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Die rasante Beschleunigung des sozialen Lebens ist eines der hervorstechenden Merkmale der Gegenwart, wird in den Sozialwissenschaften aber häufig übersehen. Hartmut Rosa hat mit seinen maßgeblichen Untersuchungen diesbezüglich Grundlagenarbeit geleistet. In seinem neuen Essay legt er dar, wie eine kritische Gesellschaftstheorie verfasst sein muss, die den Zusammenhang von Beschleunigung und Entfremdung ernst nimmt. Im Mittelpunkt steht die Frage nach dem guten Leben – und warum es uns heute vielfach nicht gelingt, ein solches zu führen. Immerhin sind durch die Liberalisierung moralischer Normen und sozialer Konventionen die in den westlichen Gesellschaften vorhandenen Freiräume des Einzelnen größer denn je, sich ein eigenes Konzept des guten Lebens zu wählen und zu verwirklichen. Dieser Liberalisierung steht jedoch die scheinbar unaufhaltsame Beschleunigung des sozialen Lebens im Kapitalismus gegenüber. Dieses Regime der Deadlines lässt Lebensentwürfe scheitern und führt zu einem sich immer stärker ausbreitenden Gefühl der Entfremdung. Behutsam und anhand von konkreten Beispielen sucht Rosa nach Formen nichtentfremdeten Lebens. Sein pointierter Essay ist nicht nur eine konzise Einführung in die Theorie der Beschleunigung, sondern eröffnet auch erste Perspektiven, wie wir dem rasenden Stillstand entkommen können.
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Seitenzahl: 159
Hartmut Rosa
Beschleunigung und Entfremdung
Entwurf einer Kritischen Theorie spätmoderner Zeitlichkeit
Aus dem Englischen vonRobin Celikates
Suhrkamp
Titel der Originalausgabe: Alienation and Acceleration. Towards a Critical Theory of Late-Modern Temporality © Hartmut Rosa and NSU Press 2010
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek
Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.
eBook Suhrkamp Verlag Berlin 2013
© dieser Ausgabe Suhrkamp Verlag Berlin 2013
Alle Rechte vorbehalten, insbesondere das der Übersetzung, des öffentlichen Vortrags sowie der Übertragung durch Rundfunk und Fernsehen, auch einzelner Teile.
Kein Teil des Werkes darf in irgendeiner Form (durch Fotografie, Mikrofilm oder andere Verfahren) ohne schriftliche Genehmigung des Verlages reproduziert oder unter Verwendung elektronischer Systeme verarbeitet, vervielfältigt oder verbreitet werden.
eISBN 978-3-518-73159-8
www.suhrkamp.de
Einleitung
TEIL IEine Theorie der sozialen Beschleunigung
1. Was ist soziale Beschleunigung?
2. Die Motoren der sozialen Beschleunigung
3. Was ist soziale Entschleunigung?
4. Warum es Beschleunigung und nicht Entschleunigung gibt
5. Warum ist das wichtig? Beschleunigung und die Transformation unseres »In-der-Welt-Seins«
TEIL IISoziale Beschleunigung und die gegenwärtigen Varianten der Kritischen Theorie
6. Anforderungen an eine Kritische Theorie
7. Beschleunigung und die Kritik der Verständigungsverhältnisse
8. Beschleunigung und die Kritik der Anerkennungsverhältnisse
9. Beschleunigung als neue Form des Totalitarismus
TEIL IIIEntwurf einer Kritischen Theorie der sozialen Beschleunigung
10. Drei Varianten einer Kritik der Zeitverhältnisse
11. Die funktionalistische Kritik: Pathologien der Desynchronisierung
12. Die normative Kritik: Eine ideologiekritische Entlarvung sozialer Normen der Zeitlichkeit
13. Die ethische Kritik I: Das gebrochene Versprechen der Moderne
14. Die ethische Kritik II: Eine Neubestimmung von Entfremdung – Warum soziale Beschleunigung zu Entfremdung führt
Schlußbetrachtung
Literaturverzeichnis
Dieses Buch ist ein kurzer Versuch über das moderne Leben. Es strebt nicht nach vollkommener wissenschaftlicher oder philosophischer Präzision, sondern danach, die »richtige« Art von Fragen zu stellen, die es der Sozialphilosophie und der Soziologie erlauben würden, wieder an die sozialen Erfahrungen der Menschen in unseren spätmodernen Gesellschaften anzuknüpfen. Es gründet in der Überzeugung, daß die Sozialwissenschaften Fragen stellen müssen, die im Leben der Menschen einen Widerhall finden, Studierende mitreißen und empirische Forschungen antreiben. Zudem bin ich überzeugt, daß Soziologen, Philosophinnen und politische Theoretiker heutzutage allzuoft in Debatten und Forschungsprojekte verstrickt sind, die nicht einmal in ihnen selbst irgendwelche Leidenschaften entfachen. Wir ergehen uns einfach im routinierten Problemlösen im Rahmen etablierter Paradigmen im Sinne Thomas Kuhns, mit dem Ergebnis, daß Soziologie und Sozialphilosophie der breiteren Öffentlichkeit nicht mehr viel zu bieten haben. Aus diesem Grund befürchte ich, daß uns die Behauptungen, Hypothesen und Theorien auszugehen drohen, die für unsere spätmoderne Kultur, für Studierende, Künstler und all diejenigen, die am Schicksal und der Zukunft unserer Gesellschaften interessiert sind, sowohl eine Inspiration als auch eine Herausforderung darstellen.
In diesem Buch werde ich daher zu jener Frage zurückkehren, die uns Menschen am wichtigsten ist: der Frage nach dem guten Leben – und der Frage danach, warum wir eigentlich kein gutes Leben haben (denn ich gehe zunächst davon aus, daß unser persönliches und gesellschaftliches Leben unter den gegenwärtigen Bedingungen dringend reformbedürftig ist). Da wir alle wissen, daß eine Antwort auf den ersten Teil dieser Frage so gut wie unmöglich ist, werde ich mit ihrem zweiten Teil beginnen. Tatsächlich bin ich der Auffassung, daß dieser Teil der Frage im Zentrum aller bisherigen Varianten und Generationen der Kritischen Theorie steht. Mit Sicherheit handelt es sich hierbei um Adornos Frage, aber auch Benjamin und Marcuse und in jüngerer Zeit Habermas und Honneth werden von ihr umgetrieben; und sie bewegt den jungen Marx in seinen frühen Pariser Manuskripten. Dieser Essay stellt daher auch den Versuch dar, die Tradition der Kritischen Theorie mit neuem Leben zu füllen. Um die im folgenden zu entwickelnde These ohne Umschweife zu formulieren: Wenn wir die Struktur und Qualität unseres Lebens untersuchen wollen, sollten wir uns seinen Zeitstrukturen zuwenden. Nicht nur lassen sich so gut wie alle Aspekte unseres Lebens aufschlußreich aus einer zeitlichen Perspektive analysieren; darüber hinaus verbinden Zeitstrukturen die Mikro- und Makro-Ebenen der Gesellschaft, da unsere Handlungen und Orientierungen mit den »systemischen Imperativen« moderner kapitalistischer Gesellschaften vermittels zeitlicher Normen, Deadlines und Regeln koordiniert und kompatibel gemacht werden. Daher behaupte ich, daß moderne Gesellschaften durch ein engmaschiges und striktes Zeitregime reguliert, koordiniert und beherrscht werden, das für gewöhnlich nicht in einer ethischen Begrifflichkeit artikuliert wird. Moderne Subjekte können mithin als kaum durch ethische Regeln und Sanktionen eingeschränkt und daher als »frei« verstanden werden, während sie doch durch weitgehend unsichtbare, entpolitisierte, nicht diskutierte, untertheoretisierte und nicht artikulierte Zeitregime rigoros reguliert, beherrscht und unterdrückt werden. Tatsächlich können diese Zeitregime mit Hilfe eines einzigen und vereinheitlichenden Begriffs analysiert werden: der Logik sozialer Beschleunigung. Daher werde ich im ersten Teil dieses Buches die These entwickeln, daß moderne Zeitstrukturen sich auf eine sehr spezifische, vorherbestimmte Weise verändern; sie unterstehen der Herrschaft und Logik eines Beschleunigungsprozesses, der auf kaum wahrnehmbare Weise mit Begriff und Wesen der Moderne verbunden ist. Da ich diese Behauptung an anderer Stelle ausführlich dargelegt habe (Rosa 2005a, 2003; Rosa / Scheuerman 2009), werde ich mich hier auf eine kurze Rekapitulation der Theorie der sozialen Beschleunigung beschränken. Im zweiten Teil werde ich die Auffassung vertreten, daß ein Verständnis und eine kritische Analyse der unser Leben unbemerkt bestimmenden zeitlichen Normen von größter Wichtigkeit ist, und zwar aus der Perspektive nicht nur der ursprünglichen Kritischen Theorie, sondern auch ihrer heute vorherrschenden Varianten. Akzeptieren wir die These, daß unsere Fähigkeit, ein gutes Leben zu leben, durch Verzerrungen der Anerkennungsstrukturen (wie Honneth argumentiert) einerseits und der Kommunikationsverhältnisse (wie Habermas argumentiert) andererseits eingeschränkt wird, dann können wir diese Einschränkungen sehr viel besser verstehen, wenn wir die Zeitlichkeit von Anerkennung und (politischer) Kommunikation berücksichtigen. Aus diesem Grund werde ich zu zeigen versuchen, daß und warum die Kategorie der sozialen Beschleunigung für jede Kritik an spätmodernen Strukturen sowohl der Anerkennung als auch der Kommunikation von höchster Relevanz ist. Mein weitergehendes Ziel ist jedoch die Rehabilitierung eines sehr viel älteren Begriffs der Kritischen Theorie, der von Marx und der frühen Frankfurter Schule entwickelt, dann aber sowohl von Habermas als auch von Honneth aufgegeben worden ist: des Begriffs der Entfremdung. Ich werde die These vertreten, daß soziale Beschleunigung in ihrer gegenwärtigen, »totalitären« Form zu schwerwiegenden und empirisch beobachtbaren Formen der sozialen Entfremdung führt, die als die größten Hindernisse begriffen werden können, die der Verwirklichung einer modernen Konzeption des »guten Lebens« in spätmodernen Gesellschaften entgegenstehen. Daher werde ich im dritten (und wichtigsten) Teil versuchen, das Modell einer »Kritischen Theorie der sozialen Beschleunigung« zu skizzieren, das den Begriff der Entfremdung als wichtiges begriffliches Werkzeug verwendet, aber auch die Begriffe der Ideologie und der falschen Bedürfnisse neuzufassen und wiederzubeleben versucht.
Letztlich kann ich dem ersten Teil der grundlegenden Frage nach dem guten Leben jedoch nicht vollkommen aus dem Weg gehen. Auf was für einen (nichtartikulierten) Begriff des guten Lebens stützt sich die Kritische Theorie der sozialen Beschleunigung? Auf den letzten Seiten dieses Essays werde ich diese Frage sozusagen von ihrer Rückseite her angehen: Da ich »Entfremdung« als Negation des guten Lebens begreife, können wir den ersten Teil der Frage wie folgt reformulieren: Was ist das Andere der Entfremdung? Was ist ein nichtentfremdetes Leben? Die Kritiker des Entfremdungsbegriffs haben seit langem und zu Recht darauf hingewiesen, daß manche Formen der Entfremdung ein unverzichtbarer und sogar wünschenswerter Teil eines jeden menschlichen Lebens sind, so daß eine jede Theorie oder Politik, die darauf zielt, Entfremdung mit ihren Wurzeln auszurotten, regelrecht gefährlich und potentiell totalitär ist. Daher zielen die abschließenden Abschnitte dieses Buches nicht auf die Idee eines vollkommen unentfremdeten Lebens, sondern auf Momente nichtentfremdeter menschlicher Erfahrung. Meine Hoffnung ist, daß uns diese Momente einen neuen Maßstab zur Beurteilung der Lebensqualität an die Hand geben. Sollte sich dies als zu optimistisch erweisen, können wir zumindest darauf hoffen, auf diese Weise die Grundlage für eine Kritische Theorie zu legen, die jene Tendenzen und Strukturen identifiziert, die die Möglichkeit solcher Momente unterminieren.
Den folgenden Personen möchte ich für ihre große und unschätzbare Hilfe bei der Fertigstellung dieses Manuskripts danken: Jens Beljan, Robert Dietrich, Sigrid Engelhardt, Claus Krogholm, Asger Soerensen, André Stiegler, Stephan Langenhan und natürlich insbesondere meinem Freund Robin Celikates für die großartige Übersetzung.
Worum geht es in der Moderne eigentlich? Soziologie und Sozialphilosophie,1 so meine These, können als Reaktionen auf Erfahrungen der Modernisierung verstanden werden. Diese Formen sozialen Denkens entstehen im Zuge der Erfahrungen, die Individuen von den dramatischen Veränderungen in der Welt machen, in der sie leben, insbesondere wenn diese das Gefüge der Gesellschaft und des gesellschaftlichen Lebens selbst betreffen. In der einschlägigen Literatur über die Moderne und die Modernisierung werden diese Veränderungen meist als Prozesse der (wie bei Weber und Habermas), der (funktionalen) (wie in den Theorien Durkheims und Luhmanns), der (wie bei Georg Simmel und heute bei Ulrich Beck) oder der und (wie bei jenen Theoretikern von Marx zu Adorno und Horkheimer, die ihr Augenmerk auf die Steigerung menschlicher Produktivität und den Aufstieg der instrumentellen Vernunft richten) interpretiert und diskutiert. Daher sind all diese Begriffe zum Gegenstand zahlloser Definitionen, Bücher und Debatten geworden.
Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!
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