Geduld mit Gott - Prof. Tomás Halík - E-Book

Geduld mit Gott E-Book

Prof. Tomás Halík

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Beschreibung

Inmitten der gegenwärtigen Debatte über Glaube und Unglaube lehrt Tomáš Halík, dass Gott uns auffordert, mit unseren Zweifeln auszuharren, sie in uns zu tragen und zuzulassen, dass sie uns zur Reife führen. Wer glaubt, muss große Geduld haben können, denn angesichts von Gottes Schweigen sind Glaube, Hoffnung und Liebe drei Aspekte von Geduld. So wie in der biblischen Erzählung der Zöllner Zachäus sein Leben ändert, können auch wir uns die Botschaft Jesu zu Herzen nehmen. Und Christen sollen den Menschen, die wie der Zöllner Zachäus in der biblischen Erzählung von den Kirchen Distanz bewahren, verstehende Nähe anbieten.

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Tomáš Halík

Geduld mit Gott

Die Geschichte von Zachäus heute

Aus dem Tschechischen übersetzt von Vratislav J. Slezák

Titel der Originalausgabe:

Vzdáleny´m nablízku

ISBN 978-80-7106-907-2

© Nakladatelství Lidové noviny Praha 2007

Neuausgabe 2017

Für die deutschsprachige Ausgabe:

© Verlag Herder GmbH, Freiburg im Breisgau 2010

Alle Rechte vorbehalten

www.herder.de

Umschlaggestaltung: wunderlichundweigand, Stefan Weigand

Umschlagmotiv: © Viktor Sykora

Textrevision: Angela Demattio, Johannes Langer, Otfrid Pustejovsky

ISBN (EPUB) 978-3-451-81857-8

ISBN (PRINT) 978-3-451-06982-6

Von gewissen Menschen spricht der Prophet: Jenen, die euch sagen: Ihr seid nicht unsere Brüder, sollt ihr antworten: Ihr seid unsere Brüder. Haltet Ausschau, von wem dies gesagt werden könnte.

Hl. Augustinus

Geduld mit anderen ist Liebe, Geduld mit sich selbst ist Hoffnung, Geduld mit Gott ist Glaube.

Adel Bestavros

Aus Liebe zu Gott erdulde ich alles, auch die seltsamsten Gedanken …

Hl. Thérèse von Lisieux

Eine der kostbarsten Freuden der irdischen Liebe, dem Geliebten zu dienen, ohne dass er davon weiß, ist im Falle der Liebe Gottes nur durch den Atheismus möglich.

Simone Weil

Inhalt

Prolog

Das Evangelium von Zachäus

I. Zachäus ansprechen

II. Selig die Fernstehenden

III. Fern aller Sonnen

IV. Mit nackten Füßen

V. Streit um die Schönheit der Dulcinea von Tobosa

VI. Ein Brief

VII. Der unbekannte, allzu nahe Gott

VIII. Aus nachösterlicher Sicht

IX. Zeit zum Steinesammeln

X. Zeit zur Heilung

XI. Der heilige Zachäus

XII. Der ewige Zachäus

Verzeichnis der Abkürzungen

Prolog

Mit den Atheisten stimme ich in vielem überein, in fast allem – außer ihrem Glauben, dass es Gott nicht gibt.

Auf dem bunten und lauten Markt der Religionen unserer Zeit habe ich mit meinem christlichen Glauben zuweilen den Eindruck, den Skeptikern und atheistischen oder agnostischen Religionskritikern näher zu stehen als manchem, was dort so aufdringlich angeboten wird. Mit Atheisten bestimmter Prägung kann ich die Wahrnehmung der Abwesenheit Gottes in der Welt nachvollziehen. Ich erachte ihre Deutung dieses Gefühls jedoch für übereilt – nämlich für einen Ausdruck von Ungeduld.

Das Schweigen Gottes und die beklemmende Gottesferne bedrängen oft auch mich. Dass die Verborgenheit Gottes sich aufgrund des ambivalenten Charakters der Welt sowie der vielen Paradoxa des Lebens auch mit Aussagen „Gott gibt es nicht“ oder „Gott ist tot“ erklären lässt, weiß ich gut.

Ich weiß jedoch noch von einer anderen Interpretation, von einer anderen Haltung gegenüber einem „abwesenden Gott“. Ich kenne drei (tief miteinander verbundene) Arten von Geduld angesichts der Abwesenheit Gottes: es sind dies Glaube, Hoffnung und Liebe.

Ja, den Hauptunterschied zwischen dem Glauben und dem Atheismus sehe ich in der Geduld. Atheismus, religiöser Fundamentalismus und leichtgläubiger religiöser Enthusiasmus sind sich auffallend ähnlich in dem, wie schnell sie fertig sind mit dem Geheimnis, das wir Gott nennen – und eben deshalb sind alle diese drei Positionen für mich in gleichem Maße unannehmbar.

Mit einem Geheimnis darf man nie „fertig sein“. Ein Geheimnis lässt sich – im Gegensatz zu einem Problem – nicht fassen; man muss geduldig an der Schwelle zum Geheimnis ausharren und in ihm verweilen. Es innen, im Herzen tragen, wie es im Evangelium von Jesu Mutter heißt, es dort reifen und dadurch sich selbst reifen lassen.

Auch mich würden die „Gottesbeweise“, die man in vielen frommen Büchern findet, nicht gläubig machen. Wenn die Zeichen der Gegenwart Gottes uns in so banaler Weise vor Augen stünden, wie einige religiöse Enthusiasten meinen, wäre ein Glaube gar nicht nötig.

Ja, es gibt auch einen Glauben, der aus der schlichten Freude und Bezauberung quillt, dass es unsere Welt gibt und dass sie so ist, wie sie ist – einen Glauben, den wir vielleicht der Naivität verdächtigen können, dessen Lauterkeit und Authentizität jedoch nicht zu bestreiten sind. Solch eine klare und freudige Form des Glaubens kennzeichnet oft die anfängliche Inbrunst der Konvertiten oder blitzt in seltenen Augenblicken unseres Lebensweges unerwartet auf, manchmal sogar in der Tiefe des Schmerzes. Er mag ein „Vorgeschmack“ jener beneidenswerten Freiheit in der Gipfelphase des geistlichen Weges sein, jener Stunde des endgültigen, vollen „Ja“ zum Leben und zur Welt, beschrieben als „Via unitiva“ oder „Amor fati“, als mystische Vereinigung der Seele mit Gott oder als verstehende und freudevolle Bejahung des eigenen Schicksals im Sinne der Aussage von Nietzsches Zarathustra: „War das – das Leben? Wohlan. Noch einmal!“

Ich bin aber überzeugt, dass zum Reifen im Glauben auch gehört, Augenblicke – manchmal sogar lange Zeitabschnitte – durchzustehen, in denen Gott weit entfernt zu sein scheint, verborgen bleibt. Offensichtliches und Beweisbares verlangt doch keinen Glauben; man braucht ihn nicht im Licht unerschütterlicher Gewissheiten, die für unseren Verstand, unsere Phantasie oder unsere Sinneserfahrung erreichbar sind. Der Glaube ist gerade für jene Zeiten der Dämmerung, der Vieldeutigkeit des Lebens und der Welt wie auch für die Nacht und den Winter des Schweigens Gottes da. Er ist nicht dazu da, um unseren Durst nach Gewissheit und Sicherheit zu stillen, sondern um uns zu lehren mit dem Geheimnis zu leben.

Glaube und Hoffnung sind Ausdruck unserer Geduld in eben solchen Stunden – wie auch die Liebe: Liebe ohne Geduld ist keine echte Liebe. Ich könnte sagen, dies gelte sowohl für die „irdische“ Liebe wie auch für die „Liebe zu Gott“, wenn ich nicht wüsste, dass es nur eine Liebe gibt, in ihrem ureigenen Wesen nur eine, ungeteilt und unteilbar.

Der Glaube – ähnlich wie die Liebe – ist untrennbar mit Vertrauen und Treue verbunden. Und Vertrauen und Treue bewähren sich in der Geduld.

Glaube, Hoffnung, Liebe sind drei Aspekte unserer Geduld mit Gott; sie sind drei Möglichkeiten, mit der Erfahrung der Verborgenheit Gottes umzugehen. Sie bieten einen ganz anderen Weg, als es der Atheismus oder der „billige Glauben“ tut, sie stellen – gegenüber jenen beiden oft angebotenen Verkürzungen – ein wahrlich langes Unterwegssein dar. Ähnlich wie der Exodus des Volkes Israel, der das trefflichste biblische Symbol dieses Pilgerns ist, führt es auch durch Wüste und Dunkelheit. Ja, von Zeit zu Zeit verliert sich der Weg – zu dieser Wüste gehört ein ständiges Suchen und zeitweiliges Herumirren, manchmal müssen wir recht tief in den Abgrund, in das Tal der Schatten hinabsteigen, um den Pfad wieder zu finden. Würde er nicht hierdurch führen, so wäre es kein Weg zu Gott – Gott wohnt nicht an der Oberfläche.

Die traditonelle Theologie behauptete, es stehe in der Macht der menschlichen Vernunft, durch Überlegungen über die geschaffene Welt zu der Überzeugung zu gelangen, dass Gott existiert – dieser Behauptung kann man sicher zustimmen. (Genauer gesagt: die Welt steht dieser Deutungsmöglichkeit offen und die Vernunft wiederum der Möglichkeit, zu einem solchen Schluss zu kommen; die Welt als eine ambivalente Wirklichkeit zwingt uns allerdings nicht zu dieser Deutung und lässt theoretisch auch eine andere Sicht zu, und wenn etwas „in den Möglichkeiten der menschlichen Vernunft“ liegt, heißt es nicht, dass die Vernunft jedes einzelnen Menschen sich diese Möglichkeit unbedingt zunutze machen muss.) Aber dieselbe traditonelle Theologie wusste sehr wohl und lehrte es auch, dass die menschliche Überzeugung von der Existenz Gottes etwas anderes als der Glaube ist. Menschliche Überzeugungen liegen im Reich des „Natürlichen“, während der Glaube dieses Reich übersteigt, er stellt ein Geschenk dar – eine „eingegebene göttliche Tugend“. Gemäß Thomas von Aquin ist Glaube ein Gnadengeschenk, das in die menschliche Vernuft einfließt und es möglich macht, deren natürliche Kapazität zu überschreiten und in bestimmtem und beschränktem Maße an der vollkommenen Erkenntnis zu partizipieren, mit der Gott sich selbst erkennt. Trotzdem besteht jener riesige Unterschied fort, den es zwischen der durch den Glauben sich eröffnenden und uns während des Pilgerns durch das Halbdunkel der Welt begleitenden Erkenntnis und der Erkenntnis Gottes von Angesicht zu Angesicht gibt, dem „seligen Schauen“ (visio beatifica), welches den Heiligen im Himmel vorbehalten ist – also auch uns, wenn wir Geduld und Treue unserem Pilgerglauben gegenüber bezeugen sowie der Sehnsucht, die während unseres ganzen Lebens bis an die Schwelle der Ewigkeit nicht vollständig wird gestillt werden können.

Gründete sich unser Verhältnis zu Gott auf der bloßen Überzeugung von seiner Existenz, einer Überzeugung, zu der wir problemlos mittels Emotionen der Freude über die im Weltall herrschende Harmonie oder durch gedankliches Erschließen von Ursachen und Folgen kämen, so wäre dieses Verhältnis nicht das, was ich im Sinn habe, wenn ich über den Glauben spreche. Den alten Kirchenlehrern gemäß ist der Glaube ein Strahl, mit dem Gott selbst in das Dunkel des menschlichen Lebens eindringt; auf diese Art und Weise, mit dieser Berührung seines Lichstrahls, wird Gott im menschlichen Leben selbst gegenwärtig, ähnlich wie die unermesslich ferne Sonne mit ihrem Schein die Erde sowie unsere Körper wohltuend berührt. Allerdings kennt auch unser Leben mit Gott Stunden der Finsternis.

Es ist schwer zu entscheiden: ob in dem Abschnitt der Geschichte, den wir miterlebt haben und erleben, Stunden der Finsternis öfter vorkommen, als es in der Vergangenheit der Fall war, oder ob wir bloß mehr von ihnen wissen und ihnen gegenüber empfindlicher sind. Ähnlich schwer fällt die Entscheidung, ob die dunklen Seelenzustände, Angst und Trauer, unter denen gerade heutzutage so viele Menschen unserer Zivilisation zu leiden haben – heute bezeichnet mit den Termini der klinischen Medizin, die sie aus ihrer Perspektive erforscht und auch zu beseitigen bemüht ist –, ob diese Seelenzustände gegenwärtig häufiger vorkommen als in früheren Zeiten oder ob frühere Generationen sie vielleicht wegen anderer Sorgen weniger beachteten oder auch andere und effektivere Mittel besaßen, sie zu verarbeiten oder zu bekämpfen.

Diese Stunden der Finsternis, des Chaos und der Absurdität, als wäre man aus dem sicheren Raum einer sinnvollen Ordnung herausgefallen, erinnern auffällig an das, was Nietzsche durch den Mund des „Narren“ in der Botschaft vom Tod Gottes verkündete: „Wohin bewegen wir uns? Fort von allen Sonnen? Stürzen wir nicht fortwährend? Und rückwärts, seitwärts, vorwärts, nach allen Seiten? Gibt es noch ein Oben und ein Unten? Irren wir nicht wie durch ein unendliches Nichts? Haucht uns nicht der leere Raum an?“

Solche Stunden „fern aller Sonnen“ – die wir auf der großen Bühne der Geschichte mit Symbolen wie „Auschwitz“, „Gulag“, „Hiroshima“, „11. September“ oder „Zivilisation des Todes“ und auf der Alltagsebene einzelner Schicksale mit „Depression“ oder „Krise“ (psychische Krise, Familienkrise usw.) bezeichnen – stellen für viele den „Felsen des Atheismus“ dar. Sie liefern ihnen die Begründung für die Überzeugung – mit Shakespeares Macbeth ausgedrückt –, das Leben sei bloß das sinnlose Stottern eines Trottels und das erste sowie das letzte Wort hätten Chaos und Absurdität. Es gibt jedoch auch Menschen – und der Autor dieses Buches zählt zu ihnen –, für welche eben die Erfahrung von Gottes Schweigen, Gottes Verborgenheit in dieser Welt den Ausgangspunkt ihres Glaubens und eine ihrer grundlegenden Glaubenserfahrungen bildet.

Selten weist etwas auf Gott so stark hin und ruft so dringend nach Gott, wie gerade das Erleben seiner Abwesenheit. Diese Erfahrung kann einige zur „Anklage Gottes“ veranlassen, die mit Ablehnung des Glaubens endet. Es gibt jedoch – insbesondere in der Tradition der Mystik(er) – eine Reihe anderer Interpretationen, anderer Formen sich dem zu fügen. Ohne die schmerzvolle Erfahrung einer „gottlosen Welt“ werden wir schwerlich den Sinn von religiösem Suchen sowie von all dem begreifen können, was wir über die „Geduld mit Gott“ und ihren drei Aspekten sagen wollen – über Glauben, Hoffnung und Liebe.

Ich bin überzeugt, dass ein reifer Glaube jene Erfahrungen mit der Welt und mit Gott – die von einigen pathetisch als „Tod Gottes“ bezeichnet werden, während andere von Gottes Schweigen oder der Nacht des Glaubens sprechen – integrieren, aber auch innerlich verarbeiten und ehrlich, keineswegs oberflächlich und billig durchmachen und überwinden muss. Den Atheisten sage ich nicht, sie hätten Unrecht; ich sage nur, dass es ihnen an Geduld mangelt; ich behaupte, ihre Wahrheit ist eine nicht zu Ende gesprochene.

Für die Aufgabe der Christen, sich das Beste aus der „heidnischen Kultur“ anzueignen, pflegte Hans Urs von Balthasar den Ausdruck „Ägypter berauben“ zu verwenden, wie es einst die Israeliten beim Auszug aus Ägypten getan und den Ägyptern ihr Gold und Silber entwendet hatten. Ja, ich muss zugeben: Ich sähe es ungern, wenn der alte Atheismus der europäischen Moderne von einer Welle des Vergessens fortgeschwemmt würde und das Christentum für sich nicht das erobern und behalten würde, was im Atheismus aus Gold war, aufrichtig und wahr – sei es auch seine nicht zu Ende gesprochene Wahrheit.1

Sofort muss allerdings ausdrücklich hinzugefügt werden: auch „unsere Wahrheit“, die Wahrheit des Glaubens, ist hier auf Erden in gewissem Sinne eine „nicht zu Ende gesprochene“, weil sie in ihrem ureigenen Wesen dem Geheimnis gegenüber offen ist, einem Geheimnis, das sich in Fülle erst am Ende der Zeiten offenbaren soll. Deshalb müssen wir der Versuchung eines hochmütigen Triumphalismus trotzen, deshalb haben wir mit „Ungläubigen“ und Andersgläubigen vieles zu erörtern, auch wir sollen zuhören und lernen.

Eine strafwürdige Vernachlässigung wäre es, wenn sich das Christentum nicht jene Tatsache zum eigenen Vorteil zunutze machte, dass es – wie keine andere Religion – in der europäischen Moderne einer läuternden Feuerprobe atheistischer Kritik ausgesetzt gewesen war; genauso wäre es ein Unglück, wenn das Christentum nicht den Mut aufbrächte, in diesen Schmelzofen zu steigen, als könnte es inmitten der Flammen auf seinen Glauben und seine Hoffnung verzichten, die durch dieses Feuer erprobt und umgeschmolzen werden sollen. Wir sollten – durch Apostel Paulus belehrt – nicht bitten, der Leib des Christentums möge von diesem Stachel verschont bleiben, im Gegenteil, der Stachel des Atheismus sollte unseren Glauben ständig aus der einschläfernden Geruhsamkeit falscher Gewissheiten wecken hin zu einem stärkeren Vertrauen auf die Kraft der Gnade, die sich gerade in unserer Schwäche offenbart.2

Auch der Atheismus kann „dem Herrn den Weg bereiten“, er kann uns helfen, unseren Glauben von „religiösen Illusionen“ zu bereinigen. Wir dürfen ihm jedoch nicht das letzte Wort überlassen, wie es ungeduldige Menschen tun. Auch in Augenblicken großer Müdigkeit sollten wir empfänglich bleiben für die Botschaft, ähnlich jener, welche der Engel dem Propheten Elija gebracht hatte, als dieser unterwegs zum Berg Horeb war: Steh auf, du hast noch einen langen Weg vor dir!

*  *  *

Es ist schwer, auf unserem Planeten zwei Orte zu finden, die einander so absolut unähnlich sind, wie jener, wo der Anlass zur Verfassung des vorliegenden Buches gegeben wurde, und das Milieu, in dem die Niederschrift schließlich entstand. Ich habe fast das ganze Buch, ebenso wie die fünf früheren, in der Ferienzeit geschrieben, in tiefer Stille und totaler Einsamkeit einer Waldeinsiedelei unweit eines kontemplativen Klosters im Rheinland. Das Thema wurde jedoch an einem frostigen Nachmittag geboren, auf einer der verkehrsreichsten Straßen der Welt, dem Broadway in New York, in einem der obersten Stockwerke des dem Verlag Bertelsmann-Doubleday gehörenden Wolkenkratzers, in einem Zimmer, das einen faszinierden Blick auf die verschneiten Dächer Manhattans bot.

Während ich mit den Verlagsmitarbeitern den Vertrag über die englische Ausgabe meines Buches Die Nacht des Beichtvaters besprach, konzentrierte Bill Berry seine Aufmerksamkeit auf ein anderes Buch von mir, betitelt Den Zachäus ansprechen. Nachdem ich ihm erklärt hatte, warum ich als Motto für das vorliegende Buch absichtlich die Zachäus-Geschichte genommen hatte, forderte er mich auf, das „Zachäus-Motiv“ in einem neuen, selbständigen Buch zu enfalten, und berief sich auf den bekannten Essay Henri Nouwens, der eine andere biblische Geschichte zum Thema hat – die Wiederkehr des verlorenen Sohnes.

Ich nahm mir einige Tage Bedenkzeit und flanierte noch ein bisschen auf den belebten Boulevards Manhattans. Ich betrat auf der Fifth Avenue die St. Patrick-Kathedrale, jenen Tempel der Stille im lebhaft pulsierenden Zentrum der Metropole Amerikas – und dort fasste ich den Entschluss, der Aufforderung zu folgen.

Bei Bill Berry und bei meiner Agentin Frau Marly Rusoff möchte ich mich noch einmal für das damalige inspirierende Gespräch bedanken und bei den Patres des Klosters im Rheintal für ihre diskrete Gastfreundschaft sowie ihre Gebete, mit denen sie mich während der mit Meditation und Arbeit am Buch erfüllten Wochen begleiteten; mein aufrichtiger Dank gilt auch allen anderen Freunden und meinen Nächsten.

Leser und Kritiker möchte ich um Verständnis bitten: Das vorliegende Buch wurde primär für die englischsprachige Welt geschrieben, also für ein Publikum, das meine früher erschienenen Bücher nicht kannte – es war daher nötig, einige der bereits veröffentlichten Gedanken zu wiederholen; an diese knüpfen meine vorliegenden Überlegungen an und entfalten sie. Ich hielt mich an die Worte des Evangeliums, die besagen, der Hausherr solle aus seinem Besitz Neues sowie Altes vorlegen.

Nach langem Zögern habe ich auch in die tschechische Ausgabe meines Buches all jene Passagen mit einbezogen, die bei aufmerksamen Lesern mit Recht den Eindruck erwecken können, es handele sich um eine Wiederholung des bereits Gesagten und also Bekannten. Diese Teile gehören nämlich untrennbar zum gedanklichen Aufbau des Buches; zwar wissend, dass die Meinung des Autors über seine eigene Arbeit nicht entscheidend ist, bin ich aber überzeugt, dass alles, was ich in meinen bisherigen Büchern gesagt habe, lediglich ein „Sammeln der Steine“ war für einen Bau, den ich eben mit diesem Buch zu errichten beginne. Auf manches zurückgreifend (an einigen Stellen des ersten Kapitels teilweise wörtlich), begebe ich mich jedoch zugleich auf neue Wege. Es freut mich, dass wir diese Wege wieder gemeinsam beschreiten können.

Anmerkungen

1 Ganz symmetrisch – und mit Recht – schreibt wiederum der postmoderne Philosoph Slavoj Žižek: „Das authentische Erbe des Christentums ist zu wertvoll, um es fundamentalistischen Sonderlingen zu überlassen“ (in: The Fragile Absolute, London-New York 2001, S. 2).

2 Vgl. 2 Kor 12, 7–10.

Das Evangelium von Zachäus

Dann kam Jesus nach Jericho und ging durch die Stadt. Dort wohnte ein Mann namens Zachäus; er war der oberste Zollpächter und war sehr reich. Er wollte gern sehen, wer dieser Jesus sei, doch die Menschenmenge versperrte ihm die Sicht; denn er war klein. Darum lief er voraus und stieg auf einen Maulbeerfeigenbaum, um Jesus zu sehen, der dort vorbeikommen musste. Als Jesus an die Stelle kam, schaute er hinauf und sagte zu ihm: „Zachäus, komm schnell herunter! Denn ich muss heute in deinem Haus zu Gast sein.“ Da stieg er schnell herunter und nahm Jesus freudig bei sich auf. Als die Leute das sahen, empörten sie sich und sagten: „Er ist bei einem Sünder eingekehrt!“ Zachäus aber wandte sich an den Herrn und sagte: „Herr, die Hälfte meines Vermögens will ich den Armen geben, und wenn ich von jemand zu viel gefordert habe, gebe ich ihm das Vierfache zurück.“ Da sagte Jesus zu ihm: „Heute ist diesem Haus das Heil geschenkt worden, weil auch dieser Mann ein Sohn Abrahams ist. Denn der Menschensohn ist gekommen, um zu suchen und zu retten, was verloren ist.“

Lk 19, 1–10

I. Zachäus ansprechen

Es war noch früh, und auf den Straßen Prags lag frischer Schnee. Damals – in der ersten Hälfte der neunziger Jahre – war beinahe alles frisch. Vor einigen Jahren hatte die „Samtene Revolution“ das kommunistische Regime und sein parteiliches und polizeiliches Machtmonopol gestürzt, und nach langen Jahrzehnten wurde eine wirkliche parlamentarische Demokratie wiederhergestellt. Die neue Freiheit konnten auch die Kirche sowie die Universität genießen. Auch in mein Leben brachte die Wende bedeutende Änderungen: die Priesterweihe hatte ich in den siebziger Jahren, in der Zeit jahrzehntelanger Verfolgung von Kirche und Religion, im Ausland heimlich empfangen – nicht einmal meine Mutter, mit der ich im gemeinsamen Haushalt lebte, durfte es wissen; ausgeübt hatte ich meinen Priesterdienst „illegal“, in der „Untergrundkirche“. Nun endlich konnte ich als Priester öffentlich tätig sein, in Freiheit, ganz risiko- und repressionsfrei, in der neu entstandenen Universitätsgemeinde im Herzen des alten Prag. Nach vielen Jahren, in denen ich Vorlesungen über Philosophie nur unter strenger Geheimhaltung in Kursen, die im Rahmen der „fliegenden Universität“ in Privatwohnungen stattfanden, halten und bloß im Samizdat publizieren konnte, war es endlich für mich möglich, an die Universität zurückzukehren, Artikel in Zeitungen zu veröffentlichen und Bücher herauszugeben.

Das Ziel meiner Schritte war an dem Morgen jedoch weder die Kirche, noch die Universität, sondern das Parlamentsgebäude. Eine Neuheit der damaligen Zeit stellte nämlich die einmal jährlich, kurz vor Weihnachten an einen Geistlichen erfolgende Einladung dar, im Parlament vor den versammelten Abgeordneten eine kurze Meditation zu halten; nach ihr wurde dann die letzte Sitzung vor den Parlamentsferien eröffnet.

Ja, alles war noch verhältnismäßig frisch und duftete nach der wieder erlangten Freiheit. Seit der „Samtenen Revolution“ waren immerhin schon einige Jahre verflossen, dahin waren die ersten Wellen der Euphorie und der berauschende Glückstaumel über alles sich neu Erschließende, weggeweht die anfänglichen Illusionen, und im öffentlichen Leben traten manche, bisher ungeahnte Probleme und Komplikationen zutage. Die Gesellschaft wurde allmählich von einem Phänomen heimgesucht, das die Psychiater als „Agoraphobie“ bezeichnen – Angst vor einem freien Raum, wörtlich: Angst vor dem Markt. Auf dem Ideen- und Warenmarkt war plötzlich fast alles zu haben, es herrschte ein früher kaum denkbarer Reichtum – viele Menschen hatten aber diese Buntheit der Angebote sowie die Notwendigkeit, eine Wahl zu treffen, in Verwirrung gebracht und verunsichert. Von der unerwarteten Flut berauschender Farben bekamen einige richtiges Kopfweh, sodass sie ab und zu sogar Sehnsucht nach dem Schwarz und Weiß – in Wirklichkeit jedoch dem langweiligen und ermüdenden Grau – der Welt von gestern empfanden.

Vor dem Abschluss meiner Rede – gehalten vor Abgeordneten und Senatoren, von denen offensichtlich die meisten die Bibel nie in ihren Händen gehalten hatten – habe ich abschließend die Zachäusszene aus dem Lukasevangelium erwähnt: Jesus geht in Jericho durch Menschenscharen und spricht plötzlich einen der führenden Zöllner an, der ihn aus der Krone eines Feigenbaums beobachtete.1

Anschließend verglich ich die Geschichte mit dem Verhalten der Christen in unserem Land. Als nach langer Zeit die Jünger Christi nach dem Sturz des Kommunismus frei vor die Öffentlichkeit getreten waren, fanden sie überall eine große Zahl Applaudierender um sich versammelt, allerdings auch einige wenige feindlich Gesinnte immer noch mit drohend geballten Fäusten. Wahrgenommen wurde jedoch nicht der Umstand, dass die umher stehenden Bäume voll mit Zachäusgestalten besetzt waren, mit jenen also, die sich nicht unter die alten oder die ganz neuen Gläubigen mischen wollten oder konnten, ohne dabei gleichgültig oder feindselig zu sein. Sie waren auf der Suche und voller Neugier, zugleich wollten sie aber Abstand und ihre Sicht der Dinge bewahren; diese seltsam gemischte Gemütsverfassung, bestehend aus Fragen und Erwartungen, Interesse und Schüchternheit, manchmal vielleicht auch aus Schuldgefühl und gewisser „Ungehörigkeit“, ließ sie versteckt im Dickicht der Feigenblätter verharren.

Jesus redete Zachäus beim Namen an, munterte ihn auf, aus seinem Versteck herunterzukommen. Er überraschte ihn mit seinem Wunsch, sich unter Zachäus’ Dach begeben zu wollen, obwohl damit zu rechnen war, dass er deswegen sofort Verleumdungen und Kritik ernten würde. „Er ist als Gast bei einem Sünder eingekehrt!“

Es steht nicht geschrieben, Zachäus habe sich je den Jüngern Jesu angeschlossen und sei Jesus nachgefolgt wie sein Kollege Matthäus, die auserwählten Zwölf oder die Schar anderer Männer und Frauen. Wir wissen aber, dass er sich entschlossen hat, sein Leben zu ändern, und seinem Haus wurde das Heil gespendet. Jeden wartenden Zachäus ebenso anzusprechen, dazu waren die Kirchen unserer Zeit leider nicht im Stande.

Ich wollte den Politikern eine Warnung geben, denn etwas Ähnliches konnte sich auch auf der bürgerlichen und politischen Ebene ereignen. Nach einer Periode anfänglicher allgemeiner Euphorie verfolgten viele Menschen die Entwicklung der Demokratie in unserem Land zwar noch mit Neugier und gewissem Durst, aus verschiedenen Gründen jedoch auch ein wenig reserviert und verlegen. Viele von ihnen mochten unbewusst auf den Augenblick gewartet haben, von jemandem angesprochen und eingeladen zu werden. Wie viele Politiker waren damit beschäftigt, ihre Gönner zu bedienen, oder lagen mit ihren Gegnern im Streit und waren unfähig, solchen Zachäus-Menschen Verständnis entgegenzubringen, ihnen mit aufrichtigem Interesse und Respekt Beachtung zu schenken, sie „beim Namen anzusprechen“, mit ihnen zu reden, ihnen näher zu kommen? Infolge dieser Vernachlässigung mögen viele „Zöllner“ ihr Leben nicht geändert haben, viele Erwartungen sind enttäuscht und viel Unrecht nicht wieder gut gemacht worden.

Zachäus kann uns als unverbesserlicher Individualist, als „nicht Einzuordnender“ gelten – dort, wo die Menschen sich aus Begeisterung oder auch Erbostheit bereitwillig in Reih und Glied stellen, sucht er instinktiv einen versteckten Platz in der Krone eines Feigenbaums. Er tut das nicht aus Hochmut, wie es scheinen könnte, weiß er doch gut von seinem „kleinen Wuchs“ und seinen großen Schwächen, von seiner Schuld gegenüber den absoluten Anforderungen. Seine Rückzugs- und Außenposition ist er fähig und bereit zu verlassen, nur wenn er „beim Namen angesprochen“ wird – dann kann es passieren, dass er plötzlich auch jene Anforderungen akzeptiert und sein Leben ändert. Zachäus ansprechen kann jedoch nur einer, dem dieser im Feigenbaum versteckte Mann nicht fremd und unbekannt ist; der ihn nicht geringschätzt und ihm nicht gleichgültig ist; dem nicht das fern liegt, was in dessen Sinn und Herz vor sich geht.

Es gibt nicht wenige Zachäus-Gestalten unter uns – das Los unserer Welt, Kirche und Gesellschaft hängen vielleicht in höherem Maße, als wir bereit sind zuzugeben, auch davon ab, ob wir solche Menschen gewinnen werden oder nicht.

*  *  *

Meine Rede war beendet, die Zachäus-Geschichte ging mir jedoch nicht aus dem Sinn. Ich lief hin und her durch das vorweihnachtliche Prag und versuchte herauszufinden, warum ausgerechnet dieser Teil des Lukas-Evangeliums mir dermaßen nahe ging, dass ich mich von ihm nicht losreißen konnte. Erst später wurde mir bewusst: eben diese Geschichte kann mir helfen, tiefer und klarer das zu begreifen, was ich seit langem im Unterbewusstsein als meine ureigene, persönlichste Aufgabe und Sendung empfand.

In meiner priesterlichen Seelsorgetätigkeit – aber auch in meinen übrigen Wirkungsbereichen, in meinen Büchern und Artikeln, an der Universität sowie in den Medien – stelle ich mir nicht zum Ziel, „Bekehrte zu bekehren“, für geregelt lebende Schafe der Herde zu sorgen und nicht enden wollende Polemiken und Streite mit den Gegnern zu führen. Ich glaube nicht, dass meine Hauptaufgabe die klassische „Mission“ sein soll, wenn damit jene Bemühung gemeint ist, möglichst viele Menschen in die eigene kirchliche oder politische Schar einzuordnen. Nach meinem Empfinden bin ich vor allem da, um verstehende Nähe jenen anzubieten, die unüberwindliche Hemmungen haben vor dem Anschluss an jubelnde Massen und vor gehissten Bannern jeglicher Couleur; jenen also, die Distanz bewahren.

Ich mag alle, die es wie Zachäus tun; ich denke, ich habe die Gabe, sie zu verstehen. Jene Zachäische Distanz wird oft als Ausdruck von „Arroganz“ interpretiert, was wohl ein Irrtum ist – so einfach ist es nicht. Meine Erfahrung lehrt mich, dass es eher um eine Art Scheu geht. Bei einigen ergibt sich ihre Abneigung gegenüber den Massen sowie deren Parolen und Bannern auch aus dem ahnenden Gefühl, die Wahrheit sei allzu zerbrechlich, um auf den Straßen skandiert werden zu dürfen.

Diese Menschen haben sich übrigens ihren Platz „am Rande“ nicht eigenwillig ausgesucht. Vielleicht bewahren sie Zurückhaltung, weil sie – ähnlich wie Zachäus – klar sehen, dass vor ihrer eigenen Tür noch nicht gekehrt ist, wissend oder wenigstens ahnend, dass sie in ihrem eigenen Leben noch manches zu ändern haben. Mag sein, dass sie sich im Unterschied zu jenem Unglücklichen aus einem Gleichnis Jesu einer Tatsache gut bewusst sind: sie haben kein Festgewand an, um in der vordersten Reihe geehrter Gäste bei der Hochzeitsfeier Platz nehmen zu dürfen.2 Sie befinden sich noch immer unterwegs, bedeckt vom Staub des Weges, immer noch weit entfernt vom Ziel und erachten sich als zu „unfertig“, um im vollen Licht vor die anderen treten zu können; vielleicht ist ihre Pilgerreise durchs Leben sogar in eine Sackgasse geraten.

Trotzdem haben sie ein sicheres Gefühl dafür, wie wichtig jener Augenblick ist, wenn Wesentliches vorbeigeht. Es hat Anziehungskraft für sie – wie für Zachäus, der innigst Jesus sehen wollte. Manchmal verbergen sie ihre Sehnsucht und ihren Durst nach Geistigem wie er mit Feigenblättern – vor anderen und oft auch vor sich selbst.

*  *  *

Zachäus ansprechen kann nur jemand, der „seinen Namen kennt“ – von dessen Geheimnis weiß. Jemand, der im Stande ist, sich in die verzwickten Ursachen seiner Scheu einzufühlen. Einem Zachäus unserer Zeit wirklich näher kommen kann nur einer, der selber Zachäus war und in gewissem Maße immer noch ist. Menschen, die sich am wohlsten inmitten einer jubelnden Menge fühlen, werden Zachäus nur schwer verstehen können.

Einmal sah ich an der Wand einer Station der Prager U-Bahn die Inschrift „Jesus ist die Antwort!“, gekritzelt wohl von jemandem, der eben von einer evangelikalen Versammlung mit großem Enthusiasmus unterwegs nach Hause war. Ein anderer hatte zutreffend dazugeschrieben: „Aber wie war die Frage?“ Es erinnerte mich an die Aussage des Philosophen Eric Voegelin: das größte Problem der heutigen Christen sei nicht, dass sie die richtige Antwort nicht kennten, sondern dass sie jene Fragen vergessen haben, die gestellt worden waren und auf die sich diese Antworten bezogen.

Antworten ohne Fragen – ohne solche, durch die diese Antworten ursprünglich provoziert wurden, jedoch auch ohne durch die Antworten neu aufgekommene Fragen – sind wie Bäume ohne Wurzeln. Aber wie oft werden uns die „christlichen Wahrheiten“ bereits als gefällte, bereits leblose Bäume vorgelegt, in denen keine Vögel mehr nisten können! (Der junge Professor Ratzinger hat einmal zum Gleichnis Jesu vom Reich Gottes als Baum, in dessen Krone Vögel ihre Nester haben, eine Bemerkung gemacht – ich weiß nicht, inwiefern er sie heute mit päpstlicher Feder unterzeichnen und mit „Fischersiegel“ versehen würde –, nämlich dass die Kirche Gefahr läuft, die Gestalt eines Baumes mit vielen verdorrten Ästen anzunehmen, auf denen sich manchmal ziemlich seltsame Vögel niederlassen.)

Erst wenn Fragen und Antworten einander begegnen, bekommen unsere Aussagen ihren wirklichen Sinn und ihre Lebensdynamik zurück: die Wahrheit geschieht im Dialog. Die Antworten sind oft in Versuchung, den Prozess unserer Suche abzuschließen, als ob der Gesprächsgegenstand ein Problem gewesen wäre, das schon gelöst worden ist. Aber mit einer nächsten Frage schimmert erneut die unerschöpfliche Tiefe des Geheimnisses durch. Lasst uns immer wieder beteuern: im Glauben geht es nicht um irgendwelche Probleme, sondern um ein Geheimnis, deshalb dürfen wir nie vom Wege des Suchens und Fragens abkommen. Ja: unser Weg, wenn wir Zachäus folgen, bedeutet oft den Weg von den Problemen zum Geheimnis, von den scheinbar endgültigen Antworten zurück zu den Fragen.

*  *  *

Paulus, „der dreizehnte Apostel“, der das meiste getan hat für die Verbreitung des Evangeliums, hat geschrieben: Ich bin für alle alles geworden. In unserer Zeit werden wir die Nähe Christi vielleicht am wirksamsten anbieten, wenn wir, seine Jünger, uns selbst zu Suchenden und Fragenden machen zusammen mit jenen, die fragen. An solchen, die erklären, bereits am Ziel angelangt zu sein, und fertige, häufig allerdings nur billige Antworten feilbieten, herrscht Überfluss – leider sind unter ihnen auch solche, die hoch und heilig auf Jesu Namen schwören. Ihnen, den wie Zachäus Abwartenden, werden wir Jesus, an den wir glauben, vielleicht näher bringen können, wenn wir in seiner Manier auf sie zutreten, wenn sie verstohlen „aus dem Blattwerk gucken“.

Einst geriet ein Buch mit dem Untertitel „Für Suchende und Zweifelnde“ in meine Hände und erweckte gleich mein Interesse, auch weil der Autor ein Bischof ist, den ich persönlich kenne und schätze. Nach wenigen Seiten entdeckte ich, dass der Untertitel – sei er vom Autor oder vom geschäftstüchtigen Verleger erfunden – nur ein Werbetrick war. Der Ton des ganzen Buches verriet, dass der Autor sich an die Suchenden wendet als einer, der bereits gefunden hat, und an die Zweifelnden als jemand, der im Stande ist, ihre Zweifel in Gewissheiten zu verwandeln.

Damals bin ich zu dem Entschluss gelangt, dass ich Bücher anderer Art schreiben will – als Zweifelnder mit den Zweifelnden und als Suchender mit den Suchenden. Und recht bald überkam mich das Gefühl, dass der Herr meine Absicht in der Tat angenommen hat und es damit noch ernster meinte als ich selbst in dem Augenblick, als mir jener Gedanke zum ersten Mal gekommen war. Damit diese Arbeit kein bloßes vorgetäuschtes Spiel würde, brachte es Gott fertig, allmählich viele religiöse Gewissheiten zu erschüttern, die ich damals besaß. Gleichzeitig schenkte er mir etwas enorm Überraschendes und Wertvolles: gerade in der Kluft zwischen Erschütterung und im Fallen begriffenen Gewissheiten, gerade in dem „Loch im Dach“, gerade in dem schnellen Wechsel immer neuer Fragen und Zweifel zeigte er mir sein Angesicht wie noch nie zuvor.

Ich begriff, dass die „Begegnung mit Gott“, die Konversion, glaubendes zustimmendes Nicken zu dem, wie Gott sich offenbart und die Kirche diese Offenbarung präsentiert, nicht das Ende des Weges ist. Der Glaube ist „Nachfolge“, seine Natur ist ein nie endender Weg durch diese Welt. Die wahre religiöse Suche in unserem Leben hienieden kann nie so enden, wie die erfolgreiche Suche nach einem Gegenstand endet, nämlich in dessen Wiederfinden und neuerlicher Inbesitznahme; sie ist auf kein gegenständliches Ziel hin orientiert, sondern sie zielt auf das Herz des Geheimnisses, das unerschöpflich ist und bodenlos.

Der Weg hin zu den heutigen Zachäus-Menschen – sie stehen am Rande oder befinden sich hinter den sichtbaren Grenzen der Kirchen, in einer Zone von Fragen und Zweifeln, in jener seltsamen Landschaft zwischen den zwei abgeschotteten Lagern derer, die sich „im Klaren“ sind (nämlich selbstsichere Gläubige und selbstsichere Atheisten) – half mir, den Glauben zu verstehen sowie Jenen zu begreifen, auf den sich der Glaube bezieht, und zwar neu, aus einem anderen Blickwinkel.

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Da wir Jünger Christi sind, wollen wir, dass Er es sei, dem der Zachäus von heute begegnet. Auch ich – wie jetzt bei der Arbeit an diesem Buch, bin ich doch Priester – stelle mir ständig die Frage, was es bedeutet, jemanden in unserer Zeit Christus und durch Christus Gott näher zu bringen. Ich glaube nicht, dass das so einfach ist, wie es einige Christen in ihrem Enthusiasmus zu meinen scheinen. Der Priester darf nicht zu einem Agitator werden, der einfache Schlagwörter benutzt und wie ein Werbefachmann andere manipuliert; seine Aufgabe ist es vielmehr, die anderen eher geduldig und mit Respekt gegenüber jedem von ihnen zu begleiten, sie „einzuweihen“, sie durch die Tore des Geheimnisses zu führen, als sie mit einem Stil zu „gewinnen“, dessen sich Politiker oder Geschäftsleute bedienen, um ihre neueste Ware feilzubieten.

Das muss auch aus der Art und Weise ersichtlich werden, wie wir die anderen ansprechen, es muss aus unserer Sprache heraushörbar und erkennbar sein. Unsere Sprache ist doch auch eine Frucht der Gesinnung unseres Herzens. Wenn unser Reden kein leeres Geschwätz ist, keine geistlose Produktion von Phrasen, dann kann sie viel Gutes – oder auch Schlimmes bewirken. So gesehen gilt bereits für unser Reden das Wort „an ihren Früchten werdet ihr sie erkennen“.

Es mag die Zeit gekommen sein, wo „fromme Sprüche“ nicht ständig im Munde geführt werden müssen und wir sie auch nicht plakativ vor uns herzutragen brauchen. Diese Worte haben sich durch den steten und oft allzu leichtsinnigen Gebrauch abgenutzt, haben ihre Bedeutung sowie ihr Gewicht verloren, sind leer, allzu leicht und billig geworden. Andere wieder schwer, zäh, zu schwerfällig, als dass sie im Stande wären, dem wahren Inhalt des Evangeliums, der frohen Botschaft Ausdruck zu geben. Manche frommen Worte klingen heute wie rissige Trommeln, sie können Gottes Lob nicht mehr richtig singen – sie „können nicht tanzen“, wie es Nietzsche erwartete von einem Gott, an den er hätte glauben können. Nietzsche, Nachkomme eines alten Pastorengeschlechtes, diagnostizierte unerbittlich die Vorherrschaft des „Geistes der Schwere“ in unseren Predigten, hauptsächlich aber des „Moralins“, jenes Giftes der Schwarzseherei und des versauerten Moralisierens. Nietzsches trübsinniger und unwahrer Ernst, welcher durch seine Humorlosigkeit und Unfähigkeit zur Spontaneität Mangel an innerer Freiheit verrät, erinnert mich jedes Mal an Michal, die Tochter Sauls, die für König David nur Verachtung empfand, als er vor der Bundeslade tanzte; ähnlich wie Michal wird übrigens diese Art von Frömmigkeit oft mit Unfruchtbarkeit bezahlt.

Der Tanz Davids vor der Bundeslade war jedoch etwas ganz anderes als die effektvollen Auftritte professioneller Unterhaltungskünstler in heutigen Religionszirkuszelten. Ich erinnere mich, als ich in den USA das erste Mal eine Megaschau evangelikaler Prediger im Fernsehen verfolgte und lange die Hoffnung hegte, es handle sich nur um eine groteske Showeinlage, in der Komiker die Religion karikieren; ich wollte nicht glauben, jemand könnte im Ernst meinen, dass es möglich sei, mit einer solch vulgären Selbstverständlichkeit über Gott zu sprechen, das Evangelium wie irgendeine allseitig verlässliche Automarke zu propagieren. Geistige Freude wurde ausgetauscht gegen ihren billigen Ersatz Kitsch, angepasst dem Geschmack denkunfähiger Konsumenten massengerechter Produkte der gegenwärtigen Unterhaltungsindustrie. Es ist wirklich ein trauriger Anblick, wenn man sieht, wie aus jenen, die Propheten werden sollten, peinliche Clowns geworden sind.

Ein Prophet soll ein Mann der Wahrheit sein. Die Wahrheit des Evangeliums ist jedoch nicht dieselbe wie die Wahrheit einer Wissenschaftstheorie (in dem Sinne, wie die Wahrheit immer von den Bekennern des Szientismus und Positivismus verstanden wurde und wird). Sie lässt sich nicht in Definitionen und widerspruchslose verschlossene Systeme pressen. Jesus hat für alle Zeiten drei Begriffe zusammengebracht – die Wahrheit, den Weg und das Leben. Die Wahrheit ist ebenso wie der Weg und das Leben in ständiger Bewegung, im ständigen Prozess begriffen, obwohl dieser Prozess nicht nur als Entwicklung und Fortschritt zu verstehen ist. Die Bibel führt uns in die Wahrheit nicht mittels Definitionen und theoretischer Systeme ein, sondern anhand von Geschichten, großer wie kleiner Begebenheiten – wie der von Zachäus und Tausender anderer. Die biblischen Geschichten können wir am besten verstehen, indem wir in sie hineintreten, uns in diese Szenen hineinziehen lassen – zumindest so, wie es die Teilnehmer an heiligen Dramen des antiken Griechenlands taten – und in ihnen Katharsis erleben, die eigene reinigende Verwandlung.

Wollen wir heute erneut von der Sache Gottes sprechen, so müssen wir manche Wörter wiederbeleben und gesund machen, weil sie erschöpft sind infolge der vielen Bedeutungen, die man über Jahrhunderte in sie pferchte. Mir fallen die Worte eines alten Kirchenliedes ein, einer eindringlichen Bitte an den Geist Gottes: Kaltem bitte Wärme schenk, Feuchte gib in Sonnenglut, Heilung dem, was krank da liegt, ins Erstarrte bringe Blut. Man kann noch eine Bitte hinzufügen: Näher bring, was ferne ist!

Anmerkungen

1 Anderen Übersetzungen gemäß war es ein Maulbeerbaum.

2 Vgl. Mt 22,11–14.

II. Selig die Fernstehenden

Zachäus’ Platz abseits der Menge ist kein Zufall. Obwohl als Zollpächter in bedeutender und einträglicher Stellung, war Zachäus ein Mensch am Rande, ähnlich wie der Bettler am Rande der Straße nach Jericho, den Jesus kurz vor der Begegnung mit Zachäus geheilt hat. Zweifellos stand er seinen Nachbarn fern – schon weil er Zöllner war, also ein Mann, der einen von den Juden aus politsch-nationalen, rituellen und moralischen Gründen verpönten Beruf ausübte. Die Zöllner zogen Steuern für die verhasste Besatzungsmacht ein, gingen mit Geld um, auf dem der Kaiser abgebildet war und das ein frommer Jude gemäß der Auslegung rigoroser Rabbiner nicht einmal berühren durfte. Darüber hinaus bereicherten sie sich oft gesetzwidrig. Die Landsleute verachteten Zachäus, beneideten ihn wohl auch manchmal, weil er, wie geschrieben steht, ein sehr reicher Mann war.

Das Gespräch Jesu mit Zachäus stellt im Neuen Testament keine isolierte Geschichte dar, man könnte sogar sagen, dass es gleichsam ein „Evangelium im Kleinen“ ist, in dem kurz gefasst die Botschaft Jesu enthalten ist, nämlich die „verlorenen Schafe“ aufzufinden, aufzunehmen, ihnen zu Umkehr und Heilung zu verhelfen. Deshalb mag die Zachäusgeschichte zum Lieblingsthema von Predigten und Betrachtungen mehrerer großer christlicher Denker geworden sein, des hl. Ambrosius, des hl. Albertus Magnus, des Erasmus von Rotterdam und Martin Luthers1, wie auch zahlloser bildlicher Darstellungen auf altchristlichen Sarkophagen, in den Evangeliaren der Kaiser Otto III. und Heinrich II., den mittelalterlichen Fresken der Kirche Sant’Angelo in Formis oder im Psalter des Pantokrator-Klosters auf dem Berg Athos – überall da treffen wir auf die Gestalt des kleinwüchsigen Zöllners.

Jesus ist ständig auf der Suche nach den „Fernstehenden“. Der Rabbi aus Nazareth hat in seinen Gleichnissen den Menschen aus gesellschaftlich verachteten Randgruppen immer wieder eine positive Rolle zugeschrieben, wie den Samaritern, verachteten Zöllnern, Prostituierten und anderen „Sündern“. Er widmete sich Aussätzigen, Behinderten, aus der Gesellschaft Verstoßenen. Dieses Interesse ist weder romantische Vorliebe für die Unterwelt noch jugendliche Provokation und Revolte gegen die feststehenden Verhältnisse – sogar nicht einmal „soziale Fürsorge“ und politische Solidarität mit den Armen, Unterdrückten und Ausgebeuteten, wie wir dies heute verstehen. Genauso wie die Besitzlosen erscheinen im Zentrum seiner Aufmerksamkeit die Kranken, die „Sünder“ jeder Couleur und auch die reichen Zöllner wie Zachäus. (Man beachte, dass Jesus Zachäus nach dessen Umkehr nicht aufgefordert hat, den Zöllnerberuf aufzugeben, und man braucht nicht davon auszugehen, dass Zachäus nach der versprochenen Wiedergutmachung arm geworden wäre.) Der gemeinsame Nenner dieser Gestalten ist, dass sie aus welchen Gründen auch immer Außenseiter waren in jenen Milieus, in denen Jesus wirkte, und die sich unseren Kategorien wie z. B. Staat, Nation oder Kirche ziemlich entziehen. Das Neue Testament verwendet dafür am häufigsten den Ausdruck „diese Welt“.

Die Welt, in die Jesus gekommen war, zeigte sich gerade vor dem Hintergrund seiner lichtvollen Ankunft als krank, leer, in sich verschlossen, als eine Welt ohne Herz. Jene, die in ihr die vorderen Plätze einnahmen, hatten