Bildung anders denken - Hans-Christoph Koller - E-Book

Bildung anders denken E-Book

Hans-Christoph Koller

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Beschreibung

Education is still an important reference point in discussions over the justification, purpose and critique of educational activity. But how can the concept be understood in such a way as to do justice to contemporary social conditions and link up with research into actual educational processes? This book presents a new view of the concept that regards education as a process that fundamentally alters the way in which human beings behave towards the world, other people and themselves. This process is initiated when people face problems that their previous capacities do not give them the resources to overcome. Drawing on concepts from the fields of educational studies, philosophy, sociology and psychology, a theory of transformative educational processes is developed that allows one of the fundamental problems in educational studies to be considered in new and different ways.

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Inhalt

Cover

Titelei

1 Einleitung: Der Grundgedanke einer Theorie transformatorischer Bildungsprozesse und deren Ort in der bildungstheoretischen Tradition

1.1 Zum Stellenwert des Bildungsbegriffs in der Erziehungswissenschaft

1.2 Zur Bildungstheorie Wilhelm von Humboldts

1.3 Zur Reformulierung des Bildungsbegriffs: Bildung als Transformation grundlegender Figuren des Welt- und Selbstverhältnisses

Teil I Zur Struktur von Welt- und Selbstverhältnissen

2 Habitus, Kapital und sozialer Raum. Zur Gesellschaftstheorie Pierre Bourdieus

2.1 Bourdieus Begriff des Habitus

2.2 Trägheit und Veränderlichkeit des Habitus: Zur Bedeutung von Bourdieus Habituskonzept für eine Theorie transformatorischer Bildungsprozesse

2.3 Kulturelles Kapital und symbolische Kämpfe: Zu den gesellschaftlichen Bedingungen transformatorischer Bildungsprozesse

3 »Schwierigkeiten mit Identität«. Zum Konzept narrativer Identität

3.1 Zum Begriff der Identität

3.2 Das Konzept narrativer Identität

3.3 Zur Bedeutung des Konzepts der narrativen Identität für eine Theorie transformatorischer Bildungsprozesse

4 Konstitution und Infragestellung des Ich. Zu Jacques Lacans strukturaler Psychoanalyse

4.1 Lacans Theorie des Spiegelstadiums

4.2 Der Begriff des Begehrens (désir)

4.3 Lacans Auffassung der Sprache als differenzieller Struktur

4.4 Die Bedeutung dieser Sprachauffassung für eine Theorie transformatorischer Bildungsprozesse

5 Der unhintergehbare Bezug auf andere. Zu Judith Butlers Konzept der Subjektivation

5.1 Zur psychoanalytischen Deutung der Subjektkonstitution

5.2 Das ambivalente Verhältnis von Subjekt und Macht

5.3 Die »Wendung des Subjekts gegen sich selbst«: Zur psychischen Struktur des Selbstverhältnisses angesichts der Verweigerung gesellschaftlicher Anerkennung

Teil II Zum Anlass transformatorischer Bildungsprozesse

6 Erfahrung als Krise I: Zu Günter Bucks Konzept »negativer Erfahrung«

6.1 Zur Eingrenzung von Bucks Fragestellung: Sind Bildungsprozesse kontinuierliche oder diskontinuierliche Prozesse?

6.2 Bucks Rekonstruktion des Konzepts negativer Erfahrung bei Husserl

6.3 Zur Bedeutung des Konzepts der negativen Erfahrung für eine Theorie transformatorischer Bildungsprozesse

7 Erfahrung als Krise II: Zu Bernhard Waldenfels' Konzept der Erfahrung des Fremden

7.1 Waldenfels' Begriff der Erfahrung und eine erste Umschreibung des Fremden

7.2 Die paradoxe Struktur der Erscheinungsweise des Fremden

7.3 Reaktionen auf die Erfahrung des Fremden

7.4 Zur Bedeutung von Waldenfels' Konzeption der Fremderfahrung für eine Theorie transformatorischer Bildungsprozesse

8 Inkommensurable Diskursarten. Zu Jean-François Lyotards Philosophie des Widerstreits

8.1 Vorbemerkung zum Anliegen Lyotards

8.2 Sprach- und diskurstheoretische Grundlagen

8.3 Die ethische Dimension von Lyotards Konzeption

8.4 Die Bedeutung von Lyotards Philosophie des Widerstreits für eine Theorie transformatorischer Bildungsprozesse

Teil III Zur Entstehung des Neuen in transformatorischen Bildungsprozessen

9 Die Entstehung neuen Wissens. Zu den wissenschaftstheoretischen Konzepten von Karl R. Popper, Thomas Kuhn und Charles S. Peirce

9.1 Die Entstehung des Neuen durch Falsifikation (Popper)

9.2 Das Neue als Produkt wissenschaftlicher Revolutionen (Kuhn)

9.3 Die Abduktion als Entdeckung neuer Regeln (Peirce)

10 Die Entstehung neuer Interaktionsstrukturen. Zu Ulrich Oevermanns sozialwissenschaftlicher Erklärung der Entstehung des Neuen

10.1 Oevermanns Ausgangsproblem: Die Erklärung des Neuen

10.2 Der Strukturbegriff der Objektiven Hermeneutik

10.3 Die Krise als Auslöser von Transformationsprozessen

10.4 Krisenbewältigung und Transformation der Fallstruktur

10.5 Zur Bedeutung von Oevermanns Konzeption für eine Theorie transformatorischer Bildungsprozesse

11 Die Entstehung neuer Lesarten. Hermeneutische und dekonstruktive Ansätze zur Entstehung des Neuen (Hans-Georg Gadamer, Jacques Derrida, Judith Butler)

11.1 Die Entstehung neuer Sinnentwürfe im Prozess hermeneutischer Erfahrung (Gadamer)

11.2 Die Entstehung neuer Lesarten im Prozess dekonstruktiver Lektüre (Derrida)

11.3 Judith Butlers Konzept der Resignifizierung als Beschreibung des Transformationspotentials der Sprache

Teil IV Zur empirischen Erforschung transformatorischer Bildungsprozesse

12 Das Mögliche identifizieren? Zum Verhältnis von Bildungstheorie und empirischer Bildungsforschung

12.1 Bildungsphilosophie und Bildungsforschung als unterschiedliche Formen pädagogischen Wissens

12.2 Das Verhältnis von Bildungstheorie und qualitativer Bildungsforschung als Widerstreit im Sinne Lyotards

12.3 Konkretisierungen und Konsequenzen

13 Die sprachliche Artikulation von Veränderungen. Zur empirischen Erforschung transformatorischer Bildungsprozesse

13.1 Methodologische Prämissen: Das Programm einer bildungstheoretisch fundierten Biographieforschung

13.2 Probleme und Perspektiven der empirischen Erforschung transformatorischer Bildungsprozesse

13.2.1 Zur empirischen Erfassung von Welt- und Selbstverhältnissen

13.2.2 Zur empirischen Erfassung der Anlässe für transformatorische Bildungsprozesse

13.2.3 Zur empirischen Erfassung der Verlaufsformen und Bedingungen transformatorischer Bildungsprozesse

14 Ausblick: Transformatorische Bildungsprozesse in Jeffrey Eugenides' Roman Die Selbstmord-Schwestern

14.1 Literarische Texte als Gegenstand erziehungswissenschaftlicher Reflexionen

14.2 Virgin Suicides: Selbstmord als Bildungsproblem

14.2.1 Zur Darstellung von Welt- und Selbstverhältnissen

14.2.2 Fremdheitserfahrungen als Bildungsproblem

14.2.3 Transformationen des Welt- und Selbstverhältnisses?

14.3 Scheitern als Bildungsprozess?

Teil V Zur Kritik an der Theorie transformatorischer Bildungsprozesse

15 Zur Kritik an der Theorie transformatorischer Bildungsprozesse

15.1 Zur Unterscheidung von Lern- und Bildungsprozessen

15.2 Zum Konzept des Welt- und Selbstverhältnisses

15.3 Zum Anlass von Bildungsprozessen

15.4 Zum Konzept der Transformation und der Entstehung des Neuen

15.5 Zu den normativen Implikationen der Theorie transformatorischer Bildungsprozesse

15.5.1 Ein nicht-normativer Bildungsbegriff?

15.5.2 Versuche einer normativen Qualifizierung transformatorischer Bildungsprozesse

15.6 Zur Bedeutung der Theorie transformatorischer Bildungsprozesse für das pädagogische Handeln

Anhang

Literaturverzeichnis

Der Autor

Hans-Christoph Koller ist Professor (i. R.) für Erziehungswissenschaft unter besonderer Berücksichtigung der Qualitativen Bildungsforschung und der Wissenschaftstheorie an der Universität Hamburg. Er hat Erziehungswissenschaft, Germanistik und Politikwissenschaft studiert und ist Autor zahlreicher Publikationen zu Grundbegriffen der Erziehungswissenschaft, zur Theorie der Bildung, zur qualitativen Bildungs- und Biographieforschung sowie zu literarischen Texten als Quellen erziehungswissenschaftlicher Theoriebildung. Sein besonderes Interesse gilt der theoretischen Reflexion und der empirischen Erforschung transformatorischer Bildungsprozesse. Von 2014 bis 2018 war er Vorsitzender der Deutschen Gesellschaft für Erziehungswissenschaft.

Hans-Christoph Koller

Bildung anders denken

Einführung in die Theorie transformatorischer Bildungsprozesse

3., erweiterte und aktualisierte Auflage

Verlag W. Kohlhammer

Dieses Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwendung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechts ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und für die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen.

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3., aktualisierte und erweiterte Auflage 2023

Alle Rechte vorbehalten© W. Kohlhammer GmbH, StuttgartGesamtherstellung: W. Kohlhammer GmbH, Stuttgart

Print:ISBN 978-3-17-042795-2

E-Book-Formate:pdf: ISBN 978-3-17-042796-9epub: ISBN 978-3-17-042797-6

1 Einleitung: Der Grundgedanke einer Theorie transformatorischer Bildungsprozesse und deren Ort in der bildungstheoretischen Tradition

»Ich denke niemals völlig das gleiche, weil meine Bücher für mich Erfahrungen sind, Erfahrungen im vollsten Sinne, den man diesem Ausdruck beilegen kann. Eine Erfahrung ist etwas, aus dem man verändert hervorgeht. Wenn ich ein Buch schreiben sollte, um das mitzuteilen, was ich schon gedacht habe, ehe ich es zu schreiben begann, hätte ich niemals die Courage, es in Angriff zu nehmen. Ich schreibe nur, weil ich noch nicht genau weiß, was ich von dem halten soll, was mich so sehr beschäftigt. So daß das Buch ebenso mich verändert wie das, was ich denke. [...] Ich bin ein Experimentator in dem Sinne, daß ich schreibe, um mich selbst zu verändern und nicht mehr dasselbe zu denken wie zuvor« (Foucault 1996, S. 24).

»Nicht mehr dasselbe zu denken wie zuvor« – mit dieser Formulierung bezeichnet Michel Foucault in einem Interview mit Ducio Trombadori das Ziel seines eigenen Schreibens. Anders denken ist seither zu einer Art Formel für den Einsatz von Foucaults theoretischer Arbeit geworden (vgl. z. B. Lüders 2007, S. 110 – 125). In Anlehnung an diese Formel enthält der Titel des vorliegenden Bandes Bildung anders denken deshalb den Vorschlag, das Nachdenken über Bildung zu verändern und das, was in der Erziehungswissenschaft als Bildung bezeichnet wird, anders zu fassen, als dies bisher geschehen ist.

Die Formel anders denken ist für das Anliegen dieses Buches aber noch in einer anderen Weise kennzeichnend. Denn Foucaults Charakterisierung seines Schreibens stellt zugleich auch eine verdichtete Schilderung dessen dar, was im Folgenden transformatorische Bildung genannt und als entscheidendes Moment von Bildungsprozessen verstanden wird. Denn Bildung im Sinne des hier vorzustellenden Konzepts kann ebenfalls als ein Prozess der Erfahrung beschrieben werden, aus dem ein Subjekt »verändert hervorgeht« – mit dem Unterschied, dass dieser Veränderungsvorgang nicht nur das Denken, sondern das gesamte Verhältnis des Subjekts zur Welt, zu anderen und zu sich selber betrifft. Der Titel des Buches besagt also, dass damit nicht nur vorgeschlagen wird, den Bildungsbegriff anders zu denken als bisher, sondern auch, das Bildungsgeschehen selbst als ein Andersdenken oder Anderswerden zu begreifen.

In dieser Einleitung soll versucht werden, diesen Grundgedanken ausgehend von der klassischen Fassung des Bildungsgedankens bei Wilhelm von Humboldt zu entfalten und dabei zugleich die Anknüpfungspunkte an sowie die Unterschiede zur bildungstheoretischen Tradition zu markieren. Zu diesem Zweck wird zunächst (1.) die Funktion des Bildungsbegriffs in der erziehungswissenschaftlichen Diskussion erläutert, um dann (2.) die klassische Fassung zu skizzieren, die Humboldt diesem Begriff gegeben hat, und dieser Fassung schließlich (3.) das Konzept transformatorischer Bildungsprozesse gegenüberzustellen, das im Zentrum dieses Buches stehen wird.

1.1 Zum Stellenwert des Bildungsbegriffs in der Erziehungswissenschaft

Der klassische Bildungsbegriff, der nach einer längeren Vorgeschichte in Deutschland zwischen 1770 und 1830 seine Blütezeit erlebte, hat in der deutschen Sozial- und Ideengeschichte weit über die Pädagogik hinaus eine zentrale Rolle als Deutungsmuster zur Interpretation individueller und gesellschaftlicher Entwicklungen gespielt (vgl. Bollenbeck 1996). Innerhalb der geisteswissenschaftlichen Pädagogik kam ihm vor allem die Funktion einer normativen Leitkategorie zur Begründung und Zielbestimmung pädagogischen Handelns zu (vgl. z. B. Menze 1983). Diese Funktion wurde im Zuge der von Heinrich Roth propagierten ›realistischen Wendung‹ der Pädagogik zu einer modernen Sozialwissenschaft seit den 1960er Jahren nachhaltig in Frage gestellt. Aufgrund seiner ideengeschichtlichen Verwurzelung im 18. Jahrhundert, so die beiden Hauptargumente der Kritiker, sei der Bildungsbegriff weder den Anforderungen moderner Gesellschaften angemessen noch in methodologischer Hinsicht anschlussfähig an empirische Forschungen, wie sie das neue Wissenschaftsverständnis mit sich brachte. Seit dieser Zeit gibt es deshalb immer wieder Stimmen, die entweder den völligen Verzicht auf den Begriff der Bildung oder aber seine Ersetzung durch (vermeintlich) anschlussfähigere Termini wie ›Qualifikation‹, ›Identität‹ oder ›Autopoiesis‹ fordern (vgl. z. B. Lenzen 1997).

Auf der anderen Seite ist in der deutschsprachigen Erziehungswissenschaft die Auseinandersetzung mit der bildungstheoretischen Tradition trotz dieser Kritik stets wach geblieben, und seit geraumer Zeit lässt sich sogar eine Art Renaissance der Bildungstheorie verzeichnen (vgl. z. B. Hansmann & Marotzki 1988/89 sowie Dörpinghaus, Poenitsch & Wigger 2013). Zumindest unter den an dieser Debatte Beteiligten herrscht dabei die Einschätzung vor, der Bildungsbegriff sei für die Erziehungswissenschaft insofern unverzichtbar, als er (oder vielleicht genauer: die Bildungstheorie als Teildisziplin) jenen Ort darstellt, an dem über Legitimation, Zielsetzung und Kritik pädagogischen Handelns methodisch reflektiert gestritten werden kann und soll (vgl. z. B. Klafki 2007 und Ruhloff 1991).

Wer dieser Einschätzung zustimmt, muss sich freilich zwei Fragen stellen. Zum einen ist mit dem Hinweis auf die Unverzichtbarkeit des Bildungsbegriffs noch nicht geklärt, ob (bzw. inwieweit) dessen um 1800 entwickelte klassische Fassung auch heute noch als Orientierungskategorie für bildungstheoretische Überlegungen brauchbar ist oder ob dafür nicht eine gründliche Revision erforderlich wäre. Und zum anderen wirft die in den letzten Jahren vollzogene Entwicklung der empirischen Bildungsforschung zu einem weit verzweigten Forschungsfeld, an dem zahlreiche Disziplinen und verschiedene methodische Ansätze beteiligt sind (vgl. Tippelt & Schmidt-Hertha 2018), die Frage auf, ob bzw. inwieweit die philosophische, begrifflich-(re)‌konstruktive Auseinandersetzung mit dem Bildungsbegriff geeignet ist, Verbindungen zur empirischen Erforschung tatsächlicher Bildungsprozesse herzustellen.

Als Ausgangspunkt für eine Diskussion dieser Fragen kann ein Blick auf die Bildungstheorie Wilhelm von Humboldts dienen, die wohl die bekannteste Fassung des klassischen Bildungsbegriffs darstellt und im Folgenden auf ihre Bedeutung für die Untersuchung von Bildungsprozessen unter gegenwärtigen gesellschaftlichen Bedingungen befragt werden soll.

1.2 Zur Bildungstheorie Wilhelm von Humboldts

Die Grundzüge von Humboldts Bildungsdenken1 lassen sich am besten verdeutlichen, wenn man von einer Formulierung ausgeht, in der sein Bildungsbegriff schon früh besonders prägnant Ausdruck gefunden hat:

»Der wahre Zwek des Menschen – nicht der, welchen die wechselnde Neigung, sondern welchen die ewig unveränderliche Vernunft ihm vorschreibt – ist die höchste und proportionirlichste Bildung seiner Kräfte zu einem Ganzen« (Humboldt 1960 – 1981, Bd. I, S. 64).

Unbeschadet der Probleme, die sich in dem unscheinbaren und dieses Satzes verbergen (vgl. dazu Benner 1990, S. 47 ff.), lässt sich diese Formulierung so verstehen, dass es Humboldt um die möglichst weitreichende (»höchste«) und zugleich um die möglichst ausgewogene (»proportionirlichste«) Entfaltung aller menschlichen Anlagen geht. Maßstab seines Bildungsdenkens stellen also nicht (wie z. B. im modernen Qualifikationsbegriff) die gesellschaftlichen oder wirtschaftlichen Anforderungen an das Individuum dar, sondern vielmehr dessen »Kräfte«, d. h. das je individuelle Entwicklungspotential. Entscheidend dabei ist freilich, dass die Entfaltung dieser »Kräfte« Humboldt zufolge nicht im solipsistischen Bezug des Individuums auf sich selbst erfolgen kann, sondern dass der Mensch dazu eines Widerparts, einer »Welt ausser sich« bedarf (Humboldt 1960 – 1981, Bd. I, S. 235):

»Die letzte Aufgabe unsres Daseyns: dem Begriff der Menschheit in unsrer Person [...] einen so grossen Inhalt, als möglich, zu verschaffen, diese Aufgabe löst sich allein durch die Verknüpfung unsres Ichs mit der Welt zu der allgemeinsten, regesten und freiesten Wechselwirkung« (a. a. O., S. 235 f.).

Bildung, verstanden als die möglichst umfassende Entfaltung menschlicher Entwicklungspotentiale ist für Humboldt also auf die ihrerseits möglichst umfassende Auseinandersetzung des Menschen mit der »Welt« angewiesen (zu der neben materiellen und ideellen Gegenständen auch andere Menschen gehören).

Diese beiden Grundgedanken von Humboldts Bildungstheorie, die allseitige Entwicklung der »Kräfte« und die »Wechselwirkung« von Ich und Welt, haben weitreichende pädagogische und bildungspolitische Folgen, die z. B. in den Schulplänen zum Ausdruck kommen, die Humboldt in seiner Amtszeit als Sektionschef für Kultus und öffentlichen Unterricht im preußischen Innenministerium verfasst hat (vgl. Humboldt 1960 – 1981, Bd. IV, S. 168 ff.). Sofern es ihm bei Bildung nicht um die Erfüllung äußerer Anforderungen, sondern um die Entfaltung menschlicher Anlagen geht, kann Bildung nicht ein Privileg einiger weniger sein, sondern ist prinzipiell als Bildung für alle zu denken (dass und warum es Humboldt und anderen preußischen Bildungsreformern nicht gelang, diesen Anspruch politisch zu verwirklichen, steht auf einem anderen Blatt; vgl. dazu Herrlitz, Hopf, Titze & Cloer 2009, S. 29 – 44). Und sofern Bildung die Entfaltung möglichst aller menschlichen Kräfte zum Ziel hat, kommt für Humboldt der allgemeinen Bildung ein absoluter Vorrang gegenüber jeder speziellen (wie z. B. der beruflichen) Bildung zu.

Weniger bekannt als diese beiden Grundgedanken, aber von einigem Interesse für die Frage nach der aktuellen Bedeutung des klassischen Bildungsdenkens ist der Umstand, dass Humboldts Bildungstheorie in einem engen Zusammenhang mit einem anderen Schwerpunkt seines Werks steht, nämlich mit seinen sprachphilosophischen und sprachwissenschaftlichen Arbeiten. Humboldts Sprachtheorie, mit der er sich seit etwa 1800 beschäftigte und die nach seinem Ausscheiden aus dem Staatsdienst 1819 zum Mittelpunkt seiner letzten 15 Schaffensjahre wurde2, setzt genau bei jenem zweiten Theorem seines Bildungsdenkens an, der Auffassung von Bildung als Wechselwirkung von Ich und Welt. Ein zentrales Moment dieser Sprachtheorie besteht in der These, dass die Sprache das entscheidende Medium jener bildenden Auseinandersetzung des Menschen mit der Welt darstellt. Das betrifft sowohl das Verhältnis des Menschen zu den Dingen, d. h. die welterschließende Aufgabe der Sprache, als auch das Verhältnis zu anderen Menschen, also die Sprache in ihrer kommunikativen Funktion.

Entscheidend dabei ist, dass Humboldt Sprache nicht abbildtheoretisch bzw. repräsentationistisch begreift, d. h. nicht als Repräsentation von etwas, was vor bzw. außerhalb der Sprache existieren würde, sondern vielmehr ›konstitutionistisch‹, d. h. als Medium der Hervorbringung bzw. der Konstitution von Gegenständen und Gedanken. Auf treffende Weise wird diese Auffassung in einer Formulierung zum Ausdruck gebracht, in der Humboldt die Sprache als »das bildende Organ des Gedanken« bezeichnet (Humboldt 1960 – 1981, Bd. III, S. 426). Die Sprache ist für ihn also kein Werkzeug, um bereits fertig vorhandene Gedanken auszudrücken, sondern vielmehr ein »Organ«, in bzw. mit dem diese Gedanken überhaupt erst hervorgebracht werden. Die prägende Kraft, die Humboldt der Sprache im Blick auf das Denken zuschreibt, zeigt sich darüber hinaus in seiner Auffassung der Sprache als »Weltansicht« (a. a. O., S. 434), der zufolge jede Sprache eine eigene Sichtweise der Welt darstellt, die mit Lautsystem, Wortschatz und Grammatik dieser Sprache untrennbar verbunden ist und die Vorstellungs- und Empfindungswelt ihrer Sprecher nachhaltig prägt.

Die Aktualität von Humboldts Sprachtheorie rührt nicht zuletzt daher, dass sein Interesse dabei nicht einfach der Sprache als solcher gilt, sondern vielmehr den Sprachen im Plural. Als Sprachforscher hat sich Humboldt mit einer Vielzahl unterschiedlicher, auch außereuropäischer Sprachen beschäftigt und dabei insbesondere die Verschiedenheit der Sprachen in den Mittelpunkt gestellt. Diese Pluralität der Sprachen hat im Blick auf die welterschließende Funktion der Sprache eine irreduzible »Verschiedenheit der Weltansichten« zur Folge (a. a. O., S. 20), die Probleme, aber auch Chancen mit sich bringt. Die Probleme zeigen sich z. B. dort, wo es um das Übersetzen von einer Sprache in eine andere geht, sofern kein Wort einer Sprache völlig dem einer anderen entspricht, aber auch im Blick auf das Verstehen zwischen den Sprechern verschiedener Sprachen, von dem es einmal bei Humboldt heißt »Alles Verstehen ist daher immer zugleich ein Nicht-Verstehen« (a. a. O., S. 439; vgl. dazu auch Koller 2003b).

Auf der anderen Seite liegen in der Verschiedenheit der Sprachen auch Chancen, die vor allem dann zum Vorschein kommen, wenn man Humboldts Sprachtheorie mit seiner Bildungstheorie in Zusammenhang bringt. Denn sofern Sprache das entscheidende Medium jener bildenden »Wechselwirkung« von Ich und Welt darstellt, die Humboldt als Vollzugsform von Bildung begreift, kommt der Verschiedenheit und Vielfalt sprachlicher Weltansichten eine zentrale Bedeutung für die bildende Auseinandersetzung des Menschen mit der Welt zu:

»Durch die Mannigfaltigkeit der Sprachen wächst unmittelbar für uns der Reichthum der Welt und die Mannigfaltigkeit dessen, was wir in ihr erkennen; es erweitert sich zugleich dadurch für uns der Umfang des Menschendaseyns, und neue Arten zu denken und empfinden stehen [...] vor uns da« (Humboldt 1960 – 1981, Bd. V, S. 111).

Humboldt zufolge bereichert also die Vielfalt der Sprachen die bildende Wechselwirkung von Ich und Welt, indem sie dem Ich neue Weisen des Denkens und Empfindens erschließt und so die Grenzen seiner bisherigen Weltansicht erweitert. Vor diesem Hintergrund stellt das Erlernen fremder Sprachen für ihn einen, wenn nicht sogar den Grundmodus von Bildung dar, der in der »Gewinnung eines neuen Standpunkts in der bisherigen Weltansicht« besteht (Humboldt 1960 – 1981, Bd. III, S. 225). Entscheidend dabei ist freilich, bei dem Wort ›Sprachen‹ nicht nur an Nationalsprachen zu denken, sondern auch andere Formen sprachlicher Verschiedenheit in Betracht zu ziehen. Humboldt schreibt:

»Eine Nation hat freilich im Ganzen dieselbe Sprache, allein schon nicht alle Einzelnen in ihr [...] ganz dieselbe, und geht man noch weiter in das Feinste über, so besitzt wirklich jeder Mensch seine eigne« (a. a. O., S. 228).

Neben den Nationalsprachen tragen deshalb auch regionale Dialekte, Fachsprachen, Sozio- und Idiolekte zu jener Verschiedenheit der Art und Weise bei, in der Menschen mit der Welt in Wechselwirkung treten. Diese Verschiedenheit nun lässt sich vor dem Hintergrund von Humboldts Bildungstheorie als eine Herausforderung für Bildungsprozesse begreifen, sofern Bildung nicht nur in der Entfaltung der menschlichen Kräfte, sondern auch in der Erweiterung und der Transformation der je eigenen Weltansicht durch die Konfrontation mit neuen Sprachen besteht.

Damit ist eine Antwort auf die Frage nach der Aktualität von Humboldts Bildungstheorie möglich. Aktuell an Humboldts Denken ist vor allem die Anerkennung der tatsächlichen Vielfalt humaner Möglichkeiten, d. h. menschlicher »Kräfte«, individueller Charaktere und verschiedener Sprachen oder Sprechweisen – auch wenn diese bei Humboldt tendenziell in einer ursprünglichen oder anzustrebenden Ganzheit aufgehoben scheint, die jede radikale Differenz ausschließt. In Bezug auf eine aktuelle Reformulierung des Bildungsbegriffs ließe sich von Humboldt zudem der Gedanke übernehmen, dass Bildung in der Erweiterung und Umgestaltung der bisherigen »Weltansicht« eines Individuums besteht und dass dafür die dialogische Auseinandersetzung mit anderen Sprachen und Sprechweisen eine entscheidende Voraussetzung darstellt.

Dabei bleiben aus heutiger Sicht aber mindestens drei Fragen offen. Ungeklärt ist bei Humboldt zum einen, wer oder was eigentlich den Anstoß zu Bildungsprozessen in diesem Sinn gibt. Genügt dafür bereits die mehr oder minder zufällige Konfrontation mit einer fremden Sprache, sei es nun eine fremde Nationalsprache, die Fachsprache einer bisher unbekannten Wissenschaft oder der Idiolekt eines anderen Individuums? Oder bedarf es besonderer Anlässe bzw. Herausforderungen, sich auf eine fremde Sprache und Weltansicht einzulassen? Nicht unter allen Bedingungen, so wäre einzuwenden, sind Menschen dazu bereit bzw. in der Lage, neue Sprachen zu erlernen und sich auf diese Weise in fremde Weltansichten ›hineinzuspinnen‹, wie eine Metapher Humboldts lautet (vgl. a. a. O., S. 434). Was aber kann Menschen dazu veranlassen, ihre eigene Weltansicht in Frage zu stellen und sich einer neuen zu öffnen – bzw. was führt dazu, dass sie sich neuen Sprachen und Weltsichten verschließen?

Zum andern ist zu fragen, in welchem Verhältnis die verschiedenartigen Sprachen zueinanderstehen, aus deren Verschiedenheit Bildungsprozesse hervorgehen sollen. Bei Humboldt erscheint dieses Verhältnis trotz aller Betonung der Differenz (z. B. im Blick auf die Übersetzungs- und Verstehensproblematik) letztlich als wechselseitige Ergänzung innerhalb eines harmonischen Ganzen. Die Frage aber ist, ob das Verhältnis sprachlich strukturierter Weltansichten heute noch so harmonisierend gedacht werden kann – oder ob angesichts der vielfach diagnostizierten Pluralität und Heterogenität unterschiedlicher Sprachen und Denkweisen nicht ein anderes, stärker am Dissens als an harmonischer Ergänzung orientiertes Theoriemodell für das Verhältnis der Sprachen und Weltansichten zueinander erforderlich ist.

Und schließlich wirft der Blick auf Humboldts Bildungstheorie aus heutiger Sicht die Frage auf, welches Anregungspotential dieser Theorie im Blick auf die empirische Erforschung tatsächlicher Bildungsprozesse zukommt. Auch wenn Humboldt selbst erfahrungswissenschaftlichen Zugängen im Rahmen damaliger Möglichkeiten durchaus wohlwollend gegenüberstand3, gilt sein Bildungsbegriff doch bis heute als Musterbeispiel eines idealistischen Bildungsverständnisses, das dazu geeignet ist, pädagogischen Bemühungen als Zielvorstellung zu dienen, aber den realen Bedingungen, unter denen solche Bemühungen stattfinden, (zu) wenig Beachtung schenkt. Zu fragen wäre deshalb, wie bildungstheoretische Reflexionen im Anschluss an Humboldt so weiterentwickelt werden können, dass sie sich mit der Erforschung der Bedingungen und Verlaufsformen tatsächlicher Bildungsprozesse verbinden lassen.

Genau an dieser Stelle setzt der Versuch des vorliegenden Buches ein, den Bildungsbegriff in Anknüpfung an Humboldt so zu reformulieren, dass sich eine befriedigendere Antwort auf die genannten Fragen ergibt.

1.3 Zur Reformulierung des Bildungsbegriffs: Bildung als Transformation grundlegender Figuren des Welt- und Selbstverhältnisses

Die Theorie transformatorischer Bildungsprozesse, die in diesem Buch entfaltet werden soll, lässt sich als Anknüpfung an und Weiterentwicklung von Humboldts Bildungsdenken begreifen. Inspiriert ist diese Theorie vor allem von der Art und Weise, in der Rainer Kokemohr versucht hat, den Bildungsbegriff in Anlehnung an Humboldts Grundgedanken neu zu bestimmen.4 Den Ausgangspunkt von Kokemohrs Überlegungen stellt die Unterscheidung zwischen Lern- und Bildungsprozessen dar (vgl. etwa Kokemohr 1992). In informationstheoretischer Terminologie formuliert lässt sich Lernen demzufolge als Prozess der Aufnahme, Aneignung und Verarbeitung neuer Informationen verstehen, bei dem jedoch der Rahmen, innerhalb dessen die Informationsverarbeitung erfolgt, selber unangetastet bleibt. Bildungsprozesse sind in dieser Perspektive dagegen als Lernprozesse höherer Ordnung zu verstehen, bei denen nicht nur neue Informationen angeeignet werden, sondern auch der Modus der Informationsverarbeitung sich grundlegend ändert (vgl. dazu auch Marotzki 1990, S. 32 ff.).

In einer neueren Formulierung, die weniger informations- als vielmehr sprachtheoretisch argumentiert und stärker an Humboldts Bildungs- und Sprachtheorie anschließt, beschreibt Kokemohr Bildung als Veränderung der grundlegenden Figuren des Welt- und Selbstverhältnisses von Menschen, die sich potentiell immer dann vollzieht, wenn Menschen mit neuen Problemlagen konfrontiert werden, für deren Bewältigung die Figuren ihres bisherigen Welt- und Selbstverhältnisses nicht mehr ausreichen (vgl. Kokemohr 2007).5 Bildungsprozesse bestehen demzufolge also darin, dass Menschen in der Auseinandersetzung mit neuen Problemlagen neue Dispositionen der Wahrnehmung, Deutung und Bearbeitung von Problemen hervorbringen, die es ihnen erlauben, diesen Problemen besser als bisher gerecht zu werden.

Diese Konzeption knüpft in zweifacher Weise an Humboldt an. Zum einen wird Bildung darin wie bei Humboldt als eine grundlegende Veränderung des Verhältnisses von Ich und Welt gedacht. Was bei Humboldt als Erweiterung der je eigenen Weltansicht eines Menschen in der Konfrontation mit neuen Sprachen erscheint, wird hier als Transformation des Welt- und Selbstverhältnisses in Auseinandersetzung mit neuen Problemlagen beschrieben. Und zweitens fasst dieses Verständnis von Bildungsprozessen den Veränderungsprozess sowie das Verhältnis zur Welt und zu sich selbst ähnlich wie Humboldt sprachtheoretisch. Bei Kokemohr kommt dies im Begriff der grundlegenden Figuren des Welt- und Selbstverhältnisses zum Ausdruck, der auf die Tradition der Rhetorik verweist und andeutet, dass die Verhältnisse, in denen Menschen zur Welt und zu sich selber stehen, als sprachlich bzw. semiotisch, d. h. zeichenförmig strukturierte (oder eben figurierte) Verhältnisse aufzufassen sind.

Die skizzierte Neufassung des Bildungsbegriffs geht jedoch über Humboldt in zweifacher Weise hinaus. Zum einen gibt sie eine Antwort auf die Frage, was eigentlich den Anlass für Bildungsprozesse darstellt. Kokemohr zufolge bildet diesen Anlass eine Art von Krisenerfahrung, nämlich die Konfrontation mit einer Problemlage, für deren Bewältigung sich das bisherige Welt- und Selbstverhältnis als nicht mehr ausreichend erweist. Anders als bei Humboldt, der von einem gleichsam natürlichen Bestreben des Menschen nach Entfaltung seiner Kräfte bzw. nach Erweiterung seiner Weltansicht auszugehen scheint, ist es hier also ein Scheitern oder ein krisenhaftes Ereignis, das den Anstoß für Bildungsprozesse gibt. Ein Beispiel für eine solche Krisenerfahrung sind etwa Konflikte oder Probleme, die im Kontext interkultureller Kooperation auftreten und die Welt- und Selbstverhältnisse der Beteiligten radikal in Frage stellen können (vgl. Kokemohr 2000 und 2007).

Das zweite Moment, durch das diese Neufassung des Bildungsbegriffs über Humboldt hinausgeht, besteht darin, dass sie im Unterschied zu Humboldt ausdrücklich eine empirische Perspektive umfasst, der zufolge bildungstheoretische Überlegungen auch anschlussfähig an die (qualitativ-)‌empirische Untersuchung von Bildungsprozessen sein sollten (vgl. z. B. Kokemohr 1989, S. 343 ff. und 2007).

Der vorliegende Band versucht, von diesem Grundgedanken ausgehend eine Theorie transformatorischer Bildungsprozesse zu entfalten. Fragt man danach, welche Anforderungen an eine theoretische Konzeption von Bildungsprozessen zu stellen sind, die dem skizzierten Grundgedanken folgt, so lässt sich festhalten, dass eine Theorie, die Bildung als einen Prozess der Transformation grundlegender Figuren des Welt- und Selbstverhältnisses angesichts der Konfrontation mit neuen Problemlagen begreift, mindestens die folgenden vier Dimensionen umfassen muss:

Eine solche Konzeption müsste erstens eine Theorie der Struktur jener Welt- und Selbstverhältnisse enthalten, die den Gegenstand transformatorischer Bildungsprozesse darstellen. Deshalb wird im ersten Teil des Buches der Versuch unternommen, ausgewählte soziologische, psychologische und philosophische Theorien daraufhin zu prüfen, was sie zur begrifflich-theoretischen Erfassung der Struktur des Verhältnisses beitragen können, in dem Individuen zur Welt, zu anderen und zu sich selber stehen.6 Aus der Perspektive der traditionellen Bildungstheorie betrachtet, die Bildung als Auseinandersetzung eines Subjekts mit der Welt und sich selbst begreift, kommen dafür in erster Linie Theorien des Subjekts bzw. der Subjektkonstitution in Betracht. Berücksichtigt man jedoch auch die sprachtheoretische Wendung des Bildungsproblems im Werk Humboldts, so tritt als zusätzliches Kriterium die Frage hinzu, inwieweit eine Theorie es erlaubt, die sprachliche bzw. semiotische Dimension der Konstitution subjektiver Welt- und Selbstverhältnisse zu erfassen. Die Wahl fiel deshalb auf die Gesellschaftstheorie Pierre Bourdieus (▸ Kap. 2), das Konzept der narrativen Identität bei Paul Ricœur und anderen (▸ Kap. 3), Judith Butlers Theorie der Subjektivation (▸ Kap. 5) sowie Jacques Lacans strukturale Konzeption des Unbewussten (▸ Kap. 4), weil dort auf je unterschiedliche Weise versucht wird, Struktur und Genese individueller Haltungen zur Welt und zu sich selber theoretisch zu erfassen sowie die Bedeutung symbolischer Ordnungen in diesem Kontext zu reflektieren.

Zur Ausarbeitung einer Theorie transformatorischer Bildungsprozesse ist zweitens eine Theorie jener Problemlagen oder Krisenerfahrungen erforderlich, die dem skizzierten Grundgedanken zufolge den Anlass für transformatorische Bildungsprozesse darstellen. Gibt es, so wäre zu fragen, typische Herausforderungen oder Problemkonstellationen, deren Bearbeitung Bildungsprozesse erforderlich macht oder zumindest nahelegt? Im zweiten Teil des Buches werden deshalb theoretische Konzeptionen vorgestellt, die es erlauben, die Infragestellung subjektiver Welt- und Selbstverhältnisse durch krisenhafte Erfahrungen oder Ereignisse genauer zu beschreiben: Günter Bucks an Hegel und Husserl orientierter Begriff der »negativen Erfahrung« (▸ Kap. 6), Bernhard Waldenfels' Konzept der Erfahrung des Fremden (▸ Kap. 7) und Jean-François Lyotards Theorie des Widerstreits (▸ Kap. 8). Auch bei der Diskussion dieser Ansätze soll wiederum die Frage eine Rolle spielen, inwieweit sie es gestatten, die Bedeutung der sprachlichen bzw. semiotischen Dimension von Welt- und Selbstverhältnissen theoretisch zu erschließen.

Drittens bedarf die Ausarbeitung dieser Konzeption von Bildung einer Theorie der Transformationsprozesse selber, denen dem skizzierten Grundgedanken zufolge Welt- und Selbstverhältnisse bei der Konfrontation mit neuen Problemlagen unterliegen. Eine solche Theorie transformatorischer Bildungsprozesse hätte u. a. die Verlaufsformen und Prozessstrukturen jener Veränderungen zu untersuchen, die sich in und mit Welt- und Selbstverhältnissen vollziehen, sowie die Bedingungen zu klären, die zum Zustandekommen solcher Bildungsprozesse beitragen (bzw. solche Prozesse be- oder verhindern). Darüber hinaus wäre die Frage zu untersuchen, wie im Zuge von Transformationen Neues entsteht, wie also neue Grundfiguren des Welt- und Selbstverhältnisses hervorgebracht werden, die nicht einfach aus den bisherigen Figuren ableitbar sind. Der dritte Teil des Buches behandelt deshalb theoretische Ansätze aus unterschiedlichen Disziplinen, die innovatorische Prozesse in ganz verschiedenen Feldern zu erklären suchen, und diskutiert deren Bedeutung für eine Theorie transformatorischer Bildungsprozesse. Dabei handelt es sich um wissenschaftstheoretische bzw. philosophische Konzepte von Karl R. Popper, Thomas Kuhn und Charles S. Peirce, die die Entstehung neuer wissenschaftlicher Erkenntnisse zu beschreiben versuchen (▸ Kap. 9), um Ulrich Oevermanns Versuch einer sozialwissenschaftlichen Erklärung der Entstehung des Neuen (▸ Kap. 10) sowie um Konzepte Hans-Georg Gadamers, Jacques Derridas und Judith Butlers, die die Entstehung neuer Lesarten im Prozess hermeneutischer oder dekonstruktiver Lektüren zum Gegenstand haben (▸ Kap. 11).

Viertens schließlich hat eine Theorie, die den Anspruch erhebt, auch Anschlüsse für die empirische Analyse von Bildungsprozesse zu bieten, die Frage zu beantworten, auf welche Weise ein empirischer Zugang zu transformatorischen Bildungsprozessen im skizzierten Sinne möglich sein soll. In diesem Sinne setzt sich der vierte Teil des Buches zunächst in grundlegender Weise mit dem Verhältnis von Bildungstheorie und Bildungsforschung auseinander (▸ Kap. 12) und stellt dann das Programm einer bildungstheoretisch fundierten Biographieforschung vor, die bildungstheoretische Reflexionen mit der empirischen Untersuchung von Bildungsprozessen zu verknüpfen sucht (▸ Kap. 13), um abschließend am Beispiel der Lektüre eines literarischen Textes, des Romans Die Selbstmord-Schwestern von Jeffrey Eugenides, einen eigenen, die Grenzen der ›Empirie‹ respektierenden und zugleich verschiebenden Zugang zur Erforschung von Bildungsprozessen zu erproben (▸ Kap. 14).

Kapitel 15, das in der dritten Auflage neu hinzugefügt wurde (▸ Kap. 15), enthält eine Auseinandersetzung mit kritischen Einwänden, die seit dem ersten Erscheinen des Buches gegen die Theorie transformatorischer Bildungsprozesse vorgebracht worden sind.

Die Auswahl der genannten Autoren und Theorieansätze, die in diesem Buch vorgestellt werden sollen, enthält notwendiger Weise ein subjektives Moment, das nicht bis ins letzte begründet werden kann. Es wäre sicher denkbar und lohnend gewesen, auch andere Autoren und Theorien einzubeziehen – etwa die entwicklungstheoretischen Konzeptionen Piagets und Wygotskis, die durchaus Ähnlichkeiten mit dem Konzept transformatorischer Bildungsprozesse aufweisen, oder die Erziehungs- und Bildungstheorie John Deweys, die einen Vergleich sowohl mit dem Erfahrungsbegriff Bucks und Waldenfels' als auch mit den Wissenschaftstheorien Poppers, Kuhns und Peirce' ermöglicht hätte. Berührungspunkte gibt es auch mit psychologischen Ansätzen wie der Selbstkonzeptforschung (was die Thematisierung des Selbstverhältnisses angeht) oder dem Konzept kritischer Lebensereignisse (in Bezug auf die Frage nach den Anlässen transformatorischer Bildungsprozesse) sowie mit der aus der Erwachsenenbildung stammenden Konzeption des »transformative learning« (vgl. dazu Koller 2017 und die anderen Beiträge in Laros, Fuhr & Taylor 2017). Die Berücksichtigung all dieser Autoren und Ansätze aber hätte den Rahmen dieses Bandes gesprengt, der auf eine Vorlesung zurückgeht, die ich vor einigen Semestern am Fachbereich Erziehungswissenschaft der Universität Hamburg gehalten habe.

Dass auch mein Denken sich im Verlauf der Entstehung dieses Buches verändert hat, ist nicht zuletzt all jenen zu verdanken, die durch Anregungen, Kommentare und Kritik dazu beigetragen haben. Dazu gehören die TeilnehmerInnen der genannten Vorlesung sowie mehrerer Oberseminare, die über längere Zeit hinweg den hier behandelten Fragen gewidmet waren. Den Studierenden aus diesen Veranstaltungen, die mich durch ihre Fragen und Beiträge zur Weiterentwicklung meines Denkens genötigt haben, sei herzlich gedankt. Zu Dank verpflichtet bin ich auch den ZuhörerInnen mehrerer Vorträge bei Tagungen oder Ringvorlesungen, in denen Teile der folgenden Überlegungen vorgestellt wurden. Ganz besonderer Dank aber gilt Birgit Haustedt, Gereon Wulftange, Nadine Rose und Bettina Kleiner, von deren kritischen Rückmeldungen zu früheren Fassungen des Textes ich sehr profitiert habe, sowie Judith Zimmer, die das Typoskript Korrektur gelesen hat.

Endnoten

1Vgl. dazu ausführlich Koller 1999, S. 51 – 93.

2Vgl. dazu die Einführung in die sprachphilosophischen Schriften in Humboldt 1960 – 1981, Bd. V, S. 442 – 458.

3Vgl. z. B. seinen Plan einer vergleichenden Anthropologie (Humboldt 1960 – 1981, Bd. I, S. 337 – 375) oder seine auf zahlreiche Beispiele gestützten sprachphilosophischen Überlegungen Ueber den Dualis (a. a. O., Bd. III, S. 113 – 137).

4Kokemohr hat seine Überlegungen zur Reformulierung des Bildungsbegriffs zunächst in einigen eher verstreut erschienenen Arbeiten publiziert (vgl. Kokemohr 1989, 1992 und 2000 sowie Prawda & Kokemohr 1989). Die aktuellste und am weitesten ausgearbeitete Fassung stellt Kokemohr 2007 dar. Der Begriff »transformatorische Bildungsprozesse« und weitere wichtige Anregungen verdanke ich Helmut Peukert (vgl. Peukert 2000 und die Sammlung weiterer einschlägiger Beiträge in Peukert 2015).

5Dort beschreibt Kokemohr Bildung als »Prozess der Be- oder Verarbeitung solcher Erfahrungen [...], die der Subsumtion unter Figuren eines gegebenen Welt- und Selbstentwurfs widerstehen« und fährt fort: »Von Bildung zu sprechen sehe ich dann als gerechtfertigt an, wenn der Prozess der Be- oder Verarbeitung subsumtionsresistenter Erfahrung eine Veränderung von Grund legenden Figuren meines je gegebenen Welt- und Selbstentwurfs einschließt« (Kokemohr 2007, S. 21).

6Analog zu Humboldt, für den der Bezug auf »Welt« auch den Bezug zu anderen Menschen umfasst, schließt die Rede vom Welt- und Selbstverhältnis auch das Verhältnis zu anderen Menschen ein. Zur Verdeutlichung wäre deshalb die Formulierung »Welt-‍, Anderen- und Selbstverhältnis« vorzuziehen, auf die im Folgenden nur verzichtet wird, um die Ausdrucksweise nicht gar zu umständlich erscheinen zu lassen.

Teil I Zur Struktur von Welt- und Selbstverhältnissen

2 Habitus, Kapital und sozialer Raum.Zur Gesellschaftstheorie Pierre Bourdieus

Bourdieus Gesellschaftstheorie kann als ein erster Versuch verstanden werden, die Struktur von Welt- und Selbstverhältnissen theoretisch zu erfassen, da sie mit dem Habitusbegriff ein Konzept dafür bereitstellt, die längerfristigen Dispositionen zu beschreiben und zu erklären, die entscheidend dazu beitragen, dass Individuen so und nicht anders wahrnehmen, denken und handeln – oder anders formuliert: dass sie sich auf eine ganz bestimmte Weise zur Welt, zu anderen und zu sich selbst verhalten. Das Konzept des Habitus und seine Bedeutung für eine Theorie transformatorischer Bildungsprozesse lassen sich dabei am besten erläutern, wenn man sie in den Kontext zweier weiterer zentraler Konzepte von Bourdieus Gesellschaftstheorie stellt, nämlich den des ökonomischen, kulturellen und sozialen Kapitals sowie den des sozialen Raums.

2.1 Bourdieus Begriff des Habitus

Der Begriff des Habitus steht im Zentrum von Bourdieus Versuch, eine Gesellschaftstheorie als »Theorie der Praxis« zu entwickeln, die den Gegensatz von Objektivismus und Subjektivismus in der sozialwissenschaftlichen Theoriebildung überwindet (vgl. zum Folgenden Bourdieu 1987, S. 97 – 121). Während objektivistische Ansätze Bourdieu zufolge die gesellschaftliche Wirklichkeit als eine objektive Gegebenheit begreifen, fassen subjektivistische Konzeptionen die Wirklichkeit als Resultat des konstruktiven Agierens der Subjekte auf. Dem Begriff des Habitus kommt nun innerhalb von Bourdieus Gesellschaftstheorie die Aufgabe zu, zwischen beiden Ansätzen zu vermitteln und das Verhältnis des subjektiven Handelns bzw. der »Praktiken« der Akteure zu den objektiven gesellschaftlichen Bedingungen oder »Strukturen« genauer zu bestimmen.

In seinem Buch Le sens pratique, das auf Deutsch unter dem Titel Der soziale Sinn erschienen ist, beschreibt Bourdieu das Konzept des Habitus folgendermaßen:

»Die Konditionierungen, die mit einer bestimmten Klasse von Existenzbedingungen verknüpft sind, erzeugen die Habitusformen als Systeme dauerhafter und übertragbarer Dispositionen, als strukturierte Strukturen, die wie geschaffen sind, als strukturierende Strukturen zu fungieren, d. h. als Erzeugungs- und Ordnungsgrundlagen für Praktiken und Vorstellungen, die objektiv an ihr Ziel angepasst sein können, ohne jedoch bewusstes Anstreben von Zwecken und ausdrückliche Beherrschung der zu deren Erreichung erforderlichen Operationen vorauszusetzen, die objektiv ›geregelt‹ und ›regelmäßig‹ sind, ohne irgendwie das Ergebnis der Einhaltung von Regeln zu sein, und genau deswegen kollektiv aufeinander abgestimmt sind, ohne aus dem ordnenden Handeln eines Dirigenten hervorgegangen zu sein« (a. a. O., S. 98 f.; Hervorhebungen im Original).

Der Habitus stellt für Bourdieu also ein System relativ stabiler Dispositionen des Denkens (»Vorstellungen«) und des Handelns (»Praktiken«) dar, die das Welt- und Selbstverhältnis der Akteure in einer grundlegenden Weise strukturieren. Dem Zitat lassen sich darüber hinaus weitere wesentliche Merkmale dieses Dispositionsgefüges entnehmen: Der Habitus ist demzufolge erstens objektiv an ein Ziel angepasst, aber nicht notwendigerweise subjektiv zweckgerichtet (er setzt kein »bewusstes Anstreben von Zwecken« voraus). Er ist zweitens regelhaft (»›geregelt‹ und ›regelmäßig‹«), ohne dass die Akteure sich der Regeln bewusst und um deren Einhaltung bemüht zu sein brauchen – ähnlich wie der Gebrauch einer Sprache Regeln folgt, die den Sprechern oft gar nicht explizit mental verfügbar sind. Und der Habitus ist drittens ein kollektives Phänomen, dem aber keine sichtbaren Formen der Lenkung oder Leitung des individuellen Verhaltens zugrunde liegen. Er ist mit einem Wort unbewusst in dem Sinne, dass für sein Funktionieren kein Bewusstsein der Akteure von seiner Existenz notwendig ist.

Die Wirkungsweise des Habitus besteht dem Zitat zufolge darin, als eine Art Mittelglied zwischen den objektiven Existenzbedingungen und dem subjektiven Handeln zu fungieren. Nicht besonders elegant, aber treffend formuliert kommt das in der Wendung vom Habitus als ›strukturiert-strukturierender Struktur‹ zum Ausdruck: Selbst durch die objektiven Existenzbedingungen strukturiert, wirkt er seinerseits strukturierend auf das individuelle und kollektive Handeln ein.

Fragt man nun danach, wie diese Funktionsweise einer unbewussten Strukturierung des subjektiven Handelns durch objektive gesellschaftliche Bedingungen zustande kommt, so zeigt sich als zentraler Mechanismus der Entstehung des Habitus die »Verinnerlichung« bzw. die »Einverleibung« äußerer Strukturen (a. a. O., S. 102 und 107) im Laufe eines längerfristigen Sozialisationsprozesses, der bei Akteuren, die derselben gesellschaftlichen Klasse angehören, ähnliche Resultate hervorbringt. Entscheidend dabei (und von Bedeutung für eine Theorie transformatorischer Bildungsprozesse) ist vor allem die körperliche Dimension dieses Entstehungsvorgangs. Bourdieu schreibt:

»Eine Institution, zum Beispiel die Wirtschaftsform, ist nur dann vollständig und richtig lebensfähig, wenn sie dauerhaft nicht nur in den Dingen, also in der über den einzelnen Handelnden hinausreichenden Logik eines bestimmten Feldes objektiviert ist, sondern auch in den Leibern, also in den dauerhaften Dispositionen, die diesem Feld zugehörigen Erfordernisse anzuerkennen und zu erfüllen« (a. a. O., S. 108).

Die Dauerhaftigkeit jener Dispositionen des Denkens und Handelns, die den Habitus ausmachen, beruht also vor allem darauf, dass er im Körper der Akteure verankert ist.

Die durch den Habitus vermittelte Wirkung der objektiven Strukturen auf die Praktiken der Akteure ist dabei Bourdieu zufolge allerdings nicht im Sinne einer völligen Determination zu verstehen, sondern als Limitierung. Der Habitus legt das Handeln der Individuen mithin nicht in allen Einzelheiten fest, sondern schließt nur bestimmte, mit den objektiven Existenzbedingungen unvereinbare Handlungsweisen aus. Bourdieu spricht in diesem Zusammenhang von einer »bedingte‍[n] Freiheit«, die von der »unvorhergesehenen Neuschöpfung« ebenso weit entfernt sei wie von der »simplen mechanischen Reproduktion ursprünglicher Konditionierungen« (a. a. O., S. 103). Der Habitus stellt vielmehr eine »unendliche, aber dennoch strikt begrenzte Fähigkeit zur Erzeugung« (ebd.) »unendlich viele‍[r] und [...] relativ unvorhersehbare‍[r] Praktiken von dennoch begrenzter Verschiedenartigkeit« dar (a. a. O., S. 104) – wiederum vergleichbar mit den Strukturen einer Sprache, die es erlauben, aus einer begrenzten Anzahl von Elementen (Phonemen) und Verknüpfungsregeln (Wortbildung und Grammatik betreffend) eine unendliche Anzahl von Sätzen zu generieren, und die dennoch insofern limitierend wirkt, als sie bestimmte Möglichkeiten als ungrammatisch bzw. nicht zu dieser Sprache gehörig ausschließt.

Im Zusammenhang mit der Entstehung des Habitus war schon davon die Rede, dass der durch Verinnerlichung äußerer Strukturen entstandene Habitus den Akteuren gemeinsam ist, die derselben gesellschaftlichen Klasse angehören. Diese kollektive Dimension des Habitus bedeutet, dass der Habitus ein im Blick auf die jeweilige soziale Klasse oder Gruppe relativ homogenes System von Dispositionen darstellt. Die Ursache dafür besteht Bourdieu zufolge in der Homogenität der objektiven Existenzbedingungen und der damit verbundenen sozialen Konditionierungen der Mitglieder einer Klasse oder Gruppe (vgl. a. a. O., S. 111 f.). Nur so sei die oben beschriebene kollektive Wirkungsweise des Habitus ohne Absprache und ohne Dirigenten zu erklären. Zwar gesteht Bourdieu durchaus zu, dass es so etwas wie einen individuellen Habitus bzw. »Unterschiede zwischen den individuellen Habitusformen« gibt (a. a. O., S. 113), doch handelt es sich dabei ihm zufolge nur um individuelle Varianten ein und desselben Grundmusters, die durch die unendliche Anzahl möglicher Kombinationen derselben Elemente im Laufe eines Lebens erklärt werden können: »[J]‌edes System individueller Dispositionen ist eine strukturale Variante der anderen Systeme, in der die Einzigartigkeit der Stellung innerhalb der Klasse und des Lebenslaufs zum Ausdruck kommt« (ebd.).

Die theoretische Leistung des Habitus-Konzepts besteht vor allem darin, dass es die relative Konstanz und Regelmäßigkeit sozialer Praktiken besser zu erklären vermag als andere Modelle (wie z. B. Theorien rationalen Handelns), indem es diese Stabilität statt auf den Einfluss formaler Regeln, expliziter Normen oder bewusster Strategien auf die Wirksamkeit gesellschaftlich bedingter und von den Akteuren verinnerlichter Habitusformen zurückführt. Diese Erklärungskraft hat vor allem mit der zeitlichen Dimension des Habitus zu tun:

»Als einverleibte, zur Natur gewordene und damit als solche vergessene Geschichte ist der Habitus wirkende Präsenz der gesamten Vergangenheit, die ihn erzeugt hat. Deswegen macht gerade er die Praktiken relativ unabhängig von den äußeren Determiniertheiten der unmittelbaren Gegenwart« (a. a. O., S. 105; Hervorhebung im Original).

Die relative Stabilität individueller Denk- und Verhaltensweisen beruht für Bourdieu also auf der lebensgeschichtlichen Dimension des Habitus, seiner allmählichen Sedimentierung oder Verfestigung im Zuge eines langfristigen Sozialisations- und Konditionierungsvorgangs.

Zusammenfassend kann gesagt werden, dass Bourdieus Habitusbegriff sich als Konzept zur theoretischen Erfassung der Struktur von Welt- und Selbstverhältnissen verstehen lässt, dessen Besonderheit darin besteht, dass es den Habitus bzw. das Welt- und Selbstverhältnis als eine Art Mittelglied zwischen den objektiven Existenzbedingungen und dem subjektiven Handeln ansiedelt und ihnen dabei eine limitierende, aber keineswegs determinierende Funktion zuschreibt, dass es den weitgehend unbewussten körperlichen und kollektiven Charakter individueller Welt- und Selbstverhältnisse ins Zentrum der Aufmerksamkeit rückt und dass es deren zeitliche bzw. lebensgeschichtliche Dimension hervorhebt, indem es die Entstehung des Habitus in einer frühen sozialisatorischen Phase beginnen lässt und als fortgesetzten Prozess der Verinnerlichung äußerer Strukturen begreift.

2.2 Trägheit und Veränderlichkeit des Habitus: Zur Bedeutung von Bourdieus Habituskonzept für eine Theorie transformatorischer Bildungsprozesse

Das Interesse Bourdieus gilt dabei insgesamt eher der relativen Stabilität gesellschaftlicher Verhältnisse bzw. der Bedeutung des Habitus für die Aufrechterhaltung und Reproduktion objektiver Strukturen als Phänomenen des sozialen Wandels oder individueller Transformationsprozesse. Vor diesem Hintergrund liegt die Bedeutung, die das Habituskonzept für eine Bildungstheorie haben könnte, die an der Beschreibung und Erklärung individueller Veränderungen interessiert ist, zunächst vor allem darin, dass es die Trägheit individueller Welt- und Selbstverhältnisse und damit die Schwierigkeiten betont, die solchen Veränderungen im Wege stehen. Bourdieus Theorie stellt so gesehen eine Beschreibung oder Erklärung weniger für die Möglichkeit als vielmehr für die Unwahrscheinlichkeit transformatorischer Bildungsprozesse dar. Das zeigt sich besonders deutlich in der folgenden Passage, in der es um die dominierende Rolle der lebensgeschichtlich frühen Erfahrungen innerhalb der Wirkungsweise des Habitus geht:

»Der Habitus, der mit den Strukturen aus früheren Erfahrungen jederzeit neue Erfahrungen strukturieren kann, die diese alten Strukturen in den Grenzen ihres Selektionsvermögens beeinflussen, sorgt für eine einheitliche, von den Ersterfahrungen dominierte Aufnahme von Erfahrungen, die Mitglieder derselben Klasse statistisch miteinander gemein haben. Das besondere Gewicht der ursprünglichen Erfahrungen ergibt sich nämlich im wesentlichen daraus, daß der Habitus seine eigene Konstantheit und seine eigene Abwehr von Veränderungen über die Auswahl zu gewährleisten sucht, die er unter neuen Informationen trifft, indem er z. B. Informationen, die die akkumulierte Information in Frage stellen könnten, verwirft, wenn er zufällig auf sie stößt oder ihnen nicht ausweichen kann, und vor allem jedes Konfrontiertwerden mit derlei Informationen hintertreibt [...]. Durch die systematische ›Auswahl‹, die er zwischen Orten, Ereignissen, Personen des Umgangs trifft, schützt sich der Habitus vor Krisen und kritischer Befragung [...]« (Bourdieu 1987, S. 113 f.; Hervorhebung im Original).

Die durch frühere Erfahrungen gestiftete Struktur des Welt- und Selbstverhältnisses wirkt mithin als eine Art Selektionsinstanz im Blick auf nachfolgende Erfahrungen und Informationen. Indem der Habitus tendenziell nur solche Wahrnehmungen zulässt, die im Einklang mit seinem Verarbeitungsmodus stehen, bewahrt er sich vor krisenhaften Erfahrungen und daraus potentiell resultierenden Veränderungen.

Zeichnet sich der Habitus so betrachtet vor allem durch seine Trägheit und Veränderungsresistenz aus, die zu betonen Bourdieu nicht müde wird, so finden sich in einigen Formulierungen entgegen der manifesten Haupttendenz seiner Argumentation dennoch auch Momente, die eine Veränderung von Habitusformen bzw. Welt- und Selbstverhältnissen mindestens als denkbar erscheinen lassen. So ist z. B. an der gerade zitierten Stelle davon die Rede, dass zwar der Habitus »mit den Strukturen aus früheren Erfahrungen jederzeit neue Erfahrungen strukturieren« könne, dass diese jedoch ihrerseits auch umgekehrt die »alten Strukturen in den Grenzen ihres Selektionsvermögens beeinflussen«.7 Es gibt also für Bourdieu – wenn auch in eng gesteckten Grenzen – die Möglichkeit einer Rückwirkung neuer Erfahrungen auf alte Strukturen, was die Frage aufwirft, ob eine solche Rückwirkung in bestimmten, näher zu untersuchenden Fällen nicht auch zu einer Veränderung des Habitus führen kann.

Eine ähnliche Frage ergibt sich in einem anderen Zusammenhang, bei dem es um die zeitliche Dimension des Habitus geht. Wie oben wiedergegeben, macht seine Entstehung qua Einverleibung früherer Existenzbedingungen den Habitus relativ unabhängig von aktuellen Gegebenheiten. Entscheidend für die Erklärung aktueller Handlungsweisen, so argumentiert Bourdieu dort weiter, seien deshalb weder einfach die gegenwärtigen noch die vergangenen objektiven Bedingungen; ausschlaggebend sei vielmehr das Verhältnis zwischen beiden, d. h. die Relation zwischen den Entstehungs- und den Anwendungsbedingungen des Habitus (vgl. a. a. O., S. 104 f.). Aus dem zeitlichen Abstand zwischen der Entstehung und der ›Anwendung‹ oder Aktualisierung des Habitus folgt aber nicht nur die bereits erwähnte relative Unabhängigkeit des Habitus von den aktuellen gesellschaftlichen Bedingungen, sondern auch die Möglichkeit einer Diskrepanz zwischen aktuellen Bedingungen und Habitus:

»Die vom Habitus [...] bewirkte Gegenwart der Vergangenheit ist nie besser erkennbar, als wenn der Sinn der wahrscheinlichen Zukunft plötzlich Lügen gestraft wird und Dispositionen, die infolge eines Effekts der Hysteresis [...] schlecht an die objektiven Möglichkeiten angepaßt sind, bestraft werden, weil das Milieu, auf das sie real treffen, zu weit von dem entfernt ist, zu dem sie objektiv passen. Das Weiterwirken der Erstkonditionierungen in Gestalt des Habitus kann nämlich auch und ebenso gut die Fälle erklären, wo sich Dispositionen unerwünscht auswirken und Praktiken den vorliegenden Bedingungen objektiv unangepasst, weil objektiv für überholte oder beseitigte Bedingungen passend sind. Die Neigung zum Verharren in ihrem Sosein, welche bei Gruppen unter anderem darauf zurückgeht, daß die Handelnden der Gruppe dauerhafte Dispositionen aufweisen, die sich unter Umständen länger halten als die ökonomischen und sozialen Bedingungen ihrer Erzeugung, kann Grundlage sowohl von Nichtanpassung wie von Anpassung, von Auflehnung wie von Resignation sein« (a. a. O., S. 117; Hervorhebung im Original).

Den Ausgangspunkt dieser Passage bildet die Situation, dass Subjekte im Laufe ihrer Sozialisation bestimmte Wahrnehmungs-‍, Denk- und Handlungsschemata erworben haben, die den damaligen gesellschaftlichen Bedingungen entsprachen, dass diese Bedingungen sich aber von denen, mit denen sie in der Gegenwart konfrontiert sind, erheblich unterscheiden. Ein naheliegendes Beispiel dafür ist die Situation von Migranten, für die es häufig der Fall sein dürfte, dass die sozialen Strukturen, unter denen ihr Habitus in der Herkunftsgesellschaft entstanden ist, von denen der Aufnahmegesellschaft differieren, unter denen er Anwendung findet. Bourdieu bezeichnet diese Situation mit einem Begriff aus der Physik als »Hysteresis«, d. h. als das Fortdauern einer Wirkung, deren Ursache längst verschwunden ist.

Angesichts dieser Situation stellt sich die Frage, wie darin verwickelte Individuen auf diese Situation reagieren. Bourdieu hält offenbar zwei Möglichkeiten für denkbar, nämlich einerseits, dass die Akteure sich den neuen Bedingungen resignativ anpassen, und andererseits, dass sie sich dagegen auflehnen. Beides aber, Anpassung wie Auflehnung, scheint für Bourdieu von einer Tendenz der Habitusformen »zum Verharren in ihrem Sosein« gekennzeichnet zu sein. Im einen Fall, so wäre zu folgern, verweigern sich die Handelnden der Anpassung an die neuen Umstände, weil sie dazu neigen, an ihren einmal erworbenen Dispositionen festzuhalten; im andern Fall scheint dieselbe Beharrungstendenz zur Anpassung zu führen, weil es den Akteuren an alternativen Möglichkeiten der Wahrnehmung, des Denkens und des Handelns fehlt. Zu fragen wäre jedoch, ob dieselbe Situation nicht unter bestimmten Bedingungen auch dazu führen kann, dass sich die ›unpassend‹ gewordenen Habitusformen selbst verändern bzw. dass neue Wahrnehmungs-‍, Denk- und Handlungsdispositionen entstehen.

In diesem Sinne wäre Bildung angesichts einer Konfrontation mit veränderten Existenzbedingungen mit und gegen Bourdieu8 als Transformation des jeweiligen Habitus zu begreifen, soweit sich dieser unter den veränderten gesellschaftlichen Bedingungen als nicht mehr angemessen erweist. Die Frage lautet dann, wie der Prozess solcher Habitustransformationen und die Bedingungen, unter denen sie zustande kommen, genauer beschrieben werden können. Worauf können Individuen zurückgreifen, wenn sie mit Situationen konfrontiert werden, für die ihre Interpretations- und Handlungsschemata nicht mehr ausreichen?

2.3 Kulturelles Kapital und symbolische Kämpfe: Zu den gesellschaftlichen Bedingungen transformatorischer Bildungsprozesse

Das entscheidende begriffliche Konzept für die Bearbeitung dieser Fragen im Rahmen von Bourdieus Theorie stellt der Begriff des Kapitals bzw. der Kapitalsorten dar (vgl. zum Folgenden Bourdieu 1992). Unter Kapital versteht Bourdieu sämtliche Formen akkumulierter Arbeit, auf die Individuen und Gruppen in ihrem Handeln als Ressourcen zurückgreifen können, die aber gesellschaftlich höchst ungleich verteilt sind. Wichtig daran ist in unserem Zusammenhang vor allem, dass dieses Konzept es Bourdieu erlaubt, den Zusammenhang der Habitusformen mit gesellschaftlichen Machtverhältnissen genauer zu fassen und dabei die ungleiche Verteilung von Macht (im Sinne von Verfügungsmöglichkeiten über bestimmte Ressourcen) zu thematisieren, ohne sie auf das Ökonomische zu reduzieren. Denn die entscheidende Wendung, die Bourdieu dem Kapitalbegriff gegenüber seiner geläufigen Verwendung gibt, ist die Ausweitung vom Bereich der Ökonomie bzw. des Warentauschs auf alle anderen Formen sozialen Austauschs. In diesem Sinne unterscheidet Bourdieu drei grundlegende Arten von Kapital, die zugleich drei Arten von Macht darstellen: ökonomisches, kulturelles und soziales Kapital. Während das ökonomische Kapital Bourdieu zufolge vor allem aus Geld sowie aus direkt in Geld konvertierbaren materiellen Gütern besteht und letzten Endes allen anderen Kapitalsorten zugrunde liegt, können kulturelles und soziales Kapital ihrerseits keineswegs beliebig in jenes (rück-)‌verwandelt werden, weil ihre Umwandlung eine spezifische Transformationsarbeit erforderlich mache und weil ihre Wirkung u. a. darauf beruhe, dass ihre Herkunft aus dem ökonomischen Kapital verborgen bleibt.

Kulturelles Kapital existiert für Bourdieu in drei verschiedenen Formen. Als inkorporiertes