Beschleunigung - Hartmut Rosa - E-Book

Beschleunigung E-Book

Hartmut Rosa

0,0
25,99 €

-100%
Sammeln Sie Punkte in unserem Gutscheinprogramm und kaufen Sie E-Books und Hörbücher mit bis zu 100% Rabatt.
Mehr erfahren.
Beschreibung

Das Buch unternimmt erstmals den Versuch, die sich potenzierende Dynamisierung gesellschaftlicher Verhältnisse, wie sie in der jüngsten politischen und digitalen Beschleunigungswelle etwa unter dem Stichwort ›Globalisierung‹ firmiert, systematisch zu erfassen und sie in ihren kulturellen und strukturellen Ursachen ebenso wie in ihren Auswirkungen auf die individuelle und kollektive Lebensführung zu analysieren. Entwickelt wird dabei die These, daß die zunächst befreiende und befähigende Wirkung der modernen sozialen Beschleunigung, die mit den technischen Geschwindigkeitssteigerungen des Transports, der Kommunikation oder der Produktion zusammenhängt, in der Spätmoderne in ihr Gegenteil umzuschlagen droht. Individuell wie kollektiv verändert sich die Erfahrung von Zeit und Geschichte: An die Stelle einer gerichteten Vorwärtsbewegung tritt die Wahrnehmung einer gleichsam bewegungslosen und in sich erstarrten Steigerungsspirale.

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB

Seitenzahl: 838

Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



2Das Buch unternimmt erstmals den Versuch, die sich potenzierende Dynamisierung gesellschaftlicher Verhältnisse, wie sie in der jüngsten politischen und digitalen Beschleunigungswelle etwa unter dem Stichwort ›Globalisierung‹ firmiert, systematisch zu erfassen und sie in ihren kulturellen und strukturellen Ursachen ebenso wie in ihren Auswirkungen auf die individuelle und kollektive Lebensführung zu analysieren. Der Autor entwickelt dabei die These, dass die zunächst befreiende und befähigende Wirkung der modernen sozialen Beschleunigung, die mit den technischen Geschwindigkeitssteigerungen des Transports, der Kommunikation oder der Produktion zusammenhängt, in der Spätmoderne in ihr Gegenteil umzuschlagen droht. Individuell wie kollektiv verändert sich die Erfahrung von Zeit und Geschichte: An die Stelle einer gerichteten Vorwärtsbewegung tritt die Wahrnehmung einer gleichsam bewegungslosen und in sich erstarrten Steigerungsspirale.

Hartmut Rosa, geboren 1965, ist Professor für allgemeine und theoretische Soziologie an der Friedrich-Schiller-Universität Jena und regelmäßiger Gastprofessor am Department of Sociology an der New School University in New York.

3Hartmut Rosa

Beschleunigung

Die Veränderung der Zeitstrukturen in der Moderne

Suhrkamp

5Inhalt

Anstelle eines Vorworts

I.  Einleitung

1. Zeitstrukturen in der Gesellschaft

2. Zwei Zeit-Diagnosen der Gegenwart

3. Vorüberlegungen zu einer Theorie der sozialen Beschleunigung

Teil 1: Das kategoriale Grundgerüst einer systematischen Theorie der sozialen Beschleunigung

II.  Von der Liebe zur Bewegung zum Gesetz der Beschleunigung: Beobachtungen der Moderne

1. Beschleunigung und die Kultur der Moderne

2. Modernisierung, Beschleunigung und Gesellschaftstheorie

III.  Was ist soziale Beschleunigung?

1. Vorüberlegung: Beschleunigung und Steigerung

2. Drei Dimensionen sozialer Beschleunigung

3. Fünf Kategorien der Beharrung

4. Zum Verhältnis von Bewegung und Beharrung in der Moderne

Teil 2: Wirkungsweisen und Erscheinungsformen: Eine Phänomenologie der sozialen Beschleunigung

IV.  Technische Beschleunigung und die Revolutionierung des Raum-Zeit-Regimes

V.  Rutschende Abhänge: Die Beschleunigung des sozialen Wandels und die Zunahme der Kontingenzen

VI.  Die Beschleunigung des »Tempos des Lebens« und die Paradoxien der Zeiterfahrung

1. Objektive Parameter: Die Steigerung der Handlungsgeschwindigkeit

2. Subjektive Parameter: Zeitdruck und die Erfahrung der rasenden Zeit

3. Temporalstrukturen und Selbstverhältnisse

Teil 3: Ursachen

VII.  Soziale Beschleunigung als selbstantreibender Prozess: Der Akzelerationszirkel

VIII.  Beschleunigung und Wachstum: Externe Triebkräfte sozialer Beschleunigung

1. Zeit ist Geld: Der ökonomische Motor

2. Die Verheißung der Beschleunigung: Der kulturelle Motor

3. Die Temporalisierung von Komplexität: Der sozialstrukturelle Motor

IX.  Macht, Krieg und Geschwindigkeit – Staat und Militär als institutionelle Schlüssel-Akzeleratoren

Teil 4: Konsequenzen

X.  Beschleunigung, Globalisierung, Postmoderne

XI.  Situative Identität: Von Driftern und Spielern

1. Die Dynamisierung des Selbst in der Neuzeit

2. Von der substanziellen Identität a priori zur stabilen Identität a posteriori: Die Verzeitlichung des Lebens

3. Von der zeitstabilen zur situativen Identität: Die Verzeitlichung der Zeit

XII.  Situative Politik: Paradoxe Zeithorizonte zwischen Desynchronisation und Desintegration

1. Zeit in der Politik – Politik in der Zeit

2. Die Verzeitlichung der Geschichte in der Moderne

3. Paradoxe Zeithorizonte: Die Entzeitlichung der Geschichte in der Spätmoderne

XIII.  Beschleunigung und Erstarrung: Versuch einer Neubestimmung der Moderne

XIV.  Schlusswort: Rasender Stillstand? Das Ende der Geschichte

Abbildungsverzeichnis

Literatur

Sach- und Personenregister

9Anstelle eines Vorworts

Wollte Langmut aus Kairos früher, vor der Erfindung der Technik, seinem Freund Kurzweil in Chronos, das ebenfalls im Reich Utempus lag (es war die Zeit, da man es mit der Unterscheidung griechischer und lateinischer Morpheme nicht mehr so genau nahm), eine Nachricht zukommen lassen, so musste er den Weg dorthin mühsam zu Fuß zurücklegen, wofür er sechs Stunden benötigte, oder mit dem Esel, der für dieselbe Strecke immerhin noch dreieinhalb Stunden brauchte. In beiden Fällen kam er dadurch gehörig in Zeitnot, weil er nicht vor dem Mittagessen wieder zurück sein konnte oder, wenn er erst danach losging, gar in Chronos übernachten musste, was ihm nicht nur Streit mit seiner Frau, sondern auch den Verlust eines Arbeitstages einbrachte. Jetzt aber griff Langmut lächelnd zum Telefon, übermittelte Kurzweil die Nachricht und plauderte mit ihm ein wenig über das Wetter, ehe er gemütlich und gemächlich noch ein Pfeifchen schmauchte, die Katze fütterte, eine halbe Stunde arbeitete und dann mit seiner Frau zusammen das Mittagessen kochte – meist benutzten sie dafür die Mikrowelle.

Ach ja, auch mit der Arbeit war es nicht mehr so wie früher. Vor der Einführung der Technik hatte er den ganzen Tag über an den Büchern gearbeitet, die er als Stadtkopist zu vervielfältigen hatte. War das Buch dick, hatte er am Abend dennoch manchmal noch nicht einmal eines abgeschrieben. Heute dagegen schaltete er in aller Ruhe morgens den Kopierer ein, trank dann eine Tasse Kaffee, bis das Gerät betriebsbereit war, und kopierte die Vorlage 10, 20 Mal, je nachdem, wie groß der Bedarf an Abschriften in Kairos gerade war, wofür er nicht länger als 20 Minuten brauchte. Danach ging er zum Schwimmen an den Strand. Nachmittags arbeitete Langmut inzwischen gar nicht mehr.

Endlich hatte er Zeit, im Garten zu sitzen, mit seiner Frau zu plaudern, zu musizieren oder zu philosophieren oder die kopierten Bücher zu lesen, wenn sie interessant waren. Es war herrlich, sich ganz ohne Zeit- und Terminnot seines Lebens erfreuen zu können. Wollte er von seiner Frau, seiner Katze oder dem Sonnenuntergang am Meer ein Bild haben, damit die Urenkel einst ihrer gedenken mochten, holte er gemächlich seine Digitalkamera aus dem Wohnzimmer und drückte auf den Knipser – herrlich detailgetreu erschien das fertige Bild nach wenigen Augenblicken aus dem Drucker, er brauchte nicht mehr erst seinen10Freund, den Maler Aeternus zu beauftragen, der früher stundenlang den Pinsel geführt und nie Zeit gehabt hatte, währenddessen Langmut die Katze mit allerlei Schmeicheleien und manchmal auch mit Gewalt hatte festhalten müssen. Aber Langmut verspürte jetzt nur noch selten den Wunsch, etwas im Bild festzuhalten, um es später zu genießen oder es der Nachwelt zu überliefern.

Wollte er, wenn es draußen an den Abenden einmal kühl wurde, es drinnen trotzdem behaglich warm haben, musste er nicht etwa in den Wald gehen und Holz sammeln, um es dann später mühsam zu entzünden und dennoch nur für eine begrenzte Zeit sich der Wärme erfreuen zu können. Er drehte einfach die Heizung auf, welche mit den Windrädern am Meer verbunden war, und buchstäblich im Handumdrehen wurde es warm im Wohnzimmer wie an einem milden Sommernachmittag. Langmut war glücklich, und er fühlte sich reich – er hatte Zeit gewonnen, nahezu unerschöpflich viel Zeit, und das Seltsame war, dass er auch nicht mehr, wie früher immer wieder einmal, von dem unbehaglichen Gefühl der Langeweile heimgesucht wurde. Er hatte, wie die Menschen früher gesagt hätten, endlich Muße gefunden. Der Überfluss der Zeit, der unermessliche Zeitwohlstand hatte aus ihm einen neuen Menschen gemacht – und aus Utempus eine andere Gesellschaft.

So – oder so ähnlich – könnten wir uns eine Welt vorstellen, in welcher ein bis weit ins 20. Jahrhundert hinein geträumter Traum der technischen Verheißung Wirklichkeit geworden ist; eine Welt, die sich aller Zwänge der Zeitknappheit und der Hektik entledigt, die sich gegenüber der Zeit emanzipiert und dieselbe von einem knappen in ein im Überfluss vorhandenes Gut transformiert hat.

Dass die moderne technologische und ökonomische Effizienz eine ebensolche ›utempische‹ Gesellschaft produzieren werde, ist eine Überzeugung, an der die Advokaten des ökonomisch-technischen Fortschritts kaum jemals zweifelten und die sich beispielsweise noch bei Ludwig Erhard findet.1 »We had always expected one of the beneficent results of economic affluence [hervorgebracht durch technischen Fortschritt, H. R.] to be a tranquil and harmonious manner of a life, a life in Arcadia«, bemerkt der schwedische Ökonom Staffan B. Linder daher treffend,2 und der englische 11Philosoph Bertrand Russell vertritt in seinem 1932 verfassten ›Lob des Müßiggangs‹ die Auffassung, ebenjene arkadisch-utempische Gesellschaft sei im Prinzip bereits verwirklicht; lediglich ein unvernünftiges (›protestantisches‹) Arbeitsethos sowie eine Fehlallokation der Arbeit verhinderten ihre volle Realisierung.3 Selbst noch 1964 warnte das amerikanische Life-Magazine vor einem bevorstehenden massiven Zeitüberfluss in der modernen Gesellschaft, der gravierende psychologische Probleme aufwerfe: »Americans Now Face a Glut of Leisure – The Task Ahead: How to Take Life Easy« lautete die Schlagzeile der Ausgabe vom 21. Februar des Jahres.4

Unsere heutige Gesellschaft gleicht der ›utempischen‹ Stadt Kairos in vielerlei Hinsicht – und doch ist sie auch wiederum radikal verschieden von ihr. Aber warum? »Das Tempo des Lebens hat zugenommen« und mit ihm Stress, Hektik und Zeitnot, so hört man allerorten klagen – obwohl wir, ganz wie in Kairos, auf nahezu allen Gebieten des sozialen Lebens mithilfe der Technik enorme Zeitgewinne durch Beschleunigung verzeichnen können. Wir haben keine Zeit, obwohl wir sie im Überfluss gewinnen. Dieses ungeheure Paradoxon der modernen Welt zu erklären, seiner geheimen Logik auf die Spur zu kommen soll das Ziel dieses Buches sein.

Dafür, so die leitende These der Arbeit, ist es erforderlich, die Logik der Beschleunigung zu entschlüsseln. Eine nahe liegende Vermutung im Kontext der Eingangsgeschichte ist es zunächst, dass Langmuts gewonnene Zeit dadurch wieder verloren geht, dass ja der Kopierer, der Fotoapparat und die Heizung, mit deren Hilfe er so viel Zeit spart, selbst erst hergestellt bzw. verdient werden müssen. Geht man davon aus, dass auch in Kairos arbeitsteilig produziert wird, muss Langmut nach ›Erfindung‹ der Technik entsprechend mehr Bücher vervielfältigen als zuvor (was wiederum voraussetzt, dass auch der Bedarf an Büchern in Utempus entsprechend gestiegen ist). Auf diese Weise könnte sich der Zeithaushalt entgegen den Verheißungen der Technik in ein Nullsummenspiel (oder gar in ein Negativsummenspiel) verwandelt haben: Die Bewohner von Utempus bräuchten ebenso viel oder gar noch mehr Zeit, um die Zeitspargeräte zu produzieren und sich leisten zu können, als sie dadurch gewinnen. Das erinnert an jene inzwischen in vielerlei 12Varianten und an vielen Orten erzählte Geschichte vom armen Fischer und dem erfolgreichen Unternehmer.5

In einer abgeschiedenen ländlichen Gegend Südeuropas sitzt ein Fischer am flachen Meeresstrand und angelt mit einer alten, herkömmlichen Angelrute. Ein reicher Unternehmer, der sich einen einsamen Urlaub am Meer gönnt, kommt auf einem Spaziergang vorbei, beobachtet den Fischer eine Weile, schüttelt den Kopf und spricht ihn an. Warum er hier angle, fragt er ihn. Draußen, auf den felsigen Klippen könne er seine Ausbeute doch gewiss verdoppeln. Der Fischer blickt ihn verwundert an. »Wozu?«, fragt er verständnislos. Na, die zusätzlichen Fische könne er doch am Markt in der nächsten Stadt verkaufen und sich von den Einnahmen eine neue Fiberglasangel und den hoch effektiven Spezialköder leisten. Damit ließe sich seine Tagesmenge an gefangenem Fisch mühelos noch einmal verdoppeln. »Und dann?«, fragt der Fischer, weiterhin verständnislos. Dann, entgegnet der ungeduldig werdende Unternehmer, könne er sich bald ein Boot kaufen, hinausfahren ins tiefe Wasser und das Zehnfache an Fischen fangen, sodass er in kurzer Zeit reich genug sein werde, sich einen modernen Hochseetrawler zu leisten! Der Unternehmer strahlt, begeistert von seiner Vision. »Ja«, sagt der Fischer, »und was tue ich dann?« Dann, schwärmt der Unternehmer, werde er bald den Fischfang an der ganzen Küste beherrschen, dann könne er eine ganze Fischfangflotte für sich arbeiten lassen. »Aha«, entgegnet der Fischer, »und was tue ich, wenn sie für mich arbeiten?« Na, dann könne er sich den ganzen Tag lang an den flachen Strand setzen, die Sonne genießen und angeln. »Ja«, sagt der Fischer, »das tue ich jetzt auch schon.«

Natürlich ist diese Geschichte ziemlich naiv. Sie suggeriert, dass der höchst unwahrscheinliche Endpunkt der mühsamen Entwicklungsgeschichte, die der Unternehmer dem Fischer schmackhaft machen will, identisch mit der Ausgangssituation ist; dass der Fischer also letztlich, selbst wenn er Erfolg haben sollte, gar nichts gewinnt. Der Unternehmer scheint daher ein eindeutiges Opfer des von Russell beklagten ›protestantischen Arbeitsethos‹ zu sein: Arbeit wird ihm zum reinen Selbstzweck, der Weg vom Ausgangszustand zum Endergebnis gleicht einem Nullsummenspiel – im günstigsten Fall. Aber natürlich ist die Geschichte in Wirklichkeit nicht zirkulär: Anfangs- und Endpunkt sind nur scheinbar identisch, in 13Wahrheit aber höchst verschieden. Der Fischer muss angeln, weil er sich dadurch seinen Lebensunterhalt verdient und weil er keine Alternativen hat; der reiche Unternehmer dagegen kann angeln, er kann aber auch tausenderlei andere Dinge tun. Die Erweiterung des Möglichkeitshorizontes ist somit ein wesentliches Element der ›Verheißung der Beschleunigung‹. Dadurch verändert sich aber unter der Hand auch die Natur des Angelns am Strand. Der Unternehmer ist sich bewusst, dass er zur gleichen Zeit auch vieles andere tun könnte, das er durch das Angeln verpasst: Die Bootstour, die Eröffnung des Golfplatzes, die Fahrt zur nächsten Sehenswürdigkeit … Wird der Unternehmer dadurch in seiner Anglermuße gestört, so kommt er uns eben darin zwar sehr bekannt vor, aber um nichts weniger töricht: Es ist die Angst, etwas zu verpassen, die ihn daran hindert, auf eine Weise »in der Welt zu sein«, in der es der (idealisierte) Fischer ist.

Aber seine Verpassensangst hat nicht nur hedonistische Wurzeln, sie hat auch gute unternehmerische Gründe.

Während er am Strand angelt, entwickelt die Konkurrenz neue, bessere Schiffe, erwirbt erweiterte Angelrechte, macht ihm sein Monopol an der Küste streitig– und ist so immer schon dabei, seinen Ruhesitz am Angelstrand zu untergraben. Zugleich ändern sich die Tarife der Krankenversicherung, der Telefongesellschaft und der Stromversorgung seines Unternehmens sowie seines Privathaushalts, und die Anlagebedingungen, unter denen er seinen Reichtum verwaltet, sind ebenfalls im Fluss. Vielleicht sollte er sich besser um sie kümmern, anstatt zeitvergessen zu angeln – sonst wird er womöglich morgen nicht mehr angeln können. Auch braucht er dringend neue Kleider, denn was er trägt, ist vor zwei Jahren aus der Mode gekommen, und seine Sonnenbrille entspricht nicht den neuesten Strahlenschutznormen, sie ist ungesund. Seine Freunde ziehen ständig um – vielleicht sollte er besser nach Hause fahren und sie anrufen, bevor er ihre Spur ganz verloren hat. Jetzt im Urlaub hätte er ja endlich einmal Zeit dafür. Und seine Frau kommt in letzter Zeit abends immer später nach Hause – womöglich hat sie vor, ihn zu verlassen. Nein, er sollte nicht am Strand sitzen und angeln, während sich die Welt um ihn herum rasant verändert (verdammt, sein Computer ist inzwischen so alt, dass er die neueste Software gar nicht mehr laden kann, mit deren Hilfe er die Adressen verwalten möchte. Es ist zu mühsam geworden, die Anschriften-, Telefon-, Handy-, Fax- und E-Mail-Änderungen dauernd per Hand zu verzeichnen. Das14Adressbuch ist durch das Überschreiben unlesbar geworden und zerfleddert).

Während der Unternehmer also am Strand sitzt und in Muße angeln möchte, hat er das Gefühl, sich auf einem oder genauer noch: mehreren rutschenden Abhängen zu befinden oder auf nach unten fahrenden Rolltreppen – er sollte besser das Rennen aufnehmen, um seine Position zu halten, um auf dem Laufenden zu bleiben. Es ist also nicht nur die ›Verheißung der Beschleunigung‹, die ihn antreibt, das Tempo seines Lebens zu erhöhen, sondern es ist auch die hohe Dynamik seiner technischen, sozialen und kulturellen Umwelt, die in wachsendem Maße komplex und kontingent geworden ist und ihn damit zu dieser Steigerung zwingt. Daran zeigt sich, dass auch die zweite Antwort auf die Fischer-Parabel noch naiv ist: Der reiche Unternehmer kann nicht einfach so angeln, wie der arme Fischer es tun musste: Er kann zwar bewusst eine »Auszeit« nehmen und sich ein paar Tage, selten Wochen, am Strand (ohne Handy- und E-Mail-Verbindung, ohne TV) »gönnen«, aber er zahlt für seinen Aufenthalt in der »Entschleunigungsoase«, in der ihm das, was der Fischer aus Armut tat, als unerhörter Luxus erscheint, einen Preis: Die Welt wird sich verändert haben, wenn er zurückkommt, er muss dann aufholen – oder einen Rückstand hinnehmen. Und dieses Bewusstsein macht deutlich, dass sich nicht nur die soziale Welt zwischen Ausgangs- und Endpunkt der Geschichte verändert hat, sondern auch die Persönlichkeit des angelnden Unternehmers selbst. Er ist am Ende der Entwicklung auf eine andere Weise »in der Zeit« als an ihrem Ausgangspunkt. Er hat eine andere Vorstellung vom Verhältnis von Zukunft, Gegenwart und Vergangenheit: die Zukunftswelt des Unternehmers ist radikal verschieden von seiner Vergangenheit, während der Fischer (ähnlich wie Langmut in der ersten Geschichte) aus der Erfahrung der Vergangenheit weiß, womit er in der Zukunft zu rechnen hat. Erwartungshorizont und Erfahrungsraum sind für ihn weitgehend deckungsgleich, für den Unternehmer aber maximal verschieden. Er hat ein anderes Gefühl für das Verstreichen der Zeit und eine andere Vorstellung vom Wert der Zeit.

Handelt es sich bei unserem Protagonisten um einen Unternehmer herkömmlicher Gestalt (und sein unternehmerisches Kalkül lässt darauf schließen), dann wird er sich in höchstem Maße im Zeitstress befinden. Er wird versuchen, die Kontrolle über sein Leben und sein Unternehmen (und die für ihn relevanten sozialen Verän15derungen) zu behalten und zukünftige Entwicklungen sorgfältig zu planen. Je dynamischer jedoch seine Umwelt wird, je komplexer und kontingenter ihre Ereignisketten und Möglichkeitshorizonte sich gestalten, umso uneinlösbarer wird dieses Vorhaben. Daher wird sich unser Unternehmer womöglich ein weiteres Mal verwandeln: Er wird seinen Kontroll- und Steuerungsanspruch aufgeben und zum »Spieler« werden, der sich von den Ereignissen treiben lässt. Wenn die Konkurrenz meine Schiffe übermorgen wertlos gemacht haben sollte, eröffne ich eben ein Casino oder ich schreibe ein Buch, wandere aus nach Indien, um meinen Guru zu suchen, oder ich beginne ein Studium. Wer weiß. Das muss ich nicht heute entscheiden, das mache ich davon abhängig, wie ich mich übermorgen fühle und welche Chancen sich mir dann bieten. Die Welt ist voller unerwarteter Chancen und Möglichkeiten.

Damit gleicht er in manchem wieder dem Fischer, der ja auch nicht versuchte, die Zukunft planmäßig und langfristig zu verändern. Vielleicht gewinnt er sogar wieder ein Moment von Muße zurück. Aber die Umwelt des Spielers bleibt hoch dynamisch – Erwartungs- und Erfahrungshorizont bleiben getrennt. Deshalb ist der (spätmoderne) Spieler auf eine andere Weise in der Zeit und in der Welt als sowohl der (vormoderne) Fischer als auch der (klassisch-moderne) Unternehmer.

Die Art und Weise unseres In-der-Welt-Seins, so möchte ich in der nun folgenden Untersuchung zeigen, hängt in hohem Maße von den Zeitstrukturen der Gesellschaft ab, in der wir leben. Die Frage danach, wie wir leben möchten, ist gleichbedeutend mit der Frage, wie wir unsere Zeit verbringen wollen, aber die Qualitäten »unserer« Zeit, ihre Horizonte und Strukturen, ihr Tempo und ihre Rhythmen, stehen nicht oder nur zu einem geringen Maße in unserer Verfügung. Zeitstrukturen sind kollektiver Natur, gesellschaftlichen Charakters; sie treten den handelnden Individuen stets in solider Faktizität entgegen. Die Temporalstrukturen der Moderne, so wird sich ergeben, stehen vor allem im Zeichen der Beschleunigung. Die Beschleunigung von Prozessen und Ereignissen ist ein Grundprinzip der modernen Gesellschaft. Wie die beiden erzählten Geschichten deutlich machen, sind die Ursachen und Wirkungsweisen dieses Prinzips jedoch außerordentlich vielfältig und komplex und bisweilen paradox. Die Protagonisten sehen sich tatsächlich nicht einer, sondern drei verschiedenen Arten von Beschleunigung 16gegenüber: Sie haben es zum Ersten mit technischer Beschleunigung zu tun, die sich, wie die Geschichte von Kairos illustriert, abstraktlogisch betrachtet entschleunigend auf das Tempo des Lebens auswirken sollte. Tatsächlich stellt aber die Beschleunigung des Lebenstempos eine zweite, angesichts der technischen Beschleunigung paradoxe Form sozialer Akzeleration dar, die, wie die angestellten Überlegungen zum Dilemma des Unternehmers zeigen, möglicherweise mit einer dritten, analytisch unabhängigen Erscheinungsweise sozialer Beschleunigung zusammenhängt: mit der Beschleunigung der sozialen und kulturellen Veränderungsraten. Das komplexe Zusammenwirken dieser Beschleunigungsformen, so möchte ich darlegen, ist dafür verantwortlich, dass an die Stelle des erträumten utempischen Zeitwohlstands in der sozialen Realität westlicher Gesellschaften ein gravierender und sich verschärfender Zeitnotstand getreten ist; eine Zeitkrise, welche die herkömmlichen Formen und Möglichkeiten individueller wie politischer Gestaltungsfähigkeit in Frage stellt und zu der verbreiteten Wahrnehmung einer gesellschaftlichen Krisenzeit geführt hat, in der sich paradoxerweise das Gefühl ausbreitet, hinter der permanenten dynamischen Umgestaltung sozialer, materialer und kultureller Strukturen in der »Beschleunigungsgesellschaft« verberge sich in Wahrheit ein tief greifender struktureller und kultureller Stillstand, eine fundamentale Erstarrung der Geschichte, in der sich nichts Wesentliches mehr ändere, wie schnell auch immer sich die Oberflächen wandelten. Neue, den veränderten Zeitstrukturen angepasste Identitätsmuster und soziopolitische Arrangements sind dabei durchaus denkbar – sie erfordern aber, so die These dieser Untersuchung, die Preisgabe der tiefsten ethischen und politischen Überzeugungen der Moderne, die Preisgabe des (dann gescheiterten) ›Projekts der Moderne‹.

Das Verfassen einer Habilitationsschrift und dann eines Buchmanuskriptes ist in vielfacher Weise ebenfalls ein Kampf mit der Zeit und gegen die Uhr. Dass ich ihn in, wie ich hoffe, akzeptabler Weise beenden konnte, verdanke ich einer großen Zahl von Freunden, Ratgebern, Diskussionspartnern und Begleitern, die mich über die Jahre hinweg in mannigfacher Weise unterstützt und erheblich zu den Stärken des Buches beigetragen haben – für die verbleibenden Schwächen zeichne ich natürlich alleine verantwortlich. Nennen möchte ich zuerst und zunächst Hans-Joachim Giegel, Klaus Dicke 17und Axel Honneth, die als Gutachter, aber auch weit darüber hinaus als Diskussionspartner und Kritiker aus drei unterschiedlichen disziplinären Perspektiven großen Anteil an der Schärfung meiner Argumentation hatten und mich auf dem Arbeitsweg immer wieder ermutigten und vor Irrtümern bewahrten. Das gilt auch für Herfried Münkler, der mir insbesondere in der Frühphase bei der Konturierung meines Projekts unschätzbare Unterstützung gewährte und in seinem Forschungskolloquium ein wertvolles Diskussionsforum bereitstellte. Dafür gebührt ihm mein besonderer Dank.

Wertvolle Hinweise und Anregungen habe ich von zu vielen Kollegen und Kolleginnen erhalten, als dass ich sie alle nennen könnte. In besonderer Weise verpflichtet bin ich aber der Graduate Faculty der New School University in New York, an der ich aufgrund eines Feodor-Lynen-Forschungsstipendiums, das mir die Alexander von Humboldt-Stiftung großzügigerweise verliehen hat, von September 2001 bis August 2002 (von weltpolitischen Ereignissen abgesehen) ungestört arbeiten konnte. Andrew Arato, Richard Bernstein und Nancy Fraser gebührt mein besonderer Dank. William Scheuerman war mir aufgrund der thematischen Nähe unserer Arbeiten ein außerordentlich wichtiger Gesprächspartner – und ein guter Freund. Das Gleiche gilt für Manfred Garhammer. Von Hanns-Georg Brose, Barbara Adam und Martin Kohli habe ich wichtige professionelle Hilfe erhalten. Danken möchte ich weiterhin meinen Jenaer Kollegen Michael Beetz, Michael Behr, Robin Celikates, Klaus-M. Kodalle, Jörn Lamla, Lutz Niethammer, Mike Sandbothe, Rainer Treptow und insbesondere Ralph Schrader und Andrea Kottmann. Ein unverzichtbarer Ratgeber bei allen professionellen Entscheidungen war mir André Kaiser. Neben der Humboldt-Stiftung möchte ich auch der Körber-Stiftung für ihre Unterstützung meiner Arbeit und die hervorragende Zusammenarbeit danken.

Stefan Amann, Jörn Arnecke, Elisabeth Herrmann, James Ingram, Christian Kraus, Carola Lasch, Paulus Liening, Stephan Zimmermann und Frieder Weis haben mich in freundschaftlichen Gesprächen zu entscheidenden Gedanken inspiriert – manche Einsicht kam mir auch während der endlosen Sonntage mit den Jungs des TC Grafenhausen auf Gegners Tennisplätzen und in der intensiven Diskussion mit den engagierten Teilnehmern der Deutschen Schüler Akademien in Braunschweig von 1998 bis 2003. Heiko Steiniger hat sich als studentische Hilfskraft mit unermüdlichem Einsatz um 18die Literaturbeschaffung verdient gemacht. Frau Ursula May hat das gesamte Manuskript mit beeindruckender Genauigkeit und Urteilsschärfe Korrektur gelesen – dasselbe gilt auch für Bernd Stiegler vom Suhrkamp Verlag; beiden bin ich sehr zu Dank verpflichtet.

Widmen möchte ich das Buch meinen Geschwistern Armin und Christine.

19I. Einleitung

»Was die Gesellschaftstheorie aus Eigenem leisten kann, gleicht der fokussierenden Kraft eines Brennglases. Erst wenn die Sozialwissenschaften keinen Gedanken mehr entfachten, wäre die Zeit der Gesellschaftstheorie abgelaufen.«

Jürgen Habermas (1981, Bd. 2, S. 563)

1. Zeitstrukturen in der Gesellschaft

Die Überzeugung, dass alle Ereignisse, Objekte und Zustände in der sozialen Welt dynamischer oder prozessualer Natur sind und Zeit daher eine Schlüsselkategorie für jede angemessene Analyse darstellt, ist inzwischen nahezu zu einem Gemeinplatz in den Sozialwissenschaften geworden. Allein, es hat den Anschein, als ob ebenjene Wissenschaften mit dieser Erkenntnis bisher nicht allzu viel anzufangen wüssten. Immer wieder wird erstaunt konstatiert, dass sich nahezu alle sozialen Phänomene ›temporal rekonstruieren‹, das heißt unter zeitbezogenen Gesichtspunkten neu beschreiben lassen – von Herrschaftstechniken über Klassenunterschiede, interkulturelle Probleme, sozioökonomische Entwicklungsrückstände, Geschlechterverhältnisse, Wohlfahrtsregime bis hin zu Krankenhaus-, Gefängnis- und Drogenerfahrungen.1 Diese Feststellung bleibt jedoch in aller Regel eigentümlich konsequenzlos. Aus der zeitsoziologischen Neubeschreibung ergibt sich zumeist kein theorie- oder praxisrelevanter Erkenntnisgewinn für die untersuchten Problembereiche, und die getrennt erhobenen Befunde scheinen 20sich auch kaum zu einer systematischen Zeitsoziologie verbinden zu lassen.

So ist es wenig überraschend, dass bis in die späten Achtzigerjahre des letzten Jahrhunderts hinein zeitsoziologische Abhandlungen stets von Neuem mit der geradezu stereotypen Feststellung beginnen, dass erstens Zeit eine Fundamentalkategorie der sozialen Wirklichkeit sei, dass es aber zweitens bis zum Erscheinen der jeweiligen Arbeit keine nennenswerte Zeitsoziologie gebe, was der Autor oder die Autorin daher zu ändern gedenke.2 Dabei wiesen Robert Lauer und Werner Bergmann bereits Anfang der Achtzigerjahre in verdienstvollen und ausführlichen Literaturüberblicken nach, dass es schon damals entgegen dieser hartnäckig sich haltenden Überzeugung geradezu Berge an zeitsoziologischen Untersuchungen gab.3 Gleichwohl lautet auch ihr Verdikt, dass es an einer sorgfältigen und theoretisch wie empirisch gehaltvollen sozialwissenschaftlichen Analyse der Zeit nach wie vor mangele.

Das Hauptproblem der soziologischen Zeitanalyse besteht dabei nach Bergmann darin, dass es ihr an einer fundierten und systematischen Anbindung an die soziologische Theoriebildung fehle. In der Regel lägen sozialwissenschaftlichen Zeitstudien vorwissenschaftliche und willkürlich gewählte, meist lose an philosophische oder anthropologische oder auch alltägliche Begriffe angelehnte Zeitkonzepte zugrunde. Infolgedessen bestehe die zeitsoziologische Literatur aus einer Vielzahl unverbundener, nichtkumulativer und aufgrund des mangelnden Anschlusses an gesellschaftstheoretische Ansätze geradezu ›solipsistischer‹ Studien.4 An diesem Zustand hat sich bis heute nicht viel geändert. Zwar beginnen zeitgenössische Abhandlungen kaum mehr mit der Behauptung, es gäbe bis zum Erscheinen ebendieses Werkes praktisch keine Zeitsoziologie, sondern stattdessen zumeist mit einem oft chronologischen oder nach Subdisziplinen geordneten Überblick über die wichtigsten, unverbundenen, zeitsoziologischen und -philosophischen Untersuchungen, die dann für unverbunden und unbefriedigend erklärt werden, doch folgt dem nur allzu oft eine weitere ›solipsistische‹ Abhandlung, meist mit selektiven An21schlüssen an Autoren oder Thesen, die den je eigenen Argumentationsgang unterstützen.5

Im Ergebnis lassen sich die vorhandenen sozialwissenschaftlichen Untersuchungen zum Thema Zeit daher überwiegend in drei Kategorien fassen: In die erste fällt eine erstaunlich große Zahl von Arbeiten, die letztlich als Überblicksarbeiten versuchen, bisherige zeitsoziologische Überlegungen zu erfassen und (nach den unterschiedlichsten Gesichtspunkten) zu systematisieren. Diese Abhandlungen kulminieren fast immer in der These, dass das untersuchte Material hinreichend belege, wie wichtig und divers Zeitstrukturen in der sozialen Welt seien, weshalb es dringend geboten sei, ihnen mehr Aufmerksamkeit zu widmen.6

Die zweite Kategorie versammelt eine inzwischen proliferierende Zahl an detailreichen Studien über Zeit und Zeitstrukturen in den materialen Einzel- und Subdisziplinen der Sozialwissenschaften. In der überwältigenden Mehrzahl der Fälle lässt sich dabei auch weiterhin beobachten, dass die Analysen auf eher theoriearmem Niveau methodeneklektizistisch unmittelbar den untersuchten Phänomenen zugewandt bleiben und die Zeit meist als selbstevidente Größe behandeln.7

Die dritte Kategorie schließlich umfasst im Gegensatz dazu eine Reihe von theorieorientierten Zeitanalysen, die sich um die systematische Klärung eines sozialwissenschaftlichen oder -philosophischen Zeitkonzeptes bemühen, dabei aber einen so hohen theorieimmanenten Abstraktionsgrad erreichen, dass die Untersuchung empirisch relevanter Phänomene dabei nicht nur völlig aus dem Blick gerät, sondern auch undurchführbar zu werden droht8 – ganz abgesehen davon, dass auch diese theoriegeleiteten Konzeptualisierungsversuche bisher reichlich ›solipsistisch‹ operieren, ohne irgendeine Aussicht auf einen einheitlichen sozialwissenschaftlichen Zeitbegriff zu eröffnen, wie Barbara Adam bemerkt: »None of the 22writers has the same focus. Everyone asks different questions. No two theorists have the same view on what it means to make time central to social theory […] There are no signposts for orientation in this maze of conceptual chaos.«9 Eine systematische Anbindung der Zeitsoziologie an eine empirisch gehaltvolle sozialwissenschaftliche Theoriebildung ist daher – entgegen den Versprechungen von Giddens und Luhmann, Zeit zu einem unverzichtbaren Grundbegriff ihrer Theoriebildung zu machen10 – nach wie vor ein unerfülltes Forschungsdesiderat.

23Der von Adam und anderen gemachte Vorschlag, aus dieser Verlegenheit auf zeitphilosophische Ansätze als einheitliche Grundlage zurückzugreifen, erweist sich bei näherem Hinsehen schnell als ebenso aussichtslos: Die philosophischen Zeitbegriffe, wie sie etwa von Augustinus, Kant, Bergson, McTaggart, Heidegger oder Mead postuliert und in ihrer Nachfolge diskutiert wurden, sind nicht weniger heterogen, inkommensurabel und inkompatibel; die Genannten sind uneins selbst in den elementarsten Fragen nach dem Realitätsgehalt von Zeit oder danach, ob Zeit eine Kategorie der Natur, der Anschauung bzw. des Verstehens oder ein soziales Konstrukt sei.11 Zeitphilosophische Ansätze neigen daher ebenso wie theorieorientierte zeitsoziologische Untersuchungen zumindest in ihrer Zusammenwirkung dazu, Zeit als unergründliches Rätsel erscheinen zu lassen, während die phänomennahen empirischen Analysen Zeit ebenso unbefriedigend in aller Regel einfach als selbstevident nehmen. Das von Tabboni konstatierte Problem, dass Zeitanalysen mit großer Regelmäßigkeit entweder in die »Selbstevidenz-Falle« oder aber in die »Enigma-Falle« gehen,12 scheint daher vorerst unüberwindbar zu sein, und so vermag es kaum zu überraschen, dass das beliebteste Zitat in der Debatte um die Natur der Zeit weiterhin jene prägnante Stelle aus Augustinus’ Bekenntnissen ist, in der dieser sein eigenes Hin- und Herpendeln zwischen diesen beiden Polen konstatiert: »Was ist Zeit? Wenn niemand mich fragt, weiß ich es. Will ich es einem Fragenden erklären, so weiß ich es nicht.«13

Die Konsequenzen aus dieser schwachen Verfassung der Zeitsoziologie sind gravierend nicht nur im Hinblick auf die Schwierigkeiten, diese Subdisziplin im Kanon sozialwissenschaftlicher Fächer zu etablieren, sondern vor allem auch hinsichtlich der Formulierung aktueller Gesellschaftstheorien, Moderneanalysen und Zeitdiagnosen. Aufgrund der niedrigen Generativität bisheriger zeitsoziologischer Erkenntnisse und ihrer geringen Anschlussfähigkeit an systematische sozialwissenschaftliche und sozialphilosophische 24Theorieentwürfe sind diese nämlich geradezu dazu gezwungen, weiterhin unter Ausklammerung der Temporalperspektive zu operieren, sodass Bourdieus Diktum – die sozialtheoretische Praxis sei (allen anders lautenden metatheoretischen Beteuerungen und Bekundungen zum Trotz) so »ent-zeitlicht«, dass sie sogar noch die Idee des von ihr Ausgeschlossenen exkludiere – nach wie vor gültig zu sein scheint.14

Vor diesem Hintergrund versteht sich die vorliegende Arbeit nicht als Beitrag zur Zeitsoziologie als solcher, d. h., sie fragt nicht danach, was Zeit ist, und auch nicht, in welcher Weise Zeit in soziale Praktiken und Strukturen eingeht und wirksam wird. Sie möchte vielmehr einen Beitrag dazu leisten, aktuelle gesellschaftliche Entwicklungen und Problemlagen im Kontext des Modernisierungsprozesses und der Debatte um einen Bruch in diesem Prozess zwischen einer (»klassischen«) Moderne und einer Spät-, Post- oder »Zweiten« Moderne gesellschaftstheoretisch angemessen zu erfassen und ihre politischen und ethischen Konsequenzen systematisch herauszuarbeiten. Als leitende Hypothese dient dabei die Vermutung, dass Modernisierung nicht nur ein vielschichtiger Prozess in der Zeit ist, sondern zuerst und vor allem auch eine strukturell und kulturell höchst bedeutsame Transformation der Temporalstrukturen und -horizonte selbst bezeichnet und dass die Veränderungsrichtung dabei am angemessensten mit dem Begriff der sozialen Beschleunigung zu erfassen ist. Ohne kategoriale und zentrale Berücksichtigung dieser Temporaldimension, so die These, sind die gegenwärtigen Veränderungen in den sozialen Praktiken und Institutionen sowie in den individuellen Selbstverhältnissen in westlichen Gesellschaften sozialtheoretisch nicht einzuholen. Es geht dabei also weder um die Etablierung einer weiteren »Bindestrich«-Soziologie (»Die Soziologie der Beschleunigung«) noch um die Rechtfertigung einer bestehenden (»Zeit-Soziologie«), sondern um eine Rekonzeptualisierung der aktuellen Gesellschaftstheorie. Ich werde dabei auf zeitphilosophische und -soziologische Konzeptionen im Folgenden überall dort zurückgreifen, wo mir dies aus systematischen Gründen angemessen erscheint.

Ein entscheidender Vorteil temporalanalytischer Zugangsweisen zu gesellschaftstheoretischen Fragestellungen besteht darin, dass 25Zeitstrukturen und -horizonte einen, wenn nicht den systematischen Verknüpfungspunkt für Akteurs- und Systemperspektiven darstellen. Soziale Veränderungen lassen sich bekanntlich entweder ›makrosoziologisch‹ als Wandlungen von ›objektiven‹ gesellschaftlichen bzw. systemischen Strukturen analysieren oder aber ›mikrosoziologisch‹, aus der Sicht einer subjektzentrierten Sozialwissenschaft, als Transformation von Handlungslogiken und Selbstverhältnissen untersuchen. Wenngleich die Gesellschaftstheorie seit Parsons in nahezu allen ihren Varianten intensiv danach sucht, diese Struktur/Akteursspaltung zu überwinden, gehört zu den vielleicht rätselhaftesten und am wenigsten verstandenen Problemen der sozialen Welt doch noch immer die Frage, mittels welcher Mechanismen systemisch-strukturelle Logiken bzw. Erfordernisse und Akteursorientierungen einander angeglichen bzw. miteinander vermittelt werden. So ist es etwa unbezweifelbar, dass sozialstrukturelle Modernisierungsprozesse nicht ohne Entsprechung in der Konstruktion subjektiver Selbstverhältnisse bleiben können, dass Identitätswandel und Sozialstrukturwandel durch Modernisierung also notwendig Hand in Hand gehen müssen.15 Weitgehend unklar ist es jedoch, auf welche Weise Akteure in liberalen Gesellschaften, welche das Prinzip individueller ethischer Autonomie nicht nur respektieren, sondern aktiv kultivieren, die aus systemischen Gründen erforderlichen Handlungsorientierungen tatsächlich ausbilden.16 Ein Erfolg versprechender Weg zur Analyse dieser wundersamen Angleichung von System- und Handlungslogiken scheint hier in der Berücksichtigung der Zeitperspektive zu liegen: Zeithorizonte und -strukturen sind konstitutiv für Handlungsorientierungen und Selbstverhältnisse; zugleich entziehen sie sich jedoch der individuellen Verfügung insofern, als Zeit, ungeachtet ihrer sozialen Konstruktion und systemischen Produktion, den Akteuren gleichsam als »naturgegebenes Faktum« gegenübertritt. Weil die solide Fak26tizität der Zeit und ihre nichtsdestotrotz gesellschaftliche Natur daher unauflösbar miteinander verwoben sind, bilden Temporalstrukturen den zentralen Ort für die Koordination und Integration individueller Lebensentwürfe und »systemischer« Erfordernisse und – insofern ethische und politische Fragestellungen sich im Kern darauf beziehen, wie wir unsere Zeit verbringen wollen17 – darüber hinaus auch den Ort, an dem sozialwissenschaftliche Strukturanalysen und ethisch-philosophische Frageperspektiven verknüpft werden können und müssen.

Zeitsoziologische und -ethnologische Untersuchungen liefern hier einen übereinstimmenden Befund, der zwei wesentliche Erkenntnisse enthält: Erstens, nicht nur Zeitmessungen, sondern auch Zeitwahrnehmungen und Zeithorizonte sind in höchstem Maße kulturabhängig und ändern sich mit der Sozialstruktur von Gesellschaften. Systematisch ausformuliert hat dies Otthein Rammstedt, der in einem einflussreichen Aufsatz vier sich in Abhängigkeit von der Gesellschaftsstruktur evolutionär entfaltende Formen des Zeitbewusstseins und der Zeiterfahrung postuliert,18 die mit sehr unterschiedlichen Zeithorizonten einhergehen und daher radikal differente Handlungsorientierungen und Selbstverhältnisse hervorbringen. Einfache, undifferenzierte Gesellschaften verfügen demnach tendenziell über ein ›occasionales‹ Zeitbewusstsein, dessen Zeiterfahrung überwiegend nur zwischen ›Jetzt‹ und ›Nicht-Jetzt‹ differenziert, sodass Vergangenheit und Zukunft als das (mythologisch gefasste) Andere der Gegenwart verschmelzen. Die Behauptung, Menschen hätten immer schon über konkrete Vorstellungen von Vergangenheit und Zukunft verfügt, wird dadurch nachhaltig in Frage gestellt.

In segmentär und frühen ständisch differenzierten Gesellschaften dominiert nach dieser Konzeption dann ein zyklisches Zeitbewusstsein, in dem Zeit als Kreislauf immer wiederkehrender Prozesse und 27Zustände erfahren wird. Die primäre Form der Zeiterfahrung differenziert daher zwischen Vorher und Nachher, Vergangenheit und Zukunft sind darin jedoch strukturgleich: die Erinnerung an die Vergangenheit ist gleichbedeutend mit der Vorhersage der Zukunft, Erfahrungsraum und Erwartungshorizont sind deckungsgleich.19 In extremer Gestalt erscheint diese Zeiterfahrung als die ›ewige Wiederkehr des Gleichen‹ (Nietzsche), in der sich die Erinnerung auch auf die Zukunft erstreckt. Demgegenüber setzt sich in der stärker ausdifferenzierten Gesellschaft der Neuzeit allmählich ein lineares Zeitbewusstsein durch, das den Zeit-Kreis durch eine irreversible Linie aus der Vergangenheit durch die Gegenwart in die Zukunft ersetzt. Hier erst wird die an der Differenz zwischen Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft orientierte Zeiterfahrung dominant, insbesondere dort, wo diese Zukunft im Sinne eines Geschichtstelos als feststehend bzw. geschlossen erscheint (etwa im Christentum oder im Marxismus).20

In der funktional differenzierten Gesellschaft der Hochmoderne schließlich herrscht ein lineares Zeitbewusstsein mit offener Zukunft vor: Die historische Entwicklung wird nicht mehr als auf ein bestimmtes Ziel zulaufend verstanden, ihr Ausgang bleibt ungewiss. Dem entspricht nach Rammstedt die Zeiterfahrung einer kontinuierlichen Bewegung oder Beschleunigung. Natürlich ist diese Typisierung schematisch vereinfachend und daher empirisch fragwürdig. Rammstedt selbst betont, dass sich die vier Formen des Zeitbewusstseins überlagern und keine historisch eindeutig bestimmbare Folge bilden, und die empirische Forschung hat ebendiese Vermutung in vielerlei Hinsicht bestätigt: Zyklische und lineare Zeitvorstellungen etwa existieren in fast allen Kulturen nebeneinander – allerdings in unterschiedlichen Gewichtungen und Ausprägungen.2128Die Kernthese, dass sich Zeiterfahrung und Zeitbewusstsein in Abhängigkeit von Sozialstrukturen und kulturellen Leitbildern wandeln, wird daher durch solche Einwände nicht in Frage gestellt.22

Zweitens, die in einer Gesellschaft vorfindbaren Zeitstrukturen haben zugleich einen kognitiv und normativ verbindlichen Charakter und eine tief wurzelnde, den sozialen Habitus der Individuen bestimmende Verankerung in der Persönlichkeitsstruktur. So betont etwa Norbert Elias einerseits den funktionalen Charakter von Zeitbegriffen, die für ihn vor allem der Koordination und Synchronisation sozialer Prozesse dienen und sich daher in dem Maße entwickeln und verfeinern, wie die wachsende gesellschaftliche Komplexität und die Länge der Interdependenzketten eine genauere zeitliche Planung, Regulierung und Ordnung erforderlich machen, hebt aber andererseits hervor, dass das sozial erzeugte individuelle Zeitbewusstsein als sozialer Habitus und gleichsam »zweite Natur« unhintergehbarer Bestandteil der Persönlichkeitsstruktur sei: »Das Zeiterleben von Menschen, die zu streng zeitregulierten Gesellschaften gehören, ist ein Beispiel von vielen für Persönlichkeitsstrukturen, die nicht weniger zwingend als biologische Eigentümlichkeiten und doch sozial erworben sind.«2329Interessanterweise sieht Elias in dieser Verschränkung systemischer und individualpsychologischer Strukturen selbst bereits eine Erklärung für das (hohe) Tempo des Lebens in modernen Gesellschaften.

Eine der Erscheinungen, die diesen Zusammenhang zwischen der Größe und dem inneren Druck des Interdependenzgeflechts auf der einen, der Seelenlage des Individuums auf der anderen Seite besonders deutlich zeigt, ist das, was wir ›das Tempo‹ unserer Zeit nennen. Dieses ›Tempo‹ ist in der Tat nichts anderes, als ein Ausdruck für die Menge der Verflechtungsketten, die sich in jeder einzelnen gesellschaftlichen Funktion verknoten […]. [D]as Tempo [ist] ein Ausdruck für die Fülle der Handlungen, die voneinander abhängen, für die Länge und Dichte der Ketten, zu denen sich die einzelnen Handlungen zusammenschließen […] und für die Stärke der Wett- oder Ausscheidungskämpfe, die dieses ganze Interdependenzgeflecht in Bewegung halten. […] Die Funktion im Knotenpunkt so vieler Aktionsketten [erfordert] eine ganz genaue Einteilung der Lebenszeit; sie gewöhnt an eine Unterordnung der augenblicklichen Neigungen unter die Notwendigkeiten der weitreichenden Interdependenz; sie trainiert zu einer Ausschaltung aller Schwankungen im Verhalten und zu einem beständigen Selbstzwang.24

Ich werde in den folgenden Kapiteln auf diesen von Elias postulierten Zusammenhang von Gesellschaftsstruktur und Lebenstempo ausführlich eingehen. An dieser Stelle soll nur hervorgehoben werden, dass der auf solche Weise in den Zeitstrukturen der Gesellschaft verkörperte normierende Charakter sich gleichsam hinter dem Rücken der Akteure entfaltet – dergestalt werden ein hoher Grad an sozialer Normierung einerseits und ein niedriger Grad an moralisch-autoritativen Codes bzw. ein Maximum an individueller ethischer Selbstbestimmung andererseits kompatibel.25 Elias’ wie 30Foucaults Untersuchungen legen daher nahe, dass die moderne ›Disziplinargesellschaft‹ ihre disziplinierende und disponierende Kraft ganz wesentlich über die Etablierung und Internalisierung von Zeitstrukturen entfaltet – und in der Tat zeichnen sich die Schlüsselinstitutionen des Disziplinierungsprozesses, die Gefängnisse, Schulen, Kasernen, Krankenhäuser und Werkhallen, wie unzählige Studien inzwischen detailliert belegt haben, vor allem durch ihre strikte zeitliche Regulierung aus.26

Doch der Prozess der Angleichung und Vermittlung systemischer und individueller Zeitperspektiven und -muster – und damit von sozialstrukturellen Erfordernissen und individuellen Dispositionen – ist nicht auf spezifische institutionelle Kontexte begrenzt, sondern vollzieht sich fortwährend in allen Lebens- und Sozialbereichen. Im Anschluss an Peter Ahlheit und Anthony Giddens lässt sich der temporale Vermittlungsprozess aus der Akteursperspektive auf drei Ebenen ansiedeln.27 Danach bilden Akteure stets drei unterschiedliche Zeitperspektiven und -horizonte zugleich aus, deren Verhältnis zueinander sie immer wieder neu reflektieren und in ihren Zeitpraktiken verarbeiten müssen. Zum Ersten haben sie es mit den Zeitstrukturen ihres Alltagslebens zu tun, etwa mit den wiederkehrenden Routinen und Rhythmen von Arbeit und Freizeit, Wachen und Schlafen etc. und mit den damit verbundenen Problemen der Synchronisation, der Geschwindigkeit, der Dauer und der Sequenzierung von Handlungen. (Wie schaffe ich es, meine Arbeit im Büro zu erledigen und meine Tochter rechtzeitig vom Kindergarten abzuholen? Soll ich vor oder nach dem Schwimmen einkaufen gehen?) Inwieweit Zeit auf dieser Ebene zum Problem wird, hängt auch vom Grad der Routinisierung 31und Habitualisierung ab, der in der Spätmoderne wieder abzunehmen scheint. Dennoch hat die Alltagszeit bis heute in hohem Maße einen repetitiven oder zyklischen Charakter und ist, wie Giddens betont, für die Reproduktion sozialer Strukturen konstitutiv.28

Zum Zweiten entwickeln Akteure jedoch stets auch eine zeitliche Perspektive auf ihr Leben als ganzes, indem sie ihre ›Lebenszeit‹ reflektieren. Die Frage, wie wir unsere Zeit verbringen wollen, stellt sich nicht nur hinsichtlich unseres Alltags, sondern auch hinsichtlich unseres Lebens als ganzen, weshalb Giddens für diese Zeitdimension auf Heideggers Begriff des ›Daseins‹ zurückgreift. Auch hier stellen sich Fragen der Synchronisation, der Geschwindigkeit, der Dauer und der Sequenzierung von Ereignissen. (Wie lange will/darf ich studieren? Will/kann ich Kinder kriegen, bevor ich mit dem Studium fertig bin? Will ich wirklich mein ganzes Leben lang Jurist sein? Wann gehe ich in den Ruhestand?)

Zum Dritten schließlich erleben Akteure ihre Alltags- und Lebenszeit auch als eingebettet in die übergreifende Zeit ihrer Epoche, ihrer Generation und ihres Zeitalters (longue durée in der hier Braudel folgenden Diktion Giddens’). ›Unsere Zeit‹ ist daher stets zugleich die Zeit unseres Alltags, unseres Lebens und unserer Epoche, wie deutlich wird, wenn ältere Leute etwa sagen »zu meiner Zeit war das noch anders«, oder »in unserer heutigen Zeit gelten diese Traditionen nicht mehr«, oder wenn von »Goethe und seiner Zeit« die Rede ist.

Diese drei Zeitebenen und die damit verbundenen Zeithorizonte bestimmen in ihrem Zusammenspiel erst das »In-der-Zeit-Sein« eines Akteurs,29 und sie müssen immer wieder von Neuem miteinander in Einklang gebracht werden. Wenn die Alltagspraxis eines 32Studenten etwa darin besteht, erst mittags aufzustehen, dann ins Kaffeehaus und schließlich in den revolutionären Studentenclub zu gehen, drängt sich ihm früher oder später die Frage auf, wie sich dies mit seinem Lebensplan, ausgewiesener Hochschulprofessor zu werden und den Lebensabend wohlsituiert in der Toskana zu verbringen, vereinbaren lässt und ob sich eine derartige Alltagspraxis in »unserer Zeit« überhaupt noch vertreten lässt, wenn man nicht mittel- oder langfristig ökonomisch exkludiert werden will. Ebenso stellt sich die Frage, ob sein Lebensplan überhaupt noch zeitgemäß ist – und ob es überhaupt noch zeitgemäß ist, langfristige Lebenspläne auszubilden.

Genereller formuliert bedeutet dies, dass die Allokation von Zeitressourcen stets von Erwägungen bezüglich aller drei Ebenen abhängt: Wie viel Zeit jemand mit Berufsarbeit, Familie, Freizeitaktivitäten und Körperpflege verbringt, hängt von seinen Alltagsroutinen, von seiner Lebensperspektive und von seiner Einschätzung des »Zeitgemäßen« (bzw. der Erfordernisse der Zeit und der Zukunft) ab. Anhaltende Divergenzen in den Perspektiven zwingen dabei zu Anpassungsstrategien: Entweder wird die Alltagspraxis geändert oder das langfristige Lebensziel neu definiert. (Die Möglichkeit einer strategischen Veränderung der Zeitmuster und -perspektiven der je eigenen Epoche tritt dabei nur in Ausnahmesituationen ins Bewusstsein von Akteuren.) Alle drei Ebenen haben dabei zum Ersten ihre eigenen zeitlichen Muster (Rhythmen, Sequenzen, Geschwindigkeiten, Synchronisationserfordernisse) und Perspektiven (d. h. ihnen eigene Vorstellungen oder Horizonte von Vergangenem, Gegenwärtigem und Zukünftigem und von deren Relevanz für das jeweilige Handeln)30 und sind zum Zweiten in hohem Maße sozialstrukturell bestimmt. Rhythmus, Geschwindigkeit, Dauer 33und Sequenz unserer Aktivitäten und Praktiken werden so gut wie nie von uns als den individuellen Akteuren bestimmt, sondern sind fast immer in den kollektiven Zeitmustern und Synchronisationserfordernissen der Gesellschaft vorgezeichnet (in Öffnungszeiten, Fahr- und Stundenplänen, institutionellen Rhythmen, zeitregulierenden Verträgen, Fristen etc.).31

Die gesellschaftsstrukturelle Konstituierung von Zeitpraktiken lässt sich dabei in besonderem Maße an den Zeitmustern der modernen Gesellschaft illustrieren. Immer wieder wird in kulturkritischen Abhandlungen beklagt und in Handbüchern zum Zeitmanagement als Errungenschaft gefeiert, dass Individuen in westlichen Gesellschaften ihre Zeit rigide planen und sequenzieren, d. h., dass die Dauer von Ereignissen und die Folge von Aktivitäten einem abstrakt festgelegten, den Handlungen selbst externen Zeitplan folgen. Diese Zeitpraxis ist jedoch nicht die Folge individueller Entscheidungen oder Lebensplanungen, sondern ergibt sich nahezu zwangsläufig aus dem Strukturprinzip der funktionalen Differenzierung, nach dem die einzelnen Sozialsphären ihrer je eigenen, auch zeitlichen Logik folgen und die Individuen in die jeweiligen Bereiche Arbeit, Familie, Vereine, Kirchen, Parteien, Behörden etc. nur partiell eingebunden sind. Sie sind daher, wie schon Simmel und Parsons bemerkten und wie Zerubavel detailreich herausarbeitet,32 um den Preis der Exklusion dazu gezwungen, ihr Engagement in den jeweiligen Sozialsphären exakt sequenziert mithilfe von Stunden-, Tages-, Wochen-, Monats- und Jahresplänen zu bestimmen und entsprechend der jeweiligen bereichsspezifischen Muster zu synchronisieren. Die oft konstatierte Dominanz der abstrakten 34Zeit über die ›Ereigniszeit‹ in modernen Gesellschaften, die sich etwa darin offenbart, dass Ereignisse wie eine Diskussionsveranstaltung, ein Seminar oder ein Arbeitstag nicht dann beendet sind, wenn die anstehenden Aufgaben gelöst wurden, sondern wenn ein bestimmter Zeitraum verstrichen ist, ist daher nicht einfach eine kulturelle Besonderheit, sondern eine sozialstrukturelle Notwendigkeit. Ihre als möglich erscheinende Rücknahme in der Gegenwartsgesellschaft zugunsten einer »(Wieder-)Verzeitlichung der Zeit« bedarf daher, wie im vierten Teil dieser Untersuchung zu zeigen sein wird, einer sorgfältigen kulturellen und strukturellen Analyse.

Die kollektive Natur der je konkreten Zeitmuster ergibt sich dabei insbesondere aus dem Synchronisationsbedarf. Wir müssen unser Handeln stets an den komplementären Aktivitäten und Zeitmustern unserer Kooperationspartner orientieren und wenigstens temporäre Synchronisation sicherstellen – was in funktional ausdifferenzierten Gesellschaften unvermeidlich zu einer hohen Anzahl kleiner und größerer Wartezeiten auf der einen Seite und zu entsprechenden Erscheinungen von Zeitdruck auf der anderen Seite führt. Ähnliches gilt für unsere Lebensperspektiven. Wie sich im Verlauf dieser Untersuchung noch deutlich zeigen wird, sind sowohl die Vorstellung eines Lebensplanes als auch dessen idealtypische Dreiteilung in Ausbildungs-, Erwerbs- und Ruhestandsphase bzw. in Kindheit (in der Herkunftsfamilie), Erwachsenenalter (mit eigener Kernfamilie) und Seniorenalter (nach dem Auszug der Kinder) soziokulturelle Konstruktionen, die keinesfalls universelle Gültigkeit beanspruchen können und in der Gegenwartsgesellschaft durchaus Erosionstendenzen aufweisen. Ob, wie und wie weit in die Zukunft geplant wird, hängt in hohem Maße von der Stabilität und Vorhersagbarkeit der sozialen und kulturellen Umwelt ab. Die dritte Zeitebene, die historische Zeit oder ›Epoche‹, schließlich entzieht sich fast völlig individueller Gestaltungsmöglichkeit – hier bleibt den individuellen Akteuren nur die Möglichkeit, sich affirmativ oder oppositionell zu den jeweiligen »Ansprüchen ihrer Zeit« zu verhalten. Die Bedeutung von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft (Zeitperspektive) und die zeitlichen Muster unseres Handelns, die zusammen die Art und Weise unseres »In-der-Zeit-Seins« bestimmen, sind daher stets das komplexe Produkt struktureller und kultureller Verhältnisse und deren nur sekundärer Brechung in der Perspektive des jeweils handelnden Subjekts.

35Die Verknüpfung der drei Zeitebenen in der Perspektive der Akteure folgt dabei stets narrativen Mustern. Es sind kulturelle und individuelle Narrationen, in denen Alltagszeit, biografische Zeit und historische Zeit zueinander in Beziehung gesetzt und wechselseitig kritisiert und gerechtfertigt werden. In solchen narrativen Entwürfen wird zugleich die Gewichtung und Bedeutung von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft und damit auch die Relevanz und Gewichtung von Tradition und Wandel bestimmt. Jede Gegenwart erscheint darin als aus einer Vergangenheit begründet und auf eine Zukunft bezogen. Durch das narrative Inbeziehungsetzen von Alltag, Lebens- und Weltgeschichte werden die kulturellen und institutionellen Formen des Wandels und der Beharrung legitimiert und gegebenenfalls kritisiert, wobei sich die Balance zwischen dynamischen und stabilisierenden Kräften, zwischen Bewegung und Beharrung historisch natürlich wandelt.

Wie Philosophen wie Charles Taylor und Alasdair Maclntyre in jüngster Zeit betont haben, vollzieht sich die Verknüpfung von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft in der je eigenen Lebensgeschichte stets vor dem Hintergrund der »Rahmengeschichte« einer kulturellen Gemeinschaft bzw. einer erzählten »Weltgeschichte«.33 Das Wissen um die Endlichkeit des je individuellen Daseins lässt dabei die Diskrepanz zwischen der begrenzten Lebenszeit und der perspektivisch unbegrenzten Weltzeit34 zu einem narrativen und lebenspraktischen Problem werden. Die Versöhnung dieser Diskrepanz wird in fast allen entwickelten Kulturen durch die Einführung einer vierten Zeitebene, die Konzeption einer Sakralzeit, gelöst.35 Diese »heilige Zeit« überwölbt die lineare Zeit des Lebens und der Geschichte, begründet ihren Anfang und ihr Ende und hebt Le36bens- und Weltgeschichte in einer gemeinsamen höheren, gleichsam »zeitlosen Zeit« auf.

In der christlichen Kultur werden so beispielsweise Lebenszeit und Weltzeit dadurch einander angenähert, dass beide auf ein (als bevorstehend gedachtes) Weltende im Jüngsten Gericht zustreben. Die sakrale Zeit hat dabei im Gegensatz zu der linearen, quantitativen, der diesseitigen Welt und dem Alltag (»Werktag«) zugehörigen profanen Zeit einen zeitlos-zyklischen, qualitativen, einer anderen oder höheren Welt zugehörigen Charakter.36 Sie verbindet sich an außeralltäglichen »nodalen« Punkten, d. h. zu besonderen Zeiten, Ritualen und Festen (im christlichen Kulturkreis etwa an Sonntagen, zu Weihnachten oder zu Ostern), mit der profanen Zeit, indem sie den Alltag gleichsam im Sinne einer »Auszeit« deutlich unterbricht und ihn dadurch in seinem sequenziellen Ablauf auch strukturiert.37

Alltagszeit, Lebenszeit und Weltzeit verbinden sich so mithilfe der Sakralzeit zu einem kultur- und handlungsorientierenden Sinnganzen, in dem kulturelle Muster und strukturelle Notwendigkeiten, systemische Erfordernisse und Akteursperspektiven zur Deckung gebracht werden. Dieser temporale Einklang ist durchaus nicht immer schon gewährleistet, sondern muss in politischen und sozialen Auseinandersetzungen erst hergestellt werden. Dies verdeutlicht, wie sehr die Etablierung und Harmonisierung der drei sozialen Zeitebenen immer auch mit sozialen und politischen Machtfragen verbunden ist. Die Frage, wer über Rhythmus, Dauer, Tempo, Sequenzierung und Synchronisierung von Ereignissen und Aktivitäten bestimmt, bildet eine Kernarena für Interessenskonflikte und Machtkämpfe. Chronopolitik ist daher ein zentraler Bestandteil jeder Form von Herrschaft, wobei, wie vor allem Paul Virilio nicht müde wird zu postulieren und zu illustrieren, im historischen Prozess Herrschaft in aller Regel die Herrschaft des Schnelleren ist.38

37So stehen im Kontext alltäglicher Praktiken Zeitstrategien wie warten lassen, hinhalten, zuvorkommen, verzögern, den Rhythmus verändern, die Dauer variieren etc. oft im Zentrum sozialer Auseinandersetzungen,39 während auf der mittleren Zeitebene der ›Kampf um die Lebenszeit‹, d. h. um Ausbildungs- und Ruhestandszeiten, um Ansprüche auf Urlaub und Feiertage, um Wochenend- und Nachtarbeit, um Fristenregelungen im Fall von Krankheit und Arbeitslosigkeit, oftmals stärker noch als Lohnforderungen die ökonomischen und bisweilen auch politischen Debatten in kapitalistischen Gesellschaften bestimmt.40 Diese Form der Auseinandersetzung greift dabei fließend auf die dritte Ebene der kulturell und politisch bestimmten Epochenzeit über, wie sich leicht am Streit über Sonn- und Feiertage erkennen lässt, der sich historisch auch als Machtkampf zwischen Kirche und Kapital und damit zwischen sakraler und profaner Zeit vollzieht.

Es ist kein Zufall, dass politische Umbrüche sich auch immer wieder als Kämpfe um die Bestimmung des Kalenders manifestieren (wie sich leicht an der Geschichte der Etablierung des Gregorianischen Kalenders zeigen lässt) und dass neue Machthaber ihre Stellung nicht selten durch die Einführung eines neuen Kalenders zu zementieren versuchen – etwa mit der neuen Zeit des Revolutionären Kalenders von 1793 oder in Stalins Bemühungen um eine Kalenderreform.41 Dass beide Reformversuche letztlich scheiterten, verdeutlicht noch einmal eindrucksvoll, wie sehr überlieferte Zeitstrukturen und -perspektiven gleichsam zur »zweiten Natur« der Akteure werden: Die reformierten Kalender erschienen den Akteuren als ›widernatürlich‹, obgleich sie sich – zumindest im Fall des revolutionären Kalenders – explizit um Naturnähe bemühten.42 Der hohe Grad der Internalisierung von Zeitmustern ist auch dafür verantwortlich, dass die temporalen Akteursdispositionen oft nur in einem langwierigen und durchaus gewaltförmigen Umerziehungsprozess neuen strukturellen Bedingungen angepasst werden können, wie E. P. Thompson in seinem gefeierten Beitrag zur temporalen ›Neudisponierung‹ 38der Arbeiter im Prozess der Frühindustrialisierung deutlich gemacht hat.43

Wenn Zeitmuster und -perspektiven somit also den paradigmatischen Ort der Vermittlung von Struktur und Kultur, von System- und Akteursperspektiven und damit auch von systemischen Notwendigkeiten und normativen Erwartungen darstellen, so bedeutet dies zugleich, dass sie einen privilegierten Zugang für die sozialwissenschaftliche Analyse der kulturellen und strukturellen Gesamtformation eines Zeitalters eröffnen. Wer die Gesamtheit eines soziokulturellen Arrangements aus systemischen Notwendigkeiten und kulturellen Orientierungen untersuchen will – wer also etwa versucht, die Natur jenes Struktur- und Deutungskomplexes, den wir die »Moderne« nennen, in seiner Dynamik und Stabilität, in seinen inhärenten Spannungen und Entwicklungstendenzen zu ergründen –, tut gut daran, sich in seiner Arbeit von der Eigenart, Logik und Entwicklung ebenjener Temporalstrukturen leiten zu lassen, weil sich in ihnen wie in einem Brennglas die diesem Arrangement zugrunde liegenden Prinzipien und Tendenzen in ihrem Zusammenspiel zu erkennen geben. Die vorliegende Studie basiert daher auf der Überzeugung, dass adäquate sozialwissenschaftliche Zeitdiagnosen in der Tat Zeit-Diagnosen im Wortsinn sein sollten. Ist es das unübersehbar gewordene Problem der diagnostischen Disziplin, dass sie keinen gemeinsamen Fokus mehr finden kann und daher scheinbar willkürlich einzelne Struktur- oder Kulturerscheinungen herausgreift und zum Ankerpunkt gesamtgesellschaftlicher Diagnosen macht – was zu der verwirrenden Proliferation an aktuellen Bestimmungen der Gesellschaft als Arbeits-, Freizeit-, Erlebnis-, Risiko-, Informations-, Multioptionsgesellschaft sowie allerlei Post-Gesellschaften (die postkonventionelle, -industrielle, -histoire, -moderne, -kapitalistische, -traditionale Gesellschaft) geführt hat44 –, so weist die gleichsam ›doppelte‹ Zeitdiagnose einen Erfolg versprechenden Ausweg aus diesem Dilemma. Dieses Postulat einzulösen, soll Ziel und Aufgabe der vorliegenden Studie sein.

392. Zwei Zeit-Diagnosen der Gegenwart

Das Gefühl, das je eigene Zeitalter sei gleichsam »aus den Fugen geraten«, sodass der kritische Blick des Beobachters an seiner Epoche nahezu unweigerlich die Symptome einer »Krisenzeit« konstatiert, ist ganz gewiss nicht neu, sondern erscheint geradezu als konstitutiv für alle Versuche der Positions- oder Epochenbestimmung in der Kulturgeschichte. Als neue Erfahrung im Horizont der Moderne tritt jedoch, wie Reinhart Koselleck in vielen seiner Arbeiten detailliert herausgearbeitet hat, die Empfindung, ja sogar die explizite Überzeugung hinzu, dass es die Zeit selbst sei, die aus den Fugen geraten ist,45 dass die anhaltende Krisenzeit das Resultat einer Zeitkrise ist.46

Einig sind sich die Beobachter der Moderne dabei in der Diagnose der Art der Zeit-Veränderung, selbst wenn sie sich in der Bewertung durchaus uneins zeigen: Seit etwa 1750 (der von den Herausgebern der Geschichtlichen Grundbegriffe auch als ›Sattelzeit‹ identifizierten Epoche47), also lange vor dem Einsetzen der industriellen und noch vor der Französischen Revolution, erscheinen in sich rasch steigerndem Maße – oft im Zustand der Fassungslosigkeit vorgetragene – Berichte über die Wahrnehmung einer ungeheuren Beschleunigung der Zeit und der Geschichte.48 Dieses Gefühl verstärkt sich durch die Einführung der Eisenbahn noch einmal in besonderer Weise und wird dann im Zuge der industriellen Revolution gleichsam alltagspraktisch »erfahrungsgesättigt«. Im weiteren Geschichtsverlauf der Moderne kommt es, wie ich im nächsten Kapitel zeigen möchte, dann wellenförmig zu immer neuen Diagnosen der Beschleunigung des Tempos (des Lebens, der Welt, der Gesellschaft, der Geschichte – oder eben der Zeit selbst), sodass Peter Conrad in seinem 1999 erschienenen kulturgeschichtlichen Mammutwerk Modern Times, Modern Places kurz und poin40tiert feststellen kann: »Modernity is about the acceleration of time.«49

Die Beschleunigungserfahrung bleibt bestimmend bis in die aktuelle Gegenwart hinein und hinterlässt ihre Spuren in fast allen populären und wissenschaftlichen Zeitdiagnosen. Tatsächlich setzt im Zuge der politischen Revolution von 1989 und der ungefähr zeitgleichen ›digitalen Revolution‹ in den Kommunikationstechnologien angesichts der dadurch ermöglichten und verstärkten Prozesse der globalen Vernetzung ein neuerlicher Beschleunigungsdiskurs ein, den Gundolf S. Freyermuth, stellvertretend für ganze Heerscharen von Essayisten, Feuilletonisten, Politikern und Ökonomen und im vollen Bewusstsein der historischen Karriere der Beschleunigungsdiagnose, im Jahr 2000 folgendermaßen auf den Punkt bringt: »Wir sind Zeitgenossen eines Beschleunigungsschubs, der in der Geschichte der Menschheit einmalig ist – und die Industrialisierung im Nachhinein gemütlich erscheinen lässt.«50 Philosophen wie Stefan Breuer (»Kein Zweifel, die Geschwindigkeit ist die Göttin dieser Tage«)51 und Soziologen wie Fredric Jameson (»Time is today a function of speed, and evidently perceptible only in terms of its rate or velocity as such«)52 bestätigen diese dominierende kulturelle Wahrnehmung dabei aus akademischer Warte.

Die für die Moderne in allen ihren Phasen charakteristische Grunderfahrung, ›alles werde immer schneller‹, alles sei beständig im Fluss und die Zukunft infolgedessen völlig offen und ungewiss und nicht mehr aus Vergangenheit und Gegenwart heraus ableitbar, bestimmt jedoch interessanterweise nur die eine Seite der gegenwärtig vorherrschenden kritischen Zeit-Diagnosen. Daneben tritt paradoxerweise eine zweite, diametral entgegengesetzte soziale Selbstbeobachtung, die, wenngleich bereits etwa von Kojève und Weber 41formuliert und gleichsam als ›Subtext‹ der Neuzeit von Anfang an ko-präsent, erst in der entwickelten Phase der Moderne, verstärkt gegen Ende des 20. Jahrhunderts, Raum greift und die Erfahrungswirklichkeit der breiten Masse der Zeitgenossen zu treffen scheint. Die Rede ist hier von der Erfahrung der ›Kristallisation‹ der kulturellen und strukturellen Formation des eigenen Zeitalters, von ihrer Wahrnehmung als unbewegliches, ›stahlhartes Gehäuse‹, in dem sich nichts Wesentliches mehr verändert und nichts Neues mehr ereignet. In diesem Blick auf die Gegenwartsgesellschaft zeichnet sich die aktuelle Epoche gerade durch das Zuendegehen aller Bewegung aus: Es erschöpfen sich die utopischen Energien, weil alle Möglichkeiten des Geistes und der Ideen als durchgespielt erscheinen, weshalb die Ausbreitung ereignisloser Langeweile droht. Am markantesten findet sich diese These natürlich in den Posthistoire-Diskursen und in Fukuyamas These vom »Ende der Geschichte« formuliert,53 aber sie findet ihre Widerspiegelung auch in der nur noch ex negativo erfolgenden Bestimmung des eigenen Zeitalters als »Nach«- und »End«-Epoche, als »post«-Zeitalter am Ende der Vernunft, des Subjekts, der Werte, der Erziehung, der Erzählungen, der Politik, der Geschichte etc. Diese letzteren Diagnosen eines epochalen Wandels sind historisch neuartig insofern, als sie im Vergleich zu früheren Umbruchsdefinitionen als asymmetrisch bzw. »halbiert« erscheinen: Es handelt sich hier um Beobachtungen eines Epochenumbruchs ohne korrespondierende Vision eines »kulturellen Neustarts«, mithin ohne eine neue sinnhafte Verknüpfung von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft.54

Die beiden so widerspruchsvoll erscheinenden Zeit-Diagnosen der sozialen Beschleunigung und der gesellschaftlichen Erstarrung sind dabei nur auf den ersten Blick konträr. In der einprägsamen Metapher des rasenden Stillstandes, die wir der einfallsreichen Übersetzung von Paul Virilios L’inertie polaire verdanken,55 sind sie sinnfällig zusammengeführt zu einer Posthistoire-Diagnose, in der das Rasen der Ereignisgeschichte das Stillstehen der ideendynamischen und ›tiefenstrukturellen‹ Entwicklung nur dürftig zu überdecken vermag – und letztlich geradezu herbeiführt. Ich werde im nächsten Kapitel deutlich zu machen versuchen, dass die Komplemen42tarität dieser kritischen Zeiterfahrungen nicht nur ein akademisch-weltfremdes Konstrukt ist, sondern in der kulturellen Selbstexpression der Gesellschaft ihre nachdrückliche Widerspiegelung findet.

Die damit umschriebene paradoxale Grundstruktur der Zeit in der Moderne und a fortiori in der Spätmoderne, die Beschleunigungserfahrungen immer wieder in ihr diametrales Gegenteil umschlagen lässt, ist dabei nicht nur auf der Ebene der historischen Zeit, sondern ebenso auf den Ebenen der Lebenszeit und der Alltagszeit beobachtbar. Analog zu der paradoxalen »Doppeldiagnose« der simultanen Beschleunigung des sozialen Wandels und der Erstarrung der sozialen Entwicklung finden sich in der Geschichte der Moderne periodische Klagen über die Erhöhung des Lebenstempos und einen immer hektischer werdenden Gang des Lebens, dem allerlei krank machende Eigenschaften, vor allem in Form von Überreizung und Überforderung zugeschrieben werden,56 die interessanterweise ebenfalls begleitet werden von einem entgegengesetzten ›Subtext‹, in dem die ereignislose Langeweile modernen Lebens beklagt wird – »l’ennui« wird zum Schlagwort just zu einer Zeit, in der die industrielle Revolution »die Geschwindigkeit in allen Bereichen der menschlichen Erfahrung« vervielfachte, wie Peter Conrad bemerkt.57 Damit einher geht die Empfindung, das Leben »verfliege« immer schneller, obwohl sich die durchschnittliche Lebenszeit in westlichen Gesellschaften stetig ausgedehnt hat. Pathologisch wird die Erfahrung der stillstehenden Zeit dabei in der klinischen Depression, von der nicht wenige Psychologen vermu43ten, dass sie eine Reaktion auf nicht erfüllbare Beschleunigungszumutungen darstellt. Depressionserkrankungen scheinen in der Gegenwartsgesellschaft nach vielen Erhebungen im Anstieg begriffen zu sein.58

Die beschleunigte Umwandlung von Verhältnissen, Institutionen und Beziehungen, d. h. die Beschleunigung des sozialen Wandels, stellt die Individuen dabei vor das Problem, ihr Leben langfristig planen zu müssen, um ihm eine gewisse zeitresistente Stabilität zu verleihen, ohne dies angesichts der wachsenden Kontingenz der sozialen Verhältnisse jedoch rational tun zu können. Diese sich in der Spätmoderne zuspitzende Schwierigkeit stellt sich, wie im vierten Teil dieser Arbeit gezeigt werden soll, nicht nur den individuellen Akteuren, sondern auch als gesamtgesellschaftliches und subsystemisches Steuerungs- bzw. Kontingenzbewältigungsproblem – es erweist sich als grundlegendes Problem »unserer Zeit«.

In der Alltagsperspektive moderner Gesellschaften schließlich erscheint, wie jedermann aus eigener Erfahrung weiß, Zeit als grundlegend paradox insofern, als sie in nahezu allen Alltagspraktiken durch den immer raffinierteren Einsatz moderner Technik und organisatorischer Planung in immer größeren Mengen eingespart wird, dabei aber keineswegs ihren Charakter der Knappheit verliert. Ganz im Gegenteil: Je mehr Zeit wir sparen, desto weniger haben wir, lautet die verbreitete, in Michael Endes Momo eindrucksvoll illustrierte Volksweisheit.59 Trotz eines quantitativ hohen Maßes an »Freizeit« im Sinne freier Zeitressourcen, die nicht mit der Verrichtung notwendiger produktiver oder reproduktiver Tätigkeiten verbracht werden müssen, diagnostizieren Sozialwissenschaftler seit Staffan B. Linders einflussreicher Studie The Harried Leisure Class für die Gegenwartsgesellschaft daher eine akute »Zeit-Hungersnot«, 44die sich auf allen drei Zeitebenen manifestiert.60 »At present, American Society is starving – not the starvation of the Somalis or other traditional cultures, who die for lack of food, but for the ultimate scarcity of the postmodern world, time«, schreiben die (im Übrigen strikt empirisch orientierten) Zeitbudgetforscher John P. Robinson und Geoffrey Godbey und fügen hinzu: »Starving for time does not result in death, but rather, as ancient Athenian philosophers observed, in never beginning to live.«61

Ob Beschleunigung per se als eine maligne oder benigne temporale Veränderung beurteilt wird, hängt natürlich von ihren in den Blick genommenen Folgewirkungen ab. Angesichts der grundsätzlichen Begrenztheit menschlicher Lebenszeit ist davon auszugehen, dass die Beschleunigung zielgerichteter Prozesse (das Herstellen von Gütern oder Zuständen, das Zurücklegen von Transportstrecken, die Übermittlung von Informationen) grundsätzlich als wünschenswert wahrgenommen wird. Eine offensichtliche Gefahr besteht dabei jedoch in der potenziellen Desynchronisation von Prozessen, Systemen und Perspektiven infolge einseitiger Beschleunigung. Beschleunigung in einem sozialen Teilbereich bleibt nur dann sozialverträglich, wenn sich entsprechende Temposteigerungen an den strukturellen und kulturellen Schnittstellen ohne Reibungsverluste »übersetzen« lassen.62

In einer wachsenden Zahl von Zeitdiagnosen findet sich jedoch implizit oder explizit die These, dass ebendiese »Übersetzung« und »Resynchronisierung« in vielen gesellschaftlichen Bereichen zunehmend problematisch werde. Versucht man diese Desynchronisa45tionsdiagnosen zu systematisieren, so zeigt sich, dass sie sich auf drei analytisch unterscheidbare Entwicklungen beziehen. Zum ersten ist es, wie bereits deutlich wurde, natürlich jederzeit möglich, dass sich systemisch-institutionalisierte bzw. strukturell erzwungene Zeitmuster und -perspektiven auf der einen Seite und die Zeitmuster und -perspektiven der Akteure auf der anderen Seite auseinander entwickeln bzw. dass es, etwa infolge von Migration oder eines rapiden Systemwandels, zu einem Auseinanderfallen und damit zu einer Desynchronisation dieser beiden Temporalstrukturen kommt. Wie bereits Georg Simmel hellsichtig beobachtete, kann dabei das institutionell und strukturell erzwungene Tempo zu hoch für die handelnden Subjekte sein oder umgekehrt ein aus der Perspektive der Letzteren zu hohes Maß an Starrheit und Trägheit aufweisen.63 Strukturelle Entwicklungen ebenso wie kulturelle Veränderungen können demnach die (endogene) Ursache für eine derartige temporale Entzweiung bilden.64 Der Re-Synchronisationsprozess kann dann zugunsten der einen oder der anderen Seite verlaufen: Entweder übernehmen und internalisieren die Akteure neue zeitliche Orientierungen, wie in dem von E. P. Thompson beschriebenen Prozess, oder es kommt zu einem Systemwandel – wie etwa im Falle der ehemals sozialistischen Staaten Osteuropas –, in dessen Verlauf die zu trägen und inflexiblen Strukturen durch schnellere und beweglichere Arrangements ersetzt werden (bzw. umgekehrt).

Eine diesem Muster entsprechende Zeitdiagnose wird derzeit von vielen Sozialwissenschaftlern vertreten, wenn sie argumentieren, die systemischen Prozesse der modernen Gesellschaft seien zu schnell geworden für die in ihnen lebenden Individuen.65 Der um46