Berühre die Wunden - Prof. Tomás Halík - E-Book

Berühre die Wunden E-Book

Prof. Tomás Halík

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Beschreibung

Zum christlichen Glauben gehört der Mut, die Wunden unserer Welt wahrzunehmen und sie mit dem Glauben zu berühren. Denn wir begegnen Gott überall dort, wo Menschen leiden. Und auch wenn jemand Christus nicht im traditionellen kirchlichen Umfeld finden kann, ist für ihn noch immer die Möglichkeit gegeben, ihm in den offenen Wunden unserer Welt zu begegnen. In 14 Essays zeigt Tomáš Halík, dass sich ein Glaube "ohne Wunden" als Illusion erweist. "Das Buch ist eine vom Alltag gesättigte Meditation." forum

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Tomáš Halík

Berühre die Wunden

Über Leid, Vertrauen unddie Kunst der Verwandlung

Aus dem Tschechischen von Markéta Barthunter Mitarbeit von Benedikt Barth

Titel der Originalausgabe:Dotkni se ran. Spiritualita nelhostejnosti

ISBN 978-80-7106-979-9

Nakladatelství Lidové noviny Praha 2008

Neuausgabe 2019

Für die deutschsprachige Ausgabe:© Verlag Herder GmbH, Freiburg im Breisgau 2013

Alle Rechte vorbehalten

www.herder.de

Alle Bibelzitate sind entnommen aus:Die Bibel. Die Heilige Schrift des Alten und Neuen Bundes.Vollständige deutsche Ausgabe.

© Verlag Herder, Freiburg im Breisgau 2005

Covergestaltung: Christian Langohr, Freiburg

Covermotiv: Martin Staněk, Prag

E-Book-Konvertierung: le-tex publishing services GmbH, Leipzig

ISBN Print 978-3-451-03146-5

ISBN E-Book 978-3-451-81450-1

Geschrieben in der Einsiedelei eines kontemplativen Klosters im Rheinland im Juli und August 2008, beendet auf Reisen nach Jerusalem und Auschwitz im September desselben Jahres.

Gewidmet dem Andenken an Mgr. Václav Dvořák († 30.7.2008), der Handschellen trug und Wunden für Christus ertrug, der vor 30 Jahren Zeuge der Priesterweihe und Konzelebrant bei der Primiz des Autors dieses Buches war und der in der Nacht starb, als dieses Buch zu schreiben begonnen wurde.

»Zum Glauben nützt uns der Unglaube des Thomas mehr als der Glaube der glaubenden Jünger.«

Hl. Gregor der Große

»Durch seine Wunden sind wir geheilt.«

Jesaja 53,5

»Zwei Gefangene in benachbarten Zellen, die durch Klopfzeichen gegen die Mauer miteinander verkehren. Die Mauer ist das Trennende zwischen ihnen, aber sie ist auch das, was ihnen erlaubt, miteinander zu verkehren. Das Gleiche gilt für uns und Gott. Jede Trennung ist eine Verbindung.«

Simone Weil

Inhalt

1. Das Tor der Verwundeten

2. Ohne Distanz

3. Geheimnis des Herzens

4. Der Vorhang reißt entzwei

5. Der tanzende Gott

6. Die Anbetung des Lammes

7. Stigmata und Vergebung

8. Klopfzeichen gegen die Wand

9. Körper

10. Schöne Braut, armselige Kirche

11. Der Ort der Wahrheit ist ein kleiner

12. Veronika und das Siegel des Antlitzes

13. Verwandelte Wunden

14. Die letzte Seligpreisung

1. Das Tor der Verwundeten

Thomas aber, einer von den Zwölf, Zwilling genannt, war nicht bei ihnen, als Jesus kam. Die anderen Jünger sagten zu ihm: Wir haben den Herrn gesehen. Er entgegnete ihnen: Wenn ich nicht an seinen Händen das Mal der Nägel sehe und meinen Finger in das Mal der Nägel lege und meine Hand in seine Seite lege, glaube ich nicht.

Nach acht Tagen waren seine Jünger wieder versammelt und Thomas war bei ihnen. Da kam Jesus bei verschlossenen Türen, trat in ihre Mitte und sagte: Friede sei mit euch! Dann sagte er zu Thomas: Reiche deinen Finger her und sieh meine Hände an und reiche deine Hand her und lege sie in meine Seite, und sei nicht ungläubig, sondern gläubig! Thomas antwortete ihm: Mein Herr und mein Gott! Jesus sagte zu ihm: Weil du mich gesehen hast, glaubst du. Selig, die nicht sehen und doch glauben.

(Johannes 20, 24 –29)

Ich las dieses Evangelium zu Ende und ging vom Ambo wieder zurück, um mich auf meinen Platz zu setzen. Es war früh am Morgen und in der Kathedrale von Madras war es halbdunkel, still und fast leer. Indien lag vor mir wie ein bunter Blumenteppich, der mit vielen heiligen Orten durchwebt ist – ich befand mich auf dem Weg nach Bodhgaya, dem Schauplatz der Erleuchtung Buddhas, nach Sarnat, wo der Erleuchtete seine erste Ansprache zu seinen Schülern hielt, nach Varanasi am Ufer des Ganges, dem heiligsten Wallfahrtsziel der Hindus, nach Mathura, dem Geburtsort Krishnas –, hier jedoch in Madras, im Herzen des hiesigen Christentums, wo seit jeher das Grab des Apostels Thomas, des Patrons Indiens, verehrt wird, fühlte ich mich für einen Moment wirklich wie zu Hause – auch dank des vertrauten Textes.

Den vorgetragenen Abschnitt aus dem Evangelium des heiligen Johannes habe ich in diesem Moment noch so wahrgenommen, wie ich ihn zuvor jedes Mal wahrgenommen hatte und wie er gewöhnlich ausgelegt wird: Jesus hat durch seine Erscheinung den skeptischen Apostel von allen Zweifeln an der Realität seiner Auferstehung befreit; aus »dem ungläubigen Thomas« wurde mit einem Male der gläubige. Ich habe in diesem Moment noch nicht geahnt, dass der Text sich mir aufgrund eines Ereignisses nochmals öffnen und mich noch ganz anders und tiefer ansprechen würde – und dass er mir, bis sich der Tag neigte, sogar das größte Geheimnis des christlichen Glaubens in einem neuen Licht zeigen würde: die Auferstehung Jesu und seine Göttlichkeit. Und mehr noch: Diese neue Sichtweise führte mich allmählich auf einen bestimmten Weg der Spiritualität, von dem ich bis dahin nichts gewusst hatte. Sie zeigte mir »das Tor für den ungläubigen Thomas« – das Tor der Verwundeten.

Der christliche Glaube besteht darin, das Evangelium und unser Leben ständig in Beziehung zu setzen; er besteht in dem Mut, »sich in diese Geschichte hineinzubegeben«. Es gilt, den Sinn der biblischen Erzählungen aufgrund der eigenen Lebenserfahrungen immer neu und tiefer entdecken zu suchen und die mächtigen Bilder des Evangeliums wirken zu lassen, damit sie allmählich den Fluss unseres eigenen Lebens beleuchten, auslegen und verwandeln.

Viele Ereignisse, Erlebnisse, Ideen und Einsichten des Augenblicks brauchen ihre Zeit, um in uns zu reifen und Frucht zu bringen. Zwölf Jahre waren seit meiner Wallfahrt nach Indien vergangen. Ich sitze in diesem Moment wieder in der Stille und Einsamkeit der Waldeinsiedelei im Rheinland; nach einem nächtlichen Sturm ist der ganze Berggipfel mit einem dichten Nebelschleier bedeckt, durch den sich nur langsam und mit Mühe die ersten Morgenstrahlen durchkämpfen; tiefhängende Wolken bedecken das Tal ringsherum. Mitten in der Wolke also beginne ich dieses Buch zu schreiben, einen weiteren Versuch, »Rechenschaft über meine Hoffnung abzulegen«1.

***

»Gott ist tot – wir haben ihn getötet, ihr und ich!« Wie oft habe ich schon dieses Schicksalsverdikt Nietzsches aus der »Fröhlichen Wissenschaft« zitiert, in dem »der Narr« (dem es als Einzigen erlaubt ist, unangenehme Wahrheiten auszusprechen) denen, die an Gott nicht glaubten, seine Diagnose der Welt verkündet; er gibt der Welt bekannt, dass sie die Basis ihrer bisherigen metaphysischen und moralischen Sicherheiten verloren hat.2 In einem anderen Buch Nietzsches kann man jedoch auch eine weniger bekannte und weniger zitierte Passage finden, die Schilderung des Todes der alten Götter: Als sich der Gott der Juden zum einzigen Gott erklärte, brachen angeblich alle Götter über diese anmaßende Torheit in ein so höhnisches Gelächter aus, dass sie sich zu Tode lachten.3

»Die Religion kehrt zurück« – hören wir heute oft aus allen Ecken unserer Welt. Die Meinungen unterscheiden sich nur darin, ob dies gut oder schlecht ist – und vielleicht auch darin, woher und wer oder was eigentlich zurückkehrt. Kehrt der einzige Gott zurück, »der Gott Abrahams, Isaaks, Jakobs und Jesu«, an den Juden, Christen und Muslime glauben, oder eher der »Gott der Philosophen«, das höchste Wesen – die Entdeckung der Aufklärer, der Schmuck der politischen Proklamationen und Präambeln der Verfassungen? Kommt ein Gott zurück, der auf die ausgetrockneten menschlichen Herzen still antworten kann und ihre Wunden heilt, oder ein Gott des Krieges und der Rache, der im Gegensatz dazu Wunden schlägt? Oder sollen wir uns auf die neue Ankunft der alten, kichernden, sarkastischen Götzen freuen?

Über den heiligen Martin wird erzählt, dass ihm der Satan einmal sogar in der Gestalt Christi erschienen ist. Der Heilige ließ sich jedoch nicht täuschen. »Wo hast du deine Wunden?«, fragte er.

Bei aller geistigen Offenheit bekenne ich mich nicht zur gefälligen »grenzenlosen Toleranz«, die eher ein Ausdruck von Gleichgültigkeit und geistiger Faulheit ist, wenn sie auf die Mühe einer sorgfältigen »Scheidung der Geister« verzichtet. Denn ist es nicht naiv und gefährlich, nicht wahrzunehmen, dass auch destruktive »Gottesbilder« existieren und dass auch in den ehrwürdigsten Traditionen Symbole, Aussagen und Geschichten schlummern, die leicht in Waffen anstatt in Pflugscharen umgeschmiedet werden können? Die Religionen haben wie alles, was im Leben groß und existenziell ist, ihre Risiken und Gefahren. Mit dem Apostel Thomas und dem heiligen Martin fordere ich deshalb von allen, die sich nach dem »Tod Gottes« oder nach dem Kollaps der ironischen Götzen um den verwaisten Thron bewerben: »Zeigt zuerst eure Wunden!« Ich glaube nämlich nicht mehr an »unverwundete Religionen«.

***

Ja, seit Jahren bemühe ich mich darum, die unterschiedlichsten religiösen Wege mit Wertschätzung und Offenheit zu studieren. Ich durchschritt ein Stück der Welt, und das, was ich sehen und kennenlernen konnte, erlaubt mir nicht, in der einfachen Logik des »Entweder-Oder« zu verharren (wenn zwei Menschen verschiedener Meinung sind, muss sich zumindest einer täuschen). Mir ist bewusst, dass wenn jemand etwas anderes als ich sagt und denkt, dies schlicht daran liegen kann, dass er von einem anderen Standpunkt, einer anderen Perspektive, einer anderen Tradition oder einer anderen Erfahrung her schaut; dass er sich in einer anderen »Sprache« ausdrückt – dass also die Verschiedenheit unserer Sichtweisen und Aussagen weder meinen noch seinen Anspruch auf die Wahrheit widerlegen muss; genauso wenig wie diese Verschiedenheit seine oder meine Ehrlichkeit und Aufrichtigkeit in Frage stellen muss. Gleichzeitig ist mir bewusst, dass diese Erkenntnis nicht zu einem bequemen, resignierenden Relativismus führen muss (»jeder hat seine Wahrheit«), sondern eher zu dem Bemühen, durch das gegenseitige Gespräch und den Austausch von Erfahrungen die eigenen, stets notwendig begrenzten Horizonte zu erweitern und im Gespräch mit dem anderen auch sich selbst kennenzulernen.

Ich habe gelernt, viele verschiedene Pfade zu respektieren, auf denen Menschen zum letzten Geheimnis des Lebens vorzudringen versuchen. Ich glaube, dass jenes »äußerste Geheimnis« alle Vorstellungen und Namen unendlich übersteigt, die wir Menschen damit verbinden. Ja, ich glaube an den einen Gott, den Vater aller Menschen, auf den weder ein einzelner Mensch noch eine der »religiösen Institutionen« oder ihre Repräsentanten ein »Monopol« hat; ich bin zuversichtlich, dass Er die endgültige Mündung auch der verschlungensten Flüsse ist, dass zu ihm schließlich (über alle Grenzen der verschiedenen religiösen Systeme und Kulturen hinweg) die Wege aller ausgerichtet sind, die geführt vom Licht ihrer Traditionen, ihrer Sehnsucht nach der Wahrheit, ihres Gewissens und ihrer Erkenntnis aufrichtig das letzte Geheimnis des Lebens suchen und es achten.

Ich bin weder der Allwissende noch der Allsehende – mir steht es deshalb nicht zu, definitive und unfehlbare Urteile über andere und ihren persönlichen Glauben zu fällen, weil ich nicht in ihre Herzen sehen kann und auch nicht ihr letztes Ende und das Ziel ihrer Pilgerschaft erblicke. Niemand kann mir aber die Hoffnung nehmen, dass »der Gott der anderen« letztendlich »mein Gott« ist; denn der Gott, an den ich glaube, ist auch der Gott derer, die nicht den Namen kennen, mit dem ich ihn rufe.

Im selben Atemzug füge ich jedoch hinzu und bekenne: Für mich gibt es keinen anderen Weg, kein anderes Tor zu Ihm, als dasjenige, das von einer verwundeten Hand und einem durchstochenen Herz geöffnet wird. Ich kann nicht »mein Herr und mein Gott« rufen, wenn ich nicht die Wunde sehe, die bis ins Herz trifft. Wenn »credere« (glauben) von »cor dare« (das Herz geben) abgeleitet ist, dann muss ich bekennen, dass mein Herz und mein Glaube nur dem Gott gehören, der seine Wunden zeigen kann.

Mein Glaube und meine Liebe sind eins und niemand kann mir die Liebe zum Gekreuzigten nehmen, die die Antwort auf seine Liebe zu mir ist: Was könnte mich von der Liebe Christi scheiden?4 Von der Liebe, die sich durch ihre Wunden legitimiert.5 Ich bin nicht in der Lage, die Worte »mein Gott« auszusprechen, wenn ich nicht Seine Wunden sehe! Selbst angesichts der strahlendsten religiösen Vision hätte ich wahrscheinlich – trotz aller Offenheit – meine Zweifel, ob es sich nicht um eine Illusion handelt, um die Projektion meiner Wünsche oder sogar um den Antichrist selbst – wenn sie nicht »die Narben der Nägel« tragen würde. Mein Gott ist der verwundete Gott.

Wenn jemand das, wozu ich mich gerade bekannt habe, als widersprüchlich empfindet, dann gestehe ich, dass ich dieses auch empfinde: Das ist die eigentliche Spannung meines Glaubens. Voll Hoffnung und Vertrauen wende ich mich Gott zu, der großzügig die Verschiedenheit seiner Kinder annimmt und dessen Schoß in einer Weite geöffnet ist, die für uns unbegreiflich ist. Das bedeutet jedoch gleichzeitig, dass ich mir auch nicht »sicher« sein kann, wo die Grenzen dieser Weite liegen, und ich nicht naiv voraussetzen kann, dass sie einfach »alles« umfasst. Ich muss die Achtung vor dem anderen oder zumindest vor der Ehrlichkeit und Aufrichtigkeit seines Glaubensaktes bewahren; sollte ich jedoch an etwas »mein Herz hängen«, muss ich nach der Frucht fragen.6 In der Religion, genauso wie in den anderen bedeutenden Bereichen des Lebens, gibt es sowohl wesentliche und unersetzlich kostbare Werte als auch andere, die sich nur dafür ausgeben – es könnten auch Unkraut und giftige Kräuter sein. Und es ist nicht so, wie viele dachten und heute noch denken, dass es Felder gibt (nämlich unsere), auf denen nur eine gute Ernte heranwächst, und andere, von denen wir von vornherein sagen können, dass auf ihnen nichts Gutes wachsen wird. In der Bibel finden wir sowohl die Aufforderung, gründlich zu prüfen, »wessen Geist« es ist, der uns dargeboten wird7, als auch die Warnung, dass diese Unterscheidung zwischen »der Spreu und dem Weizen« außerordentlich schwierig ist und letztendlich diese Aufgabe für uns Sterbliche im Letzten unlösbar ist und unser Urteilsvermögen übersteigt.8

Was kann ich also tun? Meinen Glauben und das, was mir zum Glauben vorgelegt wird, »dem Test des heiligen Martins« aussetzen. Ich glaube nicht an Götter und ich glaube nicht an Religionen, die diese Welt durchtanzen, ohne von ihren Wunden getroffen zu werden – ohne Schrammen, ohne Narben, ohne Verbrennungen –, damit sie auf dem Markt der Religionen von heute nur ihre glänzende Anmut gefällig zur Schau stellen.

Mein Glauben kann die Last der Zweifel nur dann ablegen und die innere Sicherheit und die Ruhe eines Zuhause nur dann erfahren, wenn er auf dem steilen »Weg des Kreuzes« voranschreitet, wenn er sich durch das schmale Tor der Wunden Christi zu Gott hin ausrichtet; wenn er durch das Tor der Armen, das Tor der Verwundeten schreitet, durch welches die Reichen, die Satten und die Selbstsicheren, die Wissenden und »die Sehenden«, »die Gesunden«, »die Gerechten«, »die Weisen und die Vorsichtigen« nicht gelangen können, so wie kein Kamel durch ein Nadelöhr geht.9

***

Wurde der Apostel Thomas beim Anblick des Auferstandenen wirklich ein für alle Mal von allen seinen Zweifeln befreit – oder zeigte ihm Jesus durch seine Wunden vielmehr jene einzige Stelle, an der der Suchende und der Zweifelnde wirklich Gott berühren kann? Dies war der Gedanke, den mir jener Tag in Madras gebracht hatte.

An dem heißen Nachmittag jenes Tages führte mich mein indischer Kollege, katholischer Priester und Professor für die Religionswissenschaft an der Universität in Madras, an den Ort, wo der Legende nach der Apostel Thomas zu Tode gefoltert wurde, und dann in ein katholisches Waisenhaus, das sich nur wenige Schritte entfernt befand.10

Auf meinen Reisen in Asien, Afrika und Südamerika zuvor und danach blickte ich dem Elend aus nächster Nähe ins Gesicht. Ich kenne aus meiner Klinik- und Beichtpraxis die moralische Armseligkeit, die versteckte Qual der Herzen und die dunklen Ecken menschlicher Schicksale. Ich besuchte »die Golgotahügel unserer Zeit«, die Konzentrationslager des Nationalsozialismus und des Kommunismus, Hiroshima und Ground Zero in Manhattan, Orte, an denen in der Vorstellung noch immer die Erinnerung an die verbrecherische Gewalt lebendig wird, die dort verübt wurde – aber das Waisenhaus in Madras vergesse ich dennoch nie.

In Bettchen, die eher an Geflügelkäfige erinnerten, lagen kleine verlassene Kinder mit Bäuchen, die vor Hunger aufgebläht waren, kleine Skelette, umhüllt nur von einer schwarzen, oft entzündeten Haut; in den Fluren, die endlos erschienen, schauten mich überall ihre fiebrigen Augen an und streckten mir ihre rosafarbenen Handflächen entgegen. Die Luft nahm mir den Atem, inmitten des Gestanks und des Weinens ging es mir psychisch, physisch und moralisch schlecht; ich erstickte durch ein Gefühl von Ohnmacht und ein brennendes Schamgefühl, das man manchmal im Angesicht der Leidenden nur deshalb empfindet, weil man selbst eine gesunde Haut, einen vollen Bauch, ein sauberes Bett und ein Dach über dem Kopf hat. Ich wollte von dort (und nicht nur von dort) so schnell wie möglich feige fliehen, Augen und Herz verschließen und vergessen; ich erinnerte mich wieder an die Worte von Ivan Karamasow, der Gott »die Eintrittskarte« für die Welt »zurückgeben« wollte, in der Kinder leiden.

Aber gerade in dem Moment tauchte in mir aus der Tiefe der Satz auf: »Berühre die Wunden!« Und wieder: »Reiche deinen Finger her und sieh meine Hände an und reiche deine Hand her und lege sie in meine Seite.«

Auf einmal erschloss sich mir die Geschichte des Apostels Thomas neu, die ich bei der Morgenmesse am Grab »des Patrons der Zweifelnden« aus dem Johannes-Evangelium gelesen hatte. Jesus identifizierte sich mit allen Kleinen und Leidenden – also sind alle schmerzenden Wunden, das ganze Leid der Welt und der Menschheit »die Wunden Christi«. An Christus zu glauben, »mein Herr und mein Gott« rufen zu dürfen – das kann ich nur dann, wenn ich diese Seine Wunden berühren werde, von denen unsere Welt auch heute voll ist. Ansonsten würde ich nur sinnlos und vergebens »Herr, Herr!«11 rufen.

Gewiss, niemand von uns darf sich für den Messias halten, der alle Wunden der Welt heilen könnte, das schaffte übrigens während seiner irdischen Wirkungszeit nicht einmal Er selbst – und Er bemühte sich auch nicht darum. Wir müssen sogar der Versuchung widerstehen, die oft zur Magie der Revolutionsbemühungen hinreißt, »aus Steinen Brote zu machen«12. Auch wenn wir uns ehrlich bemühen, alles zu tun, was in unseren Kräften und Möglichkeiten steht, können wir nur ein Stück weit gegen die anrollenden Wellen des Ozeans des Elends anrudern, der einen immer größeren Teil unseres Festlandes wegreißt. Trotzdem dürfen wir jedoch vor den Wunden der Welt nicht fliehen und ihnen unseren Rücken zuwenden, wir müssen sie zumindest sehen, berühren, und uns von ihnen ergreifen lassen. Wenn ich ihnen gegenüber gleichgültig, ungerührt, unverwundet bliebe – wie könnte ich dann den Glauben und die Liebe zu Gott bekennen, den ich nicht sehe13. Denn dann sähe ich Ihn wirklich nicht!

Dort in Madras war es für mich auf einmal offensichtlich: Ich habe nicht das Recht, Gott zu bekennen, wenn ich den Schmerz meiner Nächsten nicht ernst nehme. Ein Glaube, der vor dem menschlichen Leid die Augen verschließen möchte, ist nur eine Illusion oder Opium; angesichts solcher Arten von Religion hätten Freud und Marx mit ihrer Kritik recht gehabt!

Aber noch eine Sache ist sehr wichtig: Wir dürfen uns bei der Wahrnehmung des Schmerzes in der Welt nicht ausschließlich auf »die sozialen Probleme« beschränken, auch wenn diese Art des Leids mit Recht zum Gewissen der Welt und jedes Einzelnen von uns schreit und seine Stimme nicht unerhört bleiben darf. Keinen einzigen Moment dürfen wir aber denken, dass wir mit dieser Lebensaufgabe »fertig« wären, wenn wir einen Beitrag für karitative Aktionen in Afrika leisten, einem Bettler ein Almosen geben oder bei Wahlen für politische Programme mit sozialen Akzenten stimmen, auch wenn das durchaus wichtig ist. Es reicht aber nicht: Es gibt noch viele andere versteckte Schmerzen im Inneren der Menschen um uns herum. Und übersehen wir auch nicht die ungeheilten Wunden in uns selbst: Wenn wir uns zu ihnen und ihrer Heilung bekennen, tragen wir auch zur »Heilung der Welt« bei; dies ist manchmal sogar eine notwendige Voraussetzung, um die Schmerzen der Anderen überhaupt empfindsam wahrnehmen und ihnen helfen zu können.

***

An jenem Nachmittag in Madras fiel mir noch etwas auf: Möglicherweise waren die Zweifel des Apostels Thomas von einer ganz anderen Art als die, an denen wir – die Enkel des szientistischen und positivistischen Zeitalters – ab und an leiden und die wir in diese Geschichte überstürzt projizieren; vielleicht war der Apostel ja gar kein schwerfälliger »Materialist«, unfähig, sich dem Geheimnis zu öffnen, das er nicht »anfassen« konnte.

Thomas war ein Mann, der bereit war, seinem Meister bis zum bitteren Ende zu folgen; erinnern wir uns, wie er auf die Worte Jesu reagierte, als es an der Zeit war, zu Lazarus zu gehen: »Gehen wir, um mit ihm zu sterben!« Er nahm das Kreuz ernst – und die Nachricht über die Auferstehung erschien ihm vielleicht als ein zu billiges Happy End der Passionsgeschichte. Vielleicht hat er sich deshalb geweigert, sich der Freude der anderen Apostel anzuschließen, und wollte deshalb die Wunden Jesu sehen. Er wollte sehen, ob »die Auferstehung« das Kreuz nicht entleert14 – erst dann konnte er dazu sein »Ich glaube« sagen. Vielleicht begriff der »ungläubige Thomas« letztendlich den Sinn des Ostergeschehens sogar tiefer als die anderen?

»Zum Glauben nützt uns der Unglaube des Thomas mehr als der Glaube der glaubenden Jünger«, schrieb in der Homilie zu diesem Evangeliumstext der heilige Papst Gregor der Große.15

***

Jesus kommt zu Thomas und zeigt ihm seine Wunden: Siehe, das Leid – egal welches Leid – ist nicht einfach weggewischt und vergessen! Die Wunden bleiben Wunden. Aber derjenige, der »die Krankheiten von uns allen getragen hat«, durchschritt gehorsam auch das Tor der Hölle und des Todes, und er ist hier weiterhin (unbegreiflich) mit uns. Er zeigte uns damit: »Die Liebe erträgt alles«16; »gewaltige Wasser können die Liebe nicht löschen und auch Ströme schwemmen sie nicht fort«, »stark wie der Tod ist die Liebe«17 – und sogar stärker als er. Die Liebe erscheint im Licht dieses Ereignisses als ein Wert, den wir nicht dem Bereich des Sentimentalen preisgeben dürfen; sie bedeutet eine Kraft – die einzige Kraft, die den Tod selbst überlebt und mit den durchgestochenen Händen seine Tore aufstößt.

Die Auferstehung ist also kein »Happy End«, sondern eine Einladung und eine Aufforderung: Wir müssen und dürfen nicht vor dem Feuer des Leids kapitulieren, auch wenn wir es jetzt nicht löschen können. Wir dürfen uns angesichts des Bösen nicht so verhalten, als sollte ihm das letzte Wort gehören. Haben wir keine Angst, »an die Liebe zu glauben«18 auch dort, wo sie gemäß aller Kriterien der Welt verliert. Haben wir den Mut, gegen »die Weisheit dieser Welt« auf die Torheit des Kreuzes zu setzen!19

Vielleicht wollte Jesus Thomas, indem er seinen Glauben durch die Berührung der Wunden auferweckte, genau das sagen, was sich mir wie vom Blitz getroffen im Waisenhaus in Madras erschloss: Dort, wo du das menschliche Leid berührst – und vielleicht nur dort! –, dort erkennst du, dass ich lebendig bin, dass »Ich es bin«. Du begegnest mir überall dort, wo die Menschen leiden. Weiche mir in keiner dieser Begegnungen aus. Habe keine Angst! Sei nicht ungläubig, sondern glaube!

Gott der Herr des Alten Bundes erschien Mose im brennenden Dornbusch20; sein eingeborener Sohn, unser Herr und Gott, erscheint im Feuer des Leids, im Kreuz – und wir verstehen seine Stimme nur dann, wenn wir unser Kreuz auf uns nehmen und bereit sind, auch die Lasten der anderen zu tragen, nur dann, wenn die Narben der Welt – seine Narben – für uns zu einer Aufforderung werden.

2. Ohne Distanz

Jeder einzelne Apostel bekam seine Aufgabe. Petrus weidete die Lämmer der Herde Christi, Paulus machte sich auf den Weg zu den Völkern in der Ferne. Und was tat Thomas?

Denken wir zu Ende, was wir angedeutet haben. »Gläubig« zu sein bedeutet nicht, für immer die Last der brennenden Fragen abwerfen zu können. Manchmal bedeutet es, das Kreuz der Zweifel auf sich zu nehmen und Ihm auch mit diesem Kreuz treu zu folgen. Die Kraft des Glaubens besteht nicht in der »Unerschütterlichkeit der Überzeugung«, sondern in der Fähigkeit, auch die Zweifel, die Unklarheiten zu ertragen, die Last des Geheimnisses auszuhalten – und dabei die Treue und die Hoffnung zu bewahren.

Ja, vielleicht ist gerade dies die Berufung des Thomas: Der Glaube, der aus der Berührung der Seite Christi geboren wurde, wird für ihn nicht zum Gegenstand des »Besitzes«. Auch jetzt hört für ihn der Glaube nicht auf, ein Weg zu sein. Thomas hat weiter die Last seiner Zweifel und seine Versuchung zur Skepsis zu tragen: Zur Glaubenssicherheit gelangt er nur dort, wo er in der Berührung der Wunden der Welt Gott berührt – nur dort begegnet er Ihm. Nur dort erlebt er erneut seine Begegnung mit dem Auferstandenen. Das ist seine Berufung.

Und gerade dadurch schlägt er für viele, die das Leben im Helldunkel der Zweifel durchschreiten, einen Pfad zu einer ganz spezifischen Selbstoffenbarung Gottes in unserer Welt, zu einer unerwarteten »Erfahrung mit Gott«. Der, der den Herrn sah, öffnet denen das Tor, die nicht gesehen haben: Diese können Jesus immer wieder begegnen – in den Wunden der Welt.

Wenn jemand Christus nicht im traditionellen Umfeld finden kann, das die Kirchen bieten, in ihren Predigten, Gottesdiensten und Katechismen, für den steht immer noch diese andere Möglichkeit offen: Ihm dort zu begegnen, wo die Menschen leiden.1 Sagte doch nicht Jesus: »Was immer ihr einem dieser meiner geringsten Brüder getan habt, das habt ihr mir getan«2?

Und weiter: Wir können ihm sogar in der Tiefe unseres eigenen Schmerzes begegnen.

***

Angeblich gibt es viele, denen allein die Tatsache, dass das Böse und das Leid in der Welt existieren, den Glauben an Gott raubte. Ich gebe zu, dass ich dieser Versuchung nicht ausgesetzt war. Ich habe es eher umgekehrt begriffen und erlebt: Nur weniges rief in mir so stark den Durst nach Sinn hervor wie die Absurditäten der Welt, und nur weniges so stark den Durst nach Gott wie die offenen Wunden der Schmerzen, die das Leben mit sich bringen kann.

Und ist nicht allein dieser brennende Durst die irdische Gestalt des Glaubens, während die strahlende Sicherheit und die »selige Schau Gottes« (visio beatifica) erst dem vollkommenen himmlischen Ruhen vorbehalten sind? Der Glaube hier auf Erden bietet keine »Sicherheit«, sondern erfordert Offenheit gegenüber dem Unbegreiflichen: im Fragen, Suchen und manchmal auch im Schreien, unter Tränen und im Protest, aber auch im ständigen Bitten um Vertrauen und Ausdauer, im Mut, sich nicht mit den erstbesten, zu billigen Antworten und Erklärungen zu begnügen – egal, ob es sich um die der Atheisten handelt wie: »Es gibt keinen Gott!«, oder um die der Frommen, die nur erlernte Sätze oder »richtige Antworten« wiederholen, ohne dass sie dadurch ihr Leben beeinflussen oder verändern lassen. Der Durst nach Gott und die Frage nach Gott rufen mit Recht Geysire von Assoziationen, Imaginationen und zusammenhängenden Fragen hervor (zum Beispiel was das Wort »Gott« und was »das Sein« im Zusammenhang mit Gott bedeutet), so dass mir diese beiden dogmatischen und rigorosen Antworten (die atheistische Leugnung Gottes und das theistische Einsperren des Geheimnisses in die Zwangsjacken eindeutiger Definitionen) immer als zwei gleich unglückliche Absperrungen vor dem Tor zum großen geistigen Abenteuer vorkamen.

Wenn die Welt vollkommen wäre, wäre sie selbst Gott und es gäbe in ihr keine Frage nach Gott.3 Ein Gott, der sich narzisstisch in dem unbeschädigten Spiegel seiner vollkommenen, völlig harmonischen Welt ohne Widersprüche, Gegensätze und Rätsel anschauen würde, das wäre nicht mein Gott, nicht der Gott der Bibel, nicht der Gott meines Glaubens. Die Geschichte, die die Bibel erzählt, ist kein süßes Idyll, sondern ein beunruhigendes Drama; die Welt, von der die Schrift spricht, hat (genauso wie unsere heutige Welt) blutige und schmerzhafte Wunden – und der Gott, den sie bekennt, trägt diese ebenfalls.

In jener Erzählung des Evangeliums, von der sich die Meditationen dieses Buches haben inspirieren lassen, zeigt sich Gott als ein verwundeter Gott – weder als der apathische Gott der Stoiker noch als ein Gott, der die Projektion unserer Wünsche oder das Symbol der Machtambitionen eines Menschen oder einer Nation ist. Es ist ein sym-pathischer Gott, d. h. ein mit-fühlender, mit-leidender, mit-leidenschaftlicher.

***

Unternehmen wir einen ersten Exkurs in die Welt des theologischen Denkens. Die Rede von einem leidenden Gott balanciert immer auf einem schmalen Grat. Sie läuft immer Gefahr, einer alten Häresie zu verfallen, dem Patripassianismus – einer verurteilten Lehre, die besagt, dass im Christus am Kreuz Gott Vater selbst litt. Diese Aussage wurde aber zu Recht verurteilt, weil sie eine versteckte Äußerung einer anderen Irrlehre war, des Monophysitismus, der zwischen Vater und Sohn und zwischen der Gottheit und der Menschheit in Christus nicht unterscheiden kann. Die Ablehnung des Patripassianismus und die berechtigte Angst vor zu anthropomorphen Bildern von Gott sollten jedoch nicht zum anderen Extrem führen, zu einem vielleicht noch gefährlicheren: zur Verwechslung des biblischen Gottes mit der blutlosen heidnischen Vorstellung von Gott als eines unbewegten ersten Bewegers, als eines apathischen und statischen »höchsten Seins«.4

Zusammen mit Juden und Muslimen bekennen wir einen Gott, der in sich selbst verborgen ist und in seinem Wort erscheint, das sich ereignet und die Geschichte verwandelt. Wir Christen fügen dem das hinzu, was für uns unbedingt wesentlich ist: Das Wort ist Fleisch geworden – die Fülle dieses Wortes, durch das Gott seit Ewigkeit die Welt erschafft und mit uns Menschen kommuniziert, erkennen wir im Menschen Jesus von Nazareth. Er, so behaupten wir, ist das »Wort, das am Anfang bei Gott war und das Gott war«5.

Die Aussage »Jesus ist Gott« trennt uns von Juden und Muslimen, die uns wegen ihr des Verrats am Monotheismus verdächtigen, des reinen Glaubens an den einzigen Gott. Nach Jahren der Gespräche mit jüdischen und muslimischen Theologen geht mir die Frage nicht aus dem Kopf: Steht als Hindernis zwischen uns vielleicht nur eine bestimmte Auslegung der Einheit Jesu mit dem Vater und nicht das Geheimnis selbst? Und wäre es womöglich dennoch dasselbe Geheimnis – dass der Mann aus Nazareth genauso eins mit Gott ist, wie er eins ist mit uns –, auch wenn man den griechischen Apparat von metaphysischen Begriffen wie Natur, Wesen, Person einfach wegließe, von Denkkategorien also, die etwas ausdrücken, das auch uns heute schon lange nicht mehr geläufig ist? Wie ließe sich aber anders von dieser Einheit sprechen, damit klar wird, dass diese Einheit des Vaters und des Sohnes weder die Einmaligkeit des Vaters noch das Menschsein Jesu mindert, dass sie nichts von der Einheit Jesu mit uns Menschen wegnimmt, genauso wenig wie diese seine Einheit mit uns seine einmalige Gemeinschaft mit dem Vater abschwächt?

Christus ist wahrer Mensch und wahrer Gott – mit diesem Bekenntnis steht und fällt der christliche Glaube. Die Lehre des antiken Konzils von Chalcedon (451 n. Chr.) drückt das durch die zweifache Verwendung des Ausdrucks homoousios, »wesensgleich« aus: Jesus ist eines Wesens mit uns in seiner menschlichen Natur und gleichzeitig eins – »eines Wesens« – mit dem Vater in seiner »göttlichen Natur«. Dabei bleibt sowohl die persönliche Identität (prosopon – persona – Person) von Jesus von Nazareth als auch der reale Unterschied zwischen den »Personen« Vater und Sohn gewahrt – Jesus ist nicht Gott-Vater, der Vater und Schöpfer von allem und allen; das Bekenntnis der einmaligen Gemeinschaft des Vaters und des Sohnes darf nicht zur Annahme zweier Gottheiten führen, zur Abschwächung des Glaubens an die Einzigkeit Gottes und des mit ihr verbundenen Glaubens an die Einheit und an die gleiche Würde aller Menschen (denn nur dann sind wir alle – trotz aller Unterschiede – gleichwertige Kinder eines gemeinsamen Vaters).

Gestehen wir aber zu, dass ein so formuliertes grundsätzliches christologisches Dogma, zu dem die alte Kirche nach Jahrhunderten von intellektuellen Kämpfen gelangte, die leider auch von persönlichen und politischen Kämpfen durchdrungen waren, Stein des Anstoßes nicht nur für Juden und Muslime ist, sondern auch für viele Christen. Hinter dem wörtlichen Bekenntnis zu diesem Glaubensartikel verstecken sich oftmals in den Vorstellungen der Gläubigen Karikaturen, die auffällig an die alten christologischen Häresien erinnern: Jesus als Gott, der als Mensch verkleidet ist, Jesus als Held zu Gott erhoben, »ein Gott-Mensch« als eine Art von Zentaur zwischen Gott und dem Menschen usw.

Kein Wunder, dass dann viele mit Schrecken vor diesen Chimären in einem oberflächlich-humanistischen Verständnis von Jesus Zuflucht suchen, dass sie Jesus als einen »bloßen« Menschen oder »einen der Avatare« – d. h. eine von vielen Verkörperungen eines Gottes oder eines göttlichen Prinzips auf Erden – oder einen von vielen Morallehrern sehen, als den ihn gerne diejenigen schildern, die den starken Wein des Christentums bis zur Unkenntlichkeit mit dem lauwarmen Wasser des Relativismus verdünnen, den man irrtümlicherweise für die Tugend einer allumfassenden Toleranz hält. Der Inhalt des christlichen Bekenntnisses ist jedoch keine edle Moral eines der alten Weisen, sondern die schockierende Botschaft davon, dass sich in dem Mann, der im Stall geboren wurde und den Tod der aufständischen Sklaven starb, einerseits eine einmalige Verbindung von Menschheit und der Gottheit zeigt (die Wahrheit über Gott und Mensch und ihre gegenseitige Beziehung), und in dem sich andererseits ein unentbehrliches Heilmittel für die tiefste Wunde in der »menschlichen Natur« darbietet, nämlich »das Heil« und »die Vergebung der Sünden«.

Ist es vielleicht möglich, den Menschen die Tiefe des authentischen Glaubens der christlichen Tradition dadurch zu eröffnen, dass man die Schlüsselaussagen über »die Göttlichkeit Christi« und seine »Auferstehung« aus der Sprache der Metaphysik zurück in die Erzählsprache zu übersetzen sucht?

In den Evangelien finden wir eigentlich nur eine einzige explizite Äußerung über die »Göttlichkeit Christi« – und zwar gerade in der Erzählung über die Begegnung des Auferstandenen mit dem »ungläubigen Thomas«, in dem Ausruf des Thomas: »Mein Herr und mein Gott!«

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Mit der Aussage »Mein Herr und mein Gott« gibt uns der Apostel Thomas allerdings keine metaphysische Definition der Natur Christi. Vielleicht ähnelt dieser Ausruf der Freude im Evangelium des Johannes sogar der Weise, wie das Griechisch des klassischen Dramas mit dem Wort »Gott« verfährt: »Es ist Gott, wenn man die Liebenden erkennt!« Wenn sich Freunde begegnen, dann ist Gott! Es ereignet sich Gott!6

Ja, in der Bibel, gerade in ihr, ereignet sich Gott. Gott ist so, dass er sich ereignet. Thomas erlebt, dass in seiner Begegnung mit dem Gekreuzigten und Auferstandenen sich Gott ereignet; Gott ist hier, er ist »berührbar«. Im einmaligen Mittler zwischen Gott und den Menschen7 ist Gott unmittelbar, ohne Distanz.

Nietzsche, »der Frömmste unter den Gottlosen« (wie er seinen Zarathustra nannte), versteckte in der Mitte seines »Antichrist«, des vielleicht wildesten antichristlichen Pamphlets, das je geschrieben wurde, eine bemerkenswerte Passage, aus der er inmitten der Posaunen und Trommeln seines Grolls überraschend die Sonate seiner (verletzten) Liebe zu Gott erschallen lässt. Jesus ist für ihn »der einzige Christ, der je lebte« – und er lobt ihn dafür, dass er die Beziehung Gottes und des Menschen »ohne Distanz« zeigte.8

Gerade die Wunden Jesu zeigen, dass er »ohne Distanz« seine Solidarität mit den Menschen lebte, die ihn zum Opfer am Kreuz führte. Das Leben des nicht ausweichenden Zeugen der Wahrheit in dieser Welt endet auf diese Weise – das Kreuz Jesu ist ein Spiegel, in dem wir das Böse und die Gewalt in ihrer ganzen Nacktheit sehen. Es ist eine raue, aber