Theater für Engel - Prof. Tomás Halík - E-Book

Theater für Engel E-Book

Prof. Tomás Halík

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Beschreibung

Gott begegnet dem Menschen im Leben oft still und im Verborgenen, ohne dass es dieser selbst bemerkt. Tomáš Halík spürt diesen Begegnungen nach und erzählt den ständigen Dialog mit Gott nach. Er skizziert, was der Anruf und der Anspruch Gottes ist und wie der Mensch darauf antworten kann. Ein existenzielles Buch, das sich nicht nur an den gläubigen Christen richtet, sondern auch an Sinnsucher und Atheisten. Er sagt: "Ich konzentriere mich mehr auf die Art des Glaubens als auf den Inhalt des Glaubens. Glaube und Unglaube sind für mich nicht Aufstellungen von Überzeugungen hinsichtlich metaphysischer Fragen, sondern elementare Grundeinstellungen zum Leben: Wie erleben wir elementare Lebenssituationen und wie interpretieren wir sie?"

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Seitenzahl: 325

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Tomáš Halík

Theater für Engel

Das Leben als religiöses Experiment

 

Aus dem Tschechischen von Markéta Barthunter Mitarbeit von Benedikt Barth

 

 

 

 

Das Buch entstand mit Unterstützung des Projektes »Kreativität und Anpassungsfähigkeit als Voraussetzung für den Erfolg Europas in der vernetzten Welt«, Reg.-Nr. CZ.02.1.01/0.0/0.0/16_019/0000734, finanziert aus Mitteln des Europäischen Fonds für regionale Entwicklung.

 

 

 

Titel der Originalausgabe:

Divadlo pro anděly. Život jako náboženský experiment

Nakladatelství Lidové noviny, Praha 2010

 

Für die deutschsprachige Ausgabe:

© Verlag Herder GmbH, Freiburg im Breisgau 2019Alle Rechte vorbehaltenwww.herder.de

 

Die Bibeltexte sind entnommen aus:

 

 

Die Bibel. Die Heilige Schrift

des Alten und Neuen Bundes.

Vollständige deutsche Ausgabe

© Verlag Herder, Freiburg im Breisgau 2005

 

Umschlaggestaltung: wunderlichundweigand, Stefan Weigand

Umschlagmotiv: © Martin Stanek, Prag

E-Book-Konvertierung: Daniel Förster, Belgern

 

ISBN E-Book 978-3-451-81564-5

ISBN Print 978-3-451-38469-1

»Wir sind ja ein Schauspiel für die Welt geworden, für Engel und Menschen.«

1 Kor 4,9

Dem Andenken an die teuren Freunde, die unbequemen Christen Jiří Němec, Ivan Medek und Bonaventura Bouše in Erinnerung an das letzte Gespräch mit Bonaventura, dem Franziskanerpriester und Kierkegaard-Propheten, kurz vor seinem Tod.

Auf meine Bemerkung über einen Bischof, dass er ein netter Mensch sei, antwortete er sehr scharf: »Das reicht heute nicht. Der Herr Jesus war nicht nett …«

Inhalt

Anmerkungen des Autors zur deutschen Ausgabe

Am Anfang war die Anrede

Gott wohnt in der Möglichkeit

Gott wohnt in der Geschichte

Die Welt ist ein Theater

Kann man Glauben ohne Glauben leben?

Die Pflicht des Christen, manchmal ein Atheist zu sein

Gott und die Sternschnuppe

Gott auf dem Vorhof der Heiden

Mehr als die Wächter auf den Morgen

Gott wohnt in der Freiheit

Über den Glauben, die Untreue und die Macht, zu vergeben

Der Große Bruder ist der Vampir der Freiheit, Gott ist das Blut der Freiheit

Freundschaft mit dem Unbekannten

In vielerlei Dunkelheit

Ich trete in das Spiel ein

Über den Autor

Anmerkungen des Autors zur deutschen Ausgabe

Dieses Buch entstand in der Stille und Einsamkeit einer Einsiedelei im Rheinland, in der ich seit zwanzig Jahren regelmäßig den Sommer verbringe. Ein Nebenprodukt dieser Wochen der Kontemplation ist in der Regel die Niederschrift eines neuen Buches. Ich habe dieses Buch im Jahre 2010 während des Pontifikats Papst Benedikts geschrieben, und die Gedanken dieses Papstes boten mir mancherlei Inspiration, insbesondere sein Vorschlag »an unsere ungläubigen Freunde«: Wenn sie den katholischen Glauben nicht vollständig annehmen können, mögen sie doch wenigstens den Gedanken der Existenz Gottes als Hypothese annehmen, mögen sie doch leben, »etsi Deus daretur« – als ob es Gott gäbe.

Ich stellte mir die Frage, ob dieser Weg zu dem »unbekannten Gott«, der von Pascal und Kant inspiriert ist, für unsere »ungläubigen Freunde« wirklich »begehbar« ist, ob sie ihn nicht als sophistischen, abgemilderten »Missionsimperialismus« ablehnen würden. Sollen wir nicht lieber dem Ratschlag von Emmanuel ­Lévinas folgen und die »Andersartigkeit« der anderen, ihr eigenes Selbstverständnis und ihre »Exterritorialität« respektieren, statt allzu leicht »das Fremde auf das Eigene« zu übertragen?

Gleichzeitig hat sich mir die Frage aufgedrängt, ob auch wir »Gläubige« unseren Glauben an Gott, der oft verborgen, in eine undurchdringliche Wolke des Geheimnisses gehüllt ist, inmitten einer Welt voller Ambivalenz und Paradoxien, nicht auch als eine Hypothese leben, die wir durch die Praxis des Lebens aus dem Glauben immer wieder prüfen müssen. Denn das, was jetzt für uns der Hauptgegenstand unserer Hoffnung ist, werden wir erst »in eschato« in eine gewisse Erkenntnis umwandeln können, erst wenn wir Gott, jenen äußersten »Horizont der Horizonte« schauen werden, von Angesicht zu Angesicht. Sind wir denn nicht alle Schauspieler in einem Drama, die auf die begrenzte Bühne und auf unsere menschliche, beschränkte Perspektive angewiesen sind, die eben nicht die Perspektive der Engel ist?

Während des Jahrzehnts, das auf die Niederschrift dieses Buches folgte, änderten und ändern sich Welt und Kirche rasant. Der große Papst Benedikt XVI. beendete in Würde eine lange Etappe der Kirchengeschichte, sein Nachfolger eröffnete radikal eine neue. Das Thema der vergangenen Etappe war die Aussöhnung der Kirche mit der Moderne. Joseph Ratzinger beendete dieses lange Zeitalter der Konfrontation, indem er das konstatierte, worauf er sich in dem berühmten Dialog mit Jürgen Habermas1 geeinigt hatte: Der christliche und der säkulare Humanismus brauchen sich gegenseitig, um die Gefahr ihrer Einseitigkeiten wechselseitig korrigieren zu können. Die Kirche muss dem Vorbild des Tempels in Jerusalem folgend einen »Vorhof für die Heiden« eröffnen – einen Raum für diejenigen, die den Glauben der Kirche nicht vollständig teilen. Sollte sie das nicht tun, wird sie ihre Katholizität verlieren und sich in eine Sekte verwandeln.

Papst Franziskus tat einen weiteren Schritt. Am Vorabend seiner Wahl erwähnte er die neutestamentliche Aussage über Jesus, der an der Tür steht und anklopft. Und er fügte hinzu: Heute aber klopft Jesus vom Inneren der Kirche, er will hinaus – und wir müssen ihm mutig folgen. Ja, für die Dynamik Gottes ist heute auch schon jener »Vorhof der Heiden« zu eng, der Geist Gottes öffnet uns die Augen und unser Herz zu einer »Kirche ohne Grenzen«. Gewiss ist diese erfüllte Katholizität letztendlich eine eschatologische Verheißung – wenn wir aber wahrnehmen, was um uns herum in der Kirche und in der Welt einstürzt, und dies ohne die Angst der Kleingläubigen, sondern mit den Augen des Glaubens und der Hoffnung als »Zeichen der Zeit« wahrnehmen, müssen wir den Mut haben, in neue Räume hinauszutreten. Eine Krise ist immer eine Chance. Das, was zerreißt, sind nur zu enge und brüchige Schläuche. Der Herr schenkt uns neuen Wein ein.

Tomáš Halík, Prag, im Januar 2019

1 Vgl. Habermas, Jürgen/Ratzinger, Joseph: Dialektik der Säkularisierung. Über Vernunft und Religion. Freiburg i. Br. 2018.

Am Anfang war die Anrede

Ich denke heute an die Engel, jene unbeobachtbaren Zeugen, jene schweigenden Zuschauer, die von irgendwoher aus den fernen Logen des himmlischen Amphitheaters unser irdisches Wimmeln verfolgen. Was sagen sie zum Theater unserer Geschichte? Unterhalten sie sich gut? Lachen sie? Weinen sie? Klatschen sie? Sind sie gespannt?

Und auch wenn sie vielleicht in keinem anderen Himmel als im Paradies unserer frommen Vorstellungskraft wohnen sollten, kann der Gedanke an sie, ein spielerischer, scheinbar unnützer, unserem Fragen Flügel verleihen: Wie würde wohl die Geschichte, deren Bestandteil wir sind, wirken, wenn sie aus einer radikalen Draufsicht, also aus einer ganz anderen Perspektive, betrachtet würde als aus derjenigen, mit der wir so sehr verwachsen sind, dass wir sie meistens in einer naiven Selbstverständlichkeit für die einzig mögliche und richtige halten?

Meine älteste Erinnerung ist die Folgende: Einmal ist mir als kleinem Jungen bewusst geworden, dass die Perspektive, von der aus ich die Welt um mich herum anschaue, einzigartig und nicht austauschbar ist; dass das, was ich gerade in diesem Augenblick von jenem Ort aus sehe, an dem ich stehe, und das, was ich dabei erlebe und was ich denke, dass dies kein anderer sieht, spürt oder denkt – jeder von uns hat eine eigene Welt, wie auch immer wir uns physisch, gefühlsmäßig oder gedanklich nahe sind. Bis heute fühle ich in mir den Blitz jener Einsicht, jene Mischung aus Erstaunen, Erregung, aber auch des Einsamseins.

Vielmals habe ich mich danach gesehnt, den Kreis der eigenen Bestimmung zu überschreiten und die Welt auch mit den Augen der anderen zu sehen, an ihren Erfahrungen auf irgendeine Weise teilzuhaben. Gerade diese Leidenschaft hat mich dazu angeregt, zu lesen (besonders verbotene Literatur), durch die Welt zu pilgern, sowohl nach rechts als auch nach links zu diskutieren. Ich habe danach gestrebt und ich strebe danach, diejenigen zu verstehen, die ganz anders als ich denken; jene Wurzeln zu entdecken, die Bedingungen und die Zusammenhänge, in denen sich ihre Gedanken, Ansichten und Haltungen formten, sich wenigstens ein wenig dem Sinn und der Wahrheit auch dessen anzunähern, was mich spontan reizt und abstößt, was für mich auf den ersten Blick keinen Sinn ergibt. Die Wahrheit verbirgt sich gerne; warum sollte man also auf der Suche nach ihr an den Grenzen des eigenen Zuhauses anhalten, warum sollte man sich auf dem Weg zu ihr nicht auch auf jene Gebiete vorwagen, die fremd und feindselig erscheinen? Die Wahrheit ist ein Buch, das noch niemand von uns zu Ende gelesen hat; es ist daher vielleicht nicht unhöflich, in ihm auch über die Schulter der anderen blickend zu lesen.

Sollte es mir einmal vergönnt sein, das Panorama des Lebens in seiner Ganzheit zu überblicken, in seiner ganzen Wahrheit, von jenem einen Standort über allen Horizonten aus, die ich bisher kenne und die ich mir vorstellen kann? Werde ich einmal den »Horizont der Horizonte« erblicken? Werde ich das Glück haben, jenen Kontext zu erblicken, der es ermöglicht, den Sinn auch dessen zu begreifen, was mir hier und jetzt notwendigerweise absurd erscheint? Mit anderen Worten: Werde ich einmal unsere Welt »mit den Augen der Engel« sehen können?

Der Glaube an Engel und Dämonen kam mir daher immer wichtig vor, weil er implizit die Überzeugung einschließt, dass die Menschen Menschen sind, aber keine Engel und Dämonen. Die anderen nicht als Engel oder Dämonen wahrzunehmen, sich davor zu hüten, so zu tun, als sei man ein Engel, oder andere Menschen zu dämonisieren – das kann vielen Tragödien voll von Irrtümern vorbeugen. Soll uns der Gedanke an Engel, der uns daran erinnert, dass wir selbst keine Engel sind, nicht auch vor der Versuchung beschützen, die Tatsche zu vergessen, dass unser menschlicher Horizont notwendigerweise begrenzt ist?

***

Der christliche Glaube mahnt die Sehnsucht nach der Erkenntnis des Absoluten zur eschatologischen Geduld, zur Demut der Pilger: Der Apostel lehrt, dass alles, was wir auf dieser Erde über Gott wissen können, über den Horizont der Horizonte, über den gesamten sinnstiftenden Kontext, nur ein Rätsel ist, nur eine Widerspiegelung in einem blinden Spiegel, nur ein Gleichnis. Glauben, dem Glauben eine Chance zu geben, bedeutet nicht, sich von der Vernunft zu befreien, sondern lediglich vom Hochmut der Vernunft. Dem Glauben Raum zu geben, setzt voraus, dass wir uns von der Illusion befreien, dass wir die Tiefe der Wahrheit mit unserem Wissen voll ergreifen und sie in unseren Besitz und in unsere Regie überführen können. Wer auch immer für sich oder seine Gruppe das Monopol auf die Wahrheit beansprucht, verrät schon mit diesem Anspruch, dass er außerhalb der Wahrheit steht. Weder mit der Vernunft noch mit dem Glauben können wir die Wahrheit in ihrer Fülle erobern und beherrschen. Der Glaube offenbart die Wahrheit des Lebens: Das Leben ist ein unerschöpfliches Geheimnis, das Hoheitsgebiet Gottes, das wir nicht »privatisieren« können. Der Glaube lehrt uns, mit diesem Geheimnis zu leben, und die Last der Fragen zu ertragen, deren vollständige Beantwortung unsere Kompetenz übersteigt.

Der Glaube, wie ihn die christliche Tradition versteht, ist Bestandteil einer Trias: Er schreitet immer gemeinsam mit der Hoffnung und mit der Liebe. Begleitet wird er von der geduldigen Hoffnung – jedoch auch von der Liebe, deren Sehnsucht nach Erfüllung nicht gestillt werden kann. »Unruhig ist unser Herz«, bekennt der heilige Augustinus. Die heilige Unruhe des Herzens und des Geistes wird immer die Bemühungen der Vernunft und der Phantasie, der Wissenschaft und der Kunst beleben, hinter den Horizont des bereits Erkannten durchzudringen. Dieselbe Sehnsucht regt heute die Gespräche von Menschen über die Grenzen von Kulturen und Religionen hinweg an und ermuntert die Versuche, die Schätze der verschiedenen geistlichen Wege zu teilen. Alles, was auf dem Gebiet der Erkenntnis und des Verständnisses getan wurde, getan wird und getan werden wird, verdient Respekt. Das Geheimnis zu respektieren, bedeutet nicht, zu resignieren. Es bedeutet nicht, in der Anstrengung, mehr wissen zu wollen, nachzulassen; es bedeutet nicht, verantwortungslos, faul und undankbar das große Geschenk der Vernunft brachliegen zu lassen und die Offenheit unseres Geistes nicht zu nutzen.

Nichtsdestotrotz behält das Pascal’sche Diktum stets seine Gültigkeit: Die größte Leistung der Vernunft ist es, ihre eigenen Grenzen anzuerkennen. Die Vernunft wird unvernünftig, wenn sie nicht in der Lage ist, vernünftig zu unterscheiden und demütig die Grenzen ihrer Kompetenz anzuerkennen. Dort, wo die Vernunft auf eigenen Flügeln bis zur Sonne des Geheimnisses gelangen will, welches nur dem Glauben und der Hoffnung gegeben wird, endet sie wie Ikarus mit verbrannten Flügeln – sie stürzt ab: entweder in die Finsternis des Wahnsinns (erinnern wir uns an Nietzsche!), oder sie endet noch schlimmer, indem sie zur Ideologie degeneriert, die dämonisch oder lächerlich sein kann (erinnern wir uns an den marxistischen »wissenschaftlichen« Atheismus!). Der heutige wissenschaftliche Rationalismus ist meistens schon demütiger, sachlicher und selbstkritischer, als es der adoleszent-stolze Rationalismus der Aufklärung oder der positivistische Szientismus der letzten Jahrhunderte waren, was den Respekt den Fragen gegenüber angeht, mit denen sich die Theologie beschäftigt. (Die wissenschaftliche Vernunft ist jedoch heute anderen Versuchungen ausgesetzt, als die »letzten Fragen nach Sinn« restlos erklären zu wollen, nämlich der Versuchung, ihre Entdeckungen in der Praxis ohne Rücksicht auf ethische Kriterien zu realisieren und immer größere Risiken zu ignorieren.)

Das Geheimnis des Glaubens müssen wir heute nicht gegenüber dem wissenschaftlichen Rationalismus verteidigen; bis auf manche polternden Ausnahmen (die jedoch weder aus Sicht der Wissenschaft noch aus Sicht der Philosophie und Theologie große Aufmerksamkeit verdienen) herrscht an dieser Front Ruhe und eine beiderseitige Anerkennung der Grenzen der jeweiligen Kompetenzen. Das Geheimnis des Glaubens muss jedoch bis heute vor einem übermäßigen Rationalismus in der Theologie beschützt werden. (Jener Typ der spätneuzeitlichen, verflachten neuscholastischen Theologie, in dem, besonders bei uns, noch vor nicht allzu langer Zeit Generationen von Priestern und Gläubigen erzogen wurden und den ich hier vor allem meine, schien in der Welt der letzten Jahrzehnte gestorben zu sein, aber heute tauchen als Reaktion auf gegensätzliche Extreme im postmodernen religiösen Denken neue Versionen von ihm auf.)

Der theologische Rationalismus der klassischen Metaphysik, der behauptet, dass die Vernunft in ihren Überlegungen über die erschaffene Welt bis zum Beweis der Existenz des Erschaffers zu gelangen vermag, sollte diese Leistung der Vernunft nicht mit dem Glauben verwechseln (der keine Leistung der Vernunft ist, sondern ein Geschenk der Gnade); er sollte nicht, wenn er auf dem Boden der Rechtgläubigkeit bleiben soll, auf die er hochheilig schwört, den auf diese Art errechneten »Ersten Beweger« zu billig und zu schnell mit jenem Geheimnis identifizieren, auf das sich der Glaube bezieht und auf das hin sich die Hoffnung öffnet. Jenes Dogma des Ersten Vatikanischen Konzils über die rationale Erkennbarkeit Gottes, das die Verteidiger des metaphysischen Realismus gerne zitieren, wollte das Bündnis des Glaubens und der Vernunft gegenüber dem Fideismus (besonders gegenüber der romantischen Auffassung des Glaubens als eines »Abhängigkeitsgefühls«) und dem biblischen Fundamentalismus verteidigen; bestimmt wollte es jedoch nicht das Geheimnis der göttlichen Unbegreiflichkeit verkleinern, es wollte nicht mit scholastischen Spekulationen den Glauben als den (von der Gnade inspirierten) Mut, in das Geheimnis einzutreten, ersetzen. Gott handelt sicher nicht gegen die Vernunft, die er selbst dem Menschen gegeben hat. Er ist jedoch zu groß, als dass er sich mit diesem seinem geschaffenen Geschenk erfassen, umschließen und erschöpfen ließe.

»Begreifst du, so ist es nicht Gott«, lehrt der heilige Augustinus. Und wenn dieses Geheimnis selbst zu uns spricht und sich im Wort mitteilt, wie die christliche Lehre von der Offenbarung lehrt, dann vergessen wir nicht, dass dieses Wort jedoch notwendig auf unsere menschliche Beschränktheit der Fähigkeit zuzuhören, es zu begreifen und auszudrücken stößt. Die Quelle des Glaubens ist die Selbstmitteilung Gottes in Schrift und Tradition, also Gott selbst als der anredende Logos. Der Akt des Glaubens schließt mit ein, diesem Wort zuzuhören – jenem Wort, das zu uns »im Fleische« kommt – und schließt auch die Bereitschaft des Gläubigen ein, es in seine Lebensgeschichte zu inkarnieren.

Das Christentum lehrt, dass das »Wort Fleisch wurde« – also kein Engel, kein »unsichtbarer Geist« – und es sich selbst und uns damit der Notwendigkeit ausgesetzt hat, alle Beschränkungen zu ertragen, die die »Fleischlichkeit« (das beschränkte, von Natur und Geschichte bedingte Dasein, das in einen konkreten Raum und in eine bestimmte Zeit geworfen wird) notwendigerweise mit sich bringt.

Im Text der Bibel wimmelt es von Engeln – wir dürfen jedoch nicht vergessen, dass diejenigen, die diese Geschichten erzählen, und diejenigen, die ihnen zuhören und sie weitergeben, Menschen sind. Menschen sind »Fleisch« – sie sind in einem bestimmten kulturellen Raum (der eine bestimmte bedingte und eingeschränkte Art des Begreifens und des Sich-Äußerns bietet) und in einem bestimmten unverwechselbaren Augenblick der Geschichte situiert, sie sind durch ihre Perspektive eingeschränkt. Der Gedanke an Engel erinnert, wie schon gesagt wurde, daran, dass wir keine Engel sind (auch nicht dann, wenn wir über den Glauben nachdenken); deshalb begleiten meine Reflexionen über den Glauben, über jenes große göttliche Geschenk, ein andauerndes Interesse an der »Fleischlichkeit« (Menschlichkeit) unseres Glaubens. Vielleicht macht nämlich gerade dieser Blickwinkel unsere Überlegungen über den Glauben – den fleischgewordenen Glauben an das fleischgewordene Wort – im Unterschied zu einem matten religiösen Idealismus – erst wirklich christlich.

***

In den ersten Versen des Prologs des Johannesevangeliums – dieses Textes, der es verdient, immer wieder neu gelesen und durchdacht, übersetzt, ausgelegt und kommentiert zu werden – finde ich mein ganzes Credo, das Bekenntnis meines Glaubens. ­Goethes Faust übersetzt den Satz »Am Anfang war das Wort« im Geist der Neuzeit »Am Anfang war die Tat«. Nach vielem Überlegen schlage ich heute noch eine weitere Übersetzung vor: Am Anfang war die Anrede.

»Am Anfang war die Anrede. Diese Anrede war Gott selbst.« Gleich danach werden zwei unheimlich wichtige Sachen gesagt: Gott selbst ist ein undurchdringliches Geheimnis: Niemand hat Gott jemals gesehen. Jedoch: »Das Wort ist Fleisch geworden und hat unter uns gewohnt.« Das bedeutet: Das göttliche Wort ist jetzt »Fleisch«, Menschsein – das Menschsein ist jetzt und für immer das, wodurch diese Anrede verständlich wird.

Wenn wir das Menschsein »lesen«, lesen wir von Gott. Das Evangelium sagt uns, dass wir durch das Menschsein Jesu von Nazareth nicht nur das Geheimnis des Menschseins als Menschsein verstehen lernen können, sondern das Geheimnis Gottes selbst, denn »das Fleisch » und »das Wort« lassen sich nicht mehr trennen.

***

Der Glaube, wie ich ihn verstehe, ist die Fähigkeit, die Wirklichkeit als Anrede wahrzunehmen: Er ist die Bemühung zuzuhören, verstehen zu lernen und eine Antwort zu geben. Ich bin davon überzeugt, dass das die kostbarste (und zugleich die interessanteste, die abenteuerlichste) Möglichkeit überhaupt ist, die das Menschsein bietet: sein Leben als einen Dialog zu leben; in beständigem Zuhören und Antworten aufmerksam und verantwortlich zu leben. Ich nehme an, dass jeder Mensch (auch über die Grenzen der Konfessionen und Traditionen hinweg) zu dieser Lebensweise prinzipiell fähig ist. Wenn ich ein wenig pathetisch sein darf, würde ich sagen, dass man, wenn man sein Leben auf diese Weise lebt, diese Möglichkeit realisiert und den eigentlichen Sinn des Menschseins verwirklicht.

Glaube und Unglaube (beziehungsweise die verschiedenen Formen des Glaubens) sind für mich nicht Aufstellungen von Überzeugungen hinsichtlich metaphysischer Fragen, sondern elementare Grundeinstellungen zum Leben: Wie erleben wir elementare Lebenssituationen und wie verstehen wir sie? Keinen Glauben zu haben oder den Glauben zu verlieren, bedeutet, nicht die Fähigkeit oder die Bereitschaft zu haben oder zu verlieren, das Leben als Dialog wahrzunehmen.

Dem Glauben, wie ich ihn verstehe, erscheint das Leben als ein Geschenk und als eine Herausforderung. Wir können wachsam gegenüber dieser Herausforderung sein oder schläfrig, offen oder verschlossen. Wir können das Leben natürlich auch ganz anders interpretieren und erleben; wir können es zum Beispiel völlig monologisch leben, selbst unser Ziel wählen und es ohne jede Rücksichtnahme verfolgen – wie es ein Werbeslogan zum Ausdruck bringt: Binde Dich nicht, sprenge die Fesseln! Ein Mensch aber, der die Anrede annimmt, bindet sich dadurch an sie.

Ich konzentriere mich mehr auf die Art des Glaubens als auf den Inhalt des Glaubens. Es interessiert mich mehr, wie ein Mensch glaubt, als woran er glaubt. Religionspsychologen stellen sich die Frage, ob in verschiedenen Glaubenssystemen (beliefs) ein ähnlicher Glaubenstyp (faith) vorkommen kann. Dies scheint – vor allem heute, in einer Zeit, in der sich die Welten »durchdringen« und sich die verschiedenen Religionen gegenseitig beeinflussen – sehr wahrscheinlich zu sein.

Für nicht weniger beachtenswert halte ich jedoch die Tatsache, dass im Rahmen der gleichen religiösen Systeme sehr unterschiedliche Arten des Glaubens vorgekommen sind und vorkommen. Auch wenn Menschen in verschiedenen Umgebungen und zu verschiedenen Zeiten (nicht nur im Verlauf der Vergangenheit, sondern auch heute und in ein- und derselben Umgebung, z. B. in einer Kirche) mit denselben Worten ihr Glaubensbekenntnis rezitiert haben oder rezitieren (das, woran sie glauben), dann kann die Art, auf welche sie geglaubt haben oder glauben, sehr unterschiedlich sein. Wenn zwei Menschen in derselben Kirchenbank aufrichtig »Ich glaube an Gott« sagen, ist damit bei Weitem nicht gewährleistet, dass das, was der eine und der andere mit diesem Satz meinen, tatsächlich dasselbe ist; ihre inneren Welten und ihr Begreifen und Erleben des Glaubens können meilenweit voneinander entfernt sein.

Es ist jedoch möglich, dass auch manche Anhänger verschiedener Religionen einen ähnlichen Typ (nicht Inhalt) des Glaubens haben; und gleichzeitig ist es offensichtlich, dass die Anhänger ein- und derselben Religion einen sehr unterschiedlichen Glauben haben können. Darüber hinaus ist es möglich, dass die Ähnlichkeit der Art des Glaubens manchmal konkrete Menschen verbinden kann, von denen sich einige zu einer bestimmten Religion bekennen und andere sich für »ungläubig« oder für »nicht religiös« halten. Die dramatischen Verwandlungen des Christentums in der Geschichte, deren Frucht die säkulare Welt ist, haben nämlich dazu beigetragen, dass die Religionen kein Monopol auf den Glauben haben – auch in der säkularen Welt begegnen wir verschiedenen Formen des Glaubens, die stark an Religionen erinnern. (Die Frage vieler Religionswissenschaftler und Theologen, inwieweit das Christentum – oder bestimmte Formen des Christentums – selbst eine »Religion« sind oder nicht, und ob es ein »nicht-religiöses Christentum« geben kann, lassen wir an dieser Stelle beiseite.)

Es ist notwendig zu betonen, dass in Wirklichkeit nicht nur zwei Positionen existieren – der Glaube und der Unglaube, auf der einen Seite ein dialogisches Leben und auf der anderen Seite ein ungebundenes Leben ohne Verantwortung; selten treten diese beiden verschiedenen Beziehungen zum Leben in ihrer vollkommen reinen Gestalt auf. Die Mehrheit von uns oszilliert zwischen dem Schlaf und dem Wachzustand, zwischen Verschlossenheit und Offenheit, zwischen Glauben und Unglauben. Der Dialog zwischen dem Glauben und dem Unglauben, von dessen Notwendigkeit zur Zeit so viel die Rede ist, ist also nicht nur ein Gespräch zwischen zwei »ideellen Lagern«; wenn er einen Sinn haben soll, muss er mit einem Gespräch in einem Menschen selbst begonnen werden.

Ich habe gesagt, dass für mich der Glaube eine Lebenshaltung ist, die in der Bereitschaft besteht, der »Anrede zuzuhören« und auf sie zu antworten. Er schließt also das Urvertrauen in einen Sinn ein, der jedem von Menschen gesetzten Sinn vorausgeht, im Sinne jener ur-eigentlichen Anrede durch den göttlichen Logos, das Vertrauen in diesen Logos selbst. Der Unglaube geht dann aus der entgegengesetzten Erfahrung mit der Welt und mit dem Leben hervor: Dieser besteht im Verlust (in der Abwesenheit) des Sinnes, im Schweigen der Welt, im Erleben der Absurdität.

Jetzt muss ich mein Credo zu Ende sprechen: Im Christentum habe ich auch deshalb mein Zuhause gefunden, weil ich in ihm die Möglichkeit ahne, gleichzeitig sowohl jenen wesentlichen Ur-Glauben zu umarmen als auch eine bestimmte Wahrheit des Unglaubens, die Möglichkeit, auch jene Erfahrung des Schweigens Gottes und die tragischen Seiten des Lebens ernst nehmen zu können.

Große Kritiker des Christentums wie Nietzsche oder Jung fanden im Christentum ihrer Zeit nicht das, was ihnen sehr am Herzen lag: die Möglichkeit, sowohl der Wahrheit des Tages als auch der Wahrheit der Nacht gerecht zu werden, sowohl die Welt der Vernunft und der Ordnung als auch die Welt der Tragik und der Leidenschaft ernst zu nehmen, die sich den »Spinngeweben der Vernunft« entziehen. Etwas Ähnliches meinte offenbar mein Lehrer Jan Patočka (tschechoslowakischer Philosoph, Anm. des Lektorats), als er vom Christentum als von einem »unvollendeten« Projekt sprach.

Meine ganze Theologie ist ein großer Protest gegen ein billiges Christentum, das sich mit der staunenden Freude über die Harmonie, über die vernünftige Ordnung und über den »intelligenten Plan« in der Natur und in der Geschichte zufrieden gibt; einen solchen »apollinischen« oder »ästhetischen« Glauben halte ich für oberflächlich, in seinem Wesen heidnisch, unchristlich – für einseitig.

Die Freude über die Harmonie der göttlichen Ordnung darf nur ein Aspekt unseres Glaubens sein; sie macht ihn jedoch einseitig, »häretisch«, sofern sie die zweite Seite der Wirklichkeit verdrängt, die – besonders wenn sie von der ersten abgerissen wird – finster, chaotisch, absurd und tragisch wirkt. Erst ein solches Begreifen des Lebens, das seinen beiden Seiten ganz gerecht wird, der »hellen« sowie der »dunklen«, die vor der Versuchung der vereinfachenden Einseitigkeit den Raum verteidigt, der es uns ermöglicht, gleichzeitig beide Erfahrungen mit der Welt und mit dem Leben in ihm ganz ernst zu nehmen, verdient unsere Zustimmung.

Nietzsche hatte recht, als er dem Christentum seiner Zeit vorwarf, dass es sich zu sehr vom »apollinischen« Geist des Tages, des Lichtes, des Guten, der Vernunft, beherrschen ließ (In derselben Tradition erinnert Patočka in seinem letzten und gewichtigsten Werk an die Möglichkeit und an das Bedürfnis einer Wende, die als Frucht der tragischen Erfahrung unserer Zeit entstammt, der »späten Zeit«, mit dem »Hinauslehnen in die Nacht des Nicht­seins«).2 Die Christen der Neuzeit haben des Öfteren den Glauben an Gott, von dem die biblischen Geschichten und die christliche Tradition erzählten, mit der naiv optimistischen Voraussetzung der Aufklärer verwechselt, dass »irgendetwas oberhalb von uns existiert«, das dafür sorgen muss, dass die Welt nach unseren Vorstellungen und Erwartungen funktioniert. Wenn Atheisten behaupten, dass ein solcher Gott nicht existiert, sollten die christlichen Theologen die Ersten sein, die ihnen zustimmen.

Ich bin tief davon überzeugt, dass die harten geschichtlichen Erfahrungen – äußere Verfolgungen und innere Krisen – und die Gluthitzeder Kritik, die das Christentum in der Zeit der Spätmoderne durchlaufen musste, den Christen heute die Möglichkeit eröffnen, aufgrund dieser Erfahrungen ihr Begreifen und ihr Erleben des Glaubens zu vertiefen. Das erwachsene Christentum (von dem im Kerker der Prophet des »religionslosen Christentums« und der »teuren Gnade«, Dietrich Bonhoeffer, träumte), wird weder »Platonismus für das Volk« noch ein in die Träume von überirdischen Belohnungen wiegendes Analgetikum sein. An einem optimistischen »apollinischen« Christentum einer schönen Ordnung festzuhalten kann nicht nur kitschig, oberflächlich und naiv wirken, sondern direkt zynisch und anstößig angesichts dessen, was die Menschheit in jenem »Krieg, der eigentlich nie zu Ende ging«3, erlebte. Es gab schon genug Fälle, bei denen wir die Wunden der Welt statt in ein wirksames Medikament oder zumindest in eine wirkliche Solidarität, in den unwirksamen Umschlag billiger Phrasen einer überzuckerten Frömmigkeit legten! Wir sind nicht nur dazu berufen, »uns mit den Sich-Freuenden zu freuen«, sondern auch »mit den Weinenden zu weinen«.

Ich heiße eine atheistische Kritik am Christentum willkommen, insofern sie jene einseitige Gestalt des Glaubens als eine Projektion der Wünsche, als Opium für das Volk etc., enthüllt. Schon in meinen früheren Büchern, an die ich mit diesen Überlegungen anknüpfe und sie zu vertiefen versuche, habe ich angedeutet, dass das Ziel des Dialogs des Glaubens mit dem Unglauben nicht im Triumph über den Atheismus bestehen soll, sondern in der Vertiefung des Glaubens dadurch, dass er auch das umarmt und integriert, was eine schmerzhafte Wahrheit eines gewissen Typs des Unglaubens ist, des Atheismus des Schmerzes und des Atheismus des Protestes, nämlich die Erfahrung der »Verborgenheit Gottes«. Diese kann nämlich entweder (atheistisch) als »Tod Gottes« oder (mystisch) als »Schweigen Gottes«, als eine finstere Nacht des Glaubens und eine finstere Nacht der Geschichte, gedeutet werden.

Es geht mir darum, dass wir durch den Triumphalismus und durch die billigen Tricks einer sophistischen Apologetik nicht jene »Teil-Wahrheit« derer verlieren, die den Glauben als Trost ablehnen, weil sie das Kreuz eines großen Leides zu tragen haben. Jenes Leiden über den »Verlust des Sinnes«, jenes Erleben der Welt als ein absurdes Chaos (das zum Beispiel in unzähligen Werken der zeitgenössischen Kunst wiedergegeben wird), ist eine wertvolle Erfahrung einer nicht erlösten Welt. Wir dürfen nicht zulassen, dass die tiefe und sehr realistische christliche Lehre von der »Ursünde« und ihren Folgen, also die Narbe der Entfremdung, die die ganze Schöpfung sowie das Innere eines Menschen beeinträchtigt, auf eine unverstandene Geschichte über eine gegessene Frucht und einen empörten, eifersüchtigen und ängstlichen Gott reduziert wird. Ein billig lächelndes Christentum, das mit dem Evolutionsoptimismus der Ideologen eines ununterbrochenen Fortschritts und Wachstums des Guten konform geht, wäre tatsächlich »Opium« oder ein anderes Analgetikum für das Volk, das darüber hinaus langfristig nicht wirksam ist und eher schadet als heilt, und daher zu verachten wäre.

Wenn wir den großen spirituellen und theologischen Wert der Erfahrung der Nacht nicht erkennen (wenn wir also nur bei der »Logik des Tages« bleiben), wäre unsere Theologie und Spiritualität flach. Die Wahrheit erlangen wir nicht dadurch, dass wir uns um eine widerspruchslose, alles erklärende Theorie bemühen; wir können sie nur durch das Legen eines bunten Mosaiks ergründen, in der kein Steinchen von einer Farbe fehlen darf (und wir keines verwerfen dürfen, nur weil es unserem Geschmack nicht passt oder weil es uns durch seine scharfe Kante an der Handfläche verletzt). Eine wahrhaftig ehrliche, philosophische und theologische Arbeit ist das Komponieren einer Symphonie, aus der wir nicht im Voraus die disharmonischen Töne oder die nicht traditionellen Kompositionsweisen ausschließen dürfen.

Gerade die Erfahrung mit den finsteren Augenblicken der Geschichte erinnert an die wesentlichen Wahrheiten unseres Glaubens: Die Welt ist kein Himmel, die Menschheit ist kein Ensemble von Engeln, alle Versprechen, den Himmel auf Erden zu errichten und einen vollkommenen Menschen zu konstruieren, sind ideologische Betrugsversuche eines billigen aufklärerischen Optimismus und seiner Erben. Die christliche Hoffnung steht abseits des Kampfes zwischen dem Optimismus und dem Pessimismus – in dem Sinne, dass sie sich weder nur auf die eine noch auf die andere Seite schlagen darf. In meinem Buch Nicht ohne Hoffnung habe ich mich bemüht, zu zeigen, dass der Optimismus der aufklärerischen Tradition nur eine entleerte, verweltlichte Karikatur der christlichen Tugend der Hoffnung ist. Auch der Pessimismus und der Nihilismus sind eine solche »verrückte Wahrheit« – die durch die Lehre von der Erbsünde und ihren Folgen in das gefährlich einseitige gegenteilige Extrem geführt wurden. Der Christ ist jedoch heute nicht dazu berufen, dass er siegesgewiss konstatiert, dass seine Theologie diese neu eröffneten Abgründe von aktualisierten Versionen alter Irrlehren überbrücken kann. Es ist notwendig, diese Erfahrungen des zeitgenössischen Menschen mitzuerleben und im Glauben zu ertragen – und auf diese Art das Versprechen der Kirche zu erfüllen, das auf dem letzten Konzil gegeben wurde, dass die »Freude und Hoffnung, Trauer und Angst der Menschen von heute […] Freude und Hoffnung, Trauer und Angst der Jünger Christi«4 sind.

Das Christentum, wie ich es verstehe, ist vor allem eine »Religion des Paradoxons«. Es ist ein Glaube, in dessen Zentrum das Kreuz steht; ein Glaube, der auch angesichts des Jubels über die Auferstehung den Aufschrei Jesu nicht vergisst: »Mein Gott, warum hast Du mich verlassen?« Es ist ein Glaube, für den die Auferstehung Jesu – das wirkliche Schlüsselgeheimnis der christlichen Verkündigung – kein billiges Happy End ist, die Rückkehr des Auferstandenen zurück in diese Welt und dieses Leben, sondern in der Tat ein Geheimnis von etwas radikal Neuem, das in unsere Leben einbricht, wenn wir im Augenblick der Konversion »ein völlig neues Leben mit Christus« (vgl. Röm 6,4) beginnen. Am Christentum fasziniert mich gerade jenes »völlig Neue«, jene Einladung, sich dem zu eröffnen, »was kein Auge gesehen und kein Ohr gehört hat und was in keines Menschen Herz gedrungen ist« (1 Kor 2,9). Zu viele Versionen des Christentums und der Theologie versuchten jedoch, trotz der Warnung Jesu, jungen Wein in alte Schläuche zu füllen (vgl. Mk 2,22) – und die Folgen dessen sind überall um uns herum zu beobachten.

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In den letzten Jahren denke ich immer tiefer über jene neutestamentlichen Texte nach, in denen Jesus aufgrund der Erfahrung des Todes zu seinen Jüngern so verändert zurückkehrt, dass er nicht wiedererkannt wird; er legitimiert sich mit seinen Wunden – und dann wird er im ganzen Verlauf der Geschichte inkognito in »den anderen«, in der Gestalt von Fremden, von Wanderern, von Menschen am Rande und in der Not erscheinen, um sich erst in jenem überraschenden Augenblick des Jüngsten Gerichtes (vgl. Mt 25,31–45) wahrhaftig erkennen zu lassen.

Dieses mein Verständnis des Christentums (und des Dialoges des Glaubens und des Unglaubens) entwickelte ich in einer Reihe von Büchern über Jahrzehnte hinweg5, auch dieses Mal möchte ich einen weiteren Schritt auf diesem Weg tun und neue Aspekte und neue Zusammenhänge aufzeigen. Ich bin davon überzeugt, dass mein Begreifen des Christentums sowohl von der Tradition gestützt wird als auch einer Reihe von zeitgenössischen Denkern in verschiedenen philosophischen Schulen nahe steht. Ich glaube, dass viele Mystiker und auch Theologen des Paradoxons von Paulus, Luther und Pascal über Kierkegaard und Chesterton bis Bonhoeffer ihren christlichen Glauben ähnlich erlebten; ich glaube, dass das Denken von Autoren, welche die tragischen Erfahrungen des 20. Jahrhunderts reflektieren, aber auch jenes von postmodernen Philosophen und Theologen, die sich sowohl vom »metaphysischen Realismus« der Neuscholastik als auch vom ähnlich naiven Szientismus der Moderne radikal abwandten, in eine ähnliche Richtung tendiert. (In diesem Zusammenhang steht mir z. B. Richard Kearney mit seinem Konzept eines »Gottes, der sein kann« sehr nahe.)

Ja, Luther, jener provozierend geniale Poète maudit der Paradoxien des Glaubens, auf dem halben Weg zwischen seinen Verwandten, dem Apostel Paulus und dem Gotteslästerer Nietzsche, zusammen mit seinen Brüdern von gleich heißem Blut, Eckhart, Pascal und Kierkegaard – gerade sie sind mir tausendmal näher als die stillen und vorsichtigen Spinnen der Neuscholastik, deren bewundernswerte, symmetrische Netze von widerspruchslosen Syllogismen so imposant zu sein scheinen, solange sie ein »Glasperlenspiel bleiben«, solange sie nicht von den Stürmen des Lebens erfasst werden. Von meinem Lehrer Josef Zvěřina habe ich die Überzeugung übernommen, dass der Kern des Katholizismus der Grundsatz »nicht nur, sondern auch« ist – ich begreife sie nicht als ein scheues Schauen auf das Zünglein der Apothekerwaage, sondern als ein mutiges Ja zum Leben, das vor der Spannung der Gegensätze nicht zurückweicht.

Wenn ich sehr persönlich werden darf: Es ist kein Zufall, dass ich mein erstes »Ja« zum Christentum in der Jugend beim Lesen jenes Kapitels der Orthodoxie Gilbert Keith Chestertons (britischer Schriftsteller, Anm. des Lektorats) sagte, in welchem das Christentum als eine Religion des Paradoxons geschildert wird, die antagonistische Tugenden zusammenhält, die zu zerstörerischen Lastern werden würden, wenn sie sich von ihrem Gegensatz loslösten; mein ganzes Leben lang habe ich nämlich eigentlich nur ein Laster gefürchtet: die Einseitigkeit.

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Mit Gabriel Marcel (französischer Philosoph, Anm. des Lektorats) könnte ich sagen: »Ich bin spät zum katholischen Glauben gelangt und noch immer bindet mich eine lebhafte Zuneigung zu den Ungläubigen, ich bin also imstande, besser als ein anderer ihre Schwierigkeiten zu begreifen. Ein gläubiger Mensch ist nie ein vollständig Glaubender, es ist unmöglich, dass er Momente der Unsicherheit und der Beklemmung nicht kennen würde, in denen er sich den Ungläubigen anschließt, und umgekehrt kann wiederum der Glaube den Ungläubigen beleben, den er in sich verwahrt und der ihn stützt, ohne dass er fähig wäre, sich dessen vollständig bewusst zu werden.«

Ein gläubiger Mensch ist nie ganz ein Glaubender und ein ungläubiger Mensch ist nicht völlig ein Ungläubiger. Selbst die Existenz »der anderen«, wenn wir sie nicht durch die Brille ideologischer Vorurteile wahrnehmen, sondern uns bemühen, sie zu verstehen, ruft in uns notwendigerweise Fragen hervor, die unsere eigenen Positionen betreffen. Meine Erfahrung mit Fanatikern der einen oder anderen Seite (mit nicht toleranten »Gläubigen« sowie dogmatischen, militanten Atheisten) sagt mir, dass besonders diejenigen zu unerträglichen, gehässigen Menschen werden, die nicht in der Lage sind, einen Zweifel an der eigenen Position anzuerkennen. Sie befreien sich von den Zweifeln dadurch, dass sie sie auf andere projizieren; sie schreiben sie den anderen zu, und durch den Kampf mit ihnen kämpfen sie eigentlich mit den eigenen unerkannten Schatten und »Dämonen«.

Ein gläubiger Mensch ist nie vollständig ein Glaubender, weil sich die ihn ansprechende Stimme öfters auch im Lärm der Welt (oder in jenen Momenten von Unsicherheit und Beklemmungen) oder aufgrund seiner eigenen Unachtsamkeit verliert; ja, manchmal sind wir Gläubige auch zu feige oder zu faul, um auf die Stimme zu antworten, oder wir antworten falsch und unglaubwürdig. Und manchmal ist auch unser Schicksal einfach zu schwer! (Bei der Kreuzwegandacht ist es für mich immer ein großer Trost, dass Jesus sein Kreuz nicht wie ein antiker Athlet souverän getragen hat, sondern dass er unter ihm wiederholt gestürzt ist – wie wir! Warum sagen so viele fromme Freunde und geistliche Führer zu denen, die unter ihrem Kreuz fallen, solch schreckliche Phrasen, die eher in den Mund der unglücklichen Freunde Ijobs passen würden oder in den der weinenden »Frauen von Jerusalem« aus den Passionserzählungen, warum gestehen sie ihnen nicht einfach das Recht zu, einmal mit dem Gesicht im Staub zu liegen und nicht mehr weiterzukönnen?)

Christus zu folgen bedeutet nicht notwendigerweise, mit einem Lächeln und mit Liedern auf den Lippen unter wehenden Fahnen in der Schar der Frommen zu schreiten, wie uns das manche Pioniere der »Neu-Evangelisierung« vormachen; auch ein echter Jünger Jesu hat Anspruch auf Momente, wenn er mit seinem Atem am Ende ist, wenn er von allem genug hat (einschließlich von einigen seiner Mitgläubigen) und sein Leben ihm wie ein ziemlich trauriges »Theater für Menschen und Engel« vorkommt. Wir können ihm nicht helfen, sein Kreuz zu tragen wie Simon von Cyrene (und das können wir manchmal wirklich nicht, denn es gibt auch unvertretbare Kreuze!), wir sollten es ihm aber nicht dadurch noch bitterer machen, dass wir ihm (in diesem Fall unangebrachte) Gefühle eines schlechten Gewissens einreden.

Auf der anderen Seite muss auch derjenige, der sich als »Ungläubiger« bezeichnet, aufgrund dessen bei Weitem noch nicht notwendigerweise für die Ansprache aus der Tiefe des Lebens taub und stumm sein. Vielleicht stellt er sich nur nicht die Frage, »woher« die Stimme kommt, die ihn aufruft, oder er antwortet auf diese Fragen anders als z. B. ein gläubiger Christ.

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Vielleicht ist gerade unsere Zeit, in der ein konkreter Glaube auch immer etwas nicht Selbstverständliches ist, weil er notwendigerweise (oder zumindest mit hoher Wahrscheinlichkeit) anderen Arten des Glaubens oder einem wirklichen existenziellen Unglauben begegnet (in Gestalt einer »monologischen«, »nicht kommunikativen« Lebensart), in der unsere Welt so kompliziert und antagonistisch ist, dass sie den Glauben als das Vertrauen auf einen Sinn nicht leicht macht, gleichzeitig eine günstige Zeit für einen aufrichtigen Dialog zwischen zwei verschiedenen Arten des Glaubens.