Bildnis und Begriff - Die Repräsentationsproblematik in Max Frischs Roman "Stiller" - Heiner Remmert - E-Book

Bildnis und Begriff - Die Repräsentationsproblematik in Max Frischs Roman "Stiller" E-Book

Heiner Remmert

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Beschreibung

Magisterarbeit aus dem Jahr 1996 im Fachbereich Didaktik für das Fach Deutsch - Literatur, Werke, Note: 1,0, Freie Universität Berlin, Sprache: Deutsch, Abstract: Es ist die Absicht dieser Arbeit, Belege für die These zusammenzutragen, dass das vorherrschende Thema in "Stiller" nicht die Identitätsproblematik des Protagonisten ist, sondern dass Max Frisch in diesem Roman primär – und in vielfältiger Weise – das Themenfeld ‚Repräsentation‘ verhandelt und sich damit nicht zuletzt auch zur Repräsentationstauglichkeit von Literatur äußert.

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Inhaltsverzeichnis
1. Einleitung
2. Entstehung des Romans Stiller.
3. Formale Gestaltung.
3.1 Erzählperspektive.
3.2 Aufbau
3.3 Zeitgerüst
4. Die Kommunikation in den drei Paarbeziehungen.
4.1 Julika und Stiller
4.2 Rolf und Sibylle
4.3 Sibylle und Stiller
5.1 Sich ein Bildnis machen
5.2 Eine Rolle spielen
6. Die Repräsentationskritik Whites
6.1 Keine Sprache für die Wirklichkeit
6.2 Erleben im Plagiat.
7. Schluss

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1. Einleitung

Max Frischs RomanStillerstellt einen Sonderfall in der Literaturgeschichte dar. Als der Text 1954 erschien, reagierten Leserschaft wie Kritik auf Anhieb einhellig begeistert und machten seinen Autor damit fast buchstäblich von einem Tag auf den anderen berühmt. Bis heute zähltStillerzu den populärsten Werken der deutschsprachigen Literatur. Die Liste an Forschungsliteratur über den Roman umfasst mittlerweile einige hundert Titel und wächst bei ungebrochenem Interesse noch weiter an.

Diese Masse an Publikationen geht jedoch einher mit einer Fülle sich teilweise radikal widersprechender Auslegungen des Textes. Bereits die Vielfalt an typologischen Bestimmungen, die der Roman im Lauf seiner Rezeptions- und Rezensionsgeschichte erfahren hat, zeigt, wie unterschiedlichStillervon den einzelnen Interpreten wahrgenommen worden ist. Von Hans Mayer beispielsweise wurde der Text als eine „formale Parodie früherer Ehe- und Künstlerromane“2sowie „früherer deutscher Erziehungsromane“3aufgefasst. Nach Manfred Jurgensen ist er aber „zugleich auch ein Gesellschaftsroman, sowohl ein Liebesroman als auch ein Bildungsroman, der Roman einer Freundschaft und ein Glaubensroman“4, der darüber hinaus auch noch „deutliche Züge eines Kriminalromans“5besitze. Dieser Aufzählung wurde von Carol Petersen noch der „Schelmenroman“6hinzugefügt, während Therese Poser sich auf die sachliche Feststellung beschränkt hat,Stillersei

1Max Frisch:Stiller(1954). In: Ders.:Gesammelte Werke in zeitlicher Folge,hg. von Hans Mayer unter Mitwirkung von Walter Schmitz, 12 Bde., Frankfurt a. M. 1976, Bd. 6, S. 359-780, S. 677. Seitenzahlen ohne nähere Angabe beziehen sich im Folgenden immer auf diese Ausgabe.

2Hans Mayer: „Anmerkungen zu ‚Stiller‘“ (1963). In: Schmitz, Walter (Hg.):Materialien zu Max Frisch „Stiller“,2 Bde., Frankfurt a. M. 1978, S. 238-255, S. 251.

3Mayer (1963): „Anmerkungen zu Stiller“, S. 251.

4Manfred Jurgensen:Max Frisch. Die Romane. Interpretationen,zweite, erweiterte Auflage, Bern u. München 1972, S. 62.

5Jurgensen (1972):Max Frisch. Die Romane,S. 62.

6Carol Petersen:Max Frisch,siebte ergänzte Auflage, Berlin 1980, S. 70.

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„ein moderner Roman“7. Vor allem aber wird der Text bis heute als ein psychologischer Roman aufgefasst und dementsprechend behandelt. Im überwiegenden Teil der Sekundärliteratur wird die Ansicht vertreten, das „eigentliche Thema“8desStillersei die „Identitätsproblematik“9seines Protagonisten Anatol Ludwig Stiller und der Roman handele in erster Linie von dessen „Selbstwerdung“10, beziehungsweise von dessen Bemühen, seine „Selbstentfremdung“11zu überwinden. Bezüglich des Resultats dieses von Stiller angeblich durchlaufenen psychologischen Wandlungsprozesses vertreten jedoch auch die Interpreten, die dieser gemeinsame Ansatz eint, auffällig widersprüchliche Meinungen. Speziell der Schluss des Romans wird in den einzelnen Beiträgen extrem unterschiedlich gedeutet. Das betrifft schon die Frage danach, ob und wieweit es Stiller im Verlauf der Handlung gelingt, sich zu verändern. In diesem Punkt stehen sich zum Beispiel die Aussage Christa Thomassens, am Ende des Romans gebe es einen „neue[n] Stiller […], der sich zu sich selbst bekennt“12, und Karlheinz Brauns Analyseergebnis - „Zu dieser Einheit gelangt Stiller nicht.“13- absolut unversöhnlich gegenüber. Andere Forscher positionieren sich in dem weiten Spektrum zwischen diesen Polen, so etwa Ulrich Weisstein, der eine „letztliche Selbstannahme“14Stillers zwar angedeutet sieht, aber auch einräumen muss, dass „der Leser nicht feststellen kann, ob und in welchem Ausmaß dieses Ziel erreicht wurde“15.

Die Interpreten, die keine Zweifel daran haben, dass Stiller sich im Verlauf der Handlung innerlich wandelt, unterscheiden sich wiederum deutlich darin, wie sie diese Veränderung bewerten. So deutet beispielsweise Hans Bänziger den Ausgang des Romans gänzlich positiv. Stiller gelinge es schließlich „sich selbst und die

7Therese Poser:Max Frisch. Stiller. Interpretation,München 1977, S. 10.

8Monika Wintsch-Spiess:Zum Problem der Identität im Werk Max Frischs,Zürich 1965, S. 81.

9Vgl. insbesondere Gunda Lusser-Mertelsmann:Max Frisch. Die Identitätsproblematik in seinem Werk aus psychoanalytischer Sicht,Stuttgart 1976.

10Hans Jürg Lüthi:Max Frisch. „Du sollst dir kein Bildnis machen“,München 1981, S. 72.

11Karlheinz Braun:Die epische Technik in Max Frischs Roman „Stiller“ als Beitrag zur Formfrage des modernen Romans,Dissertation, Frankfurt a. M. 1959, S. 71.

12Christa Thomassen:Schreiben heißt sich selber lesen. Max Frischs Romane „Stiller“ und „Homo faber“,Mainz 2001, S. 7.

13Braun (1959):Die epische Technik in Stiller,S. 72.

14Ulrich Weisstein: „Stiller: Die Suche nach Identität“ (1967). In: Schmitz, Walter (Hg.):Über Max Frisch II,Frankfurt a. M. 1976, S. 245-265, S. 246 f.

15Weisstein (1967): „Suche nach Identität“, S. 247.

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Gemeinschaft, die ihn dazu verurteilt hat“16anzunehmen. Dem widerspricht jedoch entschieden Tildy Hanhart, für die am Schluss lediglich „der Widerstand des Protagonisten gebrochen wird, er resignierend sich anpaßt und verstummt beiseite tritt“17.

In der vorliegenden Arbeit wird hingegen die Ansicht vertreten, dass der Schluss des Romans gar nicht eindeutig aufgelöst werden kann, was jedoch nicht etwa eine Schwäche des Textes darstellt, sondern einen vom Autor durchaus intendierten Effekt. Es ist die Absicht dieser Arbeit, Belege für die These zusammenzutragen, dass das vorherrschende Thema inStillernicht die ‚Identität‘ ist, sondern dass Max Frisch in diesem Roman primär - und in vielfältiger Weise - das Themenfeld ‚Repräsentation‘ verhandelt und sich damit nicht zuletzt auch zur Repräsentationstauglichkeit von Literatur äußert. Die folgenden Ausführungen beteiligen sich also bewusst nicht an Spekulationen über die Psyche des Anatol Ludwig Stiller. Stattdessen wird zum einen untersucht, welche Aussagen im - aber auchvom- Text über die Eigen- und Fremdwahrnehmung des modernen Menschen getätigt werden, und zum anderen, welche Antwort damit möglicherweise auf die, spätestens seit Beginn des 20. Jahrhunderts bedeutsam gewordene Frage nach den Ausdrucksmöglichkeiten des Menschen und speziell des Künstlers im Zeitalter der technischen Reproduzierbarkeit von Bildern und Texten gegeben wird. Dieses Unternehmen ist nicht allein deswegen viel versprechend, weil es sich bei dem Protagonisten und Erzähler des überwiegenden Teils der Handlung um einen ehemaligen Bildhauer handelt, der dem Leser jedoch in erster Linie als Tagebuchschreiber präsentiert wird. Auch die Fülle an weiteren Medien, die im Roman in unterschiedlichsten Kontexten thematisiert werden - neben Skulptur und Tagebuch sind hier vor allem das gesprochene Wort zu nennen, aber auch Bücher, Zeitungen und Illustrierte, Fotos und Filme, Hörfunk, Theater, Kleidung etc. -, rechtfertigt eine Auseinandersetzung mit der Repräsentationsthematik inStiller.Deren Untersuchung erfolgt grundsätzlich anhand einer kritischen Aus-einandersetzung mit der bestehenden Forschungsliteratur, soweit sich diese mit den für das Thema dieser Arbeit relevanten Fragen auseinandersetzt. Darüber hinaus ist die vorliegende Arbeit vor allem um eine textnahe Auslegung des Romans bemüht.

16Hans Bänziger:Zwischen Protest und Traditionsbewußtsein. Arbeiten zum Werk und zur gesellschaftlichen Stellung Max Frischs,Bern u. München 1975, S. 16.

17Tildy Hanhart:Max Frisch: Zufall, Rolle und literarische Form. Interpretationen zu seinem neueren Werk,Kronberg / Ts. 1976, S. 12.

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Sie will jedoch keine vollständige oder gar endgültige Interpretation erstellen, sondern im Gegenteil gerade herausarbeiten, warum der Versuch, eine solche zu erstellen, zwangsläufig scheitern muss. Konkret gestaltet sich der Aufbau der Arbeit folgendermaßen:

Nach einer kurzen Einführung in die Entstehungsgeschichte desStiller,in der auch drei frühere Werke Frischs Erwähnung finden, welche in der Sekundärliteratur häufig als dessen Vorstufen bezeichnet werden, befasst sich das nächste Kapitel dann mit der formalen Struktur des Romans. Den Gegenstand der Untersuchung bilden dabei speziell die formalen Aspekte des Textes, die einen Zugang erschweren, deren Berücksichtigung aber eben deswegen die Grundlage einer jeden inhaltlichen Analyse bilden sollte. Neben seiner einzigartigen Erzählperspektive wird auch der Aufbau des Romans untersucht sowie sein Umgang mit den verschiedenen in ihm enthaltenen Zeitebenen.

Steht im Zentrum der Betrachtung somit erst einmal dieexterneKommunikation zwischen Text und Leser, so befassen sich die folgenden drei Kapitel mit derinternenKommunikation desStiller.Untersucht wird hier zunächst, wodurch die Kommunikation zwischen den einzelnen Romanfiguren gekennzeichnet ist und welche Erklärungen die jeweiligen Charaktere selbst dafür geben, dass es zwischen ihnen und ihren Gesprächspartnern immer wieder zu eklatanten Missverständnissen kommt. In einem weiteren Schritt werden dann die theoretisch geprägten und eher allgemein gehaltenen Aussagen zur menschlichen Wahrnehmungs- und Repräsentationsfähigkeit analysiert, die der Text vor allem in Form von Aussagen der Erzählinstanz White enthält. Zu deren Verständnis ist es notwendig, sich zuvor intensiv mit den beiden metaphorischen Ausdrücken ‚ein Bildnis machen‘ und ‚eine Rolle spielen‘ auseinanderzusetzen, die den Roman leitmotivisch durchziehen. Im Schlussteil der Arbeit werden die Analyseergebnisse der einzelnen Kapitel dann zusammengeführt. Darüber hinaus wird hier untersucht, ob und inwieweit der von Helmut Naumann aufgestellten These zuzustimmen ist,Stillerbesitze auch eine „autobiographische Schicht“18, da Max Frisch darin auch die Kommunikation zwischen einem Autor und dessen Leserschaft verhandele.

18Helmut Naumann:Der Fall Stiller. Antwort auf eine Herausforderung. Zu Max Frischs „Stiller“,Rheinfelden 1978, S. 168.

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2. Entstehung des RomansStiller

Stillerwurde im Herbst 1954 im Suhrkamp Verlag veröffentlicht. Für die reine Niederschrift des Textes, in der Form, in der er heute vorliegt, benötigte Frisch nach eigener Angabe die relativ kurze Zeit von einem dreiviertel Jahr.19Ein Großteil des inStillerverarbeiteten Textmaterials entstand jedoch schon früher, zwischen April 1951 und Mai 1952, während der Zeit, in der Frisch erstmalig die USA und Mexiko bereiste.20Dort hatte er sich, nachdem er vor allem als Dramatiker bekannt geworden war, an einem neuen Roman mit dem ArbeitstitelWas macht ihr mit der Liebeversucht,21doch das Ergebnis hatte ihn zunächst nicht befriedigen können. In einem Brief informierte er am 11.9.1951 seinen Verleger Peter Suhrkamp, dem erStillerspäter widmete: „Viel Arbeit an einem Roman, ich packe heute zweihundert sauber geschriebene Seiten zusammen im Bewußtsein, daß sie nicht stehen bleiben.“22Mit dieser Prognose sollte er Recht behalten. Laut Frisch entstanden während des Amerikaaufenthaltes insgesamt „sechshundert Seiten, die mißlangen“23, woraufhin er sich wieder der Gattung Drama zuwandte. Die Arbeit am Roman ruhte, bis er sie schließlich 1953 wieder aufnahm. Neben dem in Amerika entstandenen Material flossen nun außerdem zahlreiche Motive aus früheren, auch schon publizierten Werken Frischs in den Roman mit ein. Teilweise entnahm er sogar ganze Passagen wörtlich bereits vorhandenen Texten.24Vor allem drei Werke Frischs lassen sich in diesem Sinne als Vorstufen desStillerbezeichnen: Erstens der frühe RomanJürg Reinhart - Eine sommerliche Schicksalsfahrt25von 1934, beziehungsweise dessen überarbeitete und erweiterte FassungDie Schwierigen oder J’adore ce qui me brûle26von 1943, zweitens die erstmalig 1950 imTagebuch 1946-1949unter dem Titel

19Vgl. Horst Bienek:Werkstattgespräche mit Schriftstellern,mit 15 Photos auf Tafeln, München 1962, S. 27.

20Dieser einjährige Auslandsaufenthalt wurde Frisch durch den Erhalt des Stipendiums ‚Rockefeller Grant for Drama‘ ermöglicht.

21Vgl. Walter Schmitz: „Zur Entstehung von Max Frischs Roman ‚Stiller‘“ (1977). In: Ders. (1978):Materialien,S. 29-34, S. 29.

22Zitiert nach Volker Hage:Max Frisch,überarbeitete Neuausgabe, Reinbek bei Hamburg 1997, S. 52.

23Bienek (1962):Werkstattgespräche,S. 27.

24Vgl. Schmitz (1977): „Zur Entstehung“, S. 32 sowie Naumann (1978):Der Fall Stiller,S. 74.

25Max Frisch:Jürg Reinhart - Eine sommerliche Schicksalsfahrt(1934). In: Ders.:Gesammelte Werke in zeitlicher Folge,hg. von Hans Mayer unter Mitwirkung von Walter Schmitz, 12 Bde., Frankfurt a. M. 1976, Bd. 1, S. 225-385.

26Max Frisch:Die Schwierigen oder J’adore ce qui me brûle(1943). In: Ders.:Gesammelte Werke in zeitlicher Folge,hg. von Hans Mayer unter Mitwirkung von Walter Schmitz, 12 Bde., Frankfurt a. M. 1976, Bd. 2, S. 387-658.

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„Skizze“27erschienene kurze Erzählung vom Rechtsanwalt Schinz und drittens das HörspielRip van Winkle28von 1953. Diese drei Texte haben den RomanStillerauf jeweils eigene Art beeinflusst und werden daher im Folgenden kurz skizziert.

Verbindungen zwischenStillerundDie Schwierigenergeben sich vor allem durch charakterliche Ähnlichkeiten der jeweiligen Protagonisten Anatol Ludwig Stiller und Jürg Reinhart.29Auch Reinhart ist eine Künstlerfigur, die sich zunächst für diese Lebensform - und somit gegen eine bürgerliche Existenz - entscheidet, später aber radikal damit bricht und seine Malereien verbrennt. Dieser Zerstörungsakt Reinharts lässt an Stillers Zertrümmerung seiner Skulpturen im Atelier denken. Eine weitere deutliche Parallele besteht in der Flucht in den Selbstmord, die sowohl Stiller als auch Reinhart versuchen, wenn auch mit unterschiedlichem Ausgang. Während Reinhart tatsächlich stirbt, misslingt der Versuch bei Stiller und wird für ihn zu einem Wiedergeburtserlebnis.

Mit der „Skizze“ von Schinz hat der RomanStillervor allem das Thema der charakterlichen Verwandlung der Hauptfigur gemein, die als Konsequenz die Unfähigkeit zur Kommunikation mit dem früheren Umfeld mit sich führt.30Der Rechtsanwalt Heinrich Gottlieb Schinz kehrt, nachdem er sich bei einem Spaziergang im Wald verirrt hat, als ein Anderer in seine Stadt zurück, als der er sie verlassen hat. Es gelingt ihm nicht, sein altes Leben wieder aufzunehmen und seinen Beruf wie gewohnt auszuüben. Ausgelöst durch die Begegnung mit einem Förster, der deutlich Züge Christi aufweist und auch als „Geist“31bezeichnet wird, hat sich

27Vgl. Max Frisch:Tagebuch 1946-1949(1950). In: Ders.:Gesammelte Werke in zeitlicher Folge,hg. von Hans Mayer unter Mitwirkung von Walter Schmitz, 12 Bde., Frankfurt a. M. 1976, Bd. 4, S. 347-750, S. 723-749. Die „Skizze“ wurde später auch als eigenständiger Text veröffentlicht. Vgl. Max Frisch:Schinz. Skizze,St. Gallen 1959.

28Max Frisch:Rip van Winkle. Hörspiel(1953). In: Ders.:Gesammelte Werke in zeitlicher Folge,hg. von Hans Mayer unter Mitwirkung von Walter Schmitz, 12 Bde., Frankfurt a. M. 1976, Bd. 6, S. 781-835.Rip van Winkleist genau genommen keine Vorstufe des RomansStiller,sondern entstand parallel zu diesem. In denGesammelten Werken in zeitlicher Folgewird der Text daher auch nachStillerabgedruckt. Laut Aussage Frischs verdankt sich seine Existenz einzig der Finanznot in der er sich 1953 befand: „Ich arbeitete am Roman und brauchte Geld, hatte keine Idee für ein Hörspiel, ich stahl es also aus dem werdenden Roman.“ Bienek (1962):Werkstattgespräche,S. 28.

29Mit Gemeinsamkeiten vonStillerundDie Schwierigenbefassen sich u.a. Wintsch-Spiess (1965):Zum Problem der Identität,S. 83, Naumann (1978):Der Fall Stiller,S. 89 ff und Lüthi (1981):Du sollst dir kein Bildnis machen,S. 167 f.

30Zu Parallelen zwischen der „Skizze“ von Schinz undStillervgl. Weisstein (1967): „Suche nach Identität“, S. 245, Naumann (1978):Der Fall Stiller,S. 97 ff sowie Erica Natale:Rollendasein und verhindertes Erleben. Literatur und literarische Bezüge im Kontext des „Stiller“ von Max Frisch,Stuttgart 2000, S. 12 ff.

31Frisch (1950):Tagebuch,S. 723. InStillersteht als Chiffre für das Verwandlungserlebnis des Protagonisten der „Engel“ (436, 701, 726, 729).

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seine Weltsicht verändert. Er muss feststellen, „daß das Selbstverständliche, was er zu sagen hat, im Widerspruch steht zu aller Umgebung, in einem endgültigen und unversöhnbaren Widerspruch“32. Wie im Falle Stillers toleriert auch Schinz’ gesellschaftliches Umfeld solch eine Abweichung von der Norm nicht. Auch ihm wird der Prozess gemacht, der hier allerdings mit einer Hinrichtung endet. Diese entpuppt sich zum Schluss der Erzählung jedoch lediglich als symbolischer Traum. Statt ihn zu töten, hat die Gesellschaft Schinz wieder eingegliedert, doch ist er von nun an taubstumm.

Rip van Winkleweist von den drei genannten Texten Frischs die deutlichsten Bezüge zuStillerauf.33Er ist dessen stark verkürzte, leicht variierte und in Hörspielform übertragene Fassung, in der die Figuren teilweise andere Namen tragen und weniger ausgefeilte Charakterzüge als die des Romans besitzen. Die erzählte Geschichte beschränkt sich auf den Handlungsstrang im Gefängnis. Thematisiert wird die Untersuchung der Identität eines Gefangenen, der sich selbst Rip van Winkle nennt, in dem alle anderen Figuren jedoch den verschollenen Bildhauer Anatol Wadel wieder zu erkennen meinen. Den auffälligsten Unterschied zum Handlungsverlauf inStillerbildet der Ausgang der Geschichte. Die Ehefrau des Gefangenen, die auch hier schon Julika heißt, wird nach der Verurteilung ihres Mannes von ihm beinahe erwürgt, woraufhin der Staatsanwalt und der Verteidiger beschließen, im folgenden Prozess die Rollen zu tauschen.

Die drei soeben in groben Zügen vorgestellten Texte Max Frischs wurden erwähnt, weil sie entstehungsgeschichtlich bedeutsam für die Entwicklung einiger Charaktere und Handlungselemente vonStillersind. Als unmittelbarer Interpretationszugang werden sie in der vorliegenden Arbeit nicht verwendet. Das gilt auch und insbesondere für den Umgang mit Textauszügen aus dem vier Jahre vorStillerveröffentlichtenTagebuch 1946-1949,dem Frisch, wohl aus einer Vorahnung heraus, folgende Bitte vorangestellt hat:

32Frisch (1950):Tagebuch,S. 737.

33Zu Parallelen zwischenRip van WinkleundStillervgl. ebenfalls Weisstein (1967): „Suche nach Identität“, S. 245, Naumann (1978):Der Fall Stiller,S. 83 ff sowie Natale (2000):Rollendasein und verhindertes Erleben,S. 12.