Bewegung als Lernprinzip für Förderung und Unterricht - Richard Hammer - E-Book

Bewegung als Lernprinzip für Förderung und Unterricht E-Book

Richard Hammer

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Beschreibung

Die in Schulen zu vermittelnden Sachverhalte werden im Wesentlichen bereits vor den Lehr-Lern-Situationen im Unterricht festgelegt. Lernräume und Methoden für selbst entdeckendes Lernen sowie eine reflexive Selbstbegegnung der Lernenden werden dabei eher selten eröffnet. "Bewegung als Lernprinzip" soll Kindern in Grundschulen ermöglichen, den eigenen Körper (wieder) zu entdecken und über seine vielfältigen spürbaren und symbolischen Bewegungsformen das Wissen der Welt zu erschließen. Theoretisch begründet und exemplarisch für die Fächer Deutsch, Mathematik und Sachkunde wird Bewegung als sinnstiftendes und wirksames Medium dargestellt, um Aufgabenformate zu lösen und weiterzuentwickeln. Damit ist die Fähigkeit verbunden, gemeinsam mit Anderen Projekte zu gestalten sowie eigene Potentiale zu entfalten.

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Contents

Cover

Titelei

1 Einleitung

2 Bewegung als Voraussetzung für menschliches Lernen

2.1 Bildung, Lernen und Bewegung

2.1.1 Sich-Bewegen als relevanter Aspekt von Bildung

2.1.2 Empirische Befunde zur Wechselbeziehung von Bewegung, Körperlichkeit und Lernen

2.1.3 Lernbegleitende und lernerschließende Funktionen von Bewegung und Körperlichkeit

2.2 Musterbildungen durch Bewegung, Wahrnehmung und Erleben

2.2.1 Bewegungsmuster als Bausteine des Denkens

2.2.2 Gedächtnisspuren – Bewegung im Kontext der Sinneserschließung

2.3 Kernelemente sinn- und inhaltserschließenden Bewegens

2.4 Erfahrung des eigenen Körpers in Bewegung

3 Der Körper als Fundament des Lernens

3.1 Zur körperlich-leiblichen Fundierung des Lernens

3.2 Körperlichkeit und Embodiment als emotionale und kognitive Aktivierung kindlicher Lernprozesse

3.3 Lesen, Schreiben und Rechnen mit dem ganzen Körper

3.4 Bruner's Theorie zur Wandlung von Darstellungsqualitäten (E-I-S-Prinzip)

3.4.1 Der Prozess Spüren-Wissen-Erkennen im Kontext interaktiver Wahrnehmung

3.4.2 Explizites und implizites Wissen

3.4.3 Implizite Erkenntnis

3.5 Sinnhaftes Handeln in mehrperspektivischen Situationen

3.5.1 Standortgebundenheit und Perspektive

3.5.2 Sinnhaftigkeit und Intentionalität

3.5.3 Dialektik als Denken und Handeln in Prozessen

3.6 Zur Gestaltung von Lernsituationen

4 Theoriegeleitete Praxis für Unterricht und Förderung

4.1 Handeln-Sprechen-Schreiben als didaktisch-methodische Leitlinie für den Schriftspracherwerb im Fachunterricht Deutsch

4.2 Entdecken und Eintauchen in Form und Schriftzeichen

4.3 Bewegungs- und körperorientierte Zugänge für den Mathematikunterricht in der Grundschule

4.3.1 Bedeutung früher Mengen-Zahlen-Kompetenzen für die schulischen Mathematikleistungen

4.3.2 Bildungsstandards für den Mathematikunterricht an den Grundschulen

4.3.3 Körperbezogene Basiskompetenzen für mathematische Operationen

4.4 Pränumerische, geometrische und sachrechnenbezogene Erfahrungen als Grundpfeiler der Numerik in körper- und bewegungsbezogenen Lernprozessen

4.4.1 Numerik als Unterrichts- und Förderthema

4.4.2 Sachaufgaben in der Mathematik

4.5 Gesellschaftliche und naturwissenschaftliche Phänomene, Metaphern und Abstraktionen über Bewegung erfassen (Sachkunde)

4.5.1 Die »Sachen« des Sachkundeunterrichts

4.5.2 Zur Geschichte des Sachunterrichts

4.5.3 Didaktische Dimensionen des Sachunterrichts

4.5.4 Körper- und bewegungsorientierte Gestaltungsmöglichkeiten in »kontextzentrierten« Lernsituationen

4.6 Physik und Naturphänomene als Teil von Sachkunde

4.6.1 Bedeutung der Physik für kindliche Lernprozesse

4.6.2 Zugänge zur Physik durch Lernen in Bewegung

5 Kritischer Rück- und Ausblick: Wirksamkeitsbedingungen für bewegungsorientierte Lern- und Förderprozesse

Literaturverzeichnis

Die Autoren

Richard Hammer, Diplom-Motologe, ist Gymnasiallehrer und Dozent der »deutschen akademie aktionskreis psychomotorik (dakp)«.

Jörg Schröder, Diplom-Motologe, ist freiberuflich tätig, und zwar als Dozent an der Universität Rostock, an der ev. Hochschule in Bochum RWL, an der Universität Köln sowie am Diakonischen Bildungszentrum Schwerin.

Michael Wendler ist Diplom Motologe und arbeitet als Professor für Bewegungspädagogik und Motopädagogik an der ev. Hochschule in Bochum RWL.

Richard Hammer, Jörg Schröder,Michael Wendler

Bewegung als Lernprinzip für Förderung und Unterricht

Verlag W. Kohlhammer

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1. Auflage 2024

Alle Rechte vorbehalten© W. Kohlhammer GmbH, StuttgartGesamtherstellung: W. Kohlhammer GmbH, Stuttgart

Print:ISBN 978-3-17-042377-0

E-Book-Formate:pdf: ISBN 978-3-17-042378-7epub: ISBN 978-3-17-042379-4

1 Einleitung

Die derzeitigen Schulformen sind nach wie vor davon geprägt, Lernen als Resultat von Lehre bzw. Unterricht höher zu schätzen als ein durch Interesse geleitetes, selbst gesteuertes, beiläufiges oder informelles Lernen über eigene Bewegungshandlungen. Es gehört zum Selbstverständnis derzeitiger Lernkultur, dass Räume für selbst entdeckendes Lernen oft gar nicht erst geöffnet werden, weil die Lernzeit ganz der Anhäufung expliziten Wissens gewidmet wird.

Bewegung und Körperlichkeit der Akteur*innen in Unterricht und Förderung in der Grundschule zu integrieren, lässt sich aktuell zwischen Stagnation und vorsichtiger Innovation (Laging 2017, S. 7) verorten. So finden zwar Konzepte wie »Bewegte Schule« (llli 1995), »Bewegter Unterricht« (Köckenberger 2010) oder »Bewegtes Unterrichten« (Laging 2015) vereinzelt vorsichtige Anwendung, sind aber nicht breitenwirksam genug, um vom ständigen Sitzen wegzukommen, um überschüssige Energien abzubauen und/oder bessere Konzentration durch Bewegungspausen zu erlangen.

In vielen Ländern Europas wird das Konzept des bewegten Lernens vorwiegend als Präventionsfaktor für die körperliche Gesundheit verstanden und teilweise umgesetzt. Kognitive Leistungsfähigkeit durch Bewegung (lernerschließend) und mit Bewegung (lernbegleitend) zu verbessern, ist aber meist zweitrangig (Fuchs/Andrä 2020, S. 138). Dieses Prinzip in allen Unterrichtsfächern einzusetzen, ist dementsprechend nicht weit verbreitet. Laut einer Analyse im internationalen Vergleich beschränkt es sich im Wesentlichen auf Mathematik und Sprachunterricht (ebd., S. 125). Hier fehlen ganz offensichtlich Beispiele für die Umsetzung von Bewegung als sinnorientiertes Lernprinzip.

Anliegen der Autoren ist es, mit »Bewegung als Lernprinzip« für Unterricht und Förderung neue Ideen und veränderte Lernräume zu schaffen, die eine reflexive Selbstbegegnung der Lernenden ermöglichen. Mit diesem Buch soll die Relevanz eines derartigen Lernprinzips für alle Bildungs- und Entwicklungsprozesse von Kindern theoretisch untermauert und praktisch dargestellt werden. Zu diesem Zweck gilt es, Lerngegenstände mehrperspektivisch zu entschlüsseln – und zwar in ihrer Wechselwirkung von Bewegung mit kognitiven als auch körperlichen Dimensionen.

Für Unterricht und Förderung bedeutet sinn- und inhaltserschließendes Bewegen, kognitive Inhalte über Bewegung als symbolische Lernhandlung zu ergründen und zu verbinden. Da Erkenntnisprozesse bei Kindern im Grundschulalter noch häufig an konkrete Anschauung gebunden sind, können Sachverhalten über Wahrnehmung und Bewegung Gestalt gegeben werden. Das Gedächtnis ist nicht nur auf Sprache angewiesen (Klemm 2002, S. 4), sondern kann auch aus der Vorstellungskraft über Bewegungshandlungen schöpfen. Körperbewegungen und/oder Körperdarstellungen können zu inneren Resonanzen und Interaktionen anregen und die Vorstellungskraft schärfen, so dass Kinder auch in eigenständiger Sinnhaftigkeit auf verinnerlichte Bewegungsmuster zurückgreifen und Zusammenhänge herstellen können (Krause-Sauerwein 2014, S. 12).

Weiterentwicklung bewegungsorientierten Lernens

Zu diesem Zweck gilt es, Lerngegenstände unter verschiedenen Aspekten zu entschlüsseln – und zwar in ihrer Wechselwirkung mit kognitiven als auch körperlich/leiblichen Dimensionen (▸ Kap. 3.1). So erfasst bewegtes und sinnerschließendes Lernen die jeweilige Gestalt von Lerngegenständen aus unterschiedlichen Perspektiven auf der einen, die jeweilige leibliche Wahrnehmung, eigene Erfahrungen und subjektive Motivation der Lernenden auf der anderen Seite, ebenso wie die wechselseitige Beziehung beider Seiten. Bei sog. »sinn- und inhaltsbezogenen Aneignungshandlungen« wird dabei konsequent auf das lernförderliche E-I-S-Prinzip von Bruner (1974) zurückgegriffen, um Inhalte in den verschiedenen Unterrichtsfächern in den drei Darstellungsebenen (enaktiv – ikonisch – symbolisch) aufzubereiten. So werden beispielsweise für mathematische Erkenntnisse enaktive Repräsentationen durch konkrete oder vorgestellte Handlungen erzeugt (Laufen und Längenabschätzungen). Ikonische Repräsentationen stellen Sachverhalte durch bildliche Formen dar (z. B. im Zeichnen von unterschiedlichen Längenmaßen) und symbolische Repräsentationen umfassen Sprache, Schriftsymbole und andere Zeichensymbole, die z. B. die mathematische Logik beinhalten (Stangl 2022, o. S.).

Inhaltserschließendes Bewegen bedeutet demnach für die Grundschule, kognitive Inhalte über Bewegung und Körperlichkeit als symbolische Lernhandlung zu ergründen. Lernen kann daher nicht allein aus der ergebnisorientierten Perspektive von Lehrenden betrachtet werden, sondern als Prozess, der Lernende mit einbezieht. Denn die jungen Generationen benötigen eine Bildung, die ihnen erlaubt, ihre Zukunft in Gesellschaft mitzugestalten. Dabei kann es nicht um eine (geschlossene) Instruktionspädagogik gehen, sondern um eine (offene) Befähigung zur Krisenbewältigung durch Bildung und Entwürfe neuer Horizonte. Eine nach Humboldt »freiest mögliche Wechselwirkung zwischen Ich und Welt« impliziert methodisch, zeitlich und sozial »ungegängelte« Welterfahrung. Sie verlangt nach Aufgaben, mit denen eine Welt aus Sicht der gesellschaftlichen Subjekte in Ordnung gebracht werden kann (Gruschka 2008, S. 15).

Grundvoraussetzung für diesen Paradigmenwechsel in kindlichen Lernprozessen ist, die vorherrschende Trennung zwischen Körper, Seele und Geist zu überwinden und die Körperthematik als Konzeptbaustein und als Praxis zu integrieren. Damit muss die gängige Auffassung von Bewegung als einer irgendwie gearteten physikalischen Aktivität einer Ortsveränderung in Raum und Zeit (vgl. SGW 2021, o. S.; ÖGP 2020, S. 1) um ein anthropologisches Grundverständnis erweitert werden. Es gilt, Bewegung und Wahrnehmung als eine Erkenntnisform zu begreifen, die im körperlich-leiblichen Vollzug ein Sinnverstehen hervorbringt. »Aus anthropologischer Perspektive sind Bewegungen körperliche Handlungen des Menschen zwischen Subjekt und sozialer materialer Welt, sie sind intentional auf etwas gerichtet und zugleich Aufführungen ihrer selbst; sie sind flüchtig und nur im Vollzug erlebbar« (Laging 2017, S. 13).

Es wird dabei vom Prinzip der Bildung als Selbstbildung und damit von einem aktiven Prozess der Lernenden ausgegangen. Lernen ist demnach mit Bewegungshandlungen verbunden. Es fordert Eigenaktivität und selbsttätiges Handeln von den Lernenden (BeinS 2007, 40 ff.). Das Kind, als lernendes Subjekt wird auch als Akteur der eigenen Bildung und Entwicklung gesehen (LaginG 2009A, S. 4). Lernen ist keine passive Informationsaufnahme, sondern eine aktive Tätigkeit des Lernenden (Gisberts et al. 2008, S. 23).

Zudem vertreten wir Autoren die These, dass jeglicher Könnens- und Wissenserwerb körperlich-praktisch vermittelt ist. Lernen gilt als Erfahrungsprozess, in dem sich Subjekte in sinnerschließenden Situationen selbst bilden, indem sie befähigt werden, auch über Wahrnehmung und Spüren Erkenntnisse zu entwickeln. Sie ermöglichen es Kindern, kompetent in Handlungssituationen »mitzuspielen« und sich auch reflexiv, kritisch oder manchmal auch subversiv zu ihnen zu verhalten, um einen eigenen Lösungsweg zu finden (Alkemeyer/Brümmer 2019, S. 1).

Im zweiten Kapitelteil (▸ Kap. 2) wird die Bedeutung von Bewegungshandeln auf Lern- und Entwicklungsprozesse von Kindern beschrieben. Dabei wird Bewegung als erster und wichtigster Zugriff des Kindes auf die Welt ausgewiesen – ein Zugriff, der ein aktives Wahrnehmen, Erleben, Erfahren und Handeln ermöglicht. Kinder bewegen sich erkundend auf der Suche nach Erkenntnis und Verständigkeit; sie versuchen und wagen sich in neue Bewegungssituationen, muten sich damit freiwillig das Nicht-Gekonnte, das Fremde zu; Kinder ahmen Bewegungen nach, deuten sie neu und entwickeln eigene Bewegungsformen. Bewegung, Körper und spielerische Eigenaktivität werden daher als zentrale Medien des frühkindlichen Lernens angesehen. In zielgerichteten Bewegungshandlungen findet ein impliziter und expliziter Dialog mit Personen und Gegenständen in Situationen statt. Die damit verbundenen Lernprozesse beinhalten kognitive, emotionale und soziale Aspekte des Erfahrens und Denkens.

Im dritten Kapitel (▸ Kap. 3) wird der Körper als Fundament des Lernens – als Ausgangspunkt wie als Gegenstand der Erfahrung – betrachtet. Handeln und Wirken kann der Mensch nur durch seinen Körper. Um einen Gegenstand zu erschließen, erfasst Lernen sowohl seine Form, unterschiedliche Perspektiven als auch die leibliche Wahrnehmung und die Haltung zu ihm, und zwar inklusive seiner Rückwirkung (»indem ich den Gegenstand verändere, verändere ich mich selbst«). Damit kann ein Gegenstand nicht auf ein vom Subjekt unabhängiges und außerhalb von uns existierendes Ding reduziert werden, sondern ist Bestandteil einer mehrperspektivischen und unterschiedlich »aufgeladenen« Lernsituation. »Den eigenen Körper wahr zu nehmen, ihn kennen zu lernen, ihn anzunehmen und ihn angemessen einzusetzen, ist eine wichtige Grundvoraussetzung für alles Lernen – auch für das schulische Lernen« (Beigel 2007, S. 52). Deshalb ist ein Blick auf körperliche Prozesse beim Lernen unabdingbar.

Im vierten Kapitel (▸ Kap. 4) werden Körperlichkeit und weitere Rahmenbedingungen inhaltserschließenden Lernens und das Spiralprinzip von Bruner (1974/2002) mit seinen drei Darstellungsformen auf die Unterrichtsfächer der Grundschule Deutsch, Mathematik und Sachkunde (einschließlich naturwissenschaftlicher Phänomene) angewendet und mit Beispielen zur Praxisgestaltung in Unterricht und Förderung illustriert. Für das Fach Deutsch und den Schriftspracherwerb wird das Konzept Handeln-Sprechen-Schreiben als Leitlinie grafomotorischer Förderung vorgestellt. Anknüpfend an das mathematische Vorwissen von Vorschulkindern werden für das Fach Mathematik exemplarische Zugänge für die Förderung und für den Unterricht in der Grundschule aufgezeigt. Der Weg zu den Naturwissenschaften geht aus von der »intuitiven Physik« und führt durch Erfahrungen in der Natur und in gestalteten Situationen in der Turnhalle zu physikalischem Grundwissen im Bereich der Mechanik. Der multiperspektivische Charakter des Fachs Sachkunde lädt dazu ein, die zu erlernenden Sachverhalte naturwissenschaftlicher oder sozialer Art auch in Bewegung zu erschließen – subjektiv erlebnishaft, symbolisch und/oder in darstellendem Spiel.

Um die großen Herausforderungen unserer Zeit zu bewältigen, bedarf es eines Bildungs- und Schulwesens, das – im doppelten Sinne – aufbricht. Es muss den Lernenden Gelegenheiten bieten, reale Herausforderungen zu meistern, Verantwortung zu übernehmen, mit Risiko und Scheitern umgehen zu lernen (vgl. Schule im Aufbruch 2022). Es bedarf einer Lernkultur, die es ermöglicht, den eigenen Körper (wieder) zu entdecken und auch über seine vielfältigen spürbaren und symbolischen Bewegungsformen das Wissen der Welt zu erschließen, verbunden mit der Fähigkeit, in Gemeinschaft mit anderen Probleme zu lösen sowie die eigenen Potentiale zu entfalten.

Wir wünschen Ihnen viel Vergnügen in der Auseinandersetzung!Richard Hammer, Jörg Schröder und Michael Wendler

2 Bewegung als Voraussetzung für menschliches Lernen

2.1 Bildung, Lernen und Bewegung

In Deutschland haben die Begriffe Bildung und Lernen ihre eigene Tradition. Aber in der aktuellen Diskussion mehren sich die Auffassungen, nicht nur gesellschaftliche und naturwissenschaftliche Sachverhalte, sondern auch Selbstbildungspotentiale als Ausgangspunkt kindlicher Bildungsprozesse anzusehen. Bildung wird verstanden als bewusster, aktiver, reflexiver und handlungsbezogener Prozess der Auseinandersetzung des Menschen mit sich selbst, wie auch mit seiner gegenständlichen, sozialen und kulturellen Umwelt. Dabei bildet sich sein Selbst- und Weltverständnis ebenso heraus wie Sozial- und Handlungskompetenz (Buboltz-Lutz et al. 2010, S. 27). Zentrale Merkmale von Bildung sind Reflexivität und darauf bezogenes Handeln. Bildungspolitiker*innen, die unter Bildung lediglich aktive Aufnahme- und Verarbeitungsprozesse von Informationen verstehen (vgl. KfJS BW 2014, S. 8), wird ein komplexeres Bildungsverständnis ermöglicht. Ein solches setzt Beziehungen voraus, in denen – meist über Sprache – Bilder entstehen und Rückmeldungen über die eigenen Fähigkeiten (z. B. emotionale, kognitive oder soziale) und Fertigkeiten (Klavierspielen, Fußballspielen, Sprechen, Lesen, Schreiben, Rechnen) gesammelt werden (Detes 2015, S. 7). Eine wesentliche Voraussetzung für Bildung ist, dass die Einzelnen darin einen Sinn für eigenes Handeln entdecken (ebd.).

Insofern ist zu unterscheiden zwischen der gesellschaftlichen Funktion des »Gebildet-Werdens« und dem »Gebildet-Sein« als subjektives »Begreifen« in der tätigen Auseinandersetzung mit der Welt. In Abgrenzung zum bisher üblichen Verständnis von Anleitung und Anweisung kristallisiert sich ein neues Bildungsverständnis heraus, das die bisherige Verwissenschaftlichung des Lernstoffs um die subjektive Dimension erweitert (Brandle-Bredensteck 2010, S. 118).

Lernen ist Grundlage für Bildung. Mit Faulstich (2013) wird Lernen »kritisch-pragmatistisch« gefasst, d. h. als praktische Tätigkeit (statt rein mentale Aktivität), als kontextuell gerahmt (statt isoliert) und als sozial (statt nur individuell) (Faulstich 2013, S. 213 f.). Innerhalb dieser Sichtweise beschränkt sich auch Lernen nicht auf die Instrumentalisierung und Reproduktion von Wissen, sondern beinhaltet selbstgesteuerte, emotional motivierende, kreative und kommunikative Prozesse in der aktiven Auseinandersetzung mit der Mitwelt (Voglsinger 2016, S. 42). Dem Vorwissen des Lernenden kommt in dieser Sichtweise entscheidende Bedeutung zu, da neues Wissen stets im Bezug darauf konstruiert wird und die Aktivierung von Vorkenntnissen, ihre Ordnung, Korrektur, Erweiterung, Ausdifferenzierung und Integration im Prozess des Erkenntnisgewinns die entscheidende Rolle spielen (Stangl 2010, o. S.). Durch Lernen werden individuelle Konstrukte aufgebaut, verknüpft, reorganisiert und modifiziert, und zwar stets unter dem Prinzip der aktuellen und zukünftigen Zweckmäßigkeit. Letztere stellt dabei als gesellschaftliche Notwendigkeit einen organischen Bezug zur sozialen Mitwelt her.

Menschlicher Bewegung als Bestandteil von Bildungs- und Lernprozessen wird in unserer Kultur eine untergeordnete Bedeutung beigemessen und damit nachhaltig unterschätzt. Entsprechend wurden Theoriediskurse zur körperlichen Bewegung und leiblichen Erfahrung lange Zeit vernachlässigt, ignoriert oder marginalisiert (Laging 2020, S. 181). Gleichzeitig verweisen Erkenntnisse der pädagogischen Anthropologie schon seit längerer Zeit auf die Bedeutung von Bewegung in Bildungsprozessen. Die Marginalisierung von Bewegung hängt auch damit zusammen, dass sie z. B. in der Motorikforschung lediglich als Wechselwirkung mechanischer Kräfte zwischen Organismus und Umwelt gilt (Meinel 1998, S. 33). Gleichzeitig wird Bewegung und Bewegungsförderung u. a. auf Aktivitäten der Skelettmuskulatur und Zusammenziehen oder Anspannen der Muskeln verengt (Pfeifer et al. 2016, S. 19). Die komplexe Verflechtung von Bewegung, Wahrnehmung, Gefühlen, Erfahrungen, Einsichten und absichtsvoll gestaltete Handlungen geht bei diesem verkürzten Begriffsverständnis verloren.

Aus sport- und bewegungspädagogischer Perspektive bedeutet Bewegung den ersten und wichtigsten Zugriff des Kindes im Vor- und Grundschulalter auf Möglichkeiten der Entwicklung seiner Selbst. Kinder setzen sich mittels ihrer Bewegung mit der Welt auseinander, eignen sich die Welt qua Bewegung an. Indem sie sich bewegen, bilden sie sich. Die Erkenntnis der Weltelemente und ihrer selbst stehen in engem Wechselbezug. Bedingung der Möglichkeit, um Mensch-Welt-Bezügen Bildungsrelevanz zuschreiben zu können, sind Situationen, die eine selbstständige Reflexion des Subjekts herausfordern oder zumindest zulassen (Giese 2014, S. 476).

Bewegung, Körper und spielerische Eigenaktivität werden daher als zentrale Medien des (früh-)‌kindlichen Lernens angesehen. In zielgerichteten Bewegungshandlungen findet ein impliziter und expliziter Dialog mit Personen und Gegenständen in Situationen statt. Die damit verbundenen Lernprozesse beinhalten kognitive, emotionale und soziale Aspekte des Erfahrens und Denkens, die miteinander verbunden werden. Der besondere Bildungsbeitrag von Sich-Bewegen liegt in dessen speziellen Möglichkeiten als »leiblich-sinnliche Wahrnehmungs-‍, Erkenntnis- und Gestaltungsquelle« (Prohl 2010, S. 144). Bereits in frühkindlichen Entwicklungs- und Bildungsprozessen kommt dem Sich-Bewegen eine zentrale Bedeutung zu: als Weltzugang, Entwicklungsbedingung und Persönlichkeitsentwicklung (Krist 2006; Fogel 2011; Gallagher 2012; Prohl 2010, S. 182).

2.1.1 Sich-Bewegen als relevanter Aspekt von Bildung

Vor allem in der Kindheit bilden Bewegungshandlungen die Basis, sich die Welt räumlich-dinglich und in ihren personellen Bezügen zu erschließen (Fischer 2009, S. 58). Als Grundkategorie vermittelt Bewegung soziale und körperliche Erfahrungen. »Über seinen Körper erlebt das Kind seine Fähigkeiten, aber auch seine Grenzen; es lernt sie zu akzeptieren oder sie durch Üben zu erweitern« (Zimmer 2010, S. 76). Im Bewegen erleben Menschen ihre körperliche Existenz und zugleich erschließen sie die Welt durch Bewegung, d. h., das Einwirken auf die Welt findet in der erlebten Körperlichkeit seine Resonanz (Laging 2017, S. 7 f.). Im konkreten Handeln erfahren wir etwas über die soziale und dingliche Welt und über uns selbst. »Unsere Identität gewinnen wir insofern erst im Handeln in der Reflexivität mit der Welt« (Laging 2017, S. 12).

»Bewegung« ist nicht zu verengen auf Fortbewegungsarten und sportlich-physische Betätigungen, sondern schließt auch Tätigkeiten, wie z. B. malen oder ein Instrument spielen, mit ein. Auch Gefühle und körpereigene Prozesse wie Herzschlag und Blutkreislauf können als eine Art »innere« Bewegung gefasst werden. In Abhängigkeit von Lebensbedingungen, Lebensalter und jeweiligen Situationen kommen der Bewegung unterschiedliche Bedeutungen zu. Gerade in der frühen Kindheit ist der explorativ-erkundende Bewegungsaspekt bedeutsam, weil Kinder hier Erfahrungen machen, die ihnen etwas über sich selbst und ihren Körper und über die gegenständliche und personale Beschaffenheit der Umwelt verraten. Bewegung als interaktive Dialogform macht sie zu einem Medium der Förderung von Kommunikation und Integration, von sozialen Kontakten und gesellschaftlicher Eingebundenheit und Partizipation.

Für Kinder stellt Bewegung also einen wesentlichen Zugang zur Welt dar: Durch das Medium Bewegung erwerben sie vielseitige Erfahrungen über sich selbst und die Umwelt und erweitern so ihre Handlungsfähigkeit. Für die Entwicklung von Kindern werden folgende Funktionen der Bewegung differenziert (Zimmer 2004, S. 17 f.; ▸ Abb. 1).

Abb. 1:Übersicht: Funktionen der menschlichen Bewegung

Die Differenzierung der Funktionen von Bewegung ist eine rein analytische Trennung. Mit ein und derselben Tätigkeit können mehrere Funktionen verbunden sein. So kann es z. B. sinnvoll sein, aus Ärger mit seiner Peergruppe einen Waldlauf (adaptive Funktion) zu machen und sich mit anderen Läufern zu messen (komparative Funktion). Diese Erfahrung kann nicht nur etwas im Körper des*der Läufer*in hervorbringen, wie etwa das Wissen um die eigene Leistungsfähigkeit (produktive Funktion), sondern auch Empfindungen wie Lust, Erschöpfung, Energie auslösen (impressive Funktion), die in Bewegung körperlich ausgelebt und verarbeitet werden (expressive Funktion). Bewusstsein und die Kenntnis dieser Funktionen haben Konsequenzen für die Auswahl der Bewegungsangebote im Hinblick auf die Bedürfnisse der Zielgruppe und die Ziele der Förderung (Zimmer 2004, S. 20).

Die jeweilige Bewegung in Bezug auf etwas verleiht dem Subjekt je nach Situation einen individuellen Sinn, ebenso wie die Umwelt/Gesellschaft, die durch die jeweils aktuellen Werte und Normen Rahmen und Bewertung der Bewegung beeinflussen. Das gilt besonders für das Sich-Bewegen von Menschen mit Beeinträchtigungen, bei denen subjektive und gesellschaftliche Lebenswirklichkeit häufig in einem Spannungsfeld liegen.

Nach dem immer noch vorherrschenden kognitionswissenschaftlichen Verständnis ist »Wahrnehmung« ein linear-kausaler Prozess, der von einem ursächlichen Objekt seinen Ausgang nimmt: »Reize« oder »Sinnesdaten« werden weitergeleitet, neuronal verarbeitet und schließlich im Gehirn repräsentiert. Wahrgenommen werden nicht reale Dinge, Menschen oder Vorgänge, sondern nur Bilder, Vorstellungen, Symbole als deren Stellvertreter im Bewusstsein. Subjekt (Innenwelt) und Objekt (Außenwelt) bleiben dabei grundlegend voneinander getrennt. Demgegenüber betrachten interaktive Konzeptionen Wahrnehmung als eine aktive, intentional motivierte Erschließung der Mitwelt. Wahrnehmend steht ein Lebewesen nicht der Welt gegenüber, sondern ist immer schon in ihr tätig und in sie verstrickt. »Wahr-nehmen« kann nur ein Wesen, das sich auch zu bewegen und etwas zu ergreifen vermag. Was ein Lebewesen wahrnimmt, ist so auch abhängig von seiner Bewegung. Und wie es sich bewegt, hängt wiederum auch ab von seinen Wahrnehmungen. So bilden z. B. »grundlegende Raumerfahrungen [...] die Basis für die Entwicklung des Orientierungsvermögens, für die Begriffsbildung und den Umgang mit Zahlen« (Zimmer 2004, S. 12). Verschiedene Raum-Lage-Positionen vermitteln Beziehungen zum eigenen Körper sowie zu Objekten der Umgebung. So geschehen Bewegungen nicht von selbst, sie werden aber auch nicht nur vom Menschen gesteuert. Wirklichkeitsveränderung und Selbstveränderung werden als tätig vermittelte Einheit begriffen.

Der Blick auf diese Einheit ist daher grundlegend für Unterricht und Förderung und so scheint der Blick auf leibliche Resonanzböden für schulische Lern- und Bildungsprozesse aus zwei Gründen dringend geboten zu sein:

1.

Zum einen droht den Schulen durch Bildungsstandards eine noch stärkere Abkehr von leibhaftigen Erfahrungen und

2.

zum anderen kann eine stärkere Bewegungsorientierung Bildungs- und Lernprozesse nachhaltig fördern (Laging 2017, S. 24).

Sinnlich-leibliche Erfahrungen entstehen etwa dann, wenn Kinder sich z. B. tastend mit Formen, Zahlen oder Buchstaben auseinandersetzen und diese dann in Bilderbüchern oder Geschichten wiederentdecken. Die sinnliche Auseinandersetzung erzeugt leibliche Resonanz und Sinn für das eigene Handeln. Durch diese sinnlich-ästhetische Erkenntnisweise bringt das Kind sich selbst und sein Wissen auf der Grundlage vorgängiger Erfahrungen hervor, die über Bewegen und Wahrnehmen im leiblichen Resonanzraum verortet sind und dort leiblich reflektiert werden. Erst die Bewusstwerdung eines solchen leiblichen Welterfassens macht die ästhetische Erkenntnis einer bewussten und sprachlichen Kommunikation zugänglich und ist als eigene Erkenntnismöglichkeit unterhalb der Schwelle des diskursiven Denkens einzuordnen (ebd., S. 24 f.).

Lernen beginnt dort, wo das Vertraute seinen Dienst versagt und das Neue noch nicht zur Verfügung steht. Lernen als Erfahrung ist nicht allein Medium kontrollierter Verhaltensänderungen. Erfahrung lässt sich weder an- noch abschalten. Für die Initiierung und Begleitung von Lernprozessen ist es unabdingbar zu fragen, wann und warum Menschen lernen. Diese Fragen sind von Bedeutung für jegliche Lernbemühung und -anstrengung und ebenso für die Problematik, ob und wie es ein Lehren geben kann, welches das Lernen fördert – eine Vermittlung im doppelten Sinn: die Art und Weise, wie sich mit und ohne Unterstützung anderer das zu Lernende angeeignet wird (vgl. Faulstich/Grotlüschen 2006, S. 56). Bei Schwierigkeiten oder Hindernissen, d. h. bei Erfahrung in einer auch widerständigen Welt, kann Routine des Handelns zum Problem werden, das Um-Lernen notwendig macht.

2.1.2 Empirische Befunde zur Wechselbeziehung von Bewegung, Körperlichkeit und Lernen

Zahlreiche Studien belegen die Zusammenhänge von Bewegung und Lernen. Sie zeigen, dass spezifische Bewegungsaktivitäten die Lernfähigkeit beeinflussen können. So wirken sich sehr unterschiedliche schul- und unterrichtsinterne bewegungsorientierte Angebote positiv auf (Lern-)‌Verhalten und Lernvoraussetzungen bzw. kognitive Leistungsfähigkeit der Schüler*innen aus (Beudels 2013, S. 73 ff.). In ihrer Untersuchung der Aufmerksamkeitsleistung von Kindern dreier Schulklassen zeigen Dordel und Breithecker, dass im Verlauf des Schulvormittags zwischen den Kindern, deren Schulalltag eher bewegungsaktiv ablief, und jenen, die am herkömmlichen Unterricht teilnahmen, z. T. hochsignifikante Unterschiede zu beobachten sind (Dordel/Breithecker 2003, S. 77). Signifikante Korrelationen zwischen Konzentrationsleistungen und Körperkoordinationen ergaben sich auch in einer Studie von Graf et al. (2003) bei 668 Grundschüler*innen. Ebenso belegt sind auch langfristige Effekte von Sport und Bewegung auf das schulische Leistungsniveau. Castelli et al. (2007) konnten bei Dritt- und Fünftklässlern einen positiven Zusammenhang zwischen allgemeiner Fitness und Erfolgen in Rechnen und Lesen nachweisen. Schneider und Guardiera (2011, S. 318 f.) beobachteten, dass schon nach einer moderaten, aber regelmäßigen Aktivität von 15 Minuten auf dem Fahrradergometer klare hirnphysiologische Veränderungen im sensorischen Kortex und in temporalen Arealen stattfinden, die der Sprache zugeordnet werden.

Körperliche Aktivität ist generell verbunden mit erhöhten Konzentrationsleistungen (Hillmann et al. 2009) und mit schulischer Leistungsfähigkeit (Coe et al. 2006). Nach Teuchert-Noodt (2000) führen Lernen und Bewegung zur Veränderung neuronaler Strukturen: Bei Lernprozessen werden in den Strukturen des Gehirns Informationen erzeugt, weil durch die Ausschüttung von Neurotransmittern neue synaptische Verbindungen entstehen. Sie sind bei wiederholter Beanspruchung besser eingerichtet und werden auf Dauer gestärkt (ebd., S. 49 ff.). Forschungsarbeiten von Assaf und Johannsen-Berg (2015, zit. in Fields 2021, S. 68) belegen zudem eine aktivitätsabhängige Zunahme der Myelinschichten (weiße Substanz um die Nervenfaserbündel), welche die Leitungsgeschwindigkeit um das 50- bis 100-fache erhöht.

Bewegung unterstützt Lernprozesse in mehrfacher Hinsicht: Sie führt zu einem besseren Adaptationsniveau im zentralen Nervensystem, stärkt die synaptischen Verbindungen, führt zur verbesserten Durchblutung des Gehirns und regt Prozesse der Erhaltung und Neubildung der neuronalen Netze an (Hollmann 2004, S. 7 f.). Bewegungsaktivierung in Lernprozessen kann demnach eine lernbegleitende und eine lernerschließende Funktion haben (Janzen 2021, S. 31).

Die durchgeführten Metaanalysen kommen trotz unterschiedlicher Fokussierung auf sportliche und/oder motorische Aktivitäten zum Ergebnis, dass positive Zusammenhänge zwischen körperlich-sportlicher Aktivität und kognitiven Leistungen anzunehmen sind. Auch wenn die Ergebnisse verschiedener Studien sehr unterschiedlich sind, gilt unbestritten, dass Bewegung in den frühen Jahren in einem strukturell engen und unlösbaren Zusammenhang mit Lernen steht (Beudels 2016, S. 54).

Weiterführende Studien zum verkörperten Lernen

Der Zusammenhang zwischen Bewegung und Lernen wird im deutschsprachigen Diskurs erst (wieder) in jüngerer Vergangenheit thematisiert. Die Welt zu erfahren und zu erkennen, wird über einen direkten körperlichen Umgang mit den Dingen und problemlösendes Lernen unter Zuhilfenahme des eigenen Körpers als Wahrnehmungsprozess oder sprachliche Symbolisierung möglich. Gleichwohl wurde die inhärente Verknüpfung von Wahrnehmung und Bewegung sowie Denken und Sprechen schon von v. Uexkülls Funktionskreis (1973) und von v. Weizäckers Gestaltkreis (1986) vorweggenommen (Fuchs 2012, S. 18). Wissenschaftliche Impulse kommen vor allem aus der neueren Hirnforschung und insbesondere aus der Neurodidaktik, die von einer dynamischen Einheit zwischen Körper, Gehirn und Geist ausgeht (vgl. Arnold 2009, S. 194).

Eine Studie des Max-Planck-Instituts für Kognitions- und Neurowissenschaften in Leipzig bestätigt, dass Gesten das Lernen von (fremder) Sprache erleichtern kann, weil Bewegungen im Gehirn ein komplexes Netzwerk aktivieren, das, im Gegensatz zum audiovisuellen Lernen, Wörter nachhaltiger im Gedächtnis verankert (Macedonia 2013, S. 35). Besonders hilfreich für das Behalten sind Körperbewegungen, die den Wortinhalt abbilden (z. B. Zähne putzen) (ebd.). Abbildung 2 (▸ Abb. 2) verdeutlicht, dass im Falle gleichzeitiger Bewegungsausführungen Neurone in den für Sprache zuständigen Hirnbereichen ebenso wie in motorischen Kortexarealen sowie im Kleinhirn im Falle gleichzeitiger Bewegungsausführung »feuern«. Darüber hinaus zeigt sich eine vermehrte Aktivität im Parietialkortex, der Reize verschiedener Sinnesmodalitäten miteinander verknüpft (ebd., S. 34).

Es wird sichtbar, dass auch Hirnbereiche im Bewegungshandeln aktiviert werden, die nicht direkt für Sprache zuständig sind, wie etwa das Kleinhirn, somatosensorische Kortexareale oder Körpererkennungsareale.

Abb. 2:Vergleich zwischen bewegungsunterstütztem und audiovisuellem Lernen von Wörtern und deren Bildung von Netzwerken im Gehirn

Auch das Erlernen von Fremdsprachen profitiert von begleitenden Bewegungen und Gesten. In einem Vergleich zwischen Kontroll- und Experimentalgruppe wurden Schüler*innen unbekannte Lateinvokabeln über einen Zeitraum von 13 Wochen nach »traditioneller« und nach bewegungsbegleitender Lernmethode angeboten. Für »Xystus« (der Blumengarten) wandern bei der Experimentalgruppe die Arme langsam von unten nach oben, wobei sich die Hände öffnen wie ein Blumenkelch. Dazu wird das Wort Xystus leise und gefühlvoll gesprochen. Jedem zu lernenden Wort wird ähnlich des o. g. Beispiels eine Bewegung zugeordnet. Alle Schüler*innen lernten 20 ihnen bis dahin unbekannte lateinische Vokabeln in jeweils zwei Unterrichtsstunden. In den nachfolgenden sechs Wochen wurden die Vokabeln fünfmal jeweils fünf Minuten lang wiederholt, je nach Gruppe entweder bewegungsbegleitend und szenisch oder traditionell. Nach 13 Wochen erinnerten sich die Schüler*innen der Kontrollgruppe noch an 3,5 der 20 Vokabeln. Die Schüler*innen der Gruppe, die ihre Vokabeln mit szenischen Bewegungen und Gesten lernten, wussten noch durchschnittlich 16 von 20 Vokabeln (▸ Abb. 3).

Abb. 3:Unterschied zwischen behaltenen Vokabeln der Experimental- und Kontrollgruppe (Daten aus: Städtler et al. 2020, S. 95)

Die Studie zeigt die große Überlegenheit von Wortschatzarbeit, die mit Körperlernen verbunden ist. Eine Schülerin fasste ihren Lernerfolg so zusammen: »Wenn man's alleine macht, ist's sehr aufwendig. Aber für die Wörter, für die man's lernt, da nützt es dann auch was. Weil: Diese Wörter vergisst man nicht mehr« (Städtler et al. 2020, S. 95).

Auch Ionescu und Glava (2015) konnten in einer Studie mit vier- und fünfjährigen Kindern aufzeigen, dass sie mehr neue Wörter lernen, wenn Pädagog*innen sie neben dem Hören zusätzlich visuell, taktil und motorisch am Lerngeschehen beteiligen. Das spricht einerseits für die Rolle, die die sensorisch-motorischen Systeme für das Sprachenlernen haben, andererseits haben Laut- und Gestenkommunikationen und das Zuordnen sprachlicher Symbole für Lernprozesse gleichsam eine hohe Bedeutung. Arbeiten des Psycholinguisten Mc Neill (zit. in Wachsmuth 2006) konnten eindrucksvoll aufzeigen, dass Kinder schon mit 16 Monaten über ein Wort-Gesten-Repertoire verfügen, bevor sie sich artikulieren können. Zunächst als »vorsprachliche« Zeigegesten von Kleinkindern (da, Wauwau, haben) halten sich Gesten lebenslang, um Abstraktes und Metaphorisches mit Armen und Händen zu verkörpern (Wachsmuth 2006, S. 43 f.). Goldin-Meadow (2003) versteht das Gestikulieren als Teil kognitiver Tätigkeit, die von den Händen permanent begleitet und unterstützt werden (Fingerhut et al. 2013, S. 18). Von Mc Neill werden Gesten als »Fenster des Denkens« bezeichnet (ebd.) und so wächst zunehmend die Überzeugung, dass sensomotorische »begleitende Verkörperungen«, wie z. B. Rechnen mit den Fingern, kein Anzeichen für eine Minderbegabung sind, sondern eine Schlüsselfunktion zur Durchdringung und zum Verstehen komplexer Sachverhalte einnehmen, wie z. B. Mathematik zu verstehen (Bohler 2016, S. 3). »We ›see‹ a representation of fingers in our brains when we calculate« (ebd.). In ihrem kürzlich erschienenen Forschungsbericht gehen Bohler und Mitarbeiter*innen davon aus, dass der mathematische Zahlenstrahl als inneres Bild abgelegt ist und dass sich Schüler*innen aufgrund ihrer Erfahrungen mit ihrer eigenen Umwelt (links – rechts; nah – fern; mehr – weniger etc.) (inner-)‌räumlich daran orientieren (Bohler et al. 2016, S. 2 f.).

Den Einfluss körperlicher Aktivität auf mathematische Lernprozesse konnten auch Golden-Meadow et al. (2009, in: Janssen/Richter 2016, S. 224) nachweisen, indem sie Grundschulkinder zufällig auf drei Gruppen mit folgenden Aufgaben verteilten: Lösung einer Rechenaufgabe ohne weitere Instruktion, unter Nutzung der Hände und unter Nicht-Nutzung der Hände, wobei die Hände nicht auf das richtige Ergebnis hinwiesen. Die Ergebnisse zeigen, dass die Kinder, die lernen, die Gesten richtig einzusetzen, eine höhere Anzahl mathematischer Probleme korrekt lösen konnten im Vergleich zu den Kindern, die Gesten nur teilweise richtig einsetzten, und jenen, die gar keine Gesten benutzten (ebd.). Die positiven Effekte körperlicher Aktivität in Lernprozessen kamen aber auch dadurch zustande, dass die Kinder der Gestengruppe sich stets den Zusammenhang verbal bewusst machten (ebd.).

Basisnumerische Fähigkeiten (Schätzen und Vergleichen von Mengen) konnten in einer auf die Theorie des verkörperten Wissens bezugnehmende Studie bei 49 Zweitklässlern signifikant verbessert werden, wenn sie an die Aufgaben aktiv mit ihrem Körper und mit räumlicher Orientierung (links – rechts, weniger – mehr, höher – niedriger) durch das Abtreten der Zahlenwerte auf einer Zahlenmatte herangeführt wurden (Link et al. 2014). Eine Verbesserung stellte sich jedoch nur dann ein, wenn das numerische »Training« mit integrierter räumlich-körperlicher Bewegung stattfand, welche die unterschiedliche Gewichtung der Zehner-Einer-Struktur körperlich erfahrbar macht. Die Ergebnisse dieser Untersuchung unter Experimentalbedingungen verdeutlichen, dass für die beobachtete Verbesserung der Genauigkeit des mentalen Zahlenstrahls nicht nur der numerische Inhalt der Aufgabe eine Rolle spielt, sondern besonders die körperliche Aktivität und Erfahrung der Unterscheidung von Einern und Zehnern lernfördernd wirkt (ebd., S. 274).

2.1.3 Lernbegleitende und lernerschließende Funktionen von Bewegung und Körperlichkeit

Die unterschiedlichen Untersuchungen zeigen die besondere lernerschließende Funktion von Bewegung und Körperlichkeit, weil sie die Aufgabe unmittelbar mit Bewegungsaktivitäten verbindet. Eine eher lernbegleitende Funktion erfolgt durch allgemeine Bewegungsaktivierung. Im Unterricht und in der Förderung sind diese beiden Funktionen aber nicht immer voneinander abzugrenzen, sondern gehen ineinander über (Laging 2015, S. 2). Das nachfolgende Schaubild (▸ Abb. 4) zeigt in einer analytischen Betrachtung das Zusammenspiel von Bewegung, Körperlichkeit und Lernen und was sich noch weiter ausdifferenzieren lässt.

Abb. 4:Lernbegleitende und lernerschließende Funktion von Bewegung (nach Laging 2015, S. 2)

Bewegte Lernorganisation meint die grundsätzliche oder zeitweise Auflösung des gemeinsamen, für alle gleich geltenden Unterrichts und führt andere Arbeitsformen ein. Die erfordern ein differenziertes Arbeiten an unterschiedlichen Aufgaben mit verschiedenartigen Arbeitsmaterialien an vielfältigen Orten und in wechselnden Gruppierungen. Sie ist immer Bewegung verbunden, weil der Arbeitsplatz gewechselt wird, Materialien geholt, neue Lernorte aufgesucht oder neue Gruppen zusammengesetzt werden. Anstatt den Klassenraum nur als reinen Sitzraum zum Zuhören zu verwenden, sind Lernlandschaften und Lernstationen erforderlich, die helfen, das jeweilige Thema aufzuschließen (ebd., S. 3).

Bewegungspausen ermöglichen eine kurze Abkehr von der Erschließung eines Themas. Das Aufstehen und Herumgehen sind ebenso möglich wie eine Fußmassage mit Noppenbällen oder das Entspannen durch Ausstreichen oder Abklopfen des ganzen Körpers (ebd., S. 4).

Lernen in Bewegung wird machbar, indem Lernsituationen nicht nur im Klassenraum, in der Turnhalle oder im Außengelände stattfinden. So können beispielsweise an der Wand im ganzen Klassenraum Zettel mit Aufgaben (alle auf rotem Papier) und deren Lösungen (alle auf blauem Papier) positioniert werden. Die Schüler*innen müssen die Aufgaben und Lösungen einander zuordnen. Im Fach Deutsch können verschiedene Bilder oder Textbruchstücke im Raum verteilt werden. Die Schüler*innen gehen herum, suchen eine logische Reihenfolge und malen oder schreiben einen Text an ihrem Platz zusammen (sie müssen sich den Inhalt also auf dem Weg einprägen und sollen nicht direkt an der Wand abschreiben) (Laging 2015, S. 5 f.).

Beim sinn- und inhaltserschließenden Lernen sind die Lernenden aktive Forscher*innen ihrer Weltaneignung. Diese konstruktivistische Sicht berücksichtigt die grundlegende Bedeutung von emotionalen, sozialen und körperlichen Prozessen beim Lernen (▸ Kap. 3). Sinn- und inhaltserschließendes Lernen in Bewegung ist dadurch immer subjektiv bedeutsam, allerdings müssen aus Sicht der Schüler*innen Anlässe so gestaltet sein, dass sich Bewegungshandlungen darauf beziehen lassen. Der Prozess, wie ein*e Schüler*in zu einem Ergebnis kommt, muss subjektiv erlebt und reflektiert werden können, wobei der*die Lehrer*in Anregungen geben kann.

Gleichzeitig steht der sich bewegende und lernende Mensch in enger Verbindung mit der ihm umgebenden gegenständlichen und sozialen Mitwelt, von Eindruck und Ausdruck, von der eigenen Wirkung auf die Welt und der Rückwirkung auf das Selbst, mit produktiven und explorativen Momenten und dem Spannungsverhältnis von Gewinnchance und Verlustrisiko (Krause-Sauerwein 2014, S. 132). Um die eigenen und aktuellen Handlungskompetenzen zu erweitern, muss beim Lernen das Gekonnte überschritten werden, so das, was vorher selbst geplant und kreiert wurde, als auch das, was im Prozess entsteht. Dazu ist ein gedanklicher Entwurf – ein Bewegungsentwurf – nötig, der eine Projektion des Selbst, der ganzen Person in einen unbekannten Raum hinein ist. Dieser Entwurf ist immer auch Selbstentwurf, der über das Selbst und die aktuellen Handlungskompetenzen hinausgreift, worin die Chance des Erfahrungsgewinns, aber auch die Möglichkeit zu scheitern, liegt (ebd.). Lernprozesse basieren damit nicht nur auf projektiven Selbstentwürfen. Die Erfahrungen sind Rückwirkungen des aktiven Handelns und verknüpfen neue Erfahrungen mit alten. In Verbindung mit dem inneren Sprechen in der Anwendung der Selbstentwürfe und der Verbindung mit der gegenständlichen und sozialen Welt hat das hier favorisierte Lernen immer einen dialogischen Charakter.

Bevor ein Kind über Bewegung ein Weltbild entwerfen kann, braucht es präreflexive Erkenntnisfähigkeiten, die bereits in seinem Körper, in seinem Wahrnehmen und Handeln vorhanden sind, noch bevor es beginnt, in einem strengeren Sinn zu denken (Schäfer 2003, S. 76 f.). Diese Art einer impliziten, präreflexiven Erkenntnistätigkeit versteht sich so, dass das Kind Verarbeitungsmuster, praktische Handlungsmuster, Möglichkeiten der Sinnstrukturierung und Sinngebungen benötigt. Damit kommt es in seiner Umwelt zurecht, kann aktiver sein und an Tätigkeiten, die um es herum oder die an ihm selbst geschehen, teilnehmen. Als Strukturierungsmuster werden sie zunehmend Teil des kindlichen Körpers, sie lagern dem kindlichen Organismus ein (Dietrich 2011, S. 13).

2.2