Berliner Briefe - Susanne Kerckhoff - E-Book + Hörbuch

Berliner Briefe Hörbuch

Susanne Kerckhoff

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Beschreibung

»Eine literarische Sensation!« Denis Scheck Wie kaum eine Autorin ihrer Zeit hat Susanne Kerckhoff den Verlust der moralischen Integrität der Deutschen, ihre Schuld an den Verbrechen des Nationalsozialismus und die Frage der daraus resultierenden geistigen Neuorientierung zum Mittelpunkt ihres literarischen Schaffens gemacht. Ein bedeutendes Zeugnis dieser Auseinandersetzung ist ihr kurzer, 1948 erschienener halbfiktiver Briefroman »Berliner Briefe«. »In ein bestimmtes Lager gehöre ich – in das Lager derjenigen, die sich noch in gar keiner Weise beruhigt haben. Über Nationalsozialismus und Krieg, über Sozialismus und Kapitalismus, über Schuld und Sühne, über eigene Schuld und eigene Sühne kann ich mich nicht beruhigen.« Susanne Kerckhoff »Ich halte dieses Buch für ein Wunder.« Thea Dorn, Literarisches Quartett   »Die Wiederentdeckung dieser halb vergessenen Schriftstellerin löst ungläubiges Staunen aus: so differenziert, so radikal, so klug analysierend ging eine junge Frau mit sich und Deutschland 1948 ins Gericht.« Denis Scheck, Leseempfehlung für das Kölner Literaturhaus   »Susanne Kerckhoff war eine Frau von wahrhaft messerscharfem Verstand und mit einer brillanten Formulierungsgabe gesegnet. Und sie verpflichtete sich zu einer wirklich unbestechlichen Suche nach der Wahrheit.« Annemarie Stoltenberg, NDR   »Was für eine Stimme! Voller Unruhe und Sehnsucht, rücksichtslos selbstkritisch, desillusioniert und doch kämpferisch benennt hier eine fiktive Briefeschreiberin, wie stark das Gift der Diktatur im ›Volkskörper‹ nachwirkt.« Carsten Hueck, Deutschlandfunk Kultur

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Zeit:2 Std. 53 min

Veröffentlichungsjahr: 2021

Sprecher:Jennipher Antoni

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Susanne Kerckhoff

BERLINER BRIEFE _ _ _ _ _ _ _ _ _ _ _

Herausgegeben und mit einem Nachwort versehen von Peter Graf

Impressum

Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Speicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen.

Die Originalausgabe erschien 1948 im Wedding-Verlag, Berlin. 2020 erfolgte eine von Peter Graf herausgegebene Neuausgabe im Verlag Das Kulturelle Gedächtnis, GmbH, auf dem diese Lizenzausgabe beruht.

Klett-Cotta

www.klett-cotta.de

© 2021 by J. G. Cotta’sche Buchhandlung

Nachfolger GmbH, gegr. 1659, Stuttgart

Cover: Anzinger & Rasp, München

unter Verwendung einer Abbildung von © ullstein bild

Datenkonvertierung: le-tex publishing services GmbH, Leipzig

Printausgabe: ISBN 978-3-608-98490-3

E-Book: ISBN 978-3-608-11704-2

Dieses E-Book basiert auf der aktuellen Auflage der Printausgabe.

Dem Andenken meines Vaters

Vorbemerkung

Berlin, Dezember 1947

Irgendeine Berlinerin, deren Schicksal weniger bedeutend ist als das Schicksal Tausender, schreibt Briefe an irgendeinen Emigranten. In diesen Briefen spiegeln sich Ratlosigkeit und Hoffnung. Ein Mensch bemüht sich, innerhalb der gegebenen Situation über das politische Woher und Wohin Rechenschaft abzulegen.

Die belletristische Form wurde gewählt, weil dieses Büchlein kein endgültiges, ausgereiftes Credo sein kann. Im Zeitgeschehen verdunkeln und erhellen sich die Erkenntnisse. Jeder Tag bringt neue Entscheidungen. Beständig bleiben nur die Wachheit des Gewissens und der Wille, die Wahrheit unermüdlich zu suchen und ihr zu dienen. Daher ist der vorliegende Versuch fehlerhaft – aber er ist ehrlich. Womit nicht gesagt sein soll, daß andere Versuche unehrlich wären. Ebenso sicher ist es, daß diese Form der politischen Auseinandersetzung mit dem Nachkriegsgeschehen kein privates Spiel einer „Ich-sitze-gern-zwischen-den-Stühlen“-Koketterie ist. Noch um die endgültige Erkenntnis ringen, heißt nicht, der Aktion ausweichen, sondern sich im Gegenteil auf sie vorbereiten.

Susanne

Kerckhoff

Erster Brief

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Lieber Hans!

Nach zwei Jahren Waffenstillstand erreicht mich Dein Brief aus Paris. Du fragst nach mir. Aber damit nach uns. Ich soll schildern, wie es mir ergangen ist. Warum hast Du damals, schon ein Jahr vor Ausbruch des Krieges, die Korrespondenz abgebrochen? Weil ich Dir schrieb, Du möchtest Deine politischen Ansichten nicht mehr äußern, wir kennten uns doch? Ich dachte, Du würdest diesen Satz ohne weiteres begreifen. Aber in all den Jahren danach hat es mich verfolgt, Du identifiziertest mich vielleicht, dieser vorsichtigen Mahnung wegen, mit Stukas und Konzentrationslagern.

Ich glaube, ich weiß wenig von mir zu berichten. Als wir uns kannten, stand ich noch in dem Lebensalter, wo man sich nicht real in die Geschehnisse einbezieht, sondern für eine Besonderheit mit gesondertem Schicksal hält. Jetzt ist das ganz anders geworden. Mein Lebensgefühl verdeutlicht sich vielleicht in dem Bild, als sei ich ein Teil des Trümmeratems von Berlin – Staub, Ruinen, Tote – aber auch Hoffnung, Zuversicht, Neubau, manchmal gleißend bunt und lügnerisch; es gibt Augenblicke, wo ich Zuversicht und Neubau für gesund halte.

Ich möchte Dir von den anderen Dingen erzählen, in denen ich bin. Ob Du zurückkehrst? Credo, quia absurdum est.

Meine Weise der Schilderung erhebt nicht den Anspruch auf Allgemeingültigkeit, es ist „mit meinen Augen“ gesehen. Ich darf nicht für alle sprechen, für keine Gruppe, keine Partei, keine Kirche, keine Klasse, nicht einmal für meine Generation – denn noch niemals habe ich mich als Repräsentanten gefühlt. Überhaupt haben mich Verallgemeinerungen mit der Tarantel gestochen.

Gestern sprach ich mit einem Achtzehnjährigen über Rußland. Er hatte Ansichten. Genau so ausgeprägte, rundliche Ansichten hatte er wie einst Du und ich. Er wußte, was Demokratie, was Freiheit meint. Er verstand unter Freiheit Amerika. Es war alles ganz einfach, was er sagte. Plastisch. Ich redete, wie er mir vorwarf, „drum herum“. Erwartest Du anderes von mir? Ich kann nur noch an die Dinge heran, wenn ich um sie herum gehe. Ich schleiche wie eine Katze um den heißen Brei, mit einem verbrannten Geschmack auf der Zunge. Aber niemand hat mich gebrannt oder auf den Mund geschlagen, außer meine eigene Einsicht.

In ein bestimmtes Lager gehöre ich – in das Lager derjenigen, die sich noch in gar keiner Weise beruhigt haben – über Nationalsozialismus und Krieg, über Sozialismus und Kapitalismus, über Schuld und Sühne, über eigene Schuld und eigene Sühne, kann ich mich nicht beruhigen. Auch nicht über unsere Spiegelbilder und unsere Verzerrungen, nicht über Papierverordnungen, an denen Blut und Hunger haften. Ich weiß kein Heilmittel gegen diese Unruhe, und wüßte ich eines, ich würde es nicht anwenden. Es ist mir weder möglich mit einer Phraseologie und Heilpraktikerlehre Strohfeuer zu zünden, die niemanden, außer den Brandstifter persönlich, erwärmen. Soll ich mich an dem Beispiel weiden, daß der Karren nach 1918 ähnlich schief gefahren wurde? Ich sähe keine Zier darin, zur vielgeschmähten, „deutschen Innerlichkeit“ abzusinken, nur deshalb, weil sie geschmäht wurde.

Ich habe Descartes stets um den großen Augenblick bewundert und beneidet, da es ihm gelang, sich aller Vorurteile, allen Wissens, aller ausgetretenen Pfade zu entschlagen, um zu finden: cogito ergo sum! Warum soll ich es Dich erst herausfinden lassen, daß vorurteilsloses Denken nicht meine Stärke ist? Ich bin voll Unruhe – ich bin nicht objektiv – es gibt Äußerungen und Geschehnisse, zu denen ich rot sehe. Ich male schwarz-weiß, sicher tue ich das. Zu vielen Bildern, die sich mir aufdrängen, mache ich einfach die Augen zu: das will ich nicht sehen! Eine besondere Art der Verwahrung? Die Wogen des Mitleids, des Grauens – ich will mich nicht von ihnen überspülen lassen. Ich gehe sparsam mit mir selbst um. Für welche Richtung, welchen Weg spare ich mich eigentlich auf? Trotzdem kann ich nicht hindern, daß es auf mich zukommt: krauses materielles und geistiges Elend, das Elend falscher und verfälschter Absichten!

„Ach ja, es tut schon weh–“ hat Haringer in einem Abschiedsgedicht vor sich hingesagt. Ich finde nicht, daß es sich sentimental anhört. Oder faßt Du es so auf?

Helene

Zweiter Brief

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Lieber Hans!

Noch weiß ich aus keiner Zeile, wie Du Dich entwickelt hast.

Ich erinnere mich gut all unserer Gespräche. Ich hatte mit Wahrheitsfanatismus, der einseitig und glühend war, die „Macht der Stulle“ entdeckt! Wieviel Ethik legte meine Gruppe – die Arbeitsgemeinschaft sozialistischer Kinder – in diese Stulle! Der Katechismus flog mir um die Ohren und ich aus der Religionsstunde. Abenteurer des Materialismus waren wir und entlarvten Lehrer, Pfarrer und Eltern. Uns selbst entlarvten wir nicht. Wir waren wunderbar gläubig, in mancher Weise gläubiger als Du. Wir träumten weder von Macht, noch von Vermassung. Freiheit – Gleichheit – Brüderlichkeit – darauf kam es uns an. Wir hofften, auf schnellstem Wege die irrende Menschheit dazu zu bewegen, eine gerechte Verteilung der Güter vorzunehmen, alle lächerlichen Vorurteile abzubauen, niemals der Stimme des Blutes, sondern immer nur der Helligkeit des Verstandes zu lauschen. Die Menschheit sollte sich dazu bekennen, daß sie gut ist.

Der Revolutionär pflegt in reiferen Jahren die Raupen vom Kohl seines Gartens zu lesen – Ideale haben es an sich, von Schuhsohlen platt getreten zu werden – wer Hörner hat, läuft sie sich ab, falls er auf dem Kopfe läuft.

Was ist aus uns geworden?

Möglicherweise glaubst Du, die Schreckensjahre hätten mich soweit gewandelt, daß ich den Kosmos und meine Rolle in der Welt jetzt anders begriffe? Das ist nicht so. Unter Hitlers Herrschaft haben sich meine Träume von Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit konserviert, sie haben sich gehalten, ohne sich in positiver oder negativer Richtung zu entwickeln. Ich konnte mit dem Pfund, das ich in mir trug, nicht arbeiten. Ich mußte es vergraben – es blieb ein Pfund. Politische Naivität blieb politische Naivität. Schwarz waren die Totenkopfmachthaber für mich, die sich die Menge dienstbar machten, indem sie ihre niedrigsten und dumpfsten Triebe glorifizierten.

Nein – die Märtyrer ließen es nicht zu, daß ich mich in eine höhere Gelassenheit finden konnte! Wie ich Deinen Vater auf dem Kurfürstendamm traf. Er versuchte, grußlos an mir vorüberzugehen, um mich nicht in den vergifteten Kreis seines gelben Sterns zu ziehen. Ich ließ mir diese Rücksichtnahme nicht gefallen. Da blieb er stehen und hielt den Hut vor seinen Stern. Ich wollte sprechen, dazu hatte ich mich ihm ja in den Weg gestellt, und nun konnte ich es kaum. Ich fühlte die mechanische Zermalmung des flutenden Verkehrs um uns, die tödliche Gleichgültigkeit des Asphalts, auf dem wir standen. Sein Blick kam auf mich zu mit der grauen Größe eines Schmerzes, der ihm noch bevorstand, und den er bereits überwunden hatte. Plötzlich merkte ich, daß ich ihm leid tat. Was soll ich daran noch schildern? Am nächsten Tag wollte ich ihn aufsuchen, aber er war nicht mehr in der Uhlandstraße. Eure Wohnung war mit einer Plombe der Gestapo versiegelt.

Deinen Bruder fand ich in seinem möblierten Zimmer in der Wittelsbacher Straße. Er mußte Kisten auf dem Schlesischen Bahnhof schleppen. Wir haben uns oft gesehen, bis er plötzlich auch fort war. Seine Wirtin endlich – Du kennst sie doch noch? – hatte ich bewogen, zu mir zu ziehen. Sie konnte schneidern. Wir hatten beschlossen, sie als Hausschneiderin herumzureichen, damit sie ihren Wohnort öfter wechseln könnte. Bei mir sollte ihr festes Domizil sein. Eines Tages holte sie mich dann vom Geschäft ab, mit einem kleinen Köfferchen. Schon wollte ich mit ihr zum Stadtbahnhof gehen, da fiel mir ein, daß mein Brot nicht reiche. Ich ging in einen Bäckerladen. Als ich wieder herauskam, war sie verschwunden. Ich habe sie gesucht und nicht finden können. Ich hörte später – darauf war ich nicht gekommen –, daß sie plötzlich in ihre Wohnung zurückgelaufen war, den Häschern gerade in die Arme.

Es ist ja Wahnsinn, verzeih mir, daß ich Dir diese Dinge schreibe! Es gab andere, lautere, noch grauenhaftere Geschehnisse! Die Erschütterungen aber, die zum Abgrund der seelischen Existenz hinschwingen, halten uns fest.

Um die schwarze, blutige Kriegsmaschine Deutschland lag für mich eine weiße, schimmernde Welt. Im Osten verstrickte Mütterchen Rußland mit heißblütig slawischer List die gierigen Geier in frierendes Toteneis, verteidigte den tapferen Versuch, der Menschen Dinge neu zu ordnen, gegen unsere stählernen Mordpanzer. Im Westen schimmerte die Sonne der Freiheit vertrauter in den Abendfarben unserer Kultur. Alle miteinander waren sie für mich wie der Erzengel Michael, zu dem ich rief: Verteidige uns im Kampfe, gegen die Nachstellung des Satans sei unsere Schutzwehr! Für Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit hatte dieser, mein Michael, zu streiten. Nicht um Länderfetzen, nicht um europäisches Gleichgewicht, nicht um die Macht einer Nation.

Ich habe das Kriegsende in einem westdeutschen Dorf, nahe Holland, erlebt. Ich ging gerade, Milch zu holen, als ich ganz nahen Kanonendonner von der Front hörte. Ich habe nicht eine Sekunde die nahende Gefahr gefürchtet. Alle Psalmen sind stumm, verglichen mit der Dankhymne, die in mir aufbrach, weil der Erzengel Michael gekommen war, mit seinem Schwert die Kerker aufzuschlagen, die Konzentrationslager aufzuriegeln, die bleiche Menschen im Moor ersticken ließen – daß nach dieser Sintflut von Mord, Haß und Gier ein Stahlgewitter von Menschenliebe, Freiheit und Gerechtigkeit seine Blitze senden müßte! Und Du warst da. Plötzlich hatte ich keine Angst, Du könntest nicht mehr leben.

Ich glaube, daß sehr viele Deutsche, mochten sie auch beim Biere skeptischer klügeln, von dem gleichen Glückstaumel berauscht, von der gleichen Hoffnung durchglüht waren wie ich.

„You all have been Nazis“, sagten die Kanadier.

Dann kamen polnische Truppen und sagten das gleiche.

Es war selbstverständlich. Es war noch Krieg. Wir waren Feinde und alle Nazis. Daß ich nicht daran gedacht hatte – glaubte ich denn, auf meiner Stirn stünden meine Gesinnungen zu lesen wie auf der Kains das Mordmal?

Später kamen die Engländer mit einer No-Fraternization-Order. Die Nazis sagten: „Wir wollen ja gar nicht mit denen reden!“ Die Realisten sagten: „Eine verständliche Verordnung“.

Ich bin nicht zu stolz, zuzugeben, daß mich die oben zitierten Äußerungen, die Verordnungen, nicht nur kränkten, sondern schwer persönlich verwundeten.

Stell’ Dir ein unschuldiges Mädchen vor, das sich, nach inneren Kämpfen, aus wärmster Neigung einem Mann hingibt, und dann erntet sie frivoles Mißtrauen. – Das muß ein ähnliches Gefühl der Verwundung geben.

Neulich unterhielt ich mich mit Bekannten über jene Zeit und führte dieses Beispiel an.

„Das stimmt nicht“, meinte einer mit deutscher Unfehlbarkeit.

Aber es stimmt. Wer es nicht mitempfindet, hat eben niemals für den Sieg der Alliierten aus ganzem Herzen gebetet – zu welchem Gott auch immer.

Helene

Dritter Brief

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Lieber Hans!

Daß Du mir die Annahme, Du hättest die Korrespondenz abgebrochen, fast übelnimmst! Und niemals hättest Du mich mit den Nazis identifiziert. Nein? Du, das ist nichts zum übelnehmen. Meine Sorge oder Bangigkeit hat doch andere Quellen. Du hast mich nicht identifiziert – das ist gut und richtig. Aber „es“ hat mich identifiziert. Ich will versuchen, Dir zu erklären, wie ich es meine.

Ich möchte Dich und mich nicht damit aufhalten, etwa einen eigenen Beitrag zur Schuldfrage zuzusteuern. Die Stimmen der Alliierten kennst Du; den Nürnberger Prozeß hast Du gewiß verfolgt, und die Stimmen von Thomas Mann, Hermann Hesse, Ernst Wiechert; Friedrich Wolf und Johannes R. Becher waren sicher auch in Paris zu lesen.

Die Argumente über Schuld und Unschuld lassen sich nach dem Muster allzuoft gespielter Platten ebenfalls numerieren. Etwa, daß Kurt sagt „Schumacher dreizehn“, indes Frau Schulz ihrem Ressentiment freien Lauf läßt in einem wiederholten „Alliiert durch drei!“

Daß ich den Schablonenzirkel der Argumente trostlos finde, ist eine der Ursachen, weshalb ich mit dem Achtzehnjährigen „drum herum“ redete. Selbstverständlich läßt sich „Material“ gegen alles und jedes für alles und jedes häufeln. Aber jetzt bin ich Dir unsere Schuld schuldig.

Eines ist von Anfang des Endes an schlecht gelungen: der deutschen Allgemeinheit Schuldgefühl und Sühnebereitschaft aufzunötigen. Die Erfolglosigkeit aller Erziehung zur Einsicht war von vornherein zu befürchten. Ein besiegtes Volk läßt sich von den Siegern höchst widerwillig belehren. Fahre in Gedanken mit mir in der Stadtbahn, stehe mit mir in der Schlange vor dem Fleischerladen und höre zu:

„Wenn wir gesiegt hätten, dann wären Stalin und Churchill in Nürnberg aufgehängt worden!“ „Wir sind ja das schlechteste Volk der Welt – ehe nicht Millionen von uns draufgegangen sind, sind die nicht zufrieden!“ „Nächsten Winter soll es noch weniger Kohlen geben – Verbrechen gegen die Menschlichkeit.“ „Unsere Konzentrationslager? Kommen Se mal nach Sachsenhausen, wo die kleinen Pgs schuften und Kohldampf schieben!“

Lieber – wozu noch mehr dieser Phrasen! Sie drücken alle das gleiche aus. Äußerungen Unterlegener, die sich gegen die moralische Diskriminierung wehren und durch ihre Art des Wehrens sich noch schärfer ins Unrecht setzen. Ich kenne diese Menschen von früher her, wo sie mit bitterböser Arroganz und dümmlicher Gefolgschaftstreue in ihren Herzen achtlos über Leichen gingen, ehrpußlig Mordorden einklaubten.

Im ersten Jahr nach dem Waffenstillstand mischte ich mich ein, suchte den Grund der wirtschaftlichen Notlage zu erklären, auf die Leiden anderer Völker hinzuweisen, auf die Verbrechen, die in unserem Namen verübt wurden, und die wir nicht verhindert haben. Blieb ich sanft, eindringlich, überlegen und sachlich, war der Mißerfolg mir gewiß. Brach sich gelegentlich mein cholerisches Temperament Bahn, war mir die Niederlage desto sicherer. Nie hat irgend jemand zu mir gesagt: „Was Sie sprechen, ist hörenswert. Ich werde darüber nachdenken.“ Kam einmal Beifall, dann von jemandem, der vorher dachte wie ich. Vielleicht habe ich es auch nicht richtig angefangen. Man sollte wohl demagogischer vorgehen, nach dem guten Vorbild: „Doch Brutus ist ein ehrenwerter Mann!“

Jetzt höre ich nur noch zu und registriere den Fortschritt in der Vernazifizierung breiter Bevölkerungsschichten.