Berühmte Märchen aus aller Welt Band 4 - various - E-Book

Berühmte Märchen aus aller Welt Band 4 E-Book

Various

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Beschreibung

Mit vielen prachtvollen Illustrationen Die Märchen von Hans Christian Andersen, Charles Dickens, den Brüdern Grimm, Wilhelm Hauff, Alexander Puschkin … Mit den Erzählungen aus Tausendundeiner Nacht, chinesischen Volksmärchen, "Die Schöne und das Biest" aus Frankreich, "Drei Haselnüsse für Aschenbrödel" aus Tschechien, Märchen aus Amerika, Afrika, Indien …

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Berühmte Märchen aus aller Welt

Vom Schneewittchen bis Zwerg Nase

Ausgesucht von Dennis Grabowsky

Bild und Heimat

Von Dennis Grabowsky liegen bei Bild und Heimat

außerdem vor:

Die schönsten Tierfabeln (2016)

Die schönsten tschechischen und slowakischen Märchen (2016)

Illustrationen

Artuš Scheiner: S. 6, S. 15; Iwan Bilibin: S. 16, S. 101 f.; Alexander Zick: S. 30; Walter Crane: S. 52, S. 54, S. 56, S. 64 f., S. 107, S. 110; Heinrich Vogeler: S. 74; A. Adamo (Münchener Bilderbogen): S. 88 ff., S. 92, S. 95 f.; John Leech: S. 117, S. 129, S. 151, S. 159, S. 167, S. 191, S. 210, S. 218; Franz Schuhwerk (Münchener Bilderbogen): S. 239, S. 257, S. 272

Es war leider nicht in allen Fällen möglich, die Rechteinhaber zu ermitteln. Berechtigte Ansprüche bleiben gewahrt.

eISBN 978-3-95958-758-7

1. Auflage

© 2017 by BEBUG mbH / Bild und Heimat, Berlin

Umschlaggestaltung: fuxbux, Berlin

Umschlagabbildung: Iwan Bilibin

In Kooperation mit der SUPERillu

www.superillu-shop.de

Salz ist wertvoller als Gold

Aus der Slowakei

Von Pavol Dobšinský

Es war einmal ein König, der hatte drei Töchter, Agnes, Ludmila und Maruschka, die er wie sein Augenlicht liebte. Er war schon alt und des Herrschens müde, und so sann er oft darüber nach, welche seiner Töchter nach seinem Tode Königin werden sollte.

Die Wahl wurde ihm schwer, denn er liebte alle drei gleichermaßen. Endlich, nach reiflichem und langem Erwägen entschloss er sich, diejenige zur Herrscherin zu bestimmen, die ihn am innigsten liebte. Er berief die Prinzessinnen vor seinen Thron und sprach zu ihnen: »Meine lieben Töchter! Ich bin alt und schwach geworden und werde nicht mehr lange unter euch weilen. Doch bevor ich sterbe, will ich eine von euch zu meiner Nachfolgerin ernennen. Vorerst aber will ich prüfen, welche mich am liebsten hat. Sage du mir, Agnes, meine Älteste, wie liebst du deinen Vater?« – »Ach, lieber Vater, ich liebe dich mehr als Gold!«, antwortete Agnes und küsste seine Hand.

»Und du, Ludmila, wie sehr liebst du mich denn?« – »Ach, mein gutes Väterchen«, rief das Mädchen und umarmte den König, »ich liebe dich wie mein Brautgeschmeide.« – »Und nun du, meine Jüngste, sage mir, wie du mich liebst?«, fragte der König und wandte sich Maruschka zu. »Ich, Vater, liebe dich wie Salz«, antwortete sie nach kurzem Überlegen und sah den König allerliebst an. »Oh, du böses Mädchen, du liebst deinen Vater nur wie Salz! Schäme dich«, riefen ihre beiden Schwestern empört. »Ja, wie Salz liebe ich meinen Vater«, wiederholte Maruschka. Da wurde auch der alte König böse. Er konnte nicht verstehen, dass Maruschka ihre Liebe zu ihm mit einem so einfachen Dinge verglich, das jedermann, auch der Ärmste, besaß und nur für wenige Groschen erwerben konnte.

»Geh, mir aus den Augen, du undankbares Mädchen!«, rief er. »Ich will dich erst dann wiedersehen, wenn den Menschen Salz wertvoller als Gold und Edelsteine erscheinen wird. Dann kehre zurück, denn dann will ich dich zur Königin machen!« Dass jemals eine so böse Zeit kommen könnte, daran glaubten weder der alte König noch seine beiden älteren Töchter. Ohne zu widersprechen, mit tränenüberströmtem Antlitz, verließ die stets gehorsame Maruschka das Schloss ihres Vaters. Einsam und verlassen stand sie auf der Straße und wusste nicht, wohin sie ihre Schritte wenden sollte. Schließlich beschloss sie, der Richtung des Windes zu folgen. Sie wanderte über Berge und Täler, bis sie zu einem dichten Birkenwäldchen kam. Da trat ihr eine alte Frau in den Weg. Maruschka grüßte freundlich und wünschte der Alten einen guten Morgen. Die Alte sah die rotgeweinten Augen des Mädchens und sagte mitfühlend: »Was bedrückt dich denn, mein Kind, dass du so bitterlich weinst?«

»Ach, Mütterchen«, antwortete Maruschka, »fragt nicht nach meinem Kummer! Ihr könnt mir ja ohnehin nicht helfen!« – »Vielleicht doch!«, sagte die Alte lächelnd. »Öffne mir dein Herz und sage mir, was dich quält. Wo graue Haare sind, da ist auch Vernunft.« Ermutigt erzählte nun Maruschka, was sich zugetragen hatte, und weinend fügte sie hinzu: »Ich will ja gar nicht Königin werden, sondern will nur allzu gerne meinen Vater von meiner aufrichtigen Liebe zu ihm überzeugen!« Die Alte ließ Maruschka zu Ende erzählen, obwohl sie von Anfang an wusste, was der Grund ihres Kummers war, denn sie war keine gewöhnliche alte Frau, sondern eine gute Fee.

Freundlich nahm sie das Mädchen bei der Hand und forderte es auf, in ihre Dienste einzutreten. Maruschka war überglücklich und ging mit der Alten. Die gute Fee führte sie in ihr Waldhäuschen und gab ihr zu essen und zu trinken. Als sich Maruschka gelabt hatte, fragte die alte Frau: »Kannst du Schafe hüten? Kannst du melken? Kannst du spinnen und weben?« – »Nichts desgleichen habe ich gelernt«, antwortete das Mädchen traurig, »doch wenn Ihr es mir zeigen wollt, will ich es versuchen und sicherlich schnell lernen!« – »Dies werde ich gerne tun und dich in allem unterweisen. Sei nur stets gut und gehorsam und tue, was ich dir sagen werde. Wenn sich die Zeit zur Zeit gesellt, wird dir Glück und Freude erwachsen!« Maruschka versprach folgsam zu sein, und da sie fleißig und willig war, lernte sie schnell, und die Arbeit machte ihr viel Freude.

Inzwischen lebten die beiden älteren Prinzessinnen auf dem Schloss in Saus und Braus. Mit falschen Worten und vorgetäuschten Liebkosungen umgarnten sie den alten König und verlangten täglich neue und neue Geschenke. Die älteste Prinzessin stand den lieben Tag lang vor dem Spiegel und kleidete sich in prächtige Gewänder, während ihre Schwester sich mit Gold und Edelsteinen schmückte und unaufhörlich tanzte. Ein Festmahl folgte dem anderen, und die Mädchen hatten nichts anderes als nur ihr Vergnügen im Sinn. Da gingen dem alten König die Augen auf, er musste erkennen, dass seinen Töchtern Gold und Tanz lieber waren als er. Er gedachte seiner jüngsten Tochter und erinnerte sich an die aufrichtige Liebe, mit der sie ihn immer umgeben, ihn geherzt und liebkost hatte. Er wusste nun, dass er sie allein zur Königin hätte ernennen sollen. Wie gern hätte er sie zurückgeholt, wenn er nur gewusst hätte, wo sie sich befand! Kamen ihm aber ihre Worte in den Sinn, dass sie ihn nur so wie Salz liebe, wurde er wieder ärgerlich und zweifelte an ihr.

Eines Tages sollte ein Festmahl im Schloss gegeben werden. Da stürzte der Koch vor des Königs Thron und rief: »Herr, ein großes Missgeschick hat uns befallen! Das Salz in der Küche und auch im ganzen Lande ist zerflossen und hat sich aufgelöst. Womit soll ich denn die Speisen salzen?« – »Kannst du denn nichts anderes zum Würzen verwenden?«, fragte der König ärgerlich. »Oh, Herr, welches Gewürz könnte denn Salz ersetzen?«, rief der Koch verzweifelt. Auf diese Frage wusste der König keine Antwort. Er wurde böse und befahl dem Koch, das Festmahl ohne Salz zuzubereiten. »Wenn es dem König recht ist, mir kann es sicherlich recht sein«, dachte der Koch und sandte ungesalzene Speisen zur Königstafel. Den Gästen wollten die Gerichte nicht munden, obwohl sie sonst schmackhaft und wohlgefällig zubereitet waren.

Der König sandte seine Boten nach allen Windrichtungen aus, um Salz zu holen, doch sie alle kehrten unverrichteter Dinge und mit leeren Händen ins Schloss zurück. Das gleiche Missgeschick hatte auch die Nachbarländer betroffen, und wer noch einen kleinen Salzvorrat hatte, wollte sich nicht für alles Gold der Welt von ihm trennen. Auf Befehl des Königs bereitete nun der Koch nur noch süße Speisen und Gerichte zu, die keines Salzes bedurften. Doch auch diese Speisen wollten den Gästen auf die Dauer nicht schmecken, und als sie sahen, dass keine Besserung abzusehen war, verließen sie, einer nach dem anderen, das königliche Schloss. Die beiden Prinzessinnen waren untröstlich, aber es blieb ihnen nichts anderes übrig, als die Gäste ziehen zu lassen.

Doch nicht nur die Menschen, sondern auch das Vieh in den Ställen litt unter diesem Salzmangel. Kühe, Ziegen und Schafe gaben wenig Milch, es war ein Unglück für jedermann im Lande. Die Leute wankten müde zur Arbeit und wurden schwach und krank. Sogar den König und seine beiden Töchter verschonte die Krankheit nicht. Da erst erkannten sie, welch seltene Gabe des Himmels das Salz war und wie wenig sie diese geschätzt hatten. Die Schuld, Maruschka unrecht getan zu haben, lastete schwer auf des Königs Gewissen.

In der Zwischenzeit lebte das Mädchen in der Hütte im Wald glücklich und zufrieden. Sie ahnte nicht, wie schlecht es ihrem Vater und ihren beiden Schwestern zu Hause erging. Die weise Frau jedoch wusste nur zu genau, was sich dort zutrug. Eines Tages sprach sie zu Maruschka: »Stets sagte ich dir, dass wenn die Zeit sich zur Zeit gesellt, deine Stunde kommen wird. Deine Stunde hat nun geschlagen, kehre nach Hause zurück!« – »Ach, mein gutes Mütterchen, wie könnte ich denn jemals wieder zurückkehren, wenn mich mein eigener Vater aus dem Haus gewiesen hat«, antwortete das Mädchen und fing zu weinen an. Da erzählte ihr die gute Fee, was sich während ihrer Abwesenheit zugetragen hatte. Dass nun die Worte an ihren Vater wahr geworden und Salz wertvoller als Gold und Edelsteine sei.

Ungern verließ Maruschka die gute Fee, die sie so viele nützliche Dinge gelehrt hatte, doch ihre Sehnsucht nach dem Vater war erwacht, und sie konnte es kaum erwarten, ihn wiederzusehen. »Du hast mir treu gedient, Maruschka«, sprach die Alte beim Abschied, »und ich will dich gut entlohnen. Sage mir, was du dir wünschst.« – »Ihr wart gut zu mir und habt mich so vieles gelehrt«, antwortete Maruschka, »ich will nichts anderes von Euch, Mütterchen, als ein wenig Salz, welches ich meinem Vater bringen will.« – »Und nichts weiter wünschst du? Ich könnte jeden deiner Wünsche erfüllen«, fragte nochmals die gute Fee. »Nein, nichts mehr begehre ich, Mütterchen, als das Salz«, beharrte Maruschka. »Da du das Salz so hochschätzt, möge es dir niemals daran fehlen«, sprach die Alte. »Nimm hier diese kleine Weidenrute, und wenn einmal der Mittagswind zu wehen beginnt, folge ihm. Gehe durch drei Täler und über drei Berge, dann halte ein und berühre den Boden mit der Weidenrute. Die Erde wird sich öffnen, tritt getrost ein. Was du dort finden wirst, gehört dir.«

Dankend nahm Maruschka die Weidenrute und verwahrte sie sorgfältig. Dann gab ihr die alte Frau ein Beutelchen, welches sie mit Salz füllte. Schweren Herzens nahm das Mädchen Abschied von dem kleinen Waldhäuschen, das ihr zur zweiten Heimat geworden war, und machte sich, von dem Mütterchen begleitet, auf den Heimweg. Weinend versicherte Maruschka, dass sie wiederkommen wolle, um die alte Frau zu holen, und sie für immer mit sich auf Schloss zu nehmen. »Bleibe nur stets gut und gehorsam«, sagte die Alte lächelnd, als sie den Rand des Birkenwäldchens erreicht hatten, »und es wird dir wohl ergehen!« Als ihr Maruschka nochmals für ihre Güte danken wollte, war sie verschwunden. Verwundert stand das Mädchen da, doch die Sehnsucht nach ihrem Vater ließ sie nicht lange verweilen, und sie eilte zum Schloss.

Sie war ärmlich gekleidet, und da sie den Kopf in ein Tuch gehüllt hatte, erkannte sie niemand. Die Diener im Schloss verweigerten ihr den Zutritt zum König, da er krank und schwach im Bett lag. »Ach, lasst mich doch ein«, bat sie, »ich bringe ein Geschenk, welches dem König seine verlorene Kraft und Gesundheit wiedergeben wird!« Als der König dies hörte, befahl er, das Mädchen zu ihm zu bringen. »Gebt mir ein Stück Brot«, bat Maruschka, als sie vor dem König stand. »Salz kann ich dir mit dem Brot jedoch nicht reichen lassen«, seufzte der König, »denn wir haben im Schloss kein Stäubchen davon.« – »Das Salz habe ich«, rief Maruschka. Sie öffnete ihren Beutel, streute ein wenig aufs Brot und reichte es dem König. »Salz! Hört ihr Leute«, rief der König entzückt. »Wie soll ich dir nur für deine Gabe danken? Sage mir, was du dir wünschst!« – »Nichts wünsche ich mir sehnlicher, als dass du, mein geliebtes Väterchen, mich wieder zu dir nimmst und mich ebenso liebst wie das Salz hier«, antwortete Maruschka und enthüllte ihr liebliches Antlitz. Der König war überglücklich, als er seine jüngste Tochter wiedersah. Er bat sie um Verzeihung, doch Maruschka küsste und streichelte ihren Vater nur und hatte auch schon alles Unrecht, welches ihr geschehen war, vergessen.

Schnell verbreitete sich im Schloss und auch im ganzen Land die Kunde, dass des Königs jüngste Tochter heimgekehrt war und Salz mitgebracht hätte. Jeder, der im Schloss erschien und um Salz bat, bekam ein wenig aus dem Beutelchen, welches nie leer wurde. Der König wurde gesund, und voll Freude darüber berief er eines Tages um die Mittagsstunde seine Edelleute, um ihnen zu verkünden, dass er Maruschka zu seiner Nachfolgerin bestimmen wolle. Maruschka wurde gerufen, und unter großem Jubel des Volkes wurde sie zur Königin ernannt. Da strich ein warmer Windhauch leise über ihre Wange, und es war ihr, als höre sie die Stimme der alten Frau im Wald. Sie erkannte das Zeichen, welches ihr der Mittagswind gab, und beschloss, ihm zu folgen. Schnell vertraute sie sich ihrem Vater an, nahm die kleine Weidenrute zur Hand und ging in der Richtung des Windes. Sie wanderte über drei Berge und durch drei Täler und blieb hierauf stehen, so wie es ihr die alte Frau geboten hatte. Mit ihrer Rute schlug sie auf den Bogen, und siehe da! Die Erde öffnete sich, und Maruschka trat ein.

Sie stand inmitten eines großen Saales, dessen Wände und Boden wie aus Eis gebaut zu sein schienen. Von allen Seiten liefen winzige Männchen herbei, die alle hell leuch­tende Fackeln trugen. »Sei uns willkommen, o Königin«, riefen sie. »Wir haben deine Ankunft lange erwartet. Unsere Gebieterin befahl uns, dir dieses unterirdische Reich zu zeigen, denn es gehört dir.« So schnatterte und plapperte es von allen Seiten, die kleinen Wesen hüpften und tanzten um Maruschka herum. Sie kletterten auf die Wände hin­auf und sprangen über die glitzernden Kristalle, die wie Edelsteine im Fackellicht blitzten. Die kleinen Männchen führten Maruschka durch Gänge, von deren Decken silberschimmernde Eiszapfen hingen. Sie geleiteten sie in Gärten, in welchen rote Eisrosen und andere wunderbare Blumen blühten. Dann brachen sie eine der schimmernden Blüten ab und reichten sie Maruschka. Doch kein lieblicher Duft entströmte ihrem Kelche. »Was soll denn all dies bedeuten?«, fragte das Mädchen verwundert, »niemals noch habe ich solche Pracht gesehen.« – »All dies ist Salz«, riefen die Männchen im Chor. »Nimm davon, soviel dir beliebt, der Vorrat ist unerschöpflich!«

Maruschka dankte den kleinen Wesen von ganzem Herzen und kehrte ans Tageslicht zurück. Der Eingang zum unterirdischen Reich aber schloss sich nicht wieder. Als sie nach Hause zurückkehrte und ihrem Vater von ihrem wunderbaren Erlebnis erzählt hatte, erkannte dieser, mit welch unschätzbarem Reichtum seine Tochter von der alten Frau im Birkenwalde überschüttet worden war. Maruschka aber sehnte sich nach der alten Frau und eilte mit einem großen Gefolge zum Birkenwäldchen, um sie zu finden und für immer ins Schloss zu bringen, so wie sie es ihr beim Abschied versprochen hatte. Doch so sehr sie sich auch bemühte und den Wald kreuz und quer durchsuchte, es gelang ihr nicht, die Hütte zu finden. Das Mütterchen blieb verschwunden. Da erst wurde es Maruschka klar, dass die alte Frau ihre gütige Fee gewesen war. Sie kehrte heim und lebte, von ihren Untertanen geliebt und geehrt, noch viele lange Jahre.

Schneeflöckchen

Aus Russland

Von Alexander Afanassjew

Es war vor langer Zeit. Da lebte der Bauer Iwan mit seiner Frau Maria auf einem schönen Bauernhof in einem abgelegenen kleinen Dorf, fern von Moskau, weit hinten in der sibirischen Provinz. Sie liebten sich und waren sich von Herzen zugetan. Aber leider hatten sie keine Kinder. Die Zeit verging, und sie wurden alt und immer älter. Sie konnten von dem, was sie anbauten und verkauften, gut leben. Doch das leere Kinderzimmer im Haus machte sie beide traurig. Das Einzige, was ihnen Freude bereitete, war, anderen Kindern beim Spielen zuzusehen. Doch so sehr sie sich auch ein Kind wünschten, es wollte sich einfach keines einstellen.

Es war wieder Winter geworden, und in der Nacht hatte es geschneit. Alle Kinder im Dorf rannten nach dem Frühstück auf die Straße und spielten im Schnee. Iwan und Maria setzten sich ans Fenster und schauten den Kindern zu, wie sie herumtollten. Das lustige Treiben auf der Straße machte sie froh und ließ sie für einen Moment ihr eigenes Leid vergessen. Die Kinder begannen, einen Schneemann zu bauen. Iwan sagte zu Maria: »Komm, meine geliebte Frau, lass uns auch einen Schneemann bauen!« Maria freute sich über die Idee ihres geliebten Mannes: »Ja, das wird schön. Aber was hältst du davon, keinen Schneemann zu bauen, sondern ein Schneemädchen? Ich wünsche mir schon so lange ein Mädchen, da können wir uns wenigstens eines aus Schnee machen.« – »Du hast recht, geliebte Frau«, erwiderte Iwan, zog sich an, wartete, bis Maria sich ebenfalls angezogen hatte, dann gingen sie gemeinsam hin­aus auf die Straße.

Sie formten aus Schnee einen Körper mit Armen und Beinen und einem Kopf. »Gott zum Gruß«, sagte ein Passant. »Was macht Ihr da?« – »Sieh selbst … darf ich vorstellen? Das ist Schneeflöckchen«, antwortete Maria und lachte. Sie formte ein Näschen, einen Mund, Augen, Ohren und betrachtete zufrieden ihr Werk. Zum Schluss gab sie dem Schneemädchen einen Kuss auf den Mund. Und plötzlich – fing es an zu atmen. Iwan schaute erstaunt, wie das Schneemädchen die blauen Augen öffnete und mit seinen roten Lippen freundlich lächelte. Schneeflöckchen bewegte den Kopf, als ob es lebendig wäre, und strampelte mit Beinen und Armen. »Was geht hier vor? Das ist ein Wunder!«, murmelte Iwan und bekreuzigte sich. »Ach, Iwan, Iwan!«, rief Maria aus und strahlte vor Freude. »Gott hat unsere Gebete erhört und uns ein Kind geschenkt!« Der Schnee fiel von dem Mädchen ab wie die Schale vom Ei, und ein lebendiges kleines Mädchen stand vor ihnen. »Mein geliebtes Schneeflöckchen!«, freute sich Maria und führte das Mädchen freudestrahlend ins Haus. Iwan war immer noch verblüfft über das Wunder und folgte ihnen langsam.

Seitdem lebte Schneeflöckchen bei Iwan und Maria. Es wuchs schnell und von einem Tag zum anderen wurde es immer schöner. Von da an waren Iwan und Maria glücklich über alle Maßen. Das Haus war immer voller Kinder, die Schneeflöckchen besuchten. Die Mädchen spielten verschiedene Spiele und sangen mit ihm, lehrten es alles, was sie selbst wussten. Schneeflöckchen lernte alles außerordentlich rasch. So ging es dreizehn Jahre lang. Als es dann wieder Frühling wurde, überfiel eine große Traurigkeit Schneeflöckchen. »Was ist dir?«, fragte Maria. »Was hast du denn?«, wollte Iwan wissen. Doch Schneeflöckchen schüttelte nur den Kopf.

Sie war jetzt ein sehr kluges dreizehnjähriges Mädchen, schön wie ein Kindertraum. Ihre Haut war weiß wie Schnee, die Augen von der Farbe von Veilchen, ihr blonder Zopf reichte bis zum Gürtel, und sie hatte eine wunderschöne Stimme. Oft sang sie bei der Hausarbeit oder auf dem Weg zur Schule, und immer blieben die Leute stehen, um ihre überirdische Stimme noch einen Moment zu hören. Zudem war sie äußerst freundlich gegenüber jedermann und sehr bescheiden. Im Haushalt half sie Maria bei allen Arbeiten. Ihre Eltern waren sehr glücklich. »Schau, Iwan«, sagte Maria zu ihrem Mann, »was für ein Geschenk wir von Gott bekommen haben.« Iwan antwortete: »Gott sei Dank! Die Freude ist nicht ewig, aber der Kummer auch nicht unendlich.«

Die Märzsonne wärmte schon die Erde. Auf den Wiesen brachen die Grasspitzen durch die Schneedecke und die Vögelchen zwitscherten lustig. Die Mädchen sammelten sich auf einer Wiese außerhalb des Dorfes und tanzten. Sie sangen: »Schöner Frühling, sag uns doch, woher kommst du geflogen?« Schneeflöckchen tanzte nicht mit, es saß abseits und blickte zu Boden. Bald ging es nach Hause. Als Maria ihre traurige Miene sah, fragte sie: »Was ist denn mit dir, mein Lieblingskind? Bist du krank? Warum bist du so traurig? Hat dich ein böser Bub gekränkt?« Schneeflöckchen antwortete ihr jedes Mal: »Es geht mir gut, liebe Mutter. Mach dir keine Sorgen. Ich bin gesund.«

Der Frühling vertrieb den letzten Schnee mit warmen Tagen. Auf den Wiesen, in den Gärten erblühten die ersten Blumen, die Nachtigall sang ihr Lied. Nur das arme Schneeflöckchen suchte Schatten wie ein Maiglöckchen unterm Baum. Es war traurig und mied die Freundinnen. Eine einzige Sache bereitete ihm noch Freude: sich in der kalten Quelle unter der Weide zu baden. Eines Tages kamen kalter Wind und dicke Wolken. Große Hagelkörner fielen vom Himmel. Schneeflöckchen war so froh darüber, als ob es Perlen wären. Als der Hagel aber unter den Sonnenstrahlen bald zu tauen begann, weinte Schneeflöckchen bitterlich, wie eine Schwester um ihre Brüder.

Die Mädchen vom Dorf wollten ein paar Tage später im Wald spazieren gehen. Sie kamen zum Hof von Iwan und Maria und fragten, ob Schneeflöckchen mit ihnen gehen könne. Maria aber wollte nicht, dass Schneeflöckchen das Haus verlässt. Schneeflöckchen selbst hatte auch keine Lust, in den Wald zu gehen. Doch weil ihre Tochter so oft traurig war, dachte Maria, dass ein Spaziergang das Schneeflöckchen vielleicht auf andere Gedanken brächte. Sie zog Schneeflöckchen schön an, küsste es und sagte: »Geh, mein Lieblingskind. Amüsiere dich bisschen mit den anderen Mädchen.« Die Mädchen bat sie, auf Schneeflöckchen aufzupassen: »Seid vorsichtig mit ihr. Ihr wisst ja, dass Schneeflöckchen meine einzige Freude ist.« – »Machen wir«, antworteten alle voller Vorfreude auf den gemeinsamen Spaziergang, nahmen Schneeflöckchen in ihre Mitte und gingen zusammen in den Wald. Dort pflückten sie Blumen, machten Kränze daraus und kleine Blumensträußchen und sangen fröhliche Lieder. Schneeflöckchen war mitten unter ihnen und schien auch wieder besserer Laune.

Als es Abend zu werden begann, zündeten die Mädchen ein kleines Feuer aus trockenem Gras und Ästen an. Dann standen sie in einer Reihe und sangen das Lied vom Feuersprung. Sie begannen, eine nach der anderen, über das Feuer zu springen. Schneeflöckchen war als Letzte dran. Nach und nach sprangen die Mädchen, als sie plötzlich eine klägliche Stimme hörten, die »Ach!«, sagte. Sie schauten sich erschrocken um. Niemand war zu sehen. Aber auch Schneeflöckchen schien wie vom Erdboden verschwunden. »Wahrscheinlich hat sie sich vor uns versteckt«, sagte eine, und sie begannen, sie überall zu suchen. Die Mädchen riefen nach ihr. Niemand antwortete. »Wohin ist sie verschwunden?«, fragten die Mädchen. »Wahrscheinlich ist sie heim gelaufen«, sagte eine andere. Sie packten ihre Sachen zusammen und rannten ins Dorf zurück, aber Schneeflöckchen war auch dort nicht. Man suchte es am nächsten Tag, und auch am dritten. Der ganze Wald wurde abgesucht, jeder Baum und Strauch. Schneeflöckchen aber blieb spurlos verschwunden.

Lange weinten Iwan und Maria über ihr verlorenes Glück. So rätselhaft, wie es gekommen war, so war Schneeflöckchen auch wieder verschwunden. Erst viel später stellte sich heraus, dass Schneeflöckchen während des Sprunges über das Feuer geschmolzen war. Es hatte sich in ein durchsichtiges Dampfwölkchen verwandelt und war in den Himmel aufgestiegen. Lange Zeit ging die arme Maria noch in den Wald, suchte überall nach Schneeflöckchen und rief: »Ach, ach, Schneeflöckchen! Mein liebstes Kind, komm doch zu mir zurück.« Oft schien es ihr, als antworte die Stimme von Schneeflöckchen: »Ach! Ach«, aber das war nur das Echo auf ihre eigenen Rufe.

Schneeweißchen und Rosenrot

Aus Deutschland

Von den Brüdern Grimm

Eine arme Witwe lebte einsam in einem Hüttchen, und vor dem Hüttchen war ein Garten, darin standen zwei Rosenbäumchen, davon trug das eine weiße, das andere rote Rosen. Und sie hatte zwei Kinder, die glichen den beiden Rosenbäumchen, und das eine hieß Schneeweißchen, das andere Rosenrot. Sie waren aber so fromm und gut, so arbeitsam und unverdrossen, als je zwei Kinder auf der Welt gewesen sind. Schneeweißchen war nur stiller und sanfter als Rosenrot. Rosenrot sprang lieber in den Wiesen und Feldern umher, suchte Blumen und fing Sommervögel. Schneeweißchen aber saß daheim bei der Mutter, half ihr im Hauswesen oder las ihr vor, wenn nichts zu tun war. Die beiden Kinder hatten einander so lieb, dass sie sich immer an den Händen fassten, sooft sie zusammen ausgingen. Und wenn Schneeweißchen sagte: »Wir wollen uns nicht verlassen«, so antwortete Rosenrot: »Solange wir leben, nicht.« Und die Mutter setzte hinzu: »Was das eine hat, soll’s mit dem anderen teilen.«

Oft liefen sie im Walde allein umher und sammelten rote Beeren, aber kein Tier tat ihnen etwas zuleid, sondern sie kamen vertraulich herbei: Das Häschen fraß ein Kohlblatt aus ihren Händen, das Reh graste an ihrer Seite, der Hirsch sprang ganz lustig vorbei, und die Vögel blieben auf den Ästen sitzen und sangen, was sie nur wussten. Kein Unfall traf sie: Wenn sie sich im Wald verspätet hatten und die Nacht sie überfiel, so legten sie sich nebeneinander auf das Moos und schliefen, bis der Morgen kam, und die Mutter wusste das und hatte ihretwegen keine Sorge. Einmal, als sie im Walde übernachtet hatten und das Morgenrot sie aufweckte, da sahen sie ein schönes Kind in einem weißen glänzenden Kleidchen neben ihrem Lager sitzen. Es stand auf und blickte sie ganz freundlich an, sprach aber nichts und ging in den Wald hinein. Und als sie sich umsahen, so hatten sie ganz nahe bei einem Abgrund geschlafen und wären gewiss hineingefallen, wenn sie in der Dunkelheit noch ein paar Schritte weitergegangen wären. Die Mutter aber sagte ihnen, das müsste der Engel gewesen sein, der gute Kinder bewache.

Schneeweißchen und Rosenrot hielten das Hüttchen der Mutter so reinlich, dass es eine Freude war hineinzuschauen. Im Sommer besorgte Rosenrot das Haus und stellte der Mutter jeden Morgen einen Blumenstrauß vors Bett, darin war von jedem Bäumchen eine Rose. Im Winter zündete Schneeweißchen das Feuer an und hing den Kessel an den Feuerhaken, und der Kessel war von Messing, glänzte aber wie Gold, so rein war er gescheuert. Abends, wenn die Flocken fielen, sagte die Mutter: »Geh, Schneeweißchen, und schieb den Riegel vor«, und dann setzten sie sich an den Herd, und die Mutter nahm die Brille und las aus einem großen Buch vor. Neben ihnen lag ein Lämmchen auf dem Boden, und hinter ihnen auf einer Stange saß ein weißes Täubchen und hatte seinen Kopf unter den Flügel gesteckt.

Eines Abends, als sie so vertraulich beisammen saßen, klopfte jemand an die Tür. Die Mutter sprach: »Geschwind, Rosenrot, mach auf, es wird ein Wanderer sein, der Obdach sucht.« Rosenrot ging und schob den Riegel weg und dachte, es wäre ein armer Mann. Aber es war ein Bär, der seinen dicken schwarzen Kopf zur Tür hereinstreckte. Rosenrot schrie laut und sprang zurück, das Lämmchen blökte, das Täubchen flatterte auf, und Schneeweißchen versteckte sich hinter dem Bett. Der Bär aber fing an zu sprechen und sagte: »Fürchtet euch nicht, ich tue euch nichts zuleid, ich bin halberfroren und will mich nur ein wenig bei euch wärmen.« – »Du armer Bär«, sprach die Mutter, »leg dich ans Feuer, und gib nur acht, dass dir dein Pelz nicht brennt.« Dann rief sie: »Schneeweißchen, Rosenrot, kommt hervor, der Bär tut euch nichts, er meint’s ehrlich.« Da kamen sie beide heran, und nach und nach näherten sich auch das Lämmchen und Täubchen und hatten keine Furcht vor ihm. Der Bär sprach: »Ihr Kinder, klopft mir den Schnee ein wenig aus dem Pelzwerk«, und sie holten den Besen und kehrten dem Bär das Fell rein. Er aber streckte sich ans Feuer und brummte ganz vergnügt und behaglich. Nicht lange, so wurden sie ganz vertraut mit dem unbeholfenen Gast. Sie zausten ihm das Fell mit den Händen, setzten ihre Füßchen auf seinen Rücken und walgerten ihn hin und her, oder sie nahmen eine Haselrute und schlugen auf ihn los, und wenn er brummte, so lachten sie. Der Bär ließ sich’s aber gern gefallen, nur wenn sie’s gar zu arg machten, rief er: »Lasst mich am Leben, ihr Kinder:

Schneeweißchen, Rosenrot,

schlägst dir den Freier tot.«

Als Schlafenszeit war und die anderen zu Bett gingen, sagte die Mutter zu dem Bär: »Du kannst in Gottes Namen da am Herd liegen bleiben, so bist du vor der Kälte und dem bösen Wetter geschützt.« Sobald der Tag graute, ließen ihn die beiden Kinder hinaus, und er trabte über den Schnee in den Wald hinein. Von nun an kam der Bär jeden Abend zu der bestimmten Stunde, legte sich an den Herd und erlaubte den Kindern, Kurzweil mit ihm zu treiben, soviel sie wollten; und sie waren so gewöhnt an ihn, dass die Tür nicht eher zugeriegelt ward, als bis der schwarze Gesell angelangt war.

Als das Frühjahr herangekommen und draußen alles grün war, sagte der Bär eines Morgens zu Schneeweißchen: »Nun muss ich fort und darf den ganzen Sommer nicht wiederkommen.« – »Wo gehst du denn hin, lieber Bär?«, fragte Schneeweißchen. »Ich muss in den Wald und meine Schätze vor den bösen Zwergen hüten: Im Winter, wenn die Erde hart gefroren ist, müssen sie wohl unten bleiben und können sich nicht durcharbeiten, aber jetzt, wenn die Sonne die Erde aufgetaut und erwärmt hat, da brechen sie durch, steigen herauf, suchen und stehlen. Was einmal in ihren Händen ist und in ihren Höhlen liegt, das kommt so leicht nicht wieder ans Tageslicht.« Schneeweißchen war ganz traurig über den Abschied, und als es ihm die Tür aufriegelte, und der Bär sich hinausdrängte, blieb er an dem Türhaken hängen, und ein Stück seiner Haut riss auf, und da war es Schneeweißchen, als hätte es Gold durchschimmern gesehen. Aber es war seiner Sache nicht gewiss. Der Bär lief eilig fort und war bald hinter den Bäumen verschwunden.

Nach einiger Zeit schickte die Mutter die Kinder in den Wald, Reisig zu sammeln. Da fanden sie draußen einen großen Baum, der lag gefällt auf dem Boden, und an dem Stamm sprang zwischen dem Gras etwas auf und ab, sie konnten aber nicht erkennen, was es war. Als sie näher kamen, sahen sie einen Zwerg mit einem alten verwelkten Gesicht und einem ellenlangen schneeweißen Bart. Das Ende des Bartes war in eine Spalte des Baums eingeklemmt, und der Kleine sprang hin und her wie ein Hündchen an einem Seil und wusste nicht, wie er sich helfen sollte. Er glotzte die Mädchen mit seinen roten feurigen Augen an und schrie: »Was steht ihr da! Könnt ihr nicht kommen und mir helfen?« – »Was hast du angefangen, kleines Männchen?«, fragte Rosenrot. »Dumme neugierige Gans«, antwortete der Zwerg, »den Baum habe ich mir spalten wollen, um kleines Holz in der Küche zu haben. Bei den dicken Klötzen verbrennt gleich das bisschen Speise, das unsereiner braucht, der nicht so viel hinunterschlingt wie ihr grobes, gieriges Volk. Ich hatte den Keil schon glücklich hineingetrieben, und es wäre alles nach Wunsch gegangen, aber das verwünschte Holz war zu glatt und sprang heraus, und der Baum fuhr so geschwind zusammen, dass ich meinen schönen weißen Bart nicht mehr herausziehen konnte. Nun steckt er drin, und ich kann nicht fort. Da lachen die albernen glatten Milchgesichter! Pfui, was seid ihr garstig!« Die Kinder gaben sich alle Mühe, aber sie konnten den Bart nicht herausziehen, er steckte zu fest. »Ich will laufen und Leute herbeiholen«, sagte Rosenrot. »Wahnsinnige Schafsköpfe«, schnarrte der Zwerg, »wer wird gleich Leute herbeirufen, ihr seid mir schon um zwei zu viel. Fällt euch nichts Besseres ein?« – »Sei nur nicht ungeduldig«, sagte Schneeweißchen, holte sein Scherchen aus der Tasche und schnitt das Ende des Bartes ab. Sobald der Zwerg sich frei fühlte, griff er nach einem Sack, der zwischen den Wurzeln des Baumes steckte und mit Gold gefüllt war, hob ihn heraus und brummte vor sich hin: »Ungehobeltes Volk, schneidet mir ein Stück von meinem stolzen Barte ab! Lohn’s euch der Kuckuck!« Damit schwang er seinen Sack auf den Rücken und ging fort, ohne die Kinder nur noch einmal anzusehen.

Einige Zeit danach wollten Schneeweißchen und Rosenrot angeln. Als sie nahe bei dem Bach waren, sahen sie, dass etwas wie eine große Heuschrecke auf das Wasser zuhüpfte, als wollte es hineinspringen. Sie liefen heran und erkannten den Zwerg. »Wo willst du hin?«, sagte Rosenrot, »du willst doch nicht ins Wasser?« – »Solch ein Narr bin ich nicht«, schrie der Zwerg, »seht ihr nicht, der verwünschte Fisch will mich hineinziehen!« Der Kleine hatte da gesessen und geangelt, und unglücklicherweise hatte der Wind seinen Bart mit der Angelschnur verflochten. Als gleich darauf ein großer Fisch anbiss, fehlten dem schwachen Geschöpf die Kräfte, ihn herauszuziehen. Der Fisch behielt die Oberhand und riss den Zwerg zu sich hin. Zwar hielt er sich an allen Halmen und Binsen, aber das half nicht viel, er musste den Bewegungen des Fisches folgen, und war in beständiger Gefahr, ins Wasser gezogen zu werden. Die Mädchen kamen zur rechten Zeit, hielten ihn fest und versuchten den Bart von der Schnur loszumachen, aber vergebens, Bart und Schnur waren fest ineinander verwirrt. Es blieb nichts übrig, als das Scherchen hervorzuholen und den Bart abzuschneiden, wobei ein kleiner Teil desselben verloren ging. Als der Zwerg das sah, schrie er sie an: »Ist das Benehmen, ihr Lurche, einem das Gesicht zu schänden? Nicht genug, dass ihr mir den Bart unten gestutzt habt, jetzt schneidet ihr mir den besten Teil davon ab. Ich darf mich vor den Meinigen gar nicht sehen lassen. Dass ihr laufen müsstet und die Schuhsohlen verloren hättet!« Dann holte er einen Sack Perlen, der im Schilfe lag, und ohne ein Wort weiter zu sagen, schleppte er ihn fort und verschwand hinter einem Stein.

Es trug sich zu, dass bald danach die Mutter die beiden Mädchen zur Stadt schickte, um Zwirn, Nadeln, Schnüre und Bänder einzukaufen. Der Weg führte sie über eine Heide, auf der hier und da mächtige Felsenstücke zerstreut lagen. Da sahen sie einen großen Vogel in der Luft schweben, der langsam über ihnen kreiste, sich immer tiefer herabsenkte und endlich nicht weit bei einem Felsen niederstieß. Gleich darauf hörten sie einen durchdringenden, jämmerlichen Schrei. Sie liefen herzu und sahen mit Schrecken, dass der Adler ihren alten Bekannten, den Zwerg, gepackt hatte und ihn forttragen wollte. Die mitleidigen Kinder hielten gleich das Männchen fest und zerrten sich so lange mit dem Adler herum, bis er seine Beute fahren ließ. Als der Zwerg sich von dem ersten Schrecken erholt hatte, schrie er mit seiner kreischenden Stimme: »Konntet ihr nicht säuberlicher mit mir umgehen? Gerissen habt ihr an meinem dünnen Röckchen, dass es überall zerfetzt und durchlöchert ist, unbeholfenes und täppisches Gesindel, das ihr seid!« Dann nahm er einen Sack mit Edelsteinen und schlüpfte wieder unter den Felsen in seine Höhle. Die Mädchen waren an seinen Undank schon gewöhnt, setzten ihren Weg fort und verrichteten ihr Geschäft in der Stadt.

Als sie beim Heimweg wieder auf die Heide kamen, überraschten sie den Zwerg, der auf einem reinlichen Plätzchen seinen Sack mit Edelsteinen ausgeschüttet und nicht gedacht hatte, dass so spät noch jemand daherkommen würde. Die Abendsonne schien über die glänzenden Steine, sie schimmerten und leuchteten so prächtig in allen Farben, dass die Kinder stehenblieben und sie betrachteten. »Was steht ihr da und habt Maulaffen feil!«, schrie der Zwerg, und sein aschgraues Gesicht wurde zinnoberrot vor Zorn. Er wollte mit seinem Schimpfen fortfahren, als sich ein lautes Brummen hören ließ und ein schwarzer Bär aus dem Wald herbeitrabte. Erschrocken sprang der Zwerg auf, aber er konnte nicht mehr zu seinem Schlupfwinkel gelangen, der Bär war schon in seiner Nähe. Da rief er in Herzensangst: »Lieber Herr Bär, verschont mich, ich will Euch alle meine Schätze geben, seht, die schönen Edelsteine, die da liegen. Schenkt mir das Leben, was habt Ihr an mir kleinem schmächtigen Kerl? Ihr spürt mich nicht zwischen den Zähnen. Da, die beiden gottlosen Mädchen packt, das sind für Euch zarte Bissen, fett wie junge Wachteln, die fresst in Gottes Namen.« Der Bär kümmerte sich um seine Worte nicht.

Die Mädchen waren fortgesprungen, aber der Bär rief ihnen nach: »Schneeweißchen und Rosenrot, fürchtet euch nicht, wartet, ich will mit euch gehen.« Da erkannten sie seine Stimme und blieben stehen, und als der Bär bei ihnen war, fiel plötzlich die Bärenhaut ab, und er stand da als ein schöner Mann und war ganz in Gold gekleidet. »Ich bin eines Königs Sohn«, sprach er, »und war von dem gottlosen Zwerg, der mir meine Schätze gestohlen hatte, verwünscht als ein wilder Bär durch den Wald zu laufen, bis ich durch seinen Tod erlöst würde. Jetzt hat er seine wohlverdiente Strafe empfangen.«

Schneeweißchen ward mit ihm vermählt und Rosenrot mit seinem Bruder, und sie teilten die großen Schätze miteinander, die der Zwerg in seiner Höhle zusammengetragen hatte. Die alte Mutter lebte noch lange Jahre ruhig und glücklich bei ihren Kindern. Die zwei Rosenbäumchen aber nahm sie mit, und sie standen vor ihrem Fenster und trugen jedes Jahr die schönsten Rosen, weiß und rot.

Schneewittchen

Aus Deutschland

Von den Brüdern Grimm

Es war einmal mitten im Winter, und die Schneeflocken fielen wie Federn vom Himmel herab. Da saß eine Königin an einem Fenster, das einen Rahmen von schwarzem Ebenholz hatte, und nähte. Und wie sie so nähte und nach dem Schnee aufblickte, stach sie sich mit der Nadel in den Finger, und es fielen drei Tropfen Blut in den Schnee. Und weil das Rote im weißen Schnee so schön aussah, dachte sie bei sich: Hätte ich ein Kind, so weiß wie Schnee, so rot wie Blut und so schwarz wie das Holz an dem Rahmen!

Bald darauf bekam sie ein Töchterlein, das war so weiß wie Schnee, so rot wie Blut und so schwarzhaarig wie Ebenholz und ward darum Schneewittchen genannt. Und wie das Kind geboren war, starb die Königin. Über ein Jahr nahm sich der König eine andere Gemahlin. Es war eine schöne Frau, aber sie war stolz und übermütig und konnte nicht leiden, dass sie an Schönheit von jemandem sollte übertroffen werden. Sie hatte einen wunderbaren Spiegel, wenn sie vor den trat und sich darin beschaute, sprach sie:

»Spieglein, Spieglein an der Wand,

Wer ist die Schönste im ganzen Land?«

So antwortete der Spiegel:

»Frau Königin, Ihr seid die Schönste im Land.«

Da war sie zufrieden, denn sie wusste, dass der Spiegel die Wahrheit sagte. Schneewittchen aber wuchs heran und wurde immer schöner, und als es sieben Jahre alt war, war es so schön, wie der klare Tag und schöner als die Königin selbst. Als diese einmal ihren Spiegel fragte:

»Spieglein, Spieglein an der Wand,

Wer ist die Schönste im ganzen Land?«

So antwortete er:

»Frau Königin, Ihr seid die Schönste hier,

Aber Schneewittchen ist tausendmal schöner als Ihr.«

Da erschrak die Königin und ward gelb und grün vor Neid. Von Stund’ an, wenn sie Schneewittchen erblickte, kehrte sich ihr das Herz im Leibe herum, so hasste sie das Mädchen. Und der Neid und Hochmut wuchsen wie ein Unkraut in ihrem Herzen immer höher, dass sie Tag und Nacht keine Ruhe mehr hatte. Da rief sie einen Jäger und sprach: »Bring das Kind hinaus in den Wald, ich will’s nicht mehr vor meinen Augen sehen. Du sollst es töten und mir Lunge und Leber zum Wahrzeichen mitbringen.« Der Jäger gehorchte und führte es hinaus, und als er den Hirschfänger gezogen hatte und Schneewittchens unschuldiges Herz durchbohren wollte, fing es an zu weinen und sprach: »Ach, lieber Jäger, lass mir mein Leben! Ich will in den wilden Wald laufen und nimmermehr wieder heimkommen.« Und weil es gar so schön war, hatte der Jäger Mitleid und sprach: »So lauf hin, du armes Kind!« Die wilden Tiere werden dich bald gefressen haben, dachte er, und doch war’s ihm, als wäre ein Stein von seinem Herzen gewälzt, weil er es nicht zu töten brauchte. Und als gerade ein junger Frischling dahergesprungen kam, erlegte er ihn, nahm Lunge und Leber heraus und brachte sie als Wahrzeichen der Königin mit. Der Koch musste sie in Salz kochen, und das boshafte Weib aß sie auf und dachte, sie hätte Schneewittchens Lunge und Leber gegessen.

Nun war das arme Kind in dem großen Wald mutterseelenallein, und ward ihm so angst, dass es alle Blätter an den Bäumen ansah und nicht wusste, wie es sich helfen sollte. Da fing es an zu laufen und lief über die spitzen Steine und durch die Dornen, und die wilden Tiere sprangen an ihm vorbei, aber sie taten ihm nichts. Es lief, solange nur die Füße noch konnten, bis es Abend werden wollte. Da sah es ein kleines Häuschen und ging hinein, um sich zu auszuruhen. In dem Häuschen war alles klein, aber so zierlich und reinlich, dass es nicht zu sagen ist. Da stand ein weiß gedecktes Tischlein mit sieben kleinen Tellern, jedes Tellerlein mit seinem Löffelein, ferner sieben Messerlein und Gäbelein und sieben Becherlein. An der Wand waren sieben Bettlein nebeneinander aufgestellt und schneeweiße Laken darüber gedeckt. Schneewittchen, weil es so hungrig und durstig war, aß von jedem Tellerlein ein wenig Gemüse und Brot und trank aus jedem Becherlein einen Tropfen Wein, denn es wollte nicht einem alles wegnehmen. Danach, weil es so müde war, legte es sich in ein Bettchen, aber keins passte. Das eine war zu lang, das andere zu kurz, bis endlich das siebente recht war; darin blieb es liegen und schlief ein.