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Beschreibung

Wegweisende Empfehlungen für interprofessionelle evidenzbasierte Maßnahmen Viele an Demenz erkrankte Personen entwickeln neben den kognitiven Beeinträchtigungen auch psychiatrische Symptome, welche unter dem Oberbegriff BPSD zusammengefasst sind. Verhaltensbezogene und psychische Symptome können von funktionellen Veränderungen im Zusammenhang mit der Demenz herrühren:  - Verminderte Hemmung der unangemessenen Verhaltensweisen (z.B. Entkleiden an öffentlichen Orten), - Depression, Affektlabilität, Reizbarkeit, psychotische Symptome (z. B. Wahn, Halluzinationen),  - psychomotorische Symptome (z. B. Bewegungsdrang, Agitation, Aggressivität, Apathie)  - vegetative und zirkadiane Störungen, welche sich oft als Tagesschläfrigkeit kombiniert mit nächtlicher Unruhe manifestieren. Der zunehmende Unterstützungsbedarf stellt auch für Betreuende eine enorme Belastung dar. Diese Empfehlungen sind das Resultat einer interdisziplinären Zusammenarbeit und sollen dabei helfen, die Vielfalt von Symptomen und Therapieansätzen zu verstehen und mit ihnen umzugehen. Der Fokus liegt hierbei auf Diagnostik und Therapie, mit Schwerpunkt auf nicht-pharmakologische Ansätze. Das Manual bietet damit einen umfassenden Einblick in die evidenzbasierten Interventionsmöglichkeiten für eine hochkomplexe und vulnerable Patientengruppe.  Es dient als wertvolles Instrument für Fachkräfte aus verschiedenen Bereichen, um den aktuellen Stand der Behandlung von Verhaltens- und psychischen Symptomen bei Demenz darzustellen und die interprofessionelle Zusammenarbeit zu fördern und die Versorgung älterer Menschen mit psychischen Erkrankungen zu verbessern.

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Egemen Savaskan

Dan Georgescu

Franziska Zúñiga

(Hrsg.)

Behaviorale und psychische Symptome der Demenz (BPSD)

Empfehlungen zur Diagnostik und Therapie

Unter Mitarbeit von

Sonja Baumann

Stefanie Becker

Brigitte Benkert

Andreas Blessing

Markus Bürge

Ansgar Felbecker

Dan Georgescu

Martin Hatzinger

Ulrich Michael Hemmeter

Therese Hirsbrunner

Stefan Klöppel

Gabriela Latour Erlinger

Finn Lornsen

Theofanis Ngamsri

Jessica Peter

Egemen Savasakan

Mathias Schlögl

Marc Sollberger

Henk Verloo

Samuel Vögeli

Franziska Zúñiga

Behaviorale und psychische Symptome der Demenz (BPSD)

Egemen Savaskan, Dan Georgescu, Franziska Zúñiga (Hrsg.)

Programmbereich Psychiatrie und Psychotherapie

Prof. Dr. med. Egemen Savaskan

Klinik für Alterspsychiatrie

Psychiatrische Universitätsklinik Zürich

Minervastrasse 145

CH-8032 Zürich

E-Mail: [email protected]

Dr. med. Dan Georgescu

Klinik für Konsiliar-, Alters- und Neuropsychiatrie

Psychiatrische Dienste Aargau AG

Königsfelderstr. 1

CH-5210 Windisch

E-Mail: [email protected]

Prof. Dr. Franziska Zúňiga, PhD, RN

Pflegewissenschaft – Nursing Science

Departement Public Health, Universität Basel

Bernoullistr. 28

CH-4056 Basel

E-Mail: [email protected]

Wichtiger Hinweis: Der Verlag hat gemeinsam mit den Autoren bzw. den Herausgebern große Mühe darauf verwandt, dass alle in diesem Buch enthaltenen Informationen (Programme, Verfahren, Mengen, Dosierungen, Applikationen, Internetlinks etc.) entsprechend dem Wissensstand bei Fertigstellung des Werkes abgedruckt oder in digitaler Form wiedergegeben wurden. Trotz sorgfältiger Manuskriptherstellung und Korrektur des Satzes und der digitalen Produkte können Fehler nicht ganz ausgeschlossen werden. Autoren bzw. Herausgeber und Verlag übernehmen infolgedessen keine Verantwortung und keine daraus folgende oder sonstige Haftung, die auf irgendeine Art aus der Benutzung der in dem Werk enthaltenen Informationen oder Teilen davon entsteht. Geschützte Warennamen (Warenzeichen) werden nicht besonders kenntlich gemacht. Aus dem Fehlen eines solchen Hinweises kann also nicht geschlossen werden, dass es sich um einen freien Warennamen handelt. Der Verlag weist ausdrücklich darauf hin, dass im Text enthaltene externe Links vom Verlag nur bis zum Zeitpunkt des Redaktionsschlusses eingesehen werden konnten. Auf spätere Veränderungen hat der Verlag keinerlei Einfluss. Eine Haftung des Verlags ist daher ausgeschlossen.

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Hogrefe AG

Lektorat Medizin/Psychiatrie

Länggass-Strasse 76

3012 Bern

Schweiz

Tel. +41 31 300 45 00

[email protected]

www.hogrefe.ch

Lektorat: Susanne Ristea

Bearbeitung: Tobias Gaudin, Gießen

Herstellung: Daniel Berger

Umschlagabbildung: Morsa Images, GettyImages.com

Umschlag: Daniel Berger

Satz: Claudia Wild, Konstanz

Format: EPUB

1. Auflage 2024

© 2024 Hogrefe Verlag, Bern

(E-Book-ISBN_PDF 978-3-456-96337-2)

(E-Book-ISBN_EPUB 978-3-456-76337-8)

ISBN 978-3-456-86337-5

https://doi.org/10.1024/86337-000

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Zitierfähigkeit: Dieses EPUB beinhaltet Seitenzahlen zwischen senkrechten Strichen (Beispiel: |1|), die den Seitenzahlen der gedruckten Ausgabe und des E-Books im PDF-Format entsprechen.

Inhaltsverzeichnis

Vorwort

1 EinführungDan Georgescu

1.1 BPSD und ihre Folgen für Menschen mit Demenz und ihre Betreuer

1.2 Methodik der Entwicklung der Therapieempfehlungen

1.3 Besondere Herausforderung Psychopharmakotherapie

1.4 Nutzen der Therapieempfehlungen

2 Klinik und EpidemiologieEgemen Savaskan

3 Multimorbidität/Frailty und BPSDMarkus Bürge

4 Pathogenetische Faktoren

4.1 Neurobiologische GrundlagenMarc Sollberger, Martin Hatzinger, Stefan Klöppel

4.1.1 Neurobiologie der Depression

4.1.2 Neurobiologie der Apathie

4.1.3 Neurobiologie der Agitiertheit

4.1.4 Neurobiologie der Psychose

4.1.5 Neurobiologie der Schlafstörungen

4.2 Psychosoziale FaktorenSamuel Vögeli, Brigitte Benkert, Therese Hirsbrunner, Franziska Zúñiga

4.2.1 Innerpsychische Faktoren

4.2.2 Umgebungsfaktoren

4.2.3 Soziale Umgebungsfaktoren

4.2.4 Physische Umgebungsfaktoren

4.3 Andere FaktorenEgemen Savaskan

5 Interprofessionelle und interdisziplinäre Zusammenarbeit als Basis der Diagnostik und BehandlungFranziska Zúñiga, Stefanie Becker, Dan Georgescu

5.1 Interprofessioneller Ansatz in Diagnostik und Behandlung der BPSD

5.2 Förderung der interprofessionellen Zusammenarbeit

6 Ganzheitliche Ansätze und strukturiertes Vorgehen im BPSD-ManagementSamuel Vögeli, Brigitte Benkert, Therese Hirsbrunner, Sonja Baumann, Henk Verloo, Franziska Zúñiga

6.1 Personzentrierter Ansatz

6.2 Eden-Alternative und Green House Model

6.3 Der Montessori-Ansatz für Aktivitätsprogramme mit Menschen mit Demenz und BPSDBrigitte Benkert, Samuel Vögeli, Sonja Baumann, Therese Hirsbrunner, Henk Verloo, Franziska Zúñiga

6.4 Weitere ganzheitliche Ansätze

6.5 Strukturiertes Vorgehen bei BPSD

6.5.1 Serial Trial Intervention (STI)

6.5.2 Verstehende Diagnostik

6.5.3 TIME

6.5.4 DICE

6.5.5 BPSD-DATE

7 Multimodales Assessment

7.1 Psychopathologische und neuropsychologische AssessmentsGabriela Latour, Dan Georgescu, Marc Sollberger

7.1.1 Instrumente zur globalen Erfassung von BPSD

7.1.2 Instrumente zur fokalen Erfassung von BPSD

7.1.3 Prozessinstrumente mit Interventionsalgorithmus

7.2 DifferenzialdiagnostikEgemen Savaskan, Dan Georgescu, Ansgar Felbecker

7.2.1 Differenzialdiagnose zum Delir

7.2.2 Differenzialdiagnose zur Altersdepression

8 Psychosoziale Maßnahmen in der Pflege

8.1 Maßnahmen zur Befähigung von TeamsSonja Baumann, Brigitte Benkert, Samuel Vögeli, Therese Hirsbrunner, Franziska Zúñiga

8.1.1 Schulungen

8.1.2 Pflege-, Betreuungs-, Behandlungsplanungen und Fallbesprechungen

8.1.3 Maßnahmen bei Angehörigen und Familien

8.2 Maßnahmen bei BetroffenenBrigitte Benkert, Samuel Vögeli, Therese Hirsbrunner, Sonja Baumann, Henk Verloo, Franziska Zúñiga

8.2.1 Sensorisch orientierte MaßnahmenBrigitte Benkert, Samuel Vögeli, Therese Hirsbrunner, Henk Verloo, Franziska Zúñiga

8.2.2 Kognitionsorientierte MaßnahmenBrigitte Benkert, Samuel Vögeli, Sonja Baumann, Therese Hirsbrunner, Henk Verloo, Franziska Zúñiga

8.2.3 Bewegungsorientierte MaßnahmenBrigitte Benkert, Samuel Vögeli, Sonja Baumann, Therese Hirsbrunner, Henk Verloo, Franziska Zúñiga

8.3 Ebene UmgebungSamuel Vögeli, Brigitte Benkert, Therese Hirsbrunner, Sonja Baumann, Franziska Zúñiga

8.4 Umgang mit spezifischen Verhaltensweisen

8.4.1 Umgang mit AggressionenSamuel Vögeli, Brigitte Benkert, Sonja Baumann, Therese Hirsbrunner, Franziska Zúñiga

8.4.2 Umgang mit sexueller Enthemmung und unangemessenem sexuellem VerhaltenBrigitte Benkert, Samuel Vögeli, Therese Hirsbrunner, Sonja Baumann, Franziska Zúñiga

8.4.3 Umgang mit unangemessener (disruptiver, persistierender) VokalisationTherese Hirsbrunner, Brigitte Benkert, Sonja Baumann, Franziska Zúñiga

8.5 Kognitionsstabilisierende Therapien Gabriela Latour Erlinger, Stefanie Becker

8.5.1 Kognitive Stimulation

8.5.2 Reminiszenztherapie

8.5.3 Realitätsorientrierungstherapie

8.6 Spezifische nicht pharmakologische Therapien: psychotherapeutische Verfahren Jessica Peter, Andreas Blessing

8.7 Spezialtherapeutische AngeboteEgemen Savaskan, Stefanie Becker

8.7.1 Musiktherapie

8.7.2 Kunsttherapie

8.7.3 Aktivierungstherapie/Ergotherapie

8.7.4 Tiergestützte Therapien

8.7.5 Akupunktur, Akupressur

8.7.6 Körperliche Aktivität und SportTheofanis Ngamsri, Ulrich Hemmeter

8.8 Entwicklungsprozesse in GesundheitsorganisationenTherese Hirsbrunner

8.8.1 i-PARIHS – ein Bezugsrahmen für die erfolgreiche Implementierung von Wissen in die Praxis

8.8.2 Praxisentwicklung

9 Pharmakologische Therapie

9.1 Grundsätze der psychopharmakologischen TherapieEgemen Savaskan

9.2 AntidementivaEgemen Savaskan

9.3 Antidepressiva Martin Hatzinger

9.3.1 Trizyklische Antidepressiva

9.3.2 Selektive Serotonin-Wiederaufnahmehemmer (SSRI)

9.3.3 Citalopram/Escitalopram

9.3.4 Sertralin

9.3.5 Fluoxetin

9.3.6 Reversible Monoaminoxidase(MAO)-Hemmer

9.3.7 Andere Antidepressiva

9.4 AntipsychotikaUlrich M. Hemmeter, Egemen Savaskan

9.4.1 Wirkeffizienz

9.4.2 Nebenwirkungen/unerwünschte Wirkungen

9.4.3 Vorgehensweise beim Einsatz der Antipsychotika

9.5 Benzodiazepine, Benzodiazepin-analoge HypnotikaFinn Jakob Lornsen, Egemen Savaskan

9.6 Hypnotisch wirksame SubstanzenUlrich M. Hemmeter

9.6.1 Antidepressiva und Antipsychotika

9.6.2 Melatonin, Melatoninagonist Circadin

9.6.3 Chloralhydrat

9.6.4 Diphenhydramin, Doxylamin, Promethazin

9.6.5 Clomethiazol/syn. Chlormethiazol

9.6.6 Pregabalin und Gabapentin

9.6.7 Orexin-Rezeptor-Antagonist Daridorexant

9.6.8 Phytotherapeutika/Baldrian

9.7 Antikonvulsiva und PhasenprophylaktikaFinn Jakob Lornsen

9.7.1 Carbamazepin

9.7.2 Oxcarbazepin

9.7.3 Valproat

9.7.4 Gabapentin und Preagabalin

9.7.5 Lamotrigin

9.7.6 Lithium (Lithiumsalzderivate)

9.7.7 Topiramat

9.7.8 Levetiracetam

9.7.9 Neuere Antikonvulsiva (Perampanel, Lacosamid und Brivaracetam)

9.7.10 Spezielle Aspekte

9.8 AnalgetikaEgemen Savaskan

10 Biologische Verfahren

10.1 LichttherapieUlrich M. Hemmeter

10.2 Schlafentzug/WachtherapieUlrich M. Hemmeter

10.3 ElektrokrampftherapieEgemen Savaskan

10.4 Repetitive transkranielle MagnetstimulationEgemen Savaskan

11 BPSD und KommunikationMathias Schlögl

11.1 Veränderungen der verbalen Kommunikationsfähigkeit

11.1.1 Wortfindungsstörungen

11.1.2 Abnehmende Verstehensfähigkeit

11.2 Disruptive Vokalisationen im Rahmen einer Demenzerkrankung

11.3 Praktische Anwendung von Kommunikationsstrategien

11.3.1 Validierte Verfahren

11.3.2 Kommunikationstraining für Pflegekräfte

11.3.3 Telemedizin

11.3.4 Kommunikation mit/hinter einer Maske

11.4 Schlussfolgerungen

12 BPSD-Algorithmus

Autoren- und Autorinnenverzeichnis

Übersicht der genannten Fachgesellschaften mitwirkender Autoren und Autorinnen

Sachwortverzeichnis

|11|Vorwort

Die Entwicklung von „Empfehlungen“ in der Alterspsychiatrie, die Standards in der Diagnostik und Therapie festlegen sowie die evidenzbasierten Interventionsmöglichkeiten zusammenfassen, aber auch diejenigen Interventionsoptionen berücksichtigen, wo nicht ausreichend Evidenz besteht, wurde unter der Federführung der Schweizerischen Gesellschaft für Alterspsychiatrie und -psychotherapie (SGAP) parallel zur Nationalen Demenzstrategie der Schweiz (NDS, 2014–2019) vorangetrieben. Die NDS bildete die Basis für viele Projekte und Vernetzungsarbeit, die aktuell fortgesetzt werden. Diesen Ansatz nutzte die SGAP, indem sie verschiedene Empfehlungen für die wichtigsten Diagnosen in der Alterspsychiatrie erarbeitete, z. B. für Depression, Delir, Abhängigkeitserkrankungen und Psychosen im Alter, um für den klinischen Alltag relevante Informationen über die Möglichkeiten der Prävention, Diagnostik und Therapie zur Verfügung zu stellen und die Fachentwicklung voranzutreiben.

Die „Empfehlungen zur Diagnostik und Therapie der behavioralen und psychischen Symptome der Demenz (BPSD)“ war die erste Veröffentlichung in dieser Reihe und wurde 2014 in Kurzform als Artikel publiziert. Die vollständige Langversion dieser Empfehlungen ist auf der Webseite der SGAP (https://sgap-sppa.ch) einsehbar, wurde aber nicht – wie die später erschienenen Empfehlungen – als Manual herausgegeben. Mit der vorliegenden revidierten Fassung der BPSD-Empfehlungen soll dies jetzt nachgeholt werden. Zudem soll die Revision neuere Erkenntnisse und Entwicklungen berücksichtigen und integrieren.

Die Empfehlungen der SGAP wie auch das vorliegende Manual sind stets interdisziplinär und interprofessionell entstanden, was dem grundlegenden Prinzip der alterspsychiatrischen und altersmedizinischen Arbeit entspricht. Es ist ein wichtiges Anliegen der Empfehlungen, integrativ vorzugehen, um den hochkomplexen klinischen und psychosozialen Bedürfnissen älterer Menschen gerecht zu werden. Auch bei der aktuellen Revision der BPSD-Empfehlungen haben neben den Expertinnen und Experten der SGAP Vertreter und Vertreterinnen der Schweizerischen Gesellschaft für Geriatrie (SFGG), der Schweizerischen Neurologischen Gesellschaft (SNG), des Schweizer Berufsverbands der Pflegefachfrauen und Pflegefachmänner (SBK), der Fachgesellschaften für psychiatrische und gerontologische Pflege des Schweizerischen Vereins für Pflegewissenschaft (VfP) sowie der Alzheimer Schweiz mitgewirkt. Das Manual geht bewusst auf unterschiedliche Aspekte der alterspsychiatrischen Diagnostik und Therapie ein und versucht, die Probleme im Zusammenhang mit BPSD berufsgruppenübergreifend zu diskutieren.

Weitere wichtige Ziele der BPSD-Empfehlungen sind es, die multimodale Diagnostik zu stärken und die nicht pharmakologischen Interventionsmöglichkeiten in den Vordergrund zu stellen. Die BPSD entstehen aufgrund von komplexen pathologischen Veränderungen bei einer hoch vulnerablen und multimorbiden Gruppe von älteren Menschen. (Psycho-)Pharmakotherapeutische Eingriffe können mit unerwünschten Nebenwirkungen einhergehen und müssen aufgrund der bestehenden wissen|12|schaftlichen Evidenz kritisch diskutiert werden. Für viele der nicht pharmakologischen Interventionen, mit welchen eine gute klinische Erfahrung besteht, sind keine oder wenige kontrollierte Studien vorhanden. Deswegen ist es wichtig, durch Abbildung und Diskussion der fundierten klinischen Erfahrung eine Basis für den klinischen Einsatz dieser Interventionsmöglichkeiten zu schaffen. Schließlich sollen die BPSD-Empfehlungen allen in der Betreuung und Behandlung der Demenzbetroffenen involvierten Personen helfen, diese Vielfalt von Symptomen und Therapieansätzen zu verstehen und damit umzugehen.

In der vorliegenden revidierten Fassung der BPSD-Empfehlungen wird der interprofessionelle Aspekt noch mehr verstärkt. Die Absicht der Autoren und Autorinnen ist es, mit dem Manual ein klinisch relevantes und nützliches Instrument für alle an der Behandlung und Betreuung beteiligten Berufsgruppen zu schaffen, um die komplexe Problematik der BPSD nach dem State of the Art darzustellen und die Interprofessionalität zu fördern.

Egemen Savaskan, Dan Georgescu und Franziska Zúñiga, April 2024

|13|1  Einführung

Dan Georgescu

Die erste Auflage der Therapieempfehlungen für die verhaltensbezogenen und psychischen Symptome der Demenz („behavioral and psychological symptoms of dementia“, BPSD) wurde 2014 veröffentlicht [1, 2]. In den darauffolgenden Jahren wurden weitere Guidelines zur Demenz entwickelt, wobei die Nationale Demenzstrategie der Schweiz 2014–2019 ein wichtiger Katalysator war für die Entwicklung von Konzepten und Standards für verschiedene Aspekte der Versorgung von Menschen mit Demenzerkrankungen [3–6]. Unter der Federführung der Schweizerischen Gesellschaft für Alterspsychiatrie und -psychotherapie (SGAP) wurden darüber hinaus in kurzer Folge auch weitere evidenzbasierte Empfehlungen zu alters- und neuropsychiatrischen Erkrankungen publiziert [7–14]. Besonders hervorzuheben ist, dass die Empfehlungen interdisziplinär und interprofessionell – teilweise auch unter Beteiligung der Patientenorganisationen – erarbeitet wurden. Dies widerspiegelt die Komplexität der Materie und die entsprechend vielfältigen Betrachtungs- und Herangehensweisen. Neben der Berücksichtigung der wissenschaftlichen Evidenz ist die Inklusion einer möglichst breiten Basis von Stakeholdern (verschiedene Professionen und Fachdisziplinen, Alzheimer Schweiz u. a.) Voraussetzung für eine hohe Ergebnisqualität. Nicht zuletzt waren die Diagnostik und/oder Behandlung der Demenz auch Gegenstand weiterer Empfehlungen mit Fokus auf Pflegeheimbetreuung [15–17] und hausärztliche Grundversorgung [18, 19] bzw. Health Technology Assessments (HTAs) im Auftrag des Bundesamts für Gesundheit und aus Perspektive des „health care payer“ [20, 21].

Diese konsequente Entwicklung von Guidelines der letzten Jahre ist Ausdruck der stets gestiegenen Anforderungen an die Behandlungsqualität. Guidelines ergänzen die weiteren Qualitätsstandards, -konzepte, -regulierungen und -strategien, die von verschiedenen Akteuren des Gesundheitswesens (Schweizerisches Institut für ärztliche Weiter- und Fortbildung [SIWF], kantonale Gesundheitsdirektionen, Spitalverband Hplus, SwissDRG, Nationaler Verein für Qualitätsentwicklung in Spitälern und Kliniken [ANQ] u. a.) im Rahmen von Messungen, Zulassungen, Anerkennungen oder Aufnahmen gefördert oder gefordert werden [22].

1.1  BPSD und ihre Folgen für Menschen mit Demenz und ihre Betreuer

Viele an Demenz erkrankte Personen entwickeln im Krankheitsverlauf neben den kognitiven Beeinträchtigungen auch neuropsychiatrische Symptome, welche unter dem Oberbegriff BPSD zusammengefasst sind. Dieses subsummierende Konzept und Akronym wurde von der International Psychogeriatric Association im Jahr 1996 eingeführt und von der American Psychiatric Association im Jahr 2000 im DSM-IV-TR aufgenommen. Zuvor wurden in der englischsprachigen Literatur zumeist Begriffe wie „neuropsychiatric symptoms“ oder „non-cognitive symptoms“ verwendet. Die ätiologisch |14|und phänomenologisch sehr heterogen zusammengesetzten BPSD umfassen affektive (z. B. Depression, Affektlabilität, Reizbarkeit), psychotische (z. B. Wahn, Halluzinationen) und psychomotorische Symptome (z. B. Bewegungsdrang, Agitation, Aggressivität, Apathie) sowie vegetative und zirkadiane Störungen, welche sich oft als Tagesschläfrigkeit kombiniert mit nächtlicher Unruhe manifestieren.

Die Entwicklung von BPSD – fast immer sind es mehrere Symptome – ist der Hauptfaktor für den schnelleren kognitiven Abbau [23] und die zunehmende Belastung der Betroffenen [24, 25] sowie die Verschlechterung ihrer Lebensqualität [26]. Der zunehmende Unterstützungsbedarf bei den Aktivitäten des täglichen Lebens [27], die Verhaltensstörungen und die Persönlichkeitsveränderungen machen den Hauptteil der erlebten Belastung der Betreuungspersonen aus [28–30]. Diese Belastungen führen bei den Betreuenden häufig zu psychischen Störungen, insbesondere zu Depressionen [29, 31, 32]. Sie sind hauptverantwortlich für den Verlust der Autonomie und für die Unterbringung in Pflege- oder Spitaleinrichtungen [33]. In der Schweiz sind dies hauptsächlich Demenzabteilungen in Pflegeheimen bzw. in alterspsychiatrischen Kliniken, vor allem dann, wenn Selbst- oder Fremdgefährdung im Vordergrund stehen.

Demzufolge richten sich vorliegende Guidelines in erster Linie an das Fachpersonal, welches im Demenzbereich tätig ist, darüber hinaus aber auch an weitere interessierte Kreise. Die alleinige Kenntnis der Empfehlungen reicht allerdings für deren Umsetzung nicht aus, daneben sollten die Institutionen noch weitere Bedingungen erfüllen. Die Klinik oder das Pflegeheim sollte über die dafür notwendige personelle Ausstattung hinsichtlich des Personalschlüssels und der Qualifikation der Mitarbeitenden sowie die erforderliche Infrastruktur verfügen (demenzspezifische, barrierefreie Einrichtung, welche die Mobilität, die Aktivierung, die Teilhabe und die Orientierung fördert). Zusätzlich sollte ein spezifisches Behandlungs- und Betreuungskonzept für BPSD existieren, welches neben den vorliegenden Empfehlungen auch die anderen relevanten Richt- und Leitlinien berücksichtigt [17, 22, 34].

Die Behandlung und Betreuung der BPSD kann sich in der Schweiz auf ein als vollständig zu bezeichnendes Leitlinienportfolio abstützen, in dessen Rahmen die vorliegenden Therapieempfehlungen einen wichtigen Platz einnehmen.

1.2  Methodik der Entwicklung der Therapieempfehlungen

Es ist Aufgabe und Ziel der Autorinnen und Autoren gewesen, breit abgestützte und evidenzbasierte Leitlinien oder Therapieempfehlungen zu erarbeiten und dadurch den aktuellen medizinischen Standard wiederzugeben. Die angestrebte Evidenzbasierung erstreckt sich neben der Medizin auch auf die Pflege („evidence-based nursing and caring“, EBN) und die anderen hier involvierten Fachgebiete. Nicht immer besteht jedoch eine ausreichende externe Evidenzlage, welche sämtliche Kriterien sensu stricto erfüllt, zumal für die Erforschung zahlreicher Arzneimittel kaum finanzielle Ressourcen zur Verfügung gestellt werden, weswegen die evidenzbasierte Medizin teilweise zur „finance based medicine“ wurde [35]. Mangels neuer Zulassungen für Arzneimittel für die Demenzbehandlung seit etwa 20–25 Jahren ist es zwingend, die Evidenzlage durch Konsensusempfehlungen der Expertinnen und Experten zu ergänzen, um eine angemessene Grundlage für die Behandlung der Menschen mit BPSD zu schaffen. Neben den medizinischen und rechtlichen Aspekten beinhaltet dieser Ansatz auch eine ethische Dimension, denn es geht im Kern auch um den fairen Zugang zu den Arzneimitteln [36]. Aus Sicht der Schweizerischen Vereinigung der Forschungsethikkommissionen (swissethics) sind die Fälle, in denen es zwar wissenschaftliche und klinische Belege für Nutzen und Wirksamkeit einer Therapie gibt, es aber an ausreichender, |15|mit randomisiert-kontrollierten Studien (RCT) belegter Evidenz mangelt, mit Blick auf das Vermeiden einer Ungleichbehandlung differenziert zu betrachten. Ziel ist die Gleichbehandlung, denn diese soll durch eine auch ethisch abgestützte Abwägung anhand ausgewogener Kriterien und in einem fairen Entscheidungsprozess erreicht werden [36]. In Anlehnung an das von swissethics im Rahmen der zur Vernehmlassung vorgelegten Revision der „Verordnung über die Krankenversicherung“ (KVV) vorgeschlagene Expertenboard bezweckt das Autorengremium der vorliegenden Empfehlungen, allen Dimensionen und Problembereichen Rechnung zu tragen, um die bestmögliche Diagnostik, Behandlung und Betreuung der Menschen mit BPSD zu ermöglichen.

1.3  Besondere Herausforderung Psychopharmakotherapie

Eine besonders herausfordernde Aufgabe stellte sich im Zusammenhang mit den empfohlenen medikamentösen Behandlungsansätzen. Denn es besteht eine Diskrepanz zwischen der klinischen Verschreibungspraxis infolge der „Alltagsevidenz“ und der offiziellen Zulassung. Ein Beispiel dafür ist der breite Einsatz von Quetiapin in der Behandlung von Agitation, Aggressivität oder psychotischen Symptomen bei Demenz, was sowohl in Fachzeitschriften [37] als auch in den Medien [38, 39] kritisiert wurde. Dabei wurde sowohl der Umfang der Behandlung (Indikation, Dosierung, Dauer) als auch die Off-Label-Verwendung des Arzneimittels Quetiapin per se moniert. In der Schweiz wird vorwiegend Quetiapin off-label angewendet [37], in anderen Ländern kommen auch andere Substanzen wie z. B. Olanzapin häufig off-label zum Einsatz [40].

Hinsichtlich der Indikation sind die BPSD-Therapieempfehlungen [1, 2] im Einklang mit den internationalen Guidelines eindeutig: Der Einsatz von Antipsychotika darf nur als Ultima Ratio erfolgen, nach einer gesicherten und differenzierten Diagnostik und nach Anwendung von nicht pharmakologischen Interventionen (basale Therapien, zusätzliche symptom- und syndromspezifische Therapien wie z. B. Aromatherapie, Musiktherapie, Snoezelen, Bewegungsförderung, kognitive Stimulation, pflegerische Interventionen, milieutherapeutische Maßnahmen) in Kombination mit einer prokognitiven Medikation (Antidementiva). Auch für den Einsatz der beiden Arzneimittel, die für gewisse BPSD in der Schweiz zugelassen wurden, wird explizit auf diese Reihenfolge hingewiesen: Haloperidol ist zugelassen zur Behandlung von persistierender Aggression und psychotischen Symptomen bei Patienten mit mittelschwerer bis schwerer Alzheimerdemenz und vaskulärer Demenz nach Versagen nicht pharmakologischer Therapien und bei einem Risiko für Selbst- oder Fremdgefährdung [41]. Risperidon ist zugelassen als zeitlich limitierte Therapie (bis zu 12 Wochen) einer schweren Aggressivität oder schwerer psychotischer Symptome bei Demenz des Alzheimertyps, durch die eine Gefährdung oder erhebliche Beeinträchtigung des Patienten selbst und/oder anderer hervorgerufen wird und die auf nichtpharmakologische Methoden nicht ansprechen [41]. Weitere Substanzen (Olanzapin, Quetiapin, Aripiprazol, Brexpiprazol), für welche in mehreren klinischen Studien eine signifikante Wirksamkeit bei aggressivem Verhalten und Agitation bei Demenz nachgewiesen wurde [42, 43], sind in der Schweiz nicht zur Behandlung von BPSD zugelassen.

Die kritisierten Umstände sind also nicht auf fehlende Grundlagen zurückzuführen, sondern Folge der nicht flächendeckend umgesetzten oder umsetzbaren Empfehlungen, da diese aufgrund der Anforderungen und Komplexität nur in einer auf BPSD spezialisierten Klinik oder Pflegeabteilung implementiert werden können. Darüber hinaus sind in den meisten Schweizer Alters- und Pflegeheimen – und insbesondere in solchen, in welchen viele externe Belegärzte Bewohnende betreuen – zentrale sicherheitsrelevante Medikationsprozesse noch nicht flächendeckend umgesetzt [44].

|16|Die Problematik der Off-Label-Anwendung von Arzneimitteln wie z. B. Quetiapin ist hingegen komplexer Natur. Die immer differenzierteren Klassifikationssysteme, insbesondere seit der Veröffentlichung des DSM-III [45], haben zu einer Fragmentierung von neuen Zulassungen auf engere Diagnosen und Indikationsgebiete geführt. Zudem besteht ein geringes Interesse seitens der Pharmahersteller und der Forschungsgemeinschaft, klinische Studien bei Arzneimitteln mit abgelaufenem Patent und tiefem Preis durchzuführen, zumal auch die Hürden, welche im Zulassungsverfahren zu überwinden sind, gestiegen sind, mit entsprechenden Kostenfolgen. Außerdem fließen in die Analysen und Berichte der HTAs vorwiegend die Ergebnisse aus randomisiert-kontrollierten Studien, während weitere Erkenntnisse, z. B. aus der Grundlagenforschung, ignoriert werden. Darüber hinaus erfolgte aus wirtschaftlichen Gründen auch ein allmählicher Marktrückzug von älteren und bewährten Arzneimitteln mit breitem Indikationsspektrum, welches bei der zugelassenen Indikation zwar einzelne Symptome mehr oder minder explizit nennt, nicht jedoch ihr Auftreten im Rahmen einer Demenz. Angesichts der Tatsache, dass Risperidon und Haloperidol die einzigen in der Schweiz zur Behandlung von Symptomen wie Agitation und Aggressivität bei Alzheimerdemenz und vaskulärer Demenz (bei dieser nur Haloperidol) explizit registrierten Arzneimittel sind, bleiben dem behandelnden Arzt oder der behandelnden Ärztin keine medikamentösen Alternativen „on-label“, abgesehen von einigen wenigen älteren Psychopharmaka mit breitem, dem Vor-DSM-III-Begriffsstand entsprechenden Indikationsspektrum (z. B. „psychomotorische Erregungszustände“, „zerebralsklerotisch bedingte Unruhe“, „Psychosen bei Alterspatienten“, „Dämpfung von Erregbarkeit und Hyperaktivität bei Verhaltensstörungen“).

Dieser unbefriedigende „chronische Off-Label-Use-Zustand“ erschwert die Tätigkeit der behandelnden Ärzte und Ärztinnen und könnte mangels therapeutischer Alternativen den Trend hin zur „Defensivmedizin“ – hier verstanden als Unterlassung von Behandlungsoptionen – unter Umständen verstärken, zumal bei einer Off-Label-Behandlung der Arzt oder die Ärztin die Verantwortung und die Haftung für einen solchen Einsatz alleine trägt. Da Ärzte und Ärztinnen in ihrem Handeln grundsätzlich dem Wohl des Patienten verpflichtet sind und sie bei der Wahl der Medikation stets die gebotene Sorgfalt und den Bezug auf den aktuellen medizinischen Wissenstand walten lassen müssen, ist die Off-Label-Behandlung sowohl für den Patienten oder die Patientin als auch für den Arzt oder die Ärztin ein Recht auf Zugang zu einer breiteren Palette an Behandlungsoptionen [46]. In Fällen, in denen sich die Off-Label-Anwendung eines Arzneimittels sogar zum medizinischen Standard entwickelt hat, gehört dieser zur Behandlung lege artis, was die ärztliche Verpflichtung nach sich zieht, diesen zu berücksichtigen, um eine sorgfältige und fachlich fundierte Behandlung anzubieten [46–48].

Zusätzliche Erschwernisse bei der Behandlung von BPSD ergeben sich angesichts der krankheitsbedingten Urteilsunfähigkeit aus der erforderlichen Patientenaufklärung und der umfassenden Informationspflicht sowie dem Erstellungsaufwand für den Behandlungsplan. Dies setzt neben dem Einbezug von Vertrauenspersonen in der partizipativen Entscheidungsfindung auch die Begründung der medizinischen Maßnahmen durch anerkannte Guidelines praktisch voraus [49, Art. 433–434]. Mit dem 2019 in Kraft getretenen revidierten Heilmittelgesetz (HMG) ergibt sich die Möglichkeit, die aktuelle Situation und die Medikationssicherheit zu verbessern und zugleich dem ärztlichen Bedürfnis nach fachlicher und rechtlicher Absicherung der Behandlung Rechnung zu tragen. Das revidierte Gesetz enthält eine Ergänzung, welche es erlaubt, anerkannte Regeln bei der Verschreibung, Abgabe und Anwendung von Arzneimitteln für verbindlich zu erklären [50, Art. 26].

|17|1.4  Nutzen der Therapieempfehlungen

Wie oben dargestellt, haben evidenzbasierte medizinische und therapeutische Empfehlungen, Leitlinien und Richtlinien, die den medizinischen Standard gewährleisten, für das behandelnde Fachpersonal eine praktische und rechtliche Bedeutung. Die Autorinnen und Autoren haben sich absichtlich für Empfehlungen entschieden, da Empfehlungen grundsätzlich fachlich und (haftungs-)rechtlich weniger verbindlich sind als Leitlinien und Richtlinien [51, 52]. Sie stellen auch kein HTA dar, das diagnostische oder therapeutische Formen auf ihr Kosten-Nutzen-Verhältnis analysiert und hinsichtlich des Mehrwerts gegenüberstellt, und sie sind auch keine systematische Übersichtsarbeit. Die Empfehlungen sollen der Qualitätssicherung und der Orientierung dienen und die personalisierte Medizin nicht einschränken [51], was ein Abweichen von ihnen nicht nur erlaubt, sondern in begründeten Fällen auch erfordert. Sie verfolgen einen ganzheitlichen Ansatz, indem sie nicht nur Erkenntnisse und Ansätze aus verschiedenen professionellen Blickwinkeln integrieren, sondern auch die Evidenz aus verschiedenen wissenschaftlichen und klinischen Quellen sichten und bewerten und zusätzlich ethische und rechtliche Aspekte berücksichtigen. Ihr Ziel ist die bestmögliche Behandlung und Betreuung von Menschen mit BPSD und die Unterstützung der Fachkräfte und der anderen in der Betreuung engagierten Personen.

Zusammenfassung

Für das Vorgehen bei BPSD und anderen alters- und neuropsychiatrischen Erkrankungen wurden in den letzten Jahren umfassende Empfehlungen zur Diagnostik und Therapie veröffentlicht.

BPSD haben sehr gravierende gesundheitliche und psychosoziale Folgen sowohl für die betroffenen Kranken als auch für die Angehörigen, die sie betreuen.

Die nicht medikamentösen und kognitionsstabilisierenden Behandlungsansätze haben Vorrang. Erst wenn diese nicht ausreichen, können Medikamente eingesetzt werden, um die Behandlung, Pflege und Betreuung zu gewährleisten und um Selbst- und Fremdgefährdung zu vermeiden.

Die Umsetzung nicht pharmakologischer Interventionen erfordert pflegerisches, therapeutisches und medizinisches Fachpersonal, sowohl in ausreichender Zahl als auch mit der notwendigen Qualifikation. Zudem müssen die spezifisch eingerichteten Abteilungen neben der Barrierefreiheit auch Aktivierung, Teilhabe, Geborgenheit, Mobilität und Orientierung fördern und damit die Rahmenbedingungen schaffen für die nicht pharmakologischen Interventionen.

Empfehlungen zur psychopharmakologischen Behandlung müssen auf der aktuellen wissenschaftlichen Evidenz und der klinischen Erfahrung basieren, aber auch die Realität des weitverbreiteten Off-Label-Use sowie die rechtlichen und ethischen Standpunkte und Problembereiche berücksichtigen.

Die Empfehlungen wurden interprofessionell und interdisziplinär entwickelt und erfordern einen ganzheitlichen Ansatz, der verschiedene Dimensionen und Methoden umfasst.

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|21|2  Klinik und Epidemiologie

Egemen Savaskan

Betroffene mit Demenzerkrankungen weisen neben kognitiven Störungen eine Reihe von Begleitsymptomen auf, die als „behaviorale und psychische Symptome der Demenz (BPSD)“ zusammengefasst werden [1–3]. Anstatt BPSD werden in der Literatur auch Begriffe wie „neuropsychiatrische Symptome der Demenz“, „nicht kognitive Symptome der Demenz“ oder „Verhaltensstörungen bei Demenz“ verwendet, oder in der Pflege „herausforderndes Verhalten“. In „The Cache County Study on Memory in Aging (CCSMHA)“, der größten und längsten Studie, die BPSD untersucht hat, wurden folgende zehn Symptome BPSD zugeteilt [1–3]:

Apathie,

Depression,

Euphorie,

Angst,

Agitation/Aggression,

Wahn,

Halluzinationen,

Enthemmung,

Irritabilität und

motorische Unruhe.

Als elfte Symptomgruppe kann man die Schlafstörungen und zirkadianen Schlaf-wach-Rhythmus-Störungen, die auch bei älteren Personen, aber vor allem bei Demenzerkrankungen auftreten, hinzufügen [4].

Die oben erwähnte Cache-County-Studie ist eine longitudinale populationsbasierte Studie, die Inzidenz und Prävalenz von Demenzen in Abhängigkeit von Risikofaktoren bei über 65-Jährigen untersuchte [1–3, 5]. 5.092 eingeschlossene Probanden wurden mindestens 5 Jahre lang prospektiv mehrmals bezüglich Demenz untersucht. Insgesamt 942 Personen entwickelten im Verlauf eine Demenz. BPSD wurde mittels „Neuropsychiatric Inventory“ (NPI) festgestellt. In der Untergruppe der beginnenden Demenzen (Alzheimerdemenz, AD, und vaskuläre Demenz, VaD) zeigten sich für die einzelnen BPSD zu Studienbeginn und nach 5,3-jährigem Verlauf folgende Prävalenzraten:

Apathie 20 % und 51 %,

Depression 29 % und 47 %,

Angst 14 % und 32 %,

Wahn 18 % und 38 %,

Halluzinationen 10 % und 24 %,

Agitation/Aggression 13 % und 24 %,

Enthemmung 2 % und 15 %,

Euphorie 1 %,

Irritabilität 17 % und 27 %,

motorische Unruhe 7 % und 29 %.

Zu Studienbeginn zeigten schon 56 % der untersuchten Personen ein Symptom, und nach fünfjährigem Verlauf waren es sogar 87 %. In der langjährigen Fortsetzung der Cache-County-Studie zeigten am Ende 98 % der Beteiligten, die unterdessen eine stark fortgestrittene Demenz hatten, BPSD [6].

BPSD werden assoziiert mit Neurotransmitterveränderungen in verschiedenen Hirnarealen [7]. Vor allem cholinerge, dopaminerge, serotonerge und noradrenerge Neuronen sind betroffen. Zusätzlich spielen bei der Entstehung von BPSD Faktoren wie prämorbide Persönlichkeit (mit unflexiblen, ängstlichen und depressiven Anteilen), posttraumatische Reaktionen, Kommunikationsstil der Betreu|22|enden und Umfeldfaktoren wie z. B. Reizüberflutung oder -armut eine Rolle [8]. Diese Faktoren werden in Kap. 4 ausführlich diskutiert. Einzelne BPSD sind für die schnellere Progression der Demenzerkrankung und steigende Mortalität verantwortlich [9]. Vor allem Betroffene mit psychotischen Symptomen, Agitation, Aggressivität oder Depression zeigen eine schnellere Verschlechterung des Allgemeinzustands und eine erhöhte Mortalität. Für die gestiegene Mortalität können unterschiedliche Faktoren verantwortlich sein wie z. B. die starke Neurodegeneration in den Hirnareale, die diese Symptome verursachen, eine bei diesen Symptomen gehäufte Multimorbidität, die problembedingt verschlechterte Betreuungssituation sowie die unkritisch eingesetzten Psychopharmaka.

Die häufigsten BPSD sind Apathie und Depression gefolgt von Angst, wogegen Euphorie und Enthemmung am seltensten auftreten [3]. Apathie ist das meist beobachtete Symptom und persistiert über alle Phasen einer Demenzerkrankung [1]. Apathie ist definiert als Motivationsminderung für mindestens 4 Wochen begleitet von Reduktion von zielgerichtetem Handeln und Emotionen sowie Interesselosigkeit. Sie wird oft mit Depression verwechselt, trägt entscheidend zu den Einschränkungen in den Aktivitäten des täglichen Lebens bei und wirkt sich, zusammen mit Depression und Angst, negativ auf die kognitiven Störungen aus. Die Differenzialdiagnostik zwischen Apathie und Depression sowie adäquater Umgang mit diesen Symptomen ist ein wichtiger Bestandteil von Diagnose und Therapie bei Demenz, um weitreichende Beeinträchtigungen der Lebensqualität zu vermeiden oder zu verringern. Neue Studien weisen darauf hin, dass Apathie und nicht Depression mit einer Schädigung des Netzwerks der weißen Substanz bei der Mikroangiopathie assoziiert und kognitive Beeinträchtigung symptomatisch für die prodromale vaskuläre kognitive Störung und Demenz bei Mikroangiopathie ist [10]. Apathie scheint die wichtigere Prodromalsymptomatik zu sein, um Personen mit einem erhöhten Demenzrisiko zu identifizieren.

Depression ist eher zu Beginn und im mittleren Verlauf einer Demenzerkrankung prominenter und wird wie Angst als Risikofaktor für die schnellere Progression der kognitiven Störung erachtet [5]. Dabei ist zu unterscheiden zwischen der Depression, die als Begleitsymptomatik der Demenz bei Personen auftritt, die vorher keine depressiven Phasen erlebt haben, und der Depression, die sich nach rezidivierenden Episoden in jüngeren Jahren mit der Entwicklung einer Demenz fortsetzt [11, 12]. Studien weisen darauf hin, dass eine Depression, die erst später im Alter zum ersten Mal auftritt, ein Prodromalstadium einer Demenz sein kann und deswegen ausführlich untersucht werden soll, während eine rezidivierende Depression im jungen Erwachsenenalter einen Risikofaktor darstellt, später eine Demenz zu entwickeln. Depression als BPSD äußert sich oft in Gefühlen der Traurigkeit, Angst und Schuldgefühlen und ist begleitet von Irritabilität [13]. Psychomotorische Hemmung ist bei Demenzerkrankten mit Depression stärker als bei depressiven Personen ohne Demenz, wogegen Suizidalität, Appetit- und Gewichtsverlust weniger ausgeprägt sind. Depressionen sind häufiger bei der VaD als bei der AD und können eine hohe Therapieresistenz aufweisen.

Agitation und Angst treten ebenfalls häufig in der Frühphase der Demenz auf und nehmen in der Spätphase der Erkrankung meist noch zu [6]. Agitation kommt bei allen Demenzerkrankungen vor und wird als eine Folge der frontalen Dysfunktion gesehen [14]. Reduzierte äußere Lichtverhältnisse, Umgebungsveränderungen wie Hospitalisationen, häufig wechselnde Betreuungspersonen, Lärm oder Wechsel von Pharmakotherapie sowie in der Person liegende Faktoren wie Schmerzen, Hunger, Durst und Übermüdung können das Auftreten von Agitation begünstigen und sind oft ein Grund, dass Betroffene institutionalisiert werden müssen. Agitation kann sich zeigen als zielloses Umherwandeln, Unruhe und sich wiederholende Ver|23|haltensweisen wie Nesteln und Schreien/Rufen oder stetiges Folgen der Betreuungsperson. Euphorie ist insgesamt selten und bleibt in jeder Phase stabil [6]. Vor allem bei Demenzen mit frontotemporaler Neurodegeneration ist Euphorie ein häufiges Symptom. Halluzinationen nehmen im Verlauf leicht zu und sind bei schweren Demenzen häufiger. Detaillierte szenische optische Halluzinationen gehören neben Parkinsonsymptomen und fluktuierenden kognitiven Störungen zu den Hauptsymptomen der Lewy-Körper-Erkrankung und können schon zu Beginn dieser Erkrankung das prominente Symptom sein. Wahnvorstellungen sind häufiger bei der AD zu beobachten als bei der VaD und äußern sich in erster Linie als paranoider Wahn oder Schuldwahn.

Enthemmung kann als sexuelle Enthemmung auftreten oder in selteneren Fällen als Hyper- oder Hypooralität, wobei die Betroffenen unkontrolliert essen und trinken können oder dies verweigern. Diese Symptomatik ist bei der AD selten und kommt eher bei der vaskulären, frontotemporalen oder Parkinsondemenz vor.

Aggressivität entsteht sehr oft als eine Überforderungsreaktion bei Orientierungsstörungen, Frustration wegen der eigenen Wahrnehmung der Defizite, entwertender Haltung des Gegenübers, Reizüberflutung, Angst, Schmerz und psychotischen Symptomen. Sie kann sich als verbale und körperliche Aggression wie Schimpfen, Schlagen, Beißen und Kratzen äußern und macht oft stationäre Behandlungen und Verabreichung von Psychopharmaka notwendig. Meist lassen sich solche Verhaltensweisen durch einfache nicht pharmakologische Interventionen entschärfen. Deswegen ist die Erkennung der auslösenden Faktoren wichtig, um entsprechende Interventionen einzuleiten.

Schlafstörungen sind häufig bei Demenzerkrankungen, vor allem bei der AD [4, 15, 16]. Veränderungen der Schlafarchitektur, Abnahme der nächtlichen Schlafdauer, Fragmentation des Schlafs, Schläfrigkeit tagsüber und die Umkehr des Schlaf-wach-Rhythmus sind die häufigsten Veränderungen. Aufwachphasen nach dem Einschlafen werden häufiger, und insgesamt nimmt die Schlaflatenz zu. REM-Schlaf ist im Allgemeinen reduziert. Zirkadiane Rhythmusstörungen treten auf, wie z. B. Verschlechterung des nächtlichen Schlafs, während kurze Einschlafphasen tagsüber zunehmen. Es kann zu einer gänzlichen Umkehr des Schlaf-wach-Rhythmus kommen, bei der die Erkrankten tagsüber Schlafphasen haben und nachts unruhig sind und nicht lange schlafen. Bei dem sogenannten Sundowning-Syndrom treten BPSD häufiger gegen Abend oder in der Nacht auf, wobei die Betroffenen Symptome wie Angst, Agitation und/oder Verwirrtheit zeigen [17]. Die Differenzialdiagnose zum Delir ist oft schwierig. Zum Sundowning-Syndrom beitragen können folgende Faktoren:

neurobiologische (Neurodegeneration, die zu zirkadianen Störungen führt),

pharmakologische (Antipsychotika, Anticholinergika, Antidepressiva, Hypnotika),

physiologische (Hunger, zirkadiane Veränderungen der Körpertemperatur, Blutzuckerschwankungen, Elektrolytstörungen und zu hoher/zu tiefer Blutdruck),

medizinische (Schlafstörungen, sensorische Deprivation, Schmerzen, Stimmungsschwankungen) und

umfeldbedingte (Licht, geringe Betreuungsdichte, Überstimulation).

Die nicht pharmakologischen Therapieoptionen stehen aufgrund der Vielfalt der verursachenden Faktoren hier im Vordergrund.

Die zirkadianen Rhythmusstörungen betreffen nicht nur den Schlafrhythmus, sondern auch die Körpertemperatur, die motorische Aktivität und die hormonelle Sekretion. Diese Störungen gehen auf die Neurodegeneration im Nukleus suprachiasmaticus und die damit verbundene Reduktion der Melatoninproduktion zurück. Neben den Schlafstörungen können nächtliche Apnoephasen auftreten, die die Schlafqualität beeinträchtigen [4]. Schlafapnoe wird als möglicher Risikofaktor für die Entwick|24|lung einer Demenz diskutiert. Sie tritt aber auch häufig als ein Begleitsymptom einer Demenz auf. Bei 40–70 % der Patienten mit einer neurodegenerativ bedingten Demenzerkrankung zeigt sich ein Schlafapnoe-Syndrom, manchmal mit bis zu mehr als fünf Episoden pro Stunde. Häufig ist auch das sogenannte Restless-Legs-Syndrom (RLS) mit unruhigen Beinbewegungen, die mit Missempfindungen einhergehen und den Schlaf stören. Die Prävalenz für RLS liegt bei AD bei 6 %, und dieses Syndrom tritt oft mit Agitation zusammen auf. Medikamente, die zur Behandlung vom RLS eingesetzt werden, sind oft delirogen und können BPSD verstärken. Deswegen sollten sie nicht eingesetzt werden. Zu den schlaf- und zirkadianen Störungen der Demenz gehören [mod. nach 4, 16, 17]:

Abnahme der nächtlichen Schlafdauer,

Fragmentation des Schlafs,

mehr Aufwachphasen in der Nacht,

Schläfrigkeit tagsüber,

Zunahme der Schlaflatenz,

reduzierter REM-Schlaf,

Sundowning,

Umkehr des Schlaf-wach-Rhythmus,

zirkadiane Veränderungen der Körpertemperatur, motorischen Aktivität und hormonalen Sekretion,

schlafbezogene Atemstörungen: Apnoe,

Restless-Legs-Syndrom.

BPSD haben für die Erkrankten und ihre Betreuer weitreichende Folgen [18]. Sie sind nicht nur für die zusätzlichen Einschränkungen in den Aktivitäten des täglichen Lebens im Rahmen der Demenzerkrankung verantwortlich, sondern reduzieren die Lebensqualität der Erkrankten sowie ihrer Betreuungspersonen und führen zu früherer Institutionalisierung in den Heimen oder Spitälern. Vor allem Symptome wie Halluzinationen, motorische Unruhe und nächtliche Ruhestörungen sind mit großer Belastung für die Betreuenden verbunden, die oft selbst Depressionen entwickeln [18]. Interessanterweise belasten Apathie und Depression die Betreuenden kaum. Es wurde auch keine Korrelation zwischen dem Demenzstadium und dem Ausmaß der Belastung für Angehörige gefunden. BPSD scheinen entscheidend dafür zu sein, wie weit die Demenzerkrankung das soziale Umfeld, vor allem die Betreuenden, belastet. Deswegen bezeichnen in einer großen europäischen Studie in fünf Ländern, durchgeführt von der Alzheimer Europe bei ca. tausend Angehörigen von an Demenz erkrankten Personen, die Betreuenden die BPSD und die Einschränkung der Aktivitäten des täglichen Lebens als die am meisten belastenden Folgen der Demenzerkrankung, und nicht die kognitiven Störungen [19]. Der Umgang mit BPSD ist auch beim Pflege- und Betreuungspersonal mit Belastung und Folgeerscheinungen verbunden [20, 21]. Besonders belastend werden Agitation und Aggressivität erlebt. Dabei spielt es keine Rolle, wie häufig ein Symptom vorkommt, sondern wie belastend das Symptom von Betreuungspersonen erlebt und wie intensiv das Symptom von Betroffenen ausgelebt wird. Eine effektive Therapie der BPSD würde deswegen nicht nur den Betroffenen zugutekommen, sondern auch die Belastung der betreuenden Angehörigen mildern.

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|27|3  Multimorbidität/Frailty und BPSD

Markus Bürge

Der Begriff der Multimorbidität ist uneinheitlich definiert, bezeichnet im Wesentlichen aber das gleichzeitige Vorliegen mehrerer chronischer Erkrankungen (meist ≥ 3). Selbst der Terminus „Morbidität“ ist dabei allerdings unscharf und umfasst sowohl symptomatische Krankheiten wie auch Risikofaktoren (z. B. Hyperlipidämie, art. Hypertonie u. a.) [1].

Wenn wir nun „Multimorbidität“ im Zusammenhang mit BPSD verwenden, meinen wir nicht eine Kombination von Risikofaktoren, sondern eine funktionelle Einschränkung aufgrund von chronischen Krankheiten, weshalb sich hierfür der Begriff der „Frailty“ (Gebrechlichkeit) besser eignet, um den Zustand zu beschreiben. Zwar ist auch Frailty unterschiedlich definiert, klinisch aber einfach zu erheben und skalierbar [2, 3]. Der Begriff erfuhr in den letzten Jahren eine wachsende Beachtung, insbesondere als prädiktiver Parameter für Erkrankungsverläufe und Komplikationen. So konnte gezeigt werden, dass Frailty das Auftreten von BPSD begünstigt [4], dies unter anderem infolge von multiplen sensorischen Einschränkungen, chronischen Schmerzen und dem Verlust der sicheren Mobilität. Diese somatischen Probleme bahnen einen sozialen Rückzug sowie belastende Abhängigkeiten in den Alltagsverrichtungen und führen in der Konsequenz oft zu gehäuften Umgebungswechseln sowie Änderungen der Bezugspersonen, wiederum Faktoren also, die BPSD verstärken.

Frailty als Risikofaktor für das gehäufte Auftreten von BPSD zu sehen, ist somit richtig, gleichzeitig jedoch auch etwas vereinfachend. Den beiden Symptomenkomplexen Frailty und BPSD liegt nämlich meist auch eine gemeinsame Organerkrankung zugrunde: eine chronisch-progrediente, oft gemischte Encephalopathie. Und diese führt bereits per se zu kognitiven und psychiatrischen Symptomen (Demenz/BPSD) sowie zu Störungen der motorischen Kontrolle und des Antriebs (Gebrechlichkeit/Frailty).

Nicht selten wird das Auftreten und die Schwere von BPSD durch die teils komplexe Pharmakotherapie der Multimorbidität begünstigt, oftmals sogar durch deren medikamentöse Behandlung selbst [5, 6]. Das Vermeiden einer Polypharmazie sowie generell ungeeigneter Medikamente ist deshalb zentral. Dies erfordert eine besonders kritische Auswahl der Wirksubstanzen und deren Dosierungen (möglichst nicht sedierend, nicht anticholinerg und nicht extrapyramidal respektive nicht Orthostase induzierend) sowie die konsequente Beschränkung auf die unerlässlichen Medikamente (cave: fachspezifische Leitlinien haben hier nur eingeschränkte Gültigkeit). Kurz sei zu diesem Zweck auf unterstützende Checklisten verwiesen wie z. B. Beers, PRISCUS, STOPP/START, MAI, FORTA [7, 8], wobei deren Anwendbarkeit im klinischen Kontext aufgrund der expliziten Kriterien oft eingeschränkt bleibt bzw. durch implizites Wissen (Expertise, Erfahrung) ergänzt werden muss.

|28|Zusammenfassung

Multimorbidität, besser erfasst im Rahmen des Frailty-Konzeptes, kann BPSD verursachen und/oder verstärken. Die Multimorbidität und die darauf basierende Polypharmazie erschweren grundsätzlich den Verlauf und beeinflussen die Therapie der BPSD ungünstig.

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|29|4  Pathogenetische Faktoren

4.1  Neurobiologische Grundlagen

Marc Sollberger, Martin Hatzinger, Stefan Klöppel

BPSD sind schwierig erfassbare und quantifizierbare Symptome, welche durch eine Vielzahl von Faktoren bedingt sein können. Diese Faktoren, welche hirnorganischer und nicht hirnorganischer Ursache sein können, können miteinander interagieren, was die Untersuchung ihrer neurobiologischen Grundlagen zusätzlich erschwert. Entsprechend erstaunt es nicht, dass Studienresultate zur Neurobiologie einzelner BPSD-Formen nicht selten widersprüchlich sind und unser Wissen zur Neurobiologie von BPSD noch begrenzt ist.

Bei Hirnkrankheiten gleich welcher Ätiologie ist prinzipiell davon auszugehen, dass zwischen den Läsionen einzelner Hirnregionen und dem Auftreten einzelner BPSD-Formen ein Zusammenhang besteht. Genauer ausgedrückt ist von einem Zusammenhang zwischen den Funktionsstörungen neuronaler Netzwerke und bestimmten BPSD-Formen auszugehen [1]. Neuronale Netzwerke sind miteinander interagierende Neuronen, welche im Verbund bestimmte Hirnfunktionen repräsentieren. Entsprechend kann die Läsion unterschiedlicher Hirnregionen innerhalb des gleichen neuronalen Netzwerkes zu ähnlichen Beschwerden führen. Beispielsweise kann eine Läsion sowohl im Bereich des Hippocampus wie im Bereich des posterioren Cingulums – beides Hirnregionen innerhalb des Default-Mode-Netzwerks [2] – zu episodischen Gedächtnisstörungen führen [3].

Angesichts des Zusammenhangs zwischen der Lokalisation der Funktionsstörungen und BPSD erstaunt es nicht, dass neurodegenerative Krankheiten, welche unterschiedliche neuronale Netzwerke schädigen, einerseits zu unterschiedlichen BPSD-Mustern führen und andererseits diese BPSD-Muster sich im Verlauf der Krankheit verändern.

Eine kürzlich publizierte Übersichtsarbeit zu neuroanatomischen Grundlagen von BPSD bei Patienten mit einer Demenz vom Alzheimertyp zeigte, dass der anteriore cinguläre Kortex beinahe bei allen BPSD-Formen geschädigt war [1]. Weiter waren Regionen des präfrontalen Kortex, insbesondere des orbitofrontalen Kortex, bei den meisten BPSD-Formen betroffen [1]. Läsionen des anterioren cingulären-subkortikalen Schaltkreises waren meist mit Apathie assoziiert, Läsionen des frontal-limbischen Netzwerkes mit Depression und Läsionen des Amygdala-Netzwerkes mit Angst [1]. Wie eingangs bereits erwähnt, waren die Resultate zwischen den einzelnen Studien zumeist heterogen, was wahrscheinlich primär Ausdruck der Komplexität der Thematik, unterschiedlichen Definitionen und Messmethoden von BPSD sowie der Heterogenität der untersuchten Stichproben ist.

In den folgenden Abschnitten gehen wir kurz auf die Neurobiologie einzelner BPSD-Formen mit hoher klinischer Relevanz ein, mit Fokus auf die mit BPSD assoziierten Neurotransmittersysteme.

|30|4.1.1  Neurobiologie der Depression

Die Störung des fronto-limbischen Systems (exakter des limbisch-kortikal-striatal-pallidal-thalamischen Netzwerks, welches mit dem Hippocampus, der Amygdala, dem Ncl. caudatus, dem Putamen und dem frontalen Kortex verbunden ist) gilt als die primäre neuroanatomische Grundlage der Depression [1, 4]. Dieses Netzwerk wird in erheblichem Maße durch dopaminerge Kerne der Area tegmentalis ventralis im Bereich des Mittelhirns und Hirnstamms, serotonerge Kerne aus der dorsalen Raphe im periaqueduktalen grauen Bereich und noradrenerge Kerne aus dem Locus coeruleus moduliert [5]. Die Mehrheit der aktuell eingesetzten Antidepressiva wirkt auf einzelne oder mehrere dieser Neurotransmittersysteme.

4.1.2  Neurobiologie der Apathie

Läsionen des anterioren cingulären-subkortikalen Schaltkreises, welcher das ventrale Striatum miteinschließt, stehen in Zusammenhang mit dem Auftreten von Apathie [1]. Läsionen dieses Schaltkreises führen zu Funktionsstörungen verschiedener Neurotransmittersysteme, wie dem cholinergen und dem dopaminergen System [6, 7]. Wie genau die Störung einzelner oder mehrerer Neurotransmittersysteme in Zusammenhang mit Apathie steht, lässt sich aktuell jedoch nicht sagen. Mit ein Grund hierfür ist die Tatsache, dass Apathie ein multidimensionales Konstrukt ist, welchem bis dato in Studien nicht oder nur begrenzt Rechnung getragen worden ist [7]. Entsprechend widersprüchlich ist die aktuelle Studienlage zur Neurobiologie von Apathie, was miterklären kann, weshalb noch kein Medikament zur Behandlung der Apathie bei Demenz zugelassen ist [7].

4.1.3  Neurobiologie der Agitiertheit

Eine 2018 publizierte Übersichtsarbeit (46 Studien) zur Neurochemie der Agitiertheit bei Patienten mit einer Demenz vom Alzheimertyp ergab gesamthaft Hinweise auf das Vorliegen eines serotonergen Defizits bei gleichzeitig relativ erhaltener dopaminerger Funktion und einer wahrscheinlich kompensatorischen Überaktivität postsynaptischer noradrenerger Neuronen [8]. Anzufügen ist die Heterogenität der Resultate zwischen den Studien.

4.1.4  Neurobiologie der Psychose

Gestützt auf die aktuelle Literatur ist anzunehmen, dass Psychosen nicht ausschließlich Ausdruck einer Störung der dopaminergen mesolimbischen Bahn sind [9]. Konkret wird von einer Mitbeteiligung der Serotonin- und Glutamatsysteme ausgegangen. Die drei Neurotransmittersysteme scheinen miteinander zu interagieren, was im Falle einer Störung eines oder mehrerer dieser Systeme in einer Hyperaktivität des mesolimbischen Dopaminsystems mündet [9].

4.1.5  Neurobiologie der Schlafstörungen

Bei den Schlafstörungen gilt es zunächst, die Vielfalt der Schlafstörungen (von Insomnie über REM-Schlaf-Störung und Restless-Legs-Syndrom bis zu Schlafapnoe-Syndrom) zu erwähnen. Entsprechend gibt es keine uniforme Neurobiologie für Schlafstörungen.

Wir möchten uns hier auf Störungen der Schlafregulation beschränken. Hierfür besteht, im Gegensatz zu der Mehrzahl der BPSD-Formen, eine wissenschaftlich fundierte neurobiologische Grundlage in Form von Störungen im Regelkreislauf des Hypothalamus [10]. Auf dieser neurobiologischen Grundlage basiert die Entwicklung wirkungsvoller medikamentöser |31|Ansätze zur Behandlung unterschiedlicher Störungen der Schlafregulation [10].

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4.2  Psychosoziale Faktoren

Samuel Vögeli, Brigitte Benkert, Therese Hirsbrunner, Franziska Zúñiga

4.2.1  Innerpsychische Faktoren

Zu innerpsychischen Faktoren von BPSD wurden zahlreiche Theorien publiziert, welche bisher noch nicht wissenschaftlich überprüft wurden. Die fehlende Evidenz sagt wenig darüber aus, inwieweit und nach welchen Mechanismen intrinsisch-psychische Vorgänge zu BPSD beitragen – „absence of evidence is not evidence of absence“. Die klinische Erfahrung legt solche Prozesse jedenfalls nahe. Warum sie bisher trotzdem kaum erforscht wurden, steht zur Diskussion. Prominente Autoren führen dies unter anderem auf eine einseitig biomedizinische Sichtweise auf Demenz zurück [1, 2].

Hier sollen nur zwei der im Praxisfeld der Langzeitpflege in der Schweiz bekanntesten und einflussreichsten Erklärungen für BPSD erwähnt werden. Die eine ist diejenige der US-amerikanischen Gerontologin Naomi Feil [3]. Ausgehend von der Entwicklungspsychologie Erik Eriksons postuliert Feil, dass unerfüllte Lebensaufgaben hochaltrige Menschen umtreiben. Die Lebensaufgabe des hohen Alters ist nach Feil, sich selbst und das eigene Leben in der Rückschau so zu akzeptieren, wie es war, auch mit all den Enttäuschungen, Verlusten und verpassten Möglichkeiten:

„Wenn wir nicht akzeptieren können, wer wir sind, […] wenn unser Augenlicht schwächer wird, unser Haar dünner und unser Erinnerungsvermögen nachlässt, dann stürzt uns das in Hoffnungslosigkeit. […] Wut, Auflehnung, Scham, Schuld, Liebe – Gefühle, die ein Leben lang erfolgreich zurückgehalten werden, fangen an, uns zu vergiften“ ([3], S. 39).

Psychosoziale Interventionen, welche mit Biografie und Reminiszenz arbeiten, bestätigen, |32|dass BPSD in komplexer Weise mit der Lebensgeschichte der betroffenen Person zusammenhängen. Der schweizerische Gerontopsychiater Christoph Held vertritt dagegen die Meinung, dass Menschen mit Demenz im Verlauf der Erkrankung sich selbst und ihre Umwelt zunehmend dissoziativ erleben, dass also die Integration der verschiedenen psychischen Funktionen nicht mehr gelingt. Dies führe zu einem ziellosen Verhalten, einem „[…] Zustand von scheinbar suchendem, in Wirklichkeit aber ziellosem Wandern, ziellosem Ergreifen von Gegenständen […]“ ([4], S. 27).

„Es ist dann schwierig, mit einem Menschen in mentaler Dissoziation in Kontakt zu treten. Ihn darüber zu befragen oder gar über ihn bestimmen zu wollen, mündet nicht selten in explosiv anmutende körperliche Abwehr des Betroffenen“ ([4], S. 27).

Dissoziatives Erleben trägt gemäß Held auch dazu bei, dass die Betroffenen ihre Körperwahrnehmungen nicht mehr richtig einordnen können:

„Während kognitiv intakte Menschen tatsächlich Schmerzen unterdrücken können, leiden demenzkranke Patienten mit unbehandelten Schmerzen oft vor sich hin, was sich in Angst, Wahn, Traurigkeit oder Unruhe äußern kann“ ([4], S. 28].

Weder Feils noch Helds Theorien wurden bisher empirisch überprüft. Die klinische Praxis zeigt aber, dass solche Erklärungsansätze insbesondere für Betreuungs- und Pflegepersonen attraktiv und hilfreich sein können, um mit schwierig zu verstehendem Verhalten von Menschen mit Demenz besser umzugehen.

4.2.2  Umgebungsfaktoren

Wie bei allen Menschen werden Gefühle, Gedanken, Stimmungen und Verhaltensweisen von Menschen mit Demenz selbstverständlich auch von ihrer Umgebung mitbeeinflusst. Wirksame Prävention und effektives Management von BPSD ist deshalb nur möglich, wenn die potenziellen externen Ursachen und Auslöser bekannt sind. Dennoch ist die Forschung zu Umgebungsfaktoren von BPSD mangelhaft. Eine Literaturübersicht von Kolanowski et al. [5] zu den Determinanten von BPSD ergab, dass es an forschungsmethodisch hochwertigen Studien zu psychosozialen und umweltbezogenen Faktoren noch weitgehend fehlt. Die vorliegende Evidenz zeige hauptsächlich Zusammenhänge zwischen BPSD und Neurodegeneration, Demenztyp, Schwere der kognitiven Beeinträchtigungen und nachlassender Funktionsfähigkeit. Nur schwache Evidenz liege dagegen für die Rolle von psychosozialen Faktoren vor, wie vor allem der Belastung von pflegenden Angehörigen, dem Kommunikationsstil von Betreuungs- und Pflegepersonen und der Versorgung mit angenehmen und sinnvollen Alltagsaktivitäten. Zu weiteren Umgebungsfaktoren liegen keine Studien vor, welche den Einschlusskriterien genügten („high-quality/low-bias“). Die Autor:innen führen den Mangel an entsprechenden Forschungsergebnissen auf die Dominanz der pharmakologisch orientierten Forschungsfinanzierung zurück [5].

Trotz dieser Forschungslücke besteht in der internationalen Fachwelt weitgehend Konsens darüber, dass Umgebungsfaktoren einen starken Einfluss auf BPSD haben können. Gerade die klinische Erfahrung zeigt dies immer wieder deutlich. Auch die Forschung zu nicht medikamentösen Interventionen legt die Schlussfolgerung nahe, dass BPSD durch die Anpassung von Umgebungsfaktoren nicht nur „behandelt“, sondern auch präventiv in ihrer Entstehung beeinflusst werden können.

Wie und weshalb reagieren Menschen mit Demenz auf Umgebungsfaktoren anders als Personen ohne kognitive Beeinträchtigungen? Handelt es sich vorwiegend um quantitative Veränderungen der Reagibilität, wie z. B. das Modell der progressiv herabgesetzten Stresstoleranzschwelle nach Hall und Buckwalter [6] |33|suggeriert? Oder verändert sich im Verlauf einer Demenzerkrankung die Interaktion mit der Umwelt der Betroffenen grundsätzlich, z. B. vergleichbar einer Retrogenese hin zu frühkindlichen Verarbeitungs- und Verhaltensmustern [7] oder aufgrund fundamentaler Veränderungen der perzeptiven und innerpsychischen Verarbeitung, der Affektregulation, der sozialen Kognition oder des Bindungsverhaltens [4, 8, 9]? Dazu gibt es in der Fachwelt keinen Konsens, wobei die meisten Expert:innen von einer Kombination verschiedener Mechanismen und Faktoren ausgehen. In der Fachliteratur am häufigsten herangezogen wird das „Bedürfnisorientierte Verhaltensmodell bei Demenz“ („need-driven dementia-compromised behavior model“, NDB-Modell) von Algase et al. [10] (Abbildung 4-1).

Abbildung 4-1:  Bedürfnisorientiertes Verhaltensmodell bei Demenz ([5], S. 7–9)

Dabei werden zwei Arten von Faktoren unterschieden, welche das Verhalten von Menschen mit Demenz beeinflussen können:

Hintergrundfaktoren: relativ stabile neurologische, kognitive, gesundheitliche Zustände sowie konstitutive psychosoziale Faktoren,

proximale (= „nahe“) Faktoren: fließende oder schwankende Aspekte der unmittelbaren physischen und sozialen Umgebung sowie die dynamischen oder sich ändernden Bedürfnisse und Zustände innerhalb der Person mit Demenz.

Hintergrundfaktoren sind tendenziell nicht oder nur sehr schwer und langfristig modifizierbar, während proximale Faktoren potenziell zeitnah veränderbar sind.

Das NDB-Modell dient mittlerweile als Grundlage für zahlreiche Interventionsansätze. Zentral ist dabei der Gedanke, dass BPSD immer auch Ausdruck von nicht befriedigten Bedürfnissen sind und dass es möglich ist, durch die gezielte Veränderung von proximalen Faktoren diese Bedürfnisse zu befriedigen, was in |34|