommen; er gab ihr die Adresse. Dann verließ der Polizeiwagen den Tatort.
„Was ist passiert?“, fragte einer der Umstehenden.
„Gott sei Dank nichts, aber wenn ich für das Nichts nicht schnell genug gewesen wäre, dann wäre wahrscheinlich etwas passiert, was ich Ihnen nicht sagen kann, weil es nicht passiert ist!“ Dabei schaute sie in sein verdutztes Gesicht.
Anna lief zurück zu ihrem Fahrrad und fuhr nach Hause in ihr Studentenappartement. Erst hier kam sie langsam zur Ruhe. Ein Teil ihrer Gefühle jubilierte über die gekonnte Verteidigung, der andere Teil war erschreckt darüber, dass sie so gnadenlos und blitzschnell zugeschlagen hatte.
***
Vielleicht lag es an seinem Namen: Daniel. Vielleicht lag es aber auch an dem traumatischen Ereignis, das er im Alter von 6 Jahren erlebt hatte. Seine Entscheidung, in die jüdische Gemeinde einzutreten, stand jedenfalls fest.
Er wusste, was auf ihn zukommen würde, wenn er Jude werden wollte. Er müsste sich beschneiden lassen. Das war peinlich und schmerzhaft. Er hatte schon mit seinen Eltern über diesen Schritt gesprochen. Da keines ihrer Kinder getauft war, durfte jedes selbst entscheiden, was es eines Tages glauben mochte. Obschon seine Eltern beide tiefgläubig waren, hatten sie ihren Kinder nie irgendeinen Druck auferlegt.
Wenn Daniels Vater in die Synagoge ging, ging er mit. Manchmal ging er auch mit seiner Mutter in die christliche Gemeinde, aber hingezogen hatte es ihn in die Synagoge. Der Glaube an das Höhere, an das Spirituelle, an Gott war das eine, die Form, die Institution, die Religion das andere.
Er hatte schon viele Gespräche mit dem Rabbiner gehabt, der ihm empfohlen hatte, sich so gut er konnte mit dem jüdischen Glauben zu beschäftigen und die Jugendgruppe der Gemeinde zu besuchen. Das alles hatte er getan.
Als seine Klassenkameraden konfirmiert wurden, hatte er sich entschlossen, sich beschneiden zu lassen. Er hatte mit seinem Vater immer wieder darüber gesprochen. Sein Vater war bereit, die Beschneidung zu bezahlen. Sie mussten es selbst zahlen, weil es keine Krankenkassenleistung ist, wenn sich jemand aus religiösen Gründen beschneiden lassen möchte.
Manchmal kam er zu seinem Vater in die Werkstatt. Sah ihm zu, wie er einen Schuh auf den Leisten spannte, wie er auf seinem Schemel saß und den Schusterbock zwischen seinen Beinen hatte. Oft hatte sein Vater eine Reihe Stahlnägel zwischen den Lippen. Er nahm sie dann einzeln heraus, um den Schuh, den er vor sich hatte, zu reparieren. In der Schuhwerkstatt roch es ständig nach dem Kleber, den der Vater für die Schuhe verwendete.
Immer wenn Daniel in die Werkstatt kam, wendete der Vater sich ihm zu, strahlte ihn liebevoll an und ein Leuchten stand in seinem Gesicht.
„Komm, setz dich zu mir und erzähle, was du auf dem Herzen hast“, sagte er stets zu jedem seiner Kinder, wenn sie in die Werkstatt kamen, und manchmal auch zu Kunden, die traurig aussahen. Er konnte zuhören und hatte ein gutes Wort für jeden.
Daniel liebte das Handwerk seines Vaters. Er selbst wollte kein Schuster werden, aber er wollte unbedingt einen Beruf erlernen, in dem er seine Hände benutzen konnte. Er konnte gut zeichnen, und oft ging er mit einem Bild zu seinem Vater, der ihn lobte, und sich über die Gabe seines Sohnes freute. Ein bisschen war er auch stolz auf Daniel, weil dieser mit ihm in die Synagoge ging.
Als sie über seine Beschneidung gesprochen hatten und der Vater sah, dass es Daniel ernst war, hatten sie sich an einen Urologen gewandt, der selbst Jude war. Er hatte ihm alles im Detail erklärt, was auf ihn zukäme, und dass er nach 14 Tagen keine Probleme mehr haben würde.
Nun war der Tag gekommen. Sie nahmen die öffentlichen Verkehrsmittel und standen eine halbe Stunde später in der Praxis, in der sie schon erwartet wurden.
Nach dem Eingriff, der unter örtlicher Betäubung stattfand, lud sein Vater ihn zu einem großen Stück Kuchen ein. Daniel strahlte vor Freude; dies war sein Tag, und sein Vater war an seiner Seite und freute sich mit ihm. Zur Feier des Tages trug Daniel eine Kippa. Sie saßen im Straßencafé in der Sonne.
Wie aus dem Nichts schoss plötzlich ein Radfahrer an ihnen vorbei. Er schlug Daniel mit der Hand und voller Wucht an den Kopf. Daniels Kippa flog auf die Straße, und sie hörten gerade noch, wie der Angreifer schrie: „Verschwinde, du Judenarsch!“
Daniel fiel durch die Wucht des Angreifers vom Stuhl und landete neben dem Tisch. Die Tasse Kakao, die er in der Hand gehalten hatte, ergoss sich über seine Hose.
Sein Vater kniete sich neben ihn, und schon kamen die anderen Gäste. Auch sie waren entsetzt über den Angriff.
„Daniel, geht es dir gut?“, fragte sein Vater.
Daniel wollte nicht weinen. Es war ihm peinlich, dass der Kakao über seine Hose gelaufen war. „Ich habe furchtbare Kopfschmerzen“, brachte er aus seinem Schmerz hervor, und dann liefen doch ein paar Tränen über sein Gesicht. Er schämte sich, dass er weinen musste.
Sein Vater sah das und bat einen der Gäste, einen Krankenwagen zu rufen. Die Bedienung kam aus dem Café und fragte, was passiert sei. Einer der umherstehenden Gäste klärte sie auf. Sie ging zurück ins Café und holte ihren Chef. Als dieser herauskam, waren schon der näherkommende Krankenwagen und der Notarzt zu hören.
Die Sanitäter baten die Gäste zurückzutreten, während der Notarzt Daniel untersuchte. Sie legten ihm eine Halskrause an und fragten Daniels Vater, ob er mit in die Klinik fahren wolle. „Natürlich fahre ich mit! Ich kann doch meinen Sohn nicht allein lassen!“
Während der Fahrt ins Krankenhaus hielt er Daniels Hand.
„Wohin fahren wir Abba?“, fragte Daniel.
„Wir fahren in die Klinik. Da werden sie dich untersuchen und röntgen, damit wir sicher gehen können, dass dir nichts Schlimmeres passiert ist.
Du musst dir keine Sorgen machen. Ich werde den Arzt über das informieren, was du gerade hinter dir hast. Sie werden dich behutsam behandeln.
Vielleicht musst du eine Nacht in der Klinik bleiben. Ich werde so lange bei dir sein, wie es die Ärzte erlauben. Dann fahre ich nach Hause und bringe dir saubere Wäsche.
Ich bin stolz auf dich, dass du heute so tapfer gewesen bist. Du hast einen Weg gewählt, auf dem du viel Kraft und Glauben brauchst. Was auch geschehen wird, deine Mutter und ich werden immer zu dir stehen.“ Dabei nahm er Daniels Hand, schaute ihn liebevoll an und strich ihm mit der freien Hand über den Kopf. „Ich habe deine Kippa eingesteckt. Wir werden sie aufheben. Sie wird uns immer daran erinnern, dass nicht alle Menschen so denken und glauben wie wir.“
***
Lars hatte als Baby keinen leichten Start gehabt. Als er drei Jahre alt war, klagte er plötzlich über starke Bauchschmerzen. Die Beruhigungsversuche seiner Mutter halfen nicht wirklich. Er weinte und ließ sich nicht beruhigen.
Nach ein paar Tagen war er kaum noch ansprechbar, war blass und kalter Schweiß stand ihm auf der Stirn. Dann bemerkte seine Mutter blutigen Schleim in seinem Stuhl und Lars lag mit zusammengekrümmten Beinchen im Bett.
Die Mutter rief bei dem Kinderarzt an, der auch die anderen Kinder der Familie Kohn betreut hatte. Er ließ die Eltern, Josua und Susanne, sofort mit dem Kind kommen.
Nachdem er Lars eingehend untersucht hatte, stellte er einen Darmverschluss fest. „Sie müssen sofort mit ihm in die Kinderklinik fahren“, sagte er. „Sie hätten früher kommen sollen, was kein Vorwurf ist“, fuhr er fort. „Kinder haben oft Bauchschmerzen, die kommen und gehen. Kein Mensch kann ahnen, was sich im Bauch eines Kleinkindes abspielt.
Wollen wir hoffen, dass sich bei Lars mit einer Gabe von Kontrastmittel in den Darm die Invagination löst.“
„Können Sie uns sagen, was eine Invagination ist?“
„Ja, natürlich. Das ist eine Einstülpung des Darmes, die man häufig mit einem Kontrastmittel lösen kann. Damit löst sich auch die Verstopfung, die damit einhergeht.
Ich werde einen Krankenwagen bestellen, damit Sie mit Lars gleich in die richtigen Hände kommen und nicht irgendwo auf dem Flur warten müssen.“
„Danke“, sagten die Eltern und warteten auf den Krankenwagen. „Ich glaube, es ist am besten, wenn du mit Lars in die Klinik fährst“, sagte Josua zu seiner Frau. „Ich schaue zu Hause nach dem Rechten, und wenn du etwas brauchst, ruf an. Wir werden es dir bringen.“
Der Krankenwagen kam. Josua legte seinem Sohn segnend eine Hand auf die Stirn, beugte sich zu ihm und gab ihm einen Kuss. „Wir passen auf dich auf, mein Junge, und Gott wird dir seine Engel schicken, dass sie dich behüten auf deinem Weg.“ Er streichelte ihm noch einmal die Wange und gab seiner Frau einen Kuss, bevor der Krankenwagen losfuhr.
Die Ärzte und das Pflegepersonal kümmerten sich bei der Ankunft in der Kinderklinik sehr fürsorglich um Kind und Mutter. Susanne durfte bei ihrem Sohn bleiben.
Als alle Untersuchungen gemacht waren, kam der behandelnde Arzt zu ihr. „Wir werden es mit dem Kontrastmittel versuchen, aber es sieht nicht gut aus. Wahrscheinlich müssen wir Lars ein kleines Stück vom Darm entfernen.
Sie müssen sich aber keine Sorgen machen. Es ist kein ungewöhnlicher Eingriff, und Lars wird sich schnell davon erholen. Wir werden jetzt gleich mit dem Kontrastmittel beginnen, und wenn es nicht zum Erfolg führt, werden wir ihn morgen Vormittag operieren.“ Susanne saß an diesem Abend noch lange am Bett ihres Sohnes. Sie betete und hoffte und tröstete Lars. „Ich werde bei dir bleiben, und morgen sehen wir, was die Ärzte sagen.“
Josua brachte seiner Frau die notwendigen Dinge, um im Krankenhaus zu übernachten.
Am nächsten Morgen kam die Visite und erklärte, dass Lars nicht an einer Operation vorbeikäme. Der Arzt hatte einen wunderbaren Zugang zu seinem kleinen Patienten. Als Lars ihn mit fragenden Augen anschaute, sagte er: „Du brauchst keine Angst zu haben. Du wirst schlafen, und wenn du wieder aufwachst, ist deine Mama da und alles ist vorüber.“ Dabei strahlte er seinen kleinen Patienten an
Bevor Lars krank wurde, war Essen für ihn das Wichtigste gewesen. Er mochte alles und möglichst viel. Es war nicht immer leicht, ihn zu bremsen. Aber weil er wie seine Geschwister ein Bewegungstyp war, nahm er nicht über das normale Maß zu. Er liebte Schokoküsse, mit nichts konnte man ihm eine größere Freude machen. Seine Lust am Essen würde mit seinem Darmverschluss zu einem tiefsitzenden Problem für seine Zukunft werden.
Die Operation verlief gut. Alle waren zufrieden und Susanne war glücklich. Der behandelnde Arzt sagte bei der Visite, dass Lars drei bis fünf Tage im Krankenhaus bleiben müsse, bis er wieder nach Hause dürfe.
Aber schon am zweiten Tag nach der OP traten Komplikationen auf. Lars bekam hohes Fieber. Alle waren in Aufregung. Der Darm arbeitete nicht wie er sollte und war entzündet.
Lars ging es von Tag zu Tag schlechter. Susanne rief ihre Freunde von der Gemeinde an und bat sie, für Lars zu beten. Die Ärzte und das Pflegepersonal taten, was sie konnten. Man hatte Lars inzwischen auf die Intensivstation verlegt, wo er an diverse Instrumente angeschlossen wurde.
Die Eltern wechselten sich ab, um bei ihrem Kind zu sein. Wann immer er die Augen aufmachte, sah er seine Mutter oder seinen Vater. Josua summte und manchmal sang er auch ganz leise ein Lied aus den Psalmen: „Der Herr hat seinen Engeln befohlen, dass sie dich behüten auf allen deinen Wegen, dass sie dich auf den Händen tragen und du deinen Fuß nicht an einen Stein stoßest.“1
Plötzlich ertönte ein Dauerton aus den Instrumenten. Sofort kam eine Pflegerin und bat Josua, draußen zu warten. Dann kam der Arzt.
Es dauerte eine ganze Stunde, bis Josua wieder zu seinem Sohn durfte.
„Was ist passiert?“, fragte er den Arzt.
„Lars‘ Blutdruck ging plötzlich in die Höhe. Wir können uns das nicht erklären, haben ihn aber jetzt wieder auf ein normales Niveau gebracht.
Es ist gut, dass Sie hier sind. Für den Jungen ist es ganz wichtig, dass er seine Eltern sieht, wenn er wach ist.
Wir werden alles tun, dass Lars wieder gesund wird.“
„Danke“, sagte Josua Kohn und ging wieder an das Bett seines Sohnes. Es dauerte ganze vierzehn Tage, bis sich das Auf und Ab des Zustandes von Lars beruhigte. Nach drei Wochen des Kampfes um sein Leben konnte er die Klinik verlassen.
Als Josua mit ihm nach Hause kam, sagte er zu seiner Frau: „Wir haben ihn noch einmal geschenkt bekommen. Und Gott hat es wahr gemacht. Er hat Lars durch das tiefste Tal seines jungen Lebens begleitet. Ich wünsche ihm so sehr, dass er das eines Tages sehen kann, dass Gott sein guter Hirte ist.“
Der Abschied von der Klinik war etwas Besonderes gewesen. Die Ärzte und das Pflegepersonal hatten den kleinen Patienten ins Herz geschlossen. Lars hatte alle umarmt und angestrahlt. Dann hatte er seine wichtigste Frage gestellt. „Bekomme ich jetzt endlich einen Schokokuss?“
***
Die warme Hand, die Timo auf seiner Schulter spürte, hatte ihm die Kraft für den Sprung genommen.
„Wie heißt du?“, fragte Tobias ihn.
Mit dieser Frage hatte Timo nicht gerechnet. Langsam stieg er auf die Brücke zurück. Vor ihm stand jemand, der sich für ihn interessierte und ihm volle Aufmerksamkeit schenkte. Die Ausstrahlung des Unbekannten war liebevoll, gewinnend und holte ihn irgendwie zurück ins Leben. Der fremde Mann berührte ihn tief in seiner Seele, wo Timo den größten Schmerz empfand.
„Ich heiße Timo.“
„Ich freue mich, dich kennenzulernen. Komm, lass uns gehen“, sagte Tobias.
Wie in Trance war Timo vom Brückengeländer zurück ins Leben geklettert und lief dem Fremden auf der Loschwitzer Brücke, die damals, als sie im späten 19. Jahrhundert gebaut wurde, den Namen „Das Blaue Wunder“ bekommen hatte, hinterher. Sie gingen über den Loschwitzer Wiesenweg, bis sie schließlich zum Körnerweg kamen und in Richtung Innenstadt liefen. Keiner sagte etwas.
Erst als sie im Café Os2 einen freien Tisch fanden und sich einander gegenübersaßen, entwickelte sich ein Gespräch.
„Wer sind Sie?“, fragte Timo. „Wieso waren Sie plötzlich auf der Brücke und haben mich aufgehalten?“
„Ich bin manchmal zum richtigen Zeitpunkt an der richtigen Stelle.“ Tobias schaute Timo an. „Können wir beim Du bleiben? Das macht es leichter, miteinander zu sprechen.“
„Gerne“, kam es aus Timos einsamer Seele hervor.
Tobias schaute über den Weg, den sie gegangen waren, hin zu den weiten Wiesen am anderen Ufer der Elbe. Dann wandte er seinen Blick wieder Timo zu und fragte: „Warum will ein junger Mann wie du, der dazu noch intelligent und gut aussieht, seinem Leben ein Ende setzen?“
Timo saß mit dem Rücken zur Elbe und konnte den vorbeifahrenden Raddampfer Leipzig nicht sehen. Interessierte ihn auch nicht. Er versenkte den Blick in seiner Kaffeetasse, während er an sein bisheriges Leben dachte, das ihn immer wieder von den Menschen isoliert hatte. Mühsam versuchte er, Tobias die innere Flucht auf seine einsame Insel zu erklären, und wie er sich dabei fühlte.
Tobias ließ ihm Zeit zu reden, und erst als er spürte, dass Timo auf eine Antwort wartete, sagte er sanft: „Ich glaube, du bist zu lange auf deiner Insel gewesen, von der du den Weg zum Festland nicht zurückfindest.“
Timo schaute hoch und fragte ihn: „Wie meinst du das?“
Sie wurden von dem Kellner unterbrochen, der fragte, ob sie weitere Wünsche hätten. Auf der Elbe zog ein langer Lastkahn gegen den Strom. Zwei kleine Motorboote kamen aus dem Loschwitzer Hafen. Sie zogen eine beträchtliche Welle hinter sich her, die sich am Ufer brach. Die Luft roch angenehm nach Frühling, Wasser und Sonne. Radfahrer auf ihren E-Bikes waren bei dem schönen Wetter unterwegs. Sie achteten nicht auf die beiden Männer im Café.
„Menschen wie du, Timo, ziehen sich gerne auf eine innere Insel zurück. Wenn der Rückzug zu lange dauert, verlieren sie den Anschluss an die Realität des Alltags. Darum habe ich gesagt, dass du zu lange auf deiner Insel warst.
Mich interessiert dein Leben. Was du bisher gemacht hast.“
Timo begann seine Geschichte zu erzählen.
„Ich bin in einem guten Elternhaus aufgewachsen. Die Schusterwerkstatt meines Vaters am Rand der Altstadt war – und ist es bis heute, ein Treffpunkt von Freunden und Kunden. Mein Vater, ein sehr ruhiger Mann, ist nicht nur Schuhmachermeister, er ist auch Philosoph und ein gläubiger Mann.
Er hat nie eine Uni von innen gesehen. Nur einmal, als ich meinen Masterabschluss gemacht habe, kam er mit meiner Mutter und meinen drei Geschwistern nach München, um bei der Feier dabei zu sein. Ich glaube, er hat sich nicht wirklich für den Inhalt meines Studiums der Astrophysik interessiert. Er wollte mir durch sein Erscheinen seine Liebe und Wertschätzung zeigen.
Ich hatte wenige Freunde. Einige von ihnen schienen mir zu seicht, nicht wirklich reflektiert, und so verlor ich nach einer gewissen Zeit alle, die Freunde hätten werden können. Ich mag meine Geschwister, aber sie langweilen sich, wenn ich über die Dinge spreche, die mich interessieren. Ich interessiere mich für alles, was sie tun, aber scheinbar bin ich für sie zu kompliziert. Nach außen hin schien alles okay, aber ich bekam mehr und mehr den Eindruck, dass zwischen uns ein leerer Raum entstand, den keiner von uns füllen konnte. Diese innere Leere nahm beständig zu. Ich sah nur eine Möglichkeit sie zu füllen, indem ich noch mehr Wissen anhäufte, was mir gut gelang.
Durch den guten Abschluss meines Masterstudiums in Astrophysik, bekam ich ein Stipendium für die Universität von Oxford, an der ich den DPhil mit summa cum laude abgeschlossen habe. Mir ist alles gelungen, was ich studiert habe. Es fällt mir leicht, Zusammenhänge zu erkennen. Mit dieser Fähigkeit kann ich allem einen Sinn abgewinnen. Nur quält mich dabei seit Jahren diese große Leere, der ich inzwischen einen Namen geben konnte: Einsamkeit. Mit dem Sprung ins Wasser wollte ich ihr entkommen. Jetzt sitze ich hier mit einem fremden Mann, trinke einen Cappuccino und weiß nicht warum.
Ich bin ein Beobachter, habe aber nicht wirklich am Leben teilgenommen. Selbst wenn ich es versuchen wollte, ist es mir nicht gelungen, der Leere in mir zu entkommen. Ich fühle mich, was Beziehungen betrifft, als jemand, der am Rande steht. Meine Versuche, ein Gefühl zu entwickeln dazuzugehören, sind gescheitert. Ich finde keinen Zugang zu meinen Mitmenschen, weil ich lieber verstehen will, was gerade abgeht. Wenn ich es verstanden habe, ist es zu spät, mittendrin zu sein.
Du siehst, Tobias, ich analysiere nicht nur die anderen. Auch meine Situation habe ich reichlich reflektiert. Meine Geschwister empfinden meine Schweigsamkeit irritierend, weil sie damit rechnen, dass ich ihnen ganz am Schluss des Gespräches noch einen Vortrag halte, den sie aber nicht hören wollen. Früher fand ich sie alle viel zu oberflächlich. Erst viele Jahre später habe ich erkannt, dass ich sie mit meinen Abhandlungen gelangweilt habe. Ich habe damit mein Bedürfnis mich mitzuteilen befriedigt, die Bedürfnisse meiner Geschwister aber ignoriert. Noch schlimmer, ich habe nicht einmal danach gefragt, wie sie sich in dieser Situation fühlen. Die einzigen, die mein Wissen schätzten, waren meine Professoren und Kollegen. Aber mit keinem von ihnen habe ich jemals eine tiefere Beziehung aufbauen können.“
„Ich will dich ungern unterbrechen“, sagte Tobias, „aber vielleicht kann ich hier etwas dazu beitragen, was dir hilft.“
„Ja, gerne. Aber eigentlich wüsste ich auch gerne etwas über dich. Wo kommst du her? Was machst du? Warum bist du hier in Dresden?“
Tobias erzählte Timo seine Geschichte. Er kam aus Stuttgart und war Kriminologe. Vorher, in seiner Zeit als Fahnder und Ermittler, war er Kriminalist gewesen. Da er aber ein hervorragendes Gefühl für Zusammenhänge hatte, hatte er noch einmal Kriminologie studiert. Heute analysierte er die Ursachen und Auswirkungen kriminellen Verhaltens in der Gesellschaft und arbeitete im Landeskriminalamt in Stuttgart.
„Du siehst Timo, ich weiß, wovon du sprichst. Ich verstehe dich sehr gut. So wie du bin auch ich ein guter Beobachter. Du bist kein Jäger, aber ein Sammler von Informationen und speicherst sie in deinem Inneren. Deine Akribie, die Einzelinformationen zu analysieren und zu verstehen, bergen eine Gefahr in sich. Sie haben die Tendenz, dich vom wirklichen Leben abzuspalten. Ich glaube, dass dies ein Grund deiner Einsamkeit ist. Immer dann, wenn du dich zurückziehst, befindest du dich auf der Insel deiner Privatsphäre. Dort versuchst du, mit deiner Einsamkeit fertig zu werden.
Wie mir scheint, kanntest du bisher nur den Rückzug in deine eigene, innere Welt. Wahrscheinlich hast du dabei übersehen, dass das eigentliche Leben aus guten Beziehungen besteht. Die Interaktion mit anderen Menschen bereichert nicht nur unser Leben, sie ist das Leben.
Beim Fußballspiel hättest du das alles lernen können. Da geht es um Tore, die man mit der eigenen Mannschaft schießen will. Keiner kann das allein. Es braucht die Stürmer und die Verteidiger und es braucht den Torwart. Jeder braucht jeden. So lernt man Teamgeist und zugleich Fairness dem Gegner gegenüber.“
***
Anna hatte wenig Freunde. Sie war begabt, ihr Bruder war ihr Vorbild, der sein Studium scheinbar ganz nebenbei erfolgreich abgeschlossen hatte und nun auch noch den Doktortitel trug. Das wollte sie auch. Unbedingt!
Dass sie heute in einem für sie exklusiven Studentenappartement leben durfte, hatte sie dem Stipendium einer Stiftung zu verdanken, die ihr aufgrund ihrer überdurchschnittlichen Leistungen und ihres gewählten Studiengangs ihr Leben hier in Berlin ermöglicht hatte. In ihrem hellen Zimmer mit Balkon, kleinem Badezimmer und einer eigenen kleinen Küche, fühlte sie sich wie eine Königin in ihrem Palast.
Das einzige Möbelstück, das sie aus ihrem Zimmer in Dresden mitgebracht hatte, war ihr Relax-Sessel. Den hatte sie so positioniert, dass sie aus der Balkontür „ins Weite“ schauen konnte. Die Weite bestand aus der Sicht auf ein darunterliegendes Dach, einem etwas neueren Wohnblock und einer verwitterten Hauswand. Aber ein paar Bäume, die auch da waren, gaben ihr das Gefühl, nicht nur von Beton und Dachziegeln umgeben zu sein.
Einerseits war Anna glücklich und dankbar. Aber andererseits hatte sie dieses Problem und wusste noch nicht, wie sie es beseitigen sollte. Sie hatte immer wieder alles zum Gebet gemacht und war sich sicher, dass Jesus ihre Gebete erhört hat. Sie musste einen Weg finden, ihre charakterlichen Schwierigkeiten zu bearbeiten oder sie ganz aus ihrem Leben zu eliminieren.
Jetzt saß sie in ihrem Relax-Sessel und dankte Gott für seinen Beistand im Grunewald. Er hatte ihr die Begabung der Schnelligkeit und Intelligenz geschenkt. Aber ganz tief in ihrem Herzen wollte sie die Menschen nicht durch ihre Begabungen beeindrucken, sondern vielmehr so leben, dass man ihr das Glück aus der Beziehung mit Jesus ansehen konnten. Das nahmen die Leute allerdings nicht wahr, und sie wusste, dass es mit dem zu tun hatte, was sie ausstrahlte.
Anna hatte ihren Bachelor in Computer Engineering hinter sich. Wie ihr Bruder hatte sie in der Gesamtnote eine eins. Jetzt bereitete sie sich auf ihre Masterarbeit vor.
Mit dem Master in Computer Engineering wollte sie sich für eine wissenschaftlich orientierte Ingenieurtätigkeit im Bereich des Computer Engineering beziehungsweise der Technischen Informatik qualifizieren. Den Schwerpunkt hatte sie auf die Entwicklung von Hard- und Software-Systemen gelegt. Sie freute sich auf die Möglichkeit, sich damit einen Einblick zum aktuellen Stand der Forschung zu verschaffen. Ihr Ziel war es, eine anspruchsvolle Tätigkeit in der Wissenschaft zu bekommen. Deshalb hatte sie sich frühzeitig bei der Heinrich-Böll-Stiftung erkundigt, ob sie eventuell ein Stipendium für ihre Promotion bekommen würde. Aber so weit war es noch nicht.
Anna saß in ihrem Relax-Sessel und überlegte, wie sie den Rest des Tages entspannt verbringen könnte.
Sie stand auf und schob das schon unzählige Male gehörte „The Köln Concert“ von Keith Jarrett in den CD-Player ein. Es ist das erfolgreichste Soloalbum der Jazz-Geschichte. Anna liebte Jazz, und Keith Jarrett machte eine Musik, die auch Nicht-Liebhaber des Jazz faszinierte. Immer wenn Anna Unruhe in sich fühlte, unkonzentriert war oder nicht mehr wusste, was sie als Nächstes tun sollte, verschmolz sie mit dieser Musik.
Nach einer halben Stunde stand sie auf und fuhr in ihre Lieblingskneipe. Um die Spannung des Tagesereignisses abzubauen, nahm sie ihr Fahrrad und fuhr zum Lotte-Lenya-Bogen.
The Hat lag unter den Hochgleisen der S-Bahn. Anna kannte einen guten Platz für ihr Fahrrad, schloss es ab und ging hinein.