Ich will, dass du bist - Prof. Tomás Halík - E-Book

Ich will, dass du bist E-Book

Prof. Tomás Halík

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Beschreibung

Was können wir mit religiösen Aussagen über die Liebe heute noch anfangen? Manchen klingen sie wie Sätze aus einer schon längst vergessenen Sprache. Beispielsweise das Gebot Jesu, dass wir auch unsere Feinde lieben sollen. Diese und andere Fragen greift Tomáš Halík auf und erinnert an die Definition der Liebe, die dem heiligen Augustinus zugeschrieben wird: Lieben heißt: Ich will, dass du bist. Halíks Erkenntnis lautet, dass es für den Christen nicht so wichtig ist, ob er an Gott glaubt, sondern ob er Gott liebt, das heißt, ob er sich danach sehnt, dass Gott ist – nicht im Sinne eines Wunsches, sondern einer existenziellen Überzeugung. Und in übertragener Weise gilt das auch für die Liebe zum Menschen. Ein nachdenkliches Buch über das tiefe Wesen der Liebe.

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Tomáš Halík

Ich will, dass du bist

Über den Gott der Liebe

Aus dem Tschechischen von Markéta Barthunter Mitarbeit von Benedikt Barth

Impressum

Titel der Originalausgabe:

Chci, abys byl. Křestanství po nábož enství

Nakladatelstivì Lidové moviny, Praha 2012

© Verlag Herder GmbH, Freiburg im Breisgau 2015

Alle Rechte vorbehalten

www.herder.de

Umschlaggestaltung: Christian Langohr, Freiburg

Umschlagmotiv: © Martin Staněk, Prag

E-Book-Konvertierung: le-tex publishing services GmbH, Leipzig

ISBN (E-Book) 978-3-451-80725-1

ISBN (Buch) 978-3-451-34757-3

Dem Gedenken an den 25. Todestag des tschechischen Theologen und Verteidigers der Menschenrechte, den Gefangenen von Nationalsozialisten und Kommunisten, den Autor einer Theologie der Agape, ThDr. Josef Zvěřina (1913–1990), dem Lehrer des Glaubens, der Liebe und des bürgerlichen Mutes in Dankbarkeit gewidmet anlässlich seines hundertsten Geburtstags von einem seiner zahlreichen Schüler, dem Autor dieses Buches.

Amo: volo, ut sisIch liebe: ich will, dass du bist

Dem hl. Augustinus zugeschrieben

Liebe [hat] irgendwie mit dem Göttlichen zu tun […]. Ja, Liebe ist »Ekstase«, aber Ekstase nicht im Sinn des rauschhaften Augenblicks, sondern Ekstase als ständiger Weg aus dem in sich verschlossenen Ich zur Freigabe des Ich, zur Hingabe und so gerade zur Selbstfindung, […]. Dies ist freilich ein Vorgang, der fortwährend unterwegs bleibt: Liebe ist niemals »fertig« und vollendet; sie wandelt sich im Lauf des Lebens, reift und bleibt sich gerade dadurch treu.

Benedikt XVI., Enzyklika Deus Caritas est 5; 6; 17

Für jetzt bleiben Glaube, Hoffnung, Liebe, diese drei;doch am größten unter ihnen ist die Liebe.

1 Kor 13, 13

Inhalt

I. Die Liebe – woher und wohin

II. Warten auf das zweite Wort

III. Der Vorrang der Liebe vor dem Glauben?

IV. Der ferne Gott

V. Ich will, dass du bist

VI. Göttliche Nähe

VII. Die offene Tür

VIII. Der trügerische See des Narziss

IX. Ist Toleranz unser letztes Wort?

X. Die Liebe zu den Feinden

XI. Wär’ auch der Himmel nicht, wär’ auch die Hölle nicht

XII. Die Welt lieben?

XIII. Stärker als der Tod

XIV. Der Tanz der Liebe

Anmerkungen

I. Die Liebe – woher und wohin

»Ich habe mich oft gefragt und keine Antwort gefunden,woher das Sanfte und das Gute kommt,weiß es auch heute nicht und muss nun gehen.«

Das schrieb Gottfried Benn. Diese Verse bestechen aufgrund ihrer Wahrhaftigkeit und ihrer Traurigkeit. Und durch die demütige Aufrichtigkeit des Dichters schimmert aus ihnen noch etwas Tieferes und Allgemeineres hervor, eine Aussage über die Zeit, in der wir leben. Die unablässigen Fluten des Meeres des menschlichen Wissens überschwemmen dieses wir wissen es nicht und legen gleichzeitig den Abgrund unserer Ratlosigkeit angesichts der Frage nach dem letzten Woher frei, das sich jedem Benennen widersetzt.

In der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts tauchte angesichts all der Schrecken und Gräuel der Kriege und Genozide mit neuer Dringlichkeit die uralte Frage auf: Unde malum – woher kommt das Böse? Es ist leicht möglich, dass wir uns in unserer Zeit so sehr an das Böse, die Gewalt und den Zynismus gewöhnt haben, dass sich eine andere Frage nur zu unserer großen Überraschung stellen mag: Woher stammen das Sanfte und das Gute? Wo mögen sie überhaupt noch entspringen in dieser unserer grausamen Welt? Haben das Sanfte und das Gute – ähnlich wie das Böse und die Gewalt – ihren Ursprung irgendwo in den Verhältnissen unserer Welt (hängen das Böse und das Gute also vor allem davon ab, wie wir uns die Gesellschaft einrichten), oder entstammen sie irgendwelchen unerforschten Schlupfwinkeln unseres Unbewusstseins oder komplizierten Prozessen unseres Gehirns? Unzählige wissenschaftliche Abhandlungen beschreiben jene psychoneurobiologischen Prozesse, die unser Erleben von Emotionen begleiten, beschreiben die Zentren im Gehirn, die in dem Augenblick aktiv sind, wenn wir etwas Gutes und Sanftes empfangen oder erweisen. Ich bezweifle nicht, dass alles, was wir fühlen und denken, zunächst durch die unzähligen Tore unserer »natürlichen Welt« hindurchgeht. Unser Organismus, unsere Umgebung, die Kultur, in die wir hineingeboren wurden, einschließlich der Sprache, in der wir denken, sind daran beteiligt, wirken sich darauf aus. Unser Körper genauso wie unsere Psyche, unser Gehirn und alles, was in ihm abläuft, all das ist Bestandteil der »Welt« oder der »Natur«, jenes stark zergliederten Korridors, durch den der Fluss des Lebens hindurchfließt. Wo aber befindet sich dessen wahre letzte Quelle?

Eine uralte Ahnung der Menschheit besteht darin, dass das Gute und Sanfte nicht nur als bloßes Produkt unserer selbst und unserer Welt angesehen werden dürfen, sondern als Geschenk, als Gabe. Dürfen wir diese Ahnung einfach ablehnen, dass jenes Licht und jene Wärme des Lebens, die man mit einem derart abgenutzten Wort wie »Liebe« sich kaum mehr zu bezeichnen traut, als eine radikal neue Qualität in unsere Welt – und damit auch in unser Denken und unser Handeln – eintreten, die uns mit Recht immer wieder mit Verwunderung und Dankbarkeit erfüllt? Sind nicht auch die Welt und alles, was zu ihr gehört, einschließlich uns Menschen, nicht eher Empfänger von Liebe als ihre »Produzenten«? Ist nicht auch die Welt selbst ein Geschenk, sind nicht auch wir uns selbst gegeben – und wird nicht dieses Geschenk immer wieder von jenem »Woher« erneuert und belebt, aus dem die Liebe entspringt? Wenn wir jedoch diese Quelle in irgendeinem entfernten »Jenseits« suchen, draußen, verpassen wir dadurch jedoch nicht die Gelegenheit, ihr an dem Ort zu begegnen, den wir gerade wegen seiner Nähe gerne übersehen, dem Inneren?

Woher das Sanfte und das Gute stammen? Ich muss gestehen, dass ich es nicht weiß; alle Antworten, die mir dazu einfallen, erscheinen mir eher wie ein schwerer Vorhang, der das offene Fenster dieser Frage verdeckt. Es existieren derart gute Fragen, dass es schade wäre, sie mit Antworten kaputtzumachen. Es existieren Fragen, die wie ein Fenster geöffnet bleiben sollten. Diese Offenheit muss nicht zur Resignation führen, sondern in die Kontemplation.

Der Leser, der weiß, dass das vorliegende Buch von einem Theologen geschrieben ist, erwartet vielleicht schon ungeduldig, wann ich endlich sagen werde, dass die Antwort auf diese Frage nach dem Letzten natürlich Gott ist. In mir ist jedoch allmählich die Überzeugung gereift, dass Gott eher als Frage denn als Antwort an uns herantritt. Vielleicht ist derjenige, den wir mit dem Wort »Gott« bezeichnen, gerade eher dann gegenwärtig, wenn wir zögern, dieses Wort allzu schnell auszusprechen. Vielleicht fühlt er sich wohler in jenem offenen Raum der Frage als in der allzu engen Klammer unserer Antworten, unserer endgültigen Behauptungen, unserer Definitionen und Vorstellungen. Gehen wir daher höchst zurückhaltend und vorsichtig mit seinem heiligen Namen um!

Vielleicht sind jene geschichtlichen Momente, in denen man über Gott im öffentlichen und akademischen Raum höflich oder gleichgültig schweigt, auch für den Theologen die seltene Gelegenheit, sich von der frommen Redseligkeit früherer Zeiten abzuwenden und zu dem zurückzukehren, was der Kirchenlehrer Thomas von Aquin zu Beginn seiner philosophisch-theologischen Forschungen betonte: Gott ist nicht »evident«; aus uns selbst heraus wissen wir nicht, was oder wer Gott ist. Fürchten wir uns daher nicht vor dem Schwindel, der uns ergreifen kann, wenn wir in die Tiefe des Unbekannten blicken. Fürchten wir uns nicht vor dem demütigen Geständnis »wir wissen es nicht« – denn dieses ist nicht das Ende, sondern der immer neue Anfang eines nicht endenden Weges.

Sowohl für den Glauben als auch für die Hoffnung und für die Liebe, für alle diese drei Gestalten der »Geduld mit Gott«, mit seiner Verborgenheit1, stellt die Aussage »wir wissen es nicht« kein unüberwindbares Hindernis dar.

***

Für viele Menschen in meiner Umgebung klingen viele biblische Aussagen über die Liebe (»Gott ist die Liebe«, »Liebe Gott von ganzem Herzen«, »Gott liebte die Welt«, »Liebt eure Feinde«) wie Sätze aus einer unbekannten, unverständlichen oder schon längst untergegangenen Sprache. Solche Menschen bezeichnen sich selbst häufig als »Ungläubige« (oder als zumindest »Anders-Gläubige«: anders als diejenigen, die sich zum christlichen oder zum jüdischen Glauben bekennen). In der Welt der Bibel, der Theologie und des christlichen Glaubens sind sie wie Fremde – es ist also nachvollziehbar, dass ihnen solche und ähnliche religiöse Aussagen wie Musik aus entfernten Welten oder wie Ruinen jener Städte vorkommen, in denen früher einmal ihre Vorfahren lebten.

Welche Schlüsse lassen sich aus dieser Wahrnehmung ziehen? Weichen wir nicht der Frage aus, wie wir diese Sätze verstehen, die unseren Mut zum Ausdruck bringen, sich in dieser Welt noch als Christen zu bezeichnen! Jene Sätze sind uns, den Gläubigen, deshalb so vertraut, weil wir sie viele Male gehört haben. Wie aber korrespondieren sie mit unseren Erfahrungen, mit unserer alltäglichen Welt?

Ich erinnere hier wieder an die Geschichte jenes jüdischen jungen Mannes, der sich gegen den Willen seines Vaters, eines reichen Kaufmanns, an einer rabbinischen Schule eingeschrieben hatte. Als er in den Ferien nach Hause zurückkehrte, stichelte der Vater: »Also, mein Sohn, was hast du denn in dem Jahr dort Schönes gelernt?« »Ich habe gelernt«, antwortete der Jüngling, »dass der Herr, unser Gott, einzig ist.« Der Vater packte empört den erstbesten seiner Gehilfen an der Schulter: »Isaak, weißt du, dass unser Gott der einzige Herr ist?« »Natürlich«, antwortete erwartungsgemäß der etwas einfältige Gehilfe. Aber der Sohn fing empört zu schreien an: »Ich weiß, dass er das gehört hat – aber: hat er das auch gelernt?«

Mit diesem Buch möchte ich Rechenschaft ablegen von dem, was ich zu lernen versucht habe, von meinen Bemühungen, diese scheinbar so einfachen und bekannten Sätze, die die Bibel von der Liebe aussagt, tiefer zu verstehen. Aber von Vornherein gestehe ich ein: Mit diesen Aussagen über die göttliche Liebe, die Liebe zu Gott und die Liebe zu den Feinden, die ganz und gar nicht so einfach »zu lesen« sind, wie es vielleicht auf den ersten Blick erscheinen mag – vor allem, wenn man sie in die Sprache unserer heutigen Erfahrung »übersetzen« will –, bin ich bei Weitem noch nicht zu einem Abschluss gekommen! Auch dieses Buch ist, genau wie alle meine vorhergehenden, nur »ein Eintrag eines Reiseberichts«; es will eher zur Inspiration und zur Aufmunterung auf dem Weg dienen, will dazu ermuntern, mit eigenem Mut zu suchen, als dass es eine Zusammenstellung verlässlicher Karten bieten würde.

***

»Sie haben schon Bücher über den Glauben und über die Hoffnung verfasst – wann werden sie ein Buch über die Liebe schreiben?« Der Fragesteller, ein junger Mann im Auditorium bei einem meiner Gespräche mit Lesern, musste selbst überrascht gewesen sein, wie mich seine Frage sichtlich in Verlegenheit brachte. »Dafür bin ich wahrscheinlich noch nicht alt genug,« murmelte ich – aber schon in dem Moment wusste ich, dass seine Frage für mich eine Herausforderung darstellen würde, der ich nicht bis in alle Ewigkeit würde widerstehen können.

Als ich meinen Freunden auf ihre neugierige Frage, welches Thema ich für mein neues Buch vorbereite, antwortete, dass ich über die Liebe schreiben werde, haben mich ihre zurückhaltende Reaktion und ihre Verlegenheit dann auch nicht sonderlich überrascht.

Als ich vor vielen Jahren in der Budapester Kathedrale zufällig bei einer Hochzeitszeremonie zugegen war, fragte ich meinen Reiseleiter, der im Gegensatz zu mir des Ungarischen mächtig war, ob jenes Wort, das der Priester in seiner sehr kurzen Ansprache vielleicht dreißig Mal benutzte, eventuell »Liebe« bedeutete; als der Reiseleiter dies bejahte, habe ich mir geschworen, dass ich dieses Wort, sollte ich einmal Priester werden, sparsam wie Safran benutzen würde. In Buchhandlungen mit religiöser Literatur bin ich immer instinktiv jenen Büchern ausgewichen, die das Wort »Liebe« im Titel führten: Ich hatte Angst, dass mir gleich aus den ersten Kapiteln jenes billige süße Parfüm des frommen Kitsches entgegen schlagen würde, bei dem sich mir der Magen umdreht. Die »weltliche Literatur« ist ebenfalls vom Thema Liebe übersättigt – von der erotischen Poesie bis hin zu den Handbüchern der psychologischen Beratung auf dem Gebiet der zwischenmenschlichen Beziehungen. Was kann angesichts dieser Inflation der Liebes-Thematik die philosophische Theologie, die Hermeneutik des Glaubens, dazu beisteuern?

»Man muss bedenken, dass die Liebe mehr in die Werke gelegt werden muss, als in die Worte,« schrieb mein Lieblings-Heiliger, der Gründer des Jesuitenordens, Ignatius von Loyola. Jedoch ist auch das Nachdenken, wenn es aufrichtig geschieht, bereits eine Tat und kann Taten inspirieren, die man nicht als oberflächlich abtun kann. In welche Richtung müssen also unsere gedanklichen Bemühungen gehen, wenn wir die Beziehung von Liebe und Religion, von Liebe und christlichem Glauben tiefer verstehen wollen?

Manche Repräsentanten der analytischen Philosophie würden sicher den Satz »Gott ist die Liebe« augenblicklich aus dem Spielfeld ihres Sprachspiels verbannen – lässt sich doch diese Behauptung weder bestätigen noch widerlegen. Das Wort »Liebe« – ähnlich wie das Wort »Gott«– ist ein typischer polysemantischer Ausdruck; nur schwerlich ließen sich in der Sprache zwei andere Worte finden, mit denen verschiedene Menschen so unterschiedliche Dinge bezeichneten.

Ich möchte in diesem Buch die Betrachtungen über die Liebe bereichern, indem ich versuche, meine Ausführungen auf zwei typisch christliche Aspekte auszurichten, die in der säkularen Auffassung der Liebe nicht enthalten sind, von denen aber auch viele fromme Handbücher allzu häufig nur Banales aussagen: Zum einen ist dies die Liebe zu Gott, zum anderen die Liebe zu den Feinden. Ich bin überzeugt, dass gerade diese zweifache Hinsicht – die tief mit der Beziehung des Menschen zu sich selbst und zur Welt zusammenhängt – besonders in der heutigen Zeit dringlicher ist, als es auf den ersten Blick erscheinen mag.

Liebe bedeutet eine Selbstüberschreitung. Und wohin kann der Mensch radikaler aus seinem – besonders heute so starken – Eingenommensein von sich selbst ausbrechen als zum »absoluten Geheimnis« (also zu Gott) hin und in die beunruhigende und bedrohliche Fremdheit jener Welt, die ihm ihr übelwollendes Gesicht entgegenhält (also zum Feind)? In meinen früheren Betrachtungen bin ich zur Überzeugung gelangt, dass Glaube (im ursprünglichen biblischen Sinn des Wortes) nicht darin besteht, bestimmte Meinungen und »Gewissheiten« zu vertreten, sondern im Mut, in den Raum des Geheimnisses einzutreten: »Abraham zog weg, ohne zu wissen, wohin er kommen würde.«2 Es scheint mir, dass für die Liebe (und zwar auch für die Liebe zu Gott und für die Liebe zu den Feinden) dasselbe gilt: Es ist eine riskante Unternehmung, von der wir im Voraus nie wissen, welchen Ausgang sie nehmen wird; es ist ein Weg, von dem wir im Voraus nicht mit Sicherheit sagen können, wohin er uns führen wird.

Wenn ich dieses von der »Liebe zu den Feinden« behaupte (von jener absurd klingenden Forderung Jesu), ist dies gewiss nachvollziehbar. Aber in gleicher Weise gilt dies für unsere »Liebe zu Gott«! Wird sich nicht früher oder später zeigen, dass sie nur eine illusorische Projektion unserer Träume und Wünsche in den Himmel war?

Der Ausdruck »Gottesliebe« klingt für viele Menschen in unserer Umgebung genau so absurd wie der Begriff »Feindesliebe«. Und nach fünfunddreißig Jahren im pastoralen Dienst wage ich zu behaupten, dass der Satz »Liebe den Herrn, deinen Gott, mit ganzem Herzen, mit ganzer Seele und mit ganzer Kraft« (Dtn 6, 4 –5) auch nicht wenige gläubige Menschen in Zweifel bringt: Was wird hier eigentlich konkret von uns erwartet?

Für diejenigen, die sich ganz sicher sind, dass sie zur Genüge, voll und ganz das verstehen, was mit dem Gebot der Gottesliebe gemeint ist, sind meine Bücher nicht gedacht; diese Menschen haben schon ihre Belohnung für ihre Gewissheiten erhalten. Ich wende mich an diejenigen, die nach dem Sinn dieser Worte suchen, egal, ob sie sich schon als Gläubige bezeichnen (egal welcher Konfession – denn in allen Kirchen und religiösen Gruppierungen lassen sich Menschen finden, die den Glauben nicht als »Besitz« ansehen, sondern als eine Methode, einen Weg, der stets weitergeht), als »Beinahe-Gläubige« oder »ehemalige Gläubige« (denen das Schicksal die früheren religiösen Gewissheiten genommen hat), als Zweifelnde, als Agnostiker oder als Ungläubige (denn auch in der vielgestaltigen Welt der »Ungläubigen« gibt es Menschen, die ihren Unglauben nicht als endgültigen Zielpunkt ansehen, in dem man es sich wie in einer Liege bequem machen könnte, sondern sich auch als »Menschen auf dem Weg« sehen). Ich wende mich an den Menschen, dem ich Tag für Tag überall um mich herum (und manchmal auch in mir selbst) begegne, an den Menschen, der »simul fidelis et infidelis«, zugleich gläubig und ungläubig ist, was bedeutet, dass er bei Weitem nicht als »religiös unmusikalisch« bezeichnet werden kann, jedoch auf seinem Glaubensweg auch Momente des Schweigens Gottes und der inneren Dürre kennt; manchmal verliert er den Weg und findet ihn dann wieder; er hat unbeantwortete Fragen und kennt auch Momente der Rebellion. Ich wende mich an Menschen, die wie jener Mann im Evangelium mehrmals rufen müssen: Ich glaube, Herr, hilf meinem Unglauben!3

Ein Theologe ist ein »professioneller Zweifelnder«. Auch dann, wenn er mit dem eigenen aufrichtigen und glühenden Glauben ganz in Gott verankert ist, ist es doch seine Pflicht, sich der Schar der Suchenden insofern anzuschließen, dass er immer wieder in Frage stellen muss, wie er seinen Glauben erlebt, begreift und ausdrückt. Dennoch ein Glaube, der auf diese Weise stets von Zweifeln beunruhigt wird und auch in seinem Inneren mit dem Unglauben kämpfen muss, ist kein »halber Glaube«.

In meinen Büchern nehme ich den Dialog des Glaubens mit dem Unglauben in den Blick, einen Dialog, von dem ich behaupte, dass es sich dabei nicht um den Kampf zweier verfeindeter Lager handelt, sondern dass er sich in vielen, sehr vielen Menschen abspielt. Ich bemühe mich dabei, aufzuzeigen, dass es sich beim Glauben (eines bestimmten Typus) und beim Unglauben (eines bestimmten Typus) um zwei verschiedene Interpretationen handelt, um zwei Blicke aus unterschiedlichen Perspektiven auf denselben, in die Wolke des Geheimnisses und des Schweigens gehüllten Berg. Wiederholt habe ich den Unglauben unserer Zeit als die »kollektive dunkle Nacht des Geistes« interpretiert, als den Moment der »Gottesfinsternis« am Karfreitag, den Ungläubige als den »Tod Gottes« wahrnehmen können, Gläubige jedoch als den notwendigen Durchgang zum Ostermorgen.

In diesem Buch mache ich einen weiteren Schritt auf diesem Weg. Ich zeige, dass das »Entschwinden Gottes« nicht nur als »dunkle Nacht« gesehen werden muss. Das Gebot der Liebe kann zu einer mystischen Erfahrung führen, in welcher »Gott entschwindet« und gleichzeitig auch »das menschliche Ich entschwindet«. Die Liebe überschreitet nämlich die Grenzen zwischen »Subjekt und Objekt« – und jenes Hineinstellen Gottes in die Welt, die im Geist der neuzeitlichen Philosophie strikt in eine »subjektive« und »objektive« Sphäre aufgeteilt ist, vollendete die schicksalhafte Verwechslung des Gottes der Bibel mit einem banalen Götzen der Neuzeit. Dieser verdient die Ablehnung durch den Atheismus!4 Ein »nur objektiver« oder ein »nur subjektiver« Gott, ein hinsichtlich der Welt und des Menschen nur äußerlicher oder nur innerlicher Gott, ist tatsächlich weder des Glaubens noch der Liebe würdig.

Die Verbindung des Gebotes der Gottesliebe mit dem Gebot der Nächstenliebe – der Kern des Evangeliums Jesu – ermöglicht es, den entschwundenen Gott wieder zu entdecken, und zwar in der Beziehung zum Nächsten. Gott geschieht dort, wo wir Menschen, unsere Nächsten, lieben. Jesus lehnt es ab, von Vornherein jemanden aus der Kategorie des »Nächsten« auszuschließen, nicht einmal den Feind. Die Frage, wer (noch) alles unser Nächster sei, wandelt er um: Mache dich zum Nächsten von jedem. Ähnlich wie die Verbindung des Gebots der Gottesliebe mit dem Gebot der Nächstenliebe die Versuchung überwindet, aus Gott einen Gegenstand zu machen, ein abstraktes Idol, überwindet das Gebot der Feindesliebe die ähnlich geartete Versuchung, aus Menschen ein abstraktes Idol zu machen; auf die Frage, wer Gott ist und wer unser Nächster ist, dürfen wir nicht schon eine fertige Antwort parat haben, diese Antwort müssen wir stets suchen und dürfen dabei erleben, wie sich im Prozess des Suchens der Horizont der möglichen Antworten fortwährend weitet. Derjenige, der die Grenze zwischen Gott und dem Menschen niederreißt, reißt auch alle Grenzen zwischen den Menschen nieder, lehnt jede Einteilung von Menschen in »wir und sie« ein für alle mal ab.

Ich bin überzeugt, dass das »zweite Wort« nach dem Tod Gottes, jene Wiederkunft, die laut den Evangelien am Ostermorgen begonnen hat und am Ende der Zeiten vollendet sein wird, die Entdeckung der Liebe ist; der Liebe in jenem radikalen Sinne, der das Evangelium diesem Wort gab: Die Liebe wird hier als die bedingungslose und allumfassende Kraft der Verbindung mit Gott und mit allen Menschen, einschließlich der Feinde verstanden. Jesus spricht von der Liebe, die die uralte Sehnsucht des Menschen nach Vollkommenheit erfüllt, wie Gott zu sein: »Ihr sollt also vollkommen sein, wie es auch euer himmlischer Vater ist. […] Denn er lässt seine Sonne aufgehen über Bösen und Guten, und er lässt regnen über Gerechte und Ungerechte.« (Mt 5, 48.45) Dies ist jedoch eine ganz andere Auffassung von Liebe als es die romantische Vorstellung der Liebe als einer Emotion ist. In dieses seichte Wasser der Sentimentalität ist das Wort »Liebe« allerdings auch im christlichen Kontext hineingezogen worden. Die Liebe, wie sie das Evangelium begreift, hat sehr wenig mit den romantischen Gefühlsaufwallungen gemein; es geht vielmehr darum, den Mut aufzubringen, dem Egoismus zu sterben, sich für einen Anderen zu vergessen, sich selbst zu übersteigen.

Es ist stets zu wiederholen: Die Liebe ist ihrem Wesen nach Transzendenz, das Überschreiten der Grenzen, die »diese Welt«, die dingliche Welt, unsere Existenz umschließt. (Mit Martin Buber gesprochen5 – es ist das Heraustreten aus der Welt des »Es« in die Welt des »Du«.) Deswegen ist die Liebe ihrem Wesen nach ein religiöses, theologisches Thema, und die philosophische Theologie kann dieses Thema nicht nur der Literatur, der Psychologie oder den Naturwissenschaften überlassen, obwohl sie sich auch nicht dem verschließen sollte, wodurch die Thematik der Liebe durch den Blick aus anderen Perspektiven bereichert werden kann. Im Übrigen: Was sollte die christliche Theologie anderes behandeln, wenn nicht die Liebe, die Liebe in ihrer Radikalität und Tiefe, wohin nur der Blick des Glaubens reichen kann! Die Theologie hat die Pflicht, über die Liebe nachzudenken, auch wenn sie weiß, dass schließlich alle ihre Aussagen im kontemplativen Schweigen an der Schwelle des Geheimnisses verstummen müssen.

***

Dieses Buch verfolgt jedoch noch einen »zweiten Plan«. Ähnlich wie in meinen vorhergehenden Büchern bemühe ich mich auch hier, ein spirituelles, theologisch-philosophisches Thema zu verbinden mit dem Versuch, eine Diagnose unserer Zeit zu geben. Ich will nicht von der Liebe als von einem privaten Gefühl sprechen. Teilhard de Chardin schrieb – angesichts der totalitären Systeme des 20. Jahrhunderts – in seiner Analyse der Geschichte, dass »die Liebe die einzige Kraft ist, die verbindet, ohne dass sie zerstört«.6

Wenn ich heute auf den Westen blicke – und insbesondere auf Europa, das sich zwar politisch, ökonomisch und administrativ verbindet, aber eine glaubwürdige und tragfähige verbindende geistige Vision vermissen lässt – bemühe ich mich, immer tiefer meine »fixe Idee« durchzudenken und weiterzuentwickeln: dass nämlich die Zukunft Europas darin besteht, eine dynamische Kompatibilität zwischen den zwei europäischen Traditionen zu finden: der christlichen und der säkular-humanistischen. Im vorliegenden Buch werde ich darüber hinaus das Aufeinandertreffen und die Auseinandersetzung dreier Strömungen im heutigen Europa in den Blick nehmen: des Christentums, des »laizistischen Humanismus’« und des »Neu-Heidentums«. Und weil ich von Teilhard gelernt habe, keine Angst vor Visionen zu haben, die vielen utopisch erscheinen mögen (denn jede Vision ist in ihrem Wesen eine Utopie, aber dies nimmt ihr nichts an ihrer Kraft und ihrer Bedeutung), wage ich zu fragen: Wird es für den Ausgang des Streits zwischen den verschiedenen Konzepten des Westens letztendlich nicht entscheidend sein, welches Projekt in der Lage sein wird, in unserer Welt den größeren Raum für die Liebe zu bieten, den größeren Raum für »das Gute und das Sanfte«?

Karl Marx nennt in seinem, auch »Hoheslied des Hasses auf die Religion«, genannten Passus aus seiner Auseinandersetzung mit Hegel, jenem merkwürdigen, blumigen Text, aus dem man gewöhnlich nur die Metapher über die Religion als des »Opiums des Volkes« kennt (und dies zudem oft in der durch Lenin verzerrten und in ihrer Bedeutung veränderten Version »Opium für das Volk«), die Religion das Herz einer Welt ohne Herz, das Gefühl einer gefühllosen Welt.7 Marx meint diese Aussage sicherlich nicht als Kompliment. Die Sätze leben jedoch ihr eigenes Leben: Können wir diese Aussage nicht ein wenig anders interpretieren und sie in den Dienst unserer Suche nach jenem »Woher das Sanfte, woher das Gute« stellen? Spielt nicht die Religion in unserer Welt eine gute und wichtige Rolle schon allein dadurch, dass sie in der gefühllosen Welt die Quelle dessen bewahrt, was zu deren Gefühllosigkeit in scharfem Kontrast steht, oder zumindest die Frage und den Durst nach dieser Quelle bewahrt?

Sicher, noch wichtiger als die Antwort auf die Frage nach dem Ursprung des Guten und des Sanften ist die Antwort darauf, was zu tun bzw. nicht zu tun ist, damit dieses bedrohte Licht in der Welt nicht erlöscht, damit dieses lebendige Wasser nicht austrocknet. Aber auch wenn wir hier vielleicht nicht zu einer befriedigenden Antwort gelangen sollten, stärken wir uns wenigstens in der Entschlossenheit, bei diesen Fragen durchzuhalten.

II. Warten auf das zweite Wort

Ich bin zu der Überzeugung gelangt, dass Gott an uns nicht als Antwort herantritt, sondern eher als Frage. In Zeiten, in denen die Frage nach Gott nicht nur unbeantwortet bleibt, sondern oftmals nicht einmal gestellt wird, spricht uns vielleicht Gott so ähnlich an, wie er einst seinen Diener Ijob ansprach: Ich werde dich fragen, du antworte!

In meinen vorhergehenden Büchern knüpfte ich an einen Gedanken des Philosophen Richard Kearney an, den er in einer Meditation über die biblische Geschichte von Mose vor dem brennenden Dornbusch auf eine bemerkenswerte Weise entwickelte. Er schreibt, dass Gott an uns nicht als ein »Faktum« herantritt, sondern als Möglichkeit, als Herausforderung, als Einladung und Aufforderung. Wenn du den Auftrag annimmst, zu dem ich dich sende, werde ich mit dir sein, interpretiert Kearney die Antwort des Herrn auf den Wunsch des Mose, dass sich Gott ihm mit seinem Namen vorstellen möge.8 Ich würde dem hinzufügen: Über Gott nachzudenken bedeutet, sich selbst den Fragen auszusetzen: Wer bist du? Wo bist du? aber auch: Wo ist dein Bruder?9

Allmählich habe ich gelernt, die Bibel so zu lesen, dass ich in ihr nicht nach Antworten suche, sondern eher nach Fragen. Manchmal scheint es mir sogar, dass in der ganzen hebräischen Bibel der Herr häufiger fragt als antwortet. Auf viele unsere Fragen finden wir in der Bibel keine Antwort, oder zumindest keine klare und eindeutige Antwort. Menschen greifen oft nach der Bibel, um in ihr die Antwort auf die Frage zu finden, ob Gott existiere. Sie sind dann überrascht, dass dieses Buch diese Frage nicht nur nicht beantwortet, sondern sie gar nicht stellt; die Bibel verliert keine Zeit mit der spekulativen »Frage nach Gott« oder nach einem Beweis seiner Existenz, sondern bietet in den Geschichten über Menschen die Möglichkeit, in ihre Erfahrungen mit Gott einzutreten. In den folgenden Ausführungen werde ich noch eine Überraschung präsentieren, die ich bei der Lektüre der Evangelien erlebt habe: Gott erwartet von uns ganz offensichtlich etwas anderes, als dass wir an seine Existenz glauben. Wer vermutet, dass man die »Frage nach Gott« damit abgehakt habe, indem man sich der Antwort »Ja« zuneigt, dass man sich damit aus dem Dilemma, ob Gott existiere oder nicht, befreit habe, der befindet sich noch weit draußen vor den Toren des christlichen Glaubens.

***

Wenn ein Mensch die Bibel aufrichtig liest, dann kann er sich bei der Lektüre mancher Seiten nicht der Frage erwehren, ob diese wirklich von Gott inspiriert sind, oder ob sie nicht eher vom Teufel selbst diktiert wurden – das behauptete zumindest ein Theologe, der sein ganzes Erwachsenenleben dem Studium der Heiligen Schrift gewidmet hat.10

Zu solchen Seiten gehört unzweifelhaft die Erzählung über das Opfer Abrahams.11 Wenn Abraham wortwörtlich und bis in alle Konsequenzen jenen ersten Befehl, den Gott ihm gegeben hatte, ausgeführt und jenen zweiten, gänzlich entgegengesetzten, überhört hätte, wäre er zum Mörder seines Sohnes geworden. Wie kann man aber unterscheiden zwischen dem Wort »opfere deinen Sohn« und »tu ihm nichts zuleide«? Vielleicht sind die Fundamentalisten und die religiösen Fanatiker diejenigen, die immer nur das erste Wort aus dem göttlichen Mund hören, und nicht mehr auf das zweite warten. Stellen wir uns aber nicht zu schnell über sie: Wer ist wirklich in der Lage, einen Gott zu verstehen, der sich so widersprüchlich ausdrückt? Ist nicht auch unser Glaube manchmal so sehr von dem ersten Satz aus dem göttlichen Mund eingenommen, dass er den zweiten nicht mehr hört? Vielleicht warten wir deswegen auf keine weiteren göttlichen Worte mehr, weil wir sie eigentlich gar nicht hören wollen – weil sie uns vielleicht unserer Sicherheit berauben könnten, die wir uns mit unserem bisherigen Verständnis zurechtgelegt haben. Kann aber jemand – egal ob Atheist, Agnostiker oder ein wie auch immer gläubiger Mensch – mit wirklicher Sicherheit behaupten, dass das, was er gerade über Gott denkt, nicht auf etwas basiert, das vielleicht noch nicht zu Ende gesprochen wurde?

Und wer von uns hat den Mut, sich einem Gott auszusetzen, der fortwährend die Vorstellungen übersteigt, die wir uns von ihm gemacht haben, und uns dadurch zwingt, auch unsere Sichtweisen auf die Welt und auf uns selbst immer wieder neu zu bewerten? Kein Wunder, dass sich die Menschen immer wieder lieber Götzen herstellen (früher aus Metall und Holz, heute aus Ideen und Vorstellungen), von denen sie ein- für allemal wissen, woran sie bei ihnen sind und was sie von ihnen erwarten können.

***

Søren Kierkegaard quälte sein scharf analysierender Geist, seine leidenschaftlich aufflammende dichterische Vorstellungskraft und seine schmerzhaft zerrüttete Seele, die Seele eines ewig unruhigen Suchers, der mit sich selbst, mit der Welt und mit der Kirche ewig unzufrieden ist, unablässig mit der Geschichte vom Opfer Abrahams; er kreiste um jene Erzählung wie ein Nachtfalter um die ihn verbrennende Flamme. Dieser nordische Denker fand sich in jenen Mann hinein, der von Gott aus dem Gebiet der Sicherheiten seiner Vergangenheit herausgerufen wurde, dann aber die Aufforderung erhielt, die ganze ihm in seinem Sohn verheißene Zukunft selbst zu töten; in jenen Menschen, dem nur der gegenwärtige Augenblick blieb, jener Augenblick der Prüfung, der Schicksalswahl zwischen Glauben und Unglauben. Abraham nahm das Opfermesser des unbedingten Gehorsams mit auf den Weg, aber gleichzeitig auch die Hoffnung, dass ihn Gott, wenn er den Sprung des Glaubens wagen würde, nicht in den Abgrund des Nichts und der Absurdität fallen ließe. Auf diesem Glaubensweg musste er durch die Stürme und Finsternisse des Zweifels hindurchgehen und ließ trotz allem die kleine Flamme der unbegreiflichen Hoffnung und des Vertrauens auf den unbegreiflichen Gott nicht erlöschen. Und gerade diese Hoffnung (»die Hoffnung wider alle Hoffnung«, wie sie der Apostel Paulus nennen wird12) öffnete ihm das Ohr für das zweite, rettende Wort Gottes.

Bei seinen Betrachtungen zu Abraham, den Vater des Glaubens, erfand Kierkegaard nebenbei auch einen neuen Typ der philosophischen Theologie. Es ging ihm nicht um die »Wissenschaft von Gott«– kann man denn das Geheimnis jenes Gottes, der sich in ähnlichen Geschichten der Bibel und in den Paradoxa unserer Welt und in den paradoxen Geschichten des menschlichen Lebens offenbart, im Netz irgendeiner »wissenschaftlichen Rationalität« einfangen, in den »Spinnweben der Vernunft«, wie Nietzsche sagte? Was können wir von Gott wirklich »wissen«, als dass er radikal unser ganzes Wissen übersteigt? Lehrten nicht schon Anselm, Pascal und Kant, dass es die größte Leistung der Vernunft sei, die Grenzen ihrer Erkenntnis zu erkennen und anzuerkennen?

Der Weg, den Kierkegaard entdeckte, besteht in der philosophischen und psychologischen Analyse der menschlichen Erfahrung des Glaubens – die zugleich messerscharf und dennoch sanft ist –, der Erfahrung der Selbst-Übersteigung, des Mutes, vertrauensvoll in die undurchdringliche Wolke des Geheimnisses einzutreten, der Entschlossenheit, nicht vor dem Abgrund zurückzuweichen, vor dem die Vernunft Schwindel bekommt und sich häufig übertrieben vorsichtig in das Gestrüpp ihrer Einwände und Selbstrechfertigungen zurückzieht. Den Pfad des religiösen Denkens, den Kierkegaard entdeckte, sollten wir nicht nur deshalb nicht verlassen, weil er nicht zur Sicherheit fertiger Antworten führt. Ein Jünger Jesu darf sich nicht davor fürchten, auf dem Wasser zu gehen. Er darf sich nicht vor dem Abgrund der Fragen fürchten, über den keine festen Brücken definitiver Antworten führen.

Kant, der Fürst der Rationalisten, merkte bezüglich der Grenzen dessen, was die Vernunft mit Sicherheit über Gott aussagen kann, an, man müsse »die Vernunft einschränken, damit sie dem Glauben mehr Raum gibt«. Kierkegaard, wenn ich ihn richtig verstehe, inspiriert uns dazu, dass wir das Reich der »religiösen Sicherheiten« eingrenzen und damit dem Glauben Raum geben, der ein mutiges, riskantes geistliches Abenteuer darstellt.

Dürfen wir an einen Gott glauben, von dem wir so wenig wissen – noch dazu, wo unser Wissen häufig in Paradoxien, in sich gegenseitig widersprechenden Aussagen besteht? Und können wir einen solchen Gott lieben? Und weiter: Hat das Wort »Liebe«, das heutzutage aufgrund der – frommen und profanen – sentimentalen Phrasen meist so zuckersüß aber abgedroschen daherkommt, überhaupt noch irgendeinen Sinn? Und gehen wir noch einen Schritt weiter: Hat das, was wir mit diesem Wort bezeichnen, überhaupt einen Sinn?

Ich bin überzeugt, dass diese beiden Fragen – »Existiert Gott?« und »Hat Liebe einen Sinn?« – sich nicht nur gegenseitig bedingen, sondern letztlich ein- und dieselbe Frage sind, lediglich anders (nämlich im Rahmen eines anderen »Sprachspiels«) gestellt. Ich kenne keine bessere Übersetzung der Aussage »Gott existiert«, als den Satz »Die Liebe hat einen Sinn«. Der Raum zur Verifizierung dieser Sätze ist jedoch nicht der Seminarraum der alten Metaphysik (aus der uns Kant und Kierkegaard, jeder durch eine andere Tür, herausgeführt haben), sondern das Leben selbst; eine positive Antwort auf diese Doppelfrage lässt sich nicht beweisen, sondern nur zeigen; man kann nur mit seinem eigenen Leben auf sie hinweisen – sie bezeugen.

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Wenn wir uns dem Sinn der zentralen religiösen Aussagen annähern wollen und sie auch denen nahe bringen möchten, für die Religion bisher eine Fremdsprache war, müssen wir uns geduldig und verantwortet um ihre »Übersetzung« bemühen. Wir leben in einer Zeit, in der sich die Gestalt der menschlichen Welt und der Horizont unserer Erkenntnisse rasend schnell und radikal ändern; in einer Zeit, in der der Mensch eine derartige Macht über das Leben und die Natur bekommen hat wie nie zuvor, und in der – auch als Folge dieser Macht des Menschen – er sich mit bisher ungekannten Bedrohungen hinsichtlich der totalen Zerstörung seiner selbst und seines Planeten konfrontiert sieht. Es ist deshalb kein Wunder, dass in einer Zeit mit derart grundlegenden Umwälzungen viele Postulate, die vorhergehende Generationen überwiegend als fertige Antwort wahrgenommen haben, für die Mehrheit unserer Zeitgenossen wieder zu Fragen geworden sind.

Das gilt sicher auch für viele Sätze der Religion (aber auch des Atheismus) – denn wie könnte das Nachdenken über die »letzten Dinge« von diesen Erschütterungen ausgenommen sein? Denn unser geistiges Leben (wenn es denn wirkliches Leben, also Bewegung ist) und unsere religiösen Vorstellungen sind ja keineswegs von der Ganzheit unseres Lebens, unseres Wissens, Denkens, Fühlens, unserer Erfahrungen, von unserer »Lebenswelt« abgetrennt! Gott hat uns in eine Zeit und einen Raum gestellt, in denen der Glaube aufgefordert ist, aus dem Haus jener Sicherheiten herauszutreten, in dem er es sich eingerichtet hat, um sich erneut auf den Weg der Suche zu begeben. Gleiches gilt übrigens auch für den Atheismus.

Es ist zu hören und zu lesen, dass im europäischen Kulturraum die Zahl der Gläubigen abnehme – aber diese bis zum Überdruss wiederholte Behauptung hat nur dann Bestand, wenn wir den Begriff »Gläubige« – und zwar zu Unrecht – lediglich auf die Menschen beziehen, die in den traditionellen Formen der Religion »beheimatet« sind. Nebenbei bemerkt: Auch die Anzahl der »überzeugten Atheisten« nimmt ab. Die Anzahl der Suchenden aber nimmt zu, die Zahl von »Menschen auf dem Weg«.

Und ist nicht gerade Abraham, der »Vater des Glaubens«, der sich auf den Befehl Gottes hin wiederholt auf den Weg gemacht hat (»und er zog weg, ohne zu wissen, wohin er kommen würde«, sagt die Schrift13), der Vater gerade eines solchen Glaubens, eines Glaubens, der sich auf den Weg gemacht hat, also eines Glaubens als Weg?

Abraham begab sich auf den steilen Weg der Treue und des Gehorsams. Trotzdem hat er nie, so scheint es, ganz die Hoffnung aufgegeben, dass das Wort Gottes, das er gehört hatte und das ihm mit Recht finster, unbegreiflich und absurd erschien, nicht sein letztes Wort sein würde. Er hat die Hoffnung nicht aufgegeben, dass ihm Gott seinen Sohn zurückgeben würde, dass er sich »selbst das Brandopfer aussuchen würde«. Und tatsächlich sprach der Herr zu ihm ein weiteres Mal.

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In dem Widder, den Abraham an der Stelle seines Sohnes opferte, sieht die christliche Tradition das Vorbild Christi und seines österlichen Opfers am Kreuz. Und auch die neutestamentliche Ostergeschichte beinhaltet zwei verschiedene göttliche Worte. Das Kreuz ist nicht das letzte Wort der Geschichte Jesu. Beim Anbruch des Tages am Ostermorgen ergeht eine weitere Botschaft, die nächste Herausforderung: Gott sprach wieder. (Und man muss an dieser Stelle hinzufügen, dass die neutestamentlichen Texte nicht verschweigen, wie schwer es dieses weitere Wort-Ereignis hatte, in die Trauer und in das Misstrauen selbst der nächsten Freunde und Jünger Jesu durchzudringen.)

Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen? Gemäß dem Markusevangelium verlässt Jesus diese Welt mit diesem Satz auf den Lippen. Nach vielem Suchen wird gerade dieser herzzerreißende Satz immer mehr zum Eckstein meines Glaubens und zum Ausgangspunkt meines Durchdenkens des Glaubens, meiner Theologie. Dieses wundersame Testament kann sicher als Aufschrei aus einer ausweglosen Verzweiflung verstanden werden, als Eingeständnis einer endgültigen Niederlage, als das Infragestellen des eigenen Lebens durch Jesus selbst, als Leugnung und Widerruf seiner ganzen Glaubenslehre, Liebe und Hoffnung. Bleibt hier, hinter dem finsteren Abgrund dieses Aufschreis überhaupt noch Raum für irgendein Christentum? Oder anders gefragt: Ist nicht ein Christentum, das sich allzu leichtfertig über den Abgrund hinwegsetzt, der in diesen Worten zum Ausdruck kommt, sie wegerklären, aus dem Gedächtnis verdrängen oder am liebsten sogar ganz überhören möchte, sehr flach, zu flach?

Jesus zitierte hier einfach den 22. Psalm, der zwar mit diesen herzzerreißenden Worten beginnt, jedoch in einer friedlichen Ergebenheit des Glaubens endet, so ist in einer ganzen Reihe von beruhigenden Kommentaren zu lesen. Aber auch wenn dem so wäre, würde dies das Bedrängende gerade dieses Verses abschwächen, den Jesus am Kreuz hängend rief? Chesterton kommentierte diese Worte mit der heute so oft zitierten Bemerkung, dass ein Atheist, falls er sich eine Religion aussuchen müsste, das Christentum wählen sollte, denn in ihm schien Gott für einen Augenblick Atheist zu sein.14 Die Theologen, die die These verteidigen, dass Gott in Christus gestorben ist,15 behaupten damit auch implizit, dass allein der Allwissende – im Unterschied zu uns lebenden Sterblichen aber auch zu den »Unsterblichen« (den heidnischen Göttern) – weiß, was der Tod ist.

Indem das Markusevangelium den Aufschrei Jesu am Kreuz wiedergibt, beschreibt es offensichtlich das, was das Apostolische Glaubensbekenntnis mit dem Satz »hinabgestiegen in das Reich der Toten« zum Ausdruck bringt. Der Aufschrei Jesu und der Satz »hinabgestiegen in das Reich der Toten« sind zwei verschiedene Ausdrucksweisen des Faktums, dass sich Jesus derart mit den Sündern solidarisierte, dass er auch den »Lohn der Sünde« auf sich nahm – die abgrundtiefe Leere der Verlassenheit, des völligen Getrenntseins von Gott. Denn was sollte das Wort »Hölle« anderes bedeuten, als genau dieses?16 Wenn die Volksphantasie die Hölle mit Teufeln bevölkert und mit Folterkammern bestückt, ist dies lediglich als Versuch zu werten, den noch schreckenerregenderen Abgrund der unvorstellbaren Leere des ewigen Nichts zu verbergen.

Eine etwas andere Richtung nehmen die Überlegungen, wenn man den Hinweis berücksichtigt, dass die wortgetreue Übersetzung jener Worte Jesu laute: Mein Gott, wozu hast Du mich verlassen?17 Aufgrund dieses Befunds ist es offensichtlich, dass dieses »Testament Jesu« kein resignierender Aufschrei eines Verzweifelten ist, der in die Vergangenheit gerichtet ist und auf Glauben und Hoffnung verzichtet, sondern eine Frage, die in einem eindringlichen Gebet zu Gott ausgesprochen wird; eine Frage, die auf die Zukunft hin gerichtet ist, hin zu dem Sinn, der sich erst offenbaren muss.