Grundbegriffe, Theorien und Methoden der Erziehungswissenschaft - Hans-Christoph Koller - E-Book

Grundbegriffe, Theorien und Methoden der Erziehungswissenschaft E-Book

Hans-Christoph Koller

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Beschreibung

This volume imparts the most important basic concepts, theoretical approaches and methodology of educational science. The first part introduces the basic concepts of upbringing, education and socialization and clarifies their importance for situations in educational work using example cases. The second part is concerned with the question of what it is that makes statements about upbringing, education and socialization into scientific statements. For this purpose, various views of science are presented and their relevance to educational work is examined using examples.

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Der Autor

Hans-Christoph Koller ist Professor für Allgemeine Erziehungswissenschaft an der Universität Hamburg. Er hat Erziehungswissenschaft, Germanistik und Politikwissenschaft studiert und ist Autor zahlreicher Publikationen zu Grundbegriffen der Erziehungswissenschaft, zur Theorie der Bildung, zur qualitativen Bildungs- und Biographieforschung sowie zu literarischen Texten als Quellen erziehungswissenschaftlicher Theoriebildung. Sein besonderes Interesse gilt der theoretischen Reflexion und der empirischen Erforschung transformatorischer Bildungsprozesse. Von 2014 bis 2018 war er Vorsitzender der Deutschen Gesellschaft für Erziehungswissenschaft.

Hans-Christoph Koller

Grundbegriffe, Theorien und Methoden der Erziehungswissenschaft

Eine Einführung

9. Auflage

Verlag W. Kohlhammer

Dieses Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwendung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechts ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und für die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen.

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9. Auflage 2021

Alle Rechte vorbehalten

© W. Kohlhammer GmbH, Stuttgart

Gesamtherstellung: W. Kohlhammer GmbH, Stuttgart

Print:

ISBN 978-3-17-039810-8

E-Book-Formate:

pdf:        ISBN 978-3-17-039811-5

epub:     ISBN 978-3-17-039812-2

mobi:     ISBN 978-3-17-039813-9

Inhaltsverzeichnis

 

 

 

Einleitung

1   Warum die Auseinandersetzung mit Grundbegriffen, Theorien und Methoden der Erziehungswissenschaft notwendig ist

2   Wie dieses Buch entstanden ist

3   Was sind Grundbegriffe, Theorien und Methoden?

4   Zum Umgang mit diesem Buch

Teil I   Grundbegriffe und Theorien

1   Der Erziehungsbegriff der Aufklärung: Kant

1.1   »Was ist Aufklärung?«

1.2   Das »pädagogische Jahrhundert«

1.3   Kants Begriff von Erziehung

1.4   »Weil ich möchte, daß du selbstständig denkst« – Analyse eines Beispiels

2   Der Erziehungsbegriff der Gegenwart: Brezinka und Kron

2.1   Erziehung als Beeinflussung psychischer Dispositionen (Brezinka)

2.2   Erziehung als symbolische Interaktion (Kron)

2.3   Diskussion der beiden Ansätze: Deskriptive und normative Aspekte des Erziehungsbegriffs

3   Der Bildungsbegriff des Neuhumanismus: Humboldt

3.1   Das Verhältnis von Bildung und Erziehung

3.2   Die Bildungstheorie Wilhelm von Humboldts

3.2.1   »Die höchste und proportionirlichste Bildung seiner Kräfte zu einem Ganzen«

3.2.2   Bildung als »Wechselwirkung« von Ich und Welt

3.2.3   Sprache(n) als Gegenstand und Medium von Bildung

3.3   Zur Aktualität von Humboldts Bildungstheorie

4   Der Bildungsbegriff der Gegenwart: Horkheimer und Klafki

4.1   Der Bildungsbegriff der

Kritischen Theorie

(Horkheimer)

4.2   Bildung als Allgemeinbildung (Klafki)

4.3   Diskussion der Bildungstheorien Horkheimers und Klafkis

5   Die Anfänge der Sozialisationstheorie um 1900: Durkheim

5.1   Die gesellschaftliche Veränderlichkeit von Erziehungszielen

5.2   Die gesellschaftliche Funktion von Erziehung: Reproduktion der gesellschaftlichen Verhältnisse

5.3   Die gesellschaftliche Veränderlichkeit von Erziehungsmethoden

5.4   Die Schule als Sozialisationsinstanz: Analyse eines Beispiels

6   Der Sozialisationsbegriff der Gegenwart: Bourdieu

6.1   Der Begriff des Kapitals: Sozialisation als Kapitalerwerb

6.2   Sozialisation als Positionierung im sozialen Raum

6.3   Bourdieus Begriff des Habitus: Sozialisation als Habitualisierung

6.4   Die Bedeutung von Bourdieus Gesellschafts- und Sozialisationstheorie für die Erziehungswissenschaft

7   Zwischenbilanz: Zum Verhältnis der Grundbegriffe

Erziehung, Bildung

und

Sozialisation

7.1   Resümee aus der Perspektive des Erziehungsbegriffs

7.2   Resümee aus der Perspektive des Sozialisationsbegriffs

7.3   Resümee aus der Perspektive des Bildungsbegriffs

Teil II   Methoden

8   Der methodische Ansatz der

Empirischen Erziehungswissenschaft

8.1   Die Einteilung der Wissenschaften und die Erklären-Verstehen-Debatte

8.2   Was ist eine wissenschaftliche Erklärung?

8.3   Intersubjektive Nachprüfbarkeit. Die Wissenschaftstheorie des Kritischen Rationalismus (Popper)

8.4   Die Wissenschaftlichkeit von Wahrscheinlichkeitsaussagen

8.5   Ein Beispiel aus der Erziehungswissenschaft

9   Der

hermeneutische

Ansatz in der Erziehungswissenschaft

9.1   Die Begründung des Verstehens als Methode der Erziehungswissenschaft

9.2   Grundregeln des wissenschaftlichen Verstehens

9.2.1   Dauerhafte Fixierung des zu Verstehenden

9.2.2   Explikation und Überprüfung des eigenen Vorverständnisses

9.2.3   Berücksichtigung der semantischen und syntaktischen Besonderheiten des Textes

9.2.4   Berücksichtigung des Kontexts

9.2.5   Der hermeneutische Zirkel

9.2.6   Das Problem der Objektivierung von Werturteilen und das Verfahren des Vergleichs

9.3   Die Kritik am hermeneutischen Wissenschaftsverständnis

9.4   Qualitative Sozialforschung und ihre Bedeutung für die Erziehungswissenschaft

10 Der methodische Ansatz der

Kritischen Erziehungswissenschaft

10.1 Die Kritik am empirisch-analytischen Wissenschaftsverständnis

10.2 Habermas’ Konzeption unterschiedlicher Erkenntnisinteressen

10.3 Das emanzipatorische Erkenntnisinteresse

10.4 Zum Postulat der Wertfreiheit von Wissenschaft

10.5 Zur Bedeutung des methodischen Ansatzes der Kritischen Erziehungswissenschaft für die erziehungswissenschaftliche Forschung

Literaturverzeichnis

Anmerkungen

Einleitung

 

 

 

Als ich vor etlichen Jahren eine Professur für Allgemeine Erziehungswissenschaft an der Universität Hamburg antrat, zeichnete sich das Lehrangebot in diesem Fach vor allem durch eine erstaunliche Breite und Vielfalt aus. So reichte das Spektrum an Veranstaltungen im Grundstudium im Sommersemester 1999 z. B. von einer »Einführung in die pädagogische Ethik« über Seminartitel wie »Sexualpädagogik und Rollenspiel« oder »Korczak lesen« bis zu Themen wie »Urlaub als Förderung der Völkerverständigung?« oder »Die Situation arabisch sprechender Kinder in Hamburg«.1 Ein solches Angebot, verbunden mit einer relativ großen Wahlfreiheit bei der Auswahl von Lehrveranstaltungen – heute angesichts modularisierter Bachelor- und Masterstudiengänge kaum noch vorstellbar – gab Studierenden die Chance, aktuellen Fragestellungen und individuellen Interessen nachzugehen. Es hinterließ aber auch den Eindruck einer gewissen Beliebigkeit und hatte den Nachteil, dass es seinen Adressaten kaum Orientierung dafür bot, wie sie ihr Studium der Erziehungswissenschaft sinnvoll gestalten und dabei grundlegende Inhalte von ergänzenden oder vertiefenden Angeboten unterscheiden können.

Vor diesem Hintergrund habe ich vor einigen Jahren damit begonnen, Lehrveranstaltungen in Allgemeiner Erziehungswissenschaft anzubieten, die das Ziel verfolgen, einen Überblick über die wichtigsten begrifflichen, theoretischen und methodischen Grundlagen der Erziehungswissenschaft zu geben und diese Inhalte zugleich an ausgewählten Beispielen auf ihre Bedeutung für das Verständnis praktisch-pädagogischer Problemsituationen zu prüfen. Solche Veranstaltungen sind in Hamburg mittlerweile unter dem Titel »Grundbegriffe, Theorien und Methoden der Erziehungswissenschaft« in die Studienordnungen der erziehungswissenschaftlichen Bachelor-Studiengänge aufgenommen worden. Das vorliegende Buch stellt nun den Versuch dar, eine solche Einführung in Buchform vorzulegen.

Bevor das Konzept dieser Einführung im Folgenden genauer vorgestellt wird, soll eine Frage erörtert werden, die erfahrungsgemäß gerade Studienanfänger(innen) besonders beschäftigt: die Frage nämlich, warum die Auseinandersetzung mit den im Titel des Buches aufgeführten Themen im Blick auf eine künftige pädagogische Berufstätigkeit überhaupt erforderlich ist.

1           Warum die Auseinandersetzung mit Grundbegriffen, Theorien und Methoden der Erziehungswissenschaft notwendig ist

Wer Erziehungswissenschaft studiert, tut dies in der Regel, weil er oder sie einen pädagogischen Beruf ergreifen möchte: Die meisten Studierenden des Faches wollen Lehrerin oder Lehrer werden und müssen zu diesem Zweck neben Vorlesungen und Seminaren in ihren Unterrichtsfächern auch erziehungswissenschaftliche Lehrveranstaltungen besuchen. Andere streben eine pädagogische Tätigkeit im außerschulischen Bereich an und haben sich zu diesem Zweck in einem entsprechenden erziehungswissenschaftlichen (Hauptfach-)Studiengang eingeschrieben. Wenn Sinn und Zweck eines Studiums der Erziehungswissenschaft nicht nur in der Sache selbst, sondern auch und vor allem in der Vorbereitung auf eine pädagogische Berufstätigkeit liegt, so stellt sich die Frage, warum für eine solche Berufstätigkeit gerade die Kenntnis erziehungswissenschaftlicher Begriffe, Theorien und Methoden erforderlich sein soll. Wäre es nicht zweckmäßiger, Studierenden statt grundlegender theoretischer Erörterungen möglichst präzise Anweisungen für das ›richtige‹ pädagogische Handeln anzubieten, also eine Art Rezeptsammlung nebst einer Liste Was man auf keinen Fall tun sollte?

Diesem Buch liegt die Überzeugung zugrunde, dass für die Ausübung eines pädagogischen Berufs die Auseinandersetzung mit wissenschaftlichen Theorien und Methoden vor allem deshalb unverzichtbar ist, weil das, worauf es beim pädagogischen Handeln ankommt, sich nicht in der Anwendung rezeptförmiger Anweisungen erschöpft. Pädagogische Handlungskompetenz, also die Summe der für eine Berufstätigkeit als Pädagogin oder Pädagoge unentbehrlichen Kenntnisse und Fähigkeiten, lässt sich nicht einfach als ein Vorrat an Wissen begreifen, das man in Form von Verhaltensregeln formulieren und dann gleichsam mechanisch anwenden könnte. Für diese These (deren ausführliche Begründung eine eigene Theorie pädagogischen Handelns erfordern würde) lassen sich vor allem drei Gründe anführen.

Der erste Grund besteht in der Umstrittenheit des pädagogischen Wissens. In pädagogisch relevanten Fragen gibt es in der Regel nicht eine einzige anerkannte Position, sondern eine Vielzahl unterschiedlicher, oft sogar entgegengesetzter Ansichten, die alle mit mehr oder weniger guten Gründen vorgetragen werden. Es genügt also nicht, sich einfach einer Ansicht anzuschließen (wie man es tun müsste, wenn man rezeptförmigen Handlungsanweisungen folgt). Es kommt vielmehr darauf an, die unterschiedlichen Vorstellungen über die ›richtige‹ pädagogische Vorgehensweise zu vergleichen, ihre Voraussetzungen und Begründungen zu prüfen und durch Abwägen der Argumente zu einem eigenen Urteil zu gelangen. Über die bloße Aneignung von Wissen hinaus bedarf es also einer eigenen Urteilskompetenz, d. h. der Fähigkeit, pädagogische Konzepte selbstständig kritisch zu beurteilen. Für den Erwerb dieser Fähigkeit aber ist die Beschäftigung mit wissenschaftlichen Theorien die beste Voraussetzung, weil es zu den wesentlichen Merkmalen wissenschaftlicher Arbeit gehört, sich in kritischer Auseinandersetzung mit vorliegenden Positionen ein eigenes Urteil zu bilden.

Den zweiten Grund für die Unmöglichkeit, pädagogisches Handeln als Anwendung rezeptförmigen Wissens zu begreifen, stellt die Einzigartigkeit der Situationen und der Menschen dar, mit denen es Pädagoginnen und Pädagogen zu tun haben. Die Situationen, in denen sich pädagogische Handlungsfähigkeit erweisen und bewähren muss, unterscheiden sich voneinander vor allem durch die Individualität der Adressaten des pädagogischen Tuns: Kein Kind, kein Schüler und kein lernender Erwachsener gleicht dem anderen – und doch soll pädagogisches Handeln jedem von ihnen auf seine Weise gerecht werden. Zur pädagogischen Handlungskompetenz gehört deshalb auch die Fähigkeit, das relevante Fach- und Methodenwissen, das ja stets in allgemeinen Formulierungen vorliegt, auf je besondere, ja einzigartige Situationen und Menschen zu beziehen. Sofern diese Fähigkeit etwas mit dem Verstehen dieser Situationen und Menschen zu tun hat, kann man sie als hermeneutische Kompetenz bezeichnen.

Der dritte Grund schließlich liegt im Zukunftsbezug des pädagogischen Handelns. Zur Verdeutlichung dieser Überlegung mag ein kleines Gedankenexperiment dienen2: Gehen wir zu diesem Zweck von jungen Menschen aus, die im Jahre 2015 ein Studium der Erziehungswissenschaft begonnen haben. In diesem Studium erwerben sie Kenntnisse und Fähigkeiten, deren Sinn und Zweck sich erst in der Zukunft, nämlich in ihrem künftigen beruflichen Handeln als Pädagoginnen und Pädagogen herausstellen wird – d. h. also etwa ab dem Jahr 2020. Freilich erschöpft sich der Sinn dieser Kenntnisse und Fähigkeiten nicht in deren Bedeutung für die Zeit unmittelbar nach dem Studium, sondern soll sich vielmehr während der gesamten Berufstätigkeit erweisen – in unserem Beispiel also z. B. noch im Jahre 2060 (wenn man davon ausgeht, dass unsere Studienanfänger 2015 ca. 20 Jahre alt sind und bis ins Alter von 65 Jahren in ihrem Beruf arbeiten werden). Doch damit nicht genug. Sofern der Sinn pädagogischen Handelns u. a. darin besteht, Menschen dabei zu helfen, mit dem eigenen Leben zurecht zu kommen, so muss sich das 2015 erworbene Wissen also auch noch bei der Frage bewähren, wie diejenigen, die um die Jahrhundertmitte Adressaten des pädagogischen Handelns unserer heutigen Studierenden sind, mit ihrem künftigen Leben zurecht kommen werden – einem Leben, das, wenn es sich um junge Menschen handelt, noch bis ins nächste Jahrhundert reichen kann. Der Wert des 2015 erworbenen Wissens unserer Pädagogik-Studierenden muss sich so betrachtet also noch in hundert Jahren erweisen, d. h. in einer Zeit und unter Bedingungen, über die wir mit Sicherheit nur eines sagen können: dass wir sie heute noch nicht kennen.

Der Zukunftsbezug des pädagogischen Handelns hat also zur Konsequenz, dass die dafür notwendigen Kenntnisse und Fähigkeiten sich auch noch unter heute weitgehend unbekannten Bedingungen bewähren müssen. Zur pädagogischen Handlungskompetenz gehört deshalb auch die Fähigkeit, pädagogisch relevantes Wissen auf sich verändernde und in hohem Maße ungewisse Situationen zu beziehen, oder – anders formuliert – die Fähigkeit, dieses Wissen in Auseinandersetzung mit neuen Problemlagen immer wieder kritisch zu überprüfen und kreativ weiterzuentwickeln. Man kann diese Fähigkeit zum lebenslangen Weiterdenken zusammen mit Urteilsfähigkeit und hermeneutischer Kompetenz unter dem Oberbegriff der Reflexionskompetenz zusammenfassen. Diese Reflexionskompetenz als Kernstück pädagogischer Handlungsfähigkeit besteht also darin, pädagogisches Wissen selbstständig zu beurteilen und sowohl flexibel als auch kreativ auf je besondere und sich ständig verändernde Situationen zu beziehen. Dieses ›Beziehen-auf‹ unterscheidet sich von der bloßen ›Anwendung‹ eines Wissens dadurch, dass die je besonderen und neuartigen Situationen jenem Wissen nicht einfach untergeordnet werden und dabei nur als Bestätigung des schon vorhandenen Wissens fungieren. Jenes Wissen dient vielmehr umgekehrt gerade dazu, die jeweiligen Situationen in ihrer Besonderheit zu erschließen sowie nach neuen Handlungsmöglichkeiten darin zu fragen. Darüber hinaus trägt der Bezug auf die jeweilige Situation jedoch auch dazu bei, jenes Wissen immer wieder einer kritischen Prüfung zu unterziehen und bei Bedarf kreativ weiterzuentwickeln.

Um die Beziehung von Wissen (»Theorie«) und Situation (»Praxis«), die hier verhandelt wird, zu veranschaulichen, kann man sie mit der Lage von Menschen vergleichen, die in ein fremdes Land reisen möchten. Um sich auf diese Reise vorzubereiten, könnten sie z. B. Reiseführer lesen, die ihnen Hinweise darauf geben, welche Orte in jenem Land besonders sehenswert sind, wie man zu ihnen gelangt und welche Verhaltensregeln dort zu beachten sind. Der Nachteil einer solchen Vorgehensweise besteht freilich darin, dass die Reisenden bei ihrem Aufenthalt in jenem fremden Land im Vertrauen auf die Reiseführer möglicherweise nur das wahrnehmen, was in den Büchern beschrieben wird, aber anderes übersehen – wie z. B. das Elendsviertel direkt neben dem Tempel, den die Reiseführer als Hauptsehenswürdigkeit aufführen. Die entgegengesetzte Möglichkeit bestünde deshalb im bewussten Verzicht auf Reiseführer und andere Quellen, um sich stattdessen dem fremden Land möglichst unvoreingenommen und spontan zu nähern. Dabei droht allerdings die Gefahr, dass man vieles, was nicht direkt am Wege liegt, überhaupt nicht zu Gesicht bekommt, weil Menschen dazu neigen, nur das wahrzunehmen, auf das sie in irgendeiner Weise vorbereitet sind. Schlimmer noch: Unsere Reisenden könnten bei einer solchen Vorgehensweise mit den ihnen vertrauten Verhaltensweisen in jenem fremden Land kläglich Schiffbruch erleiden, weil dort z. B. im Blick auf Sprache, Umgangsformen, Kleidung und Essensgewohnheiten andere Regeln gelten als dort, wo sie herkommen.

Übertragen auf das Verhältnis von Theorie und Praxis in der Pädagogik entsprechen die Reise in das fremde Land der pädagogischen Berufstätigkeit, für die die Studierenden ausgebildet werden, und die Reiseführer dem verfügbaren Vorrat an pädagogischem Theorie- und Methodenwissen. Da es gleichermaßen fatal wäre, sich diesem Land völlig unvorbereitet auszusetzen wie sich den eigenen Blick ganz durch Bücher verstellen zu lassen, kommt es darauf an, einen dritten Weg jenseits dieser falschen Alternative zu finden. Zu diesem dritten Weg gehört auf der einen Seite die Bereitschaft, sich pädagogisch relevantes Theorie- und Methodenwissen anzueignen, auch wenn nicht immer sofort ersichtlich ist, wozu es im fremden Land der künftigen Berufstätigkeit einmal gut sein kann. Auf der anderen Seite bedarf es aber auch der Erprobung dieses Wissens an praktischen Situationen, bei der es zu fragen gilt, was man an einer Situation Neues entdecken kann, wenn man sie aus der Perspektive unterschiedlicher Theorien betrachtet und welche neuen Handlungsmöglichkeiten sich dabei erschließen lassen. Dabei ist es freilich unentbehrlich, stets zugleich auch zu prüfen, inwiefern eine Theorie bei der Konfrontation mit einer praktischen Situation an ihre Grenzen gerät und wie sie gegebenenfalls modifiziert oder weiterentwickelt werden muss, um auch diese Situation zu erfassen und neue Handlungsperspektiven darin zu eröffnen.

Dabei sollte allerdings ein wichtiger Unterschied zwischen den Reisevorbereitungen und der Reise selbst nicht übersehen werden. Die pädagogische Berufstätigkeit unterscheidet sich vom Studium vor allem dadurch, dass man darin – wie in jeder Praxis – unter dem Zwang steht, sich in knapper Zeit für eine der zur Verfügung stehenden Handlungsoptionen entscheiden zu müssen. Wer praktisch handelt, muss Entscheidungen treffen, und zwar in der Regel unter Zeitdruck, d. h. ohne zuvor in Ruhe alle Handlungsalternativen samt der Pro- und Kontra-Argumente prüfen zu können. Und gerade wegen dieses Zeitdrucks stellt auch das Aufschieben oder gar Verweigern einer Entscheidung selbst eine Entscheidung dar, die unweigerlich Konsequenzen nach sich zieht. Demgegenüber ist ein Studium von solchem Zeit- und Handlungsdruck weitgehend frei. Obwohl auch das Studieren selbst unter Bedingungen stattfindet, die keine beliebig ausführlichen Reflexionen erlauben, bietet es doch die Gelegenheit, praktische Situationen entlastet von unmittelbarem Entscheidungszwang in Ruhe zu analysieren, Argumente und Gegenargumente abzuwägen und theoretische Überlegungen gedankenexperimentell auf konkrete Situationen zu beziehen.

Das vorliegende Buch ist ein Plädoyer und eine Anleitung dafür, diese Gelegenheit, die ein Studium der Erziehungswissenschaft bietet, zu nutzen, statt vorschnell nach rezeptförmigen Handlungsanweisungen Ausschau zu halten.

2           Wie dieses Buch entstanden ist

Dieses Buch geht nicht nur auf meine persönlichen Erfahrungen als Hochschullehrer zurück, von denen einleitend die Rede war, sondern ist auch im Kontext einer hochschulpolitischen Debatte entstanden, die unter der Überschrift »Kerncurriculum Erziehungswissenschaft« geführt wurde und wird. Diese Debatte betrifft die Frage, was eigentlich den Kern eines erziehungswissenschaftlichen Studiums ausmacht oder ausmachen soll. Ihren Hintergrund bildet die von vielen geteilte Einschätzung, dass das Pädagogikstudium in seiner bisherigen Form zu wenig strukturiert war und hinsichtlich der Studieninhalte und des Lehrangebots eine allzu große Beliebigkeit aufwies.3 Ein Kerncurriculum Erziehungswissenschaft soll diesem Missstand abhelfen, indem es einen verbindlichen »Kern« an wissenschaftlichen Fragestellungen und Grundkenntnissen ausweist, der es Studierenden und Lehrenden erlaubt, zwei Arten von Studieninhalten zu unterscheiden: ein für die Vorbereitung auf die künftige pädagogische Tätigkeit unentbehrliches Wissen sowie ein spezielleres Wissen, das Gegenstand studiengangsspezifischer und individueller Schwerpunktsetzungen darstellt. Die Funktion, die dem als »Kern« ausgewiesenen Wissen zugeschrieben wird, besteht darin, eine verlässliche Grundlage an Kenntnissen zu schaffen, die als gemeinsame Basis für Schwerpunktsetzungen und Vertiefungen im weiteren Studium dienen soll.4

In diesem Sinne wurde an der Universität Hamburg seit einigen Jahren ein solches Kerncurriculum Erziehungswissenschaft entwickelt und erprobt, das im Umfang und Zuschnitt an den Erfordernissen der Lehramtsstudiengänge ausgerichtet ist, aber auch Geltung für ein erziehungswissenschaftliches (Hauptfach-) Studium beansprucht, das auf pädagogische Tätigkeiten außerhalb der Schule vorbereitet. Dieses Kerncurriculum besteht aus einer Reihe von Lehrveranstaltungen, deren Themen und Inhalte die von den Prüfungs- und Studienordnungen festgelegten Rahmenbedingungen im Fach Erziehungswissenschaft näher konkretisieren.5

Für jede dieser Veranstaltungen hat eine Gruppe von Lehrenden ein Rahmenkonzept entwickelt, das Ziele, Inhalte und Lehr-Lern- Formen der Veranstaltung beschreibt und an der Universität Hamburg nach einer zweijährigen Erprobungsphase ab dem Sommersemester 2004 verbindlich eingeführt wurde. Die damals entwickelten Rahmenkonzepte haben mittlerweile Eingang in das Modul »Grundlagen der Erziehungswissenschaft« in den Lehramtsstudiengängen sowie im Bachelorstudiengang »Erziehungs- und Bildungswissenschaft« gefunden. Das vorliegende Buch basiert auf dem Rahmenkonzept der Veranstaltung Grundbegriffe, Theorien und Methoden der Erziehungswissenschaft.6 Dieses Rahmenkonzept zielt darauf ab, einen Überblick über die wichtigsten begrifflichen, theoretischen und methodischen Grundlagen der Erziehungswissenschaft zu vermitteln und dies mit einer exemplarischen Vertiefung ausgewählter Problemstellungen zu verbinden. Das vorliegende Buch stellt nun meine Version einer Ausgestaltung dieses Rahmenkonzepts dar, die auf mehreren Vorlesungen und Seminaren beruht, die ich seit 2001 an der Universität Hamburg durchgeführt habe.

3           Was sind Grundbegriffe, Theorien und Methoden?

Der Titel des Buches und die Rede von einem »Kerncurriculum« könnte den Eindruck erwecken, es gäbe so etwas wie einen verbindlichen Kanon an pädagogischem Grundwissen, der zwischen den Lehrenden des Fachs unumstritten sei und den alle Studierenden sich aneignen müssten, um halbwegs erfolgreich durchs Studium zu kommen. Doch so plausibel der Wunsch nach Orientierung auch sein mag, so wenig Übereinstimmung besteht bei den Vertretern des Faches in der Frage, was denn nun konkret den Kern des erziehungswissenschaftlichen Studiums ausmachen soll und welche Grundbegriffe, Theorien und Methoden dabei unbedingt erörtert werden müssen. Was im Folgenden vorgelegt wird, ist also nichts anderes als ein Vorschlag, wie eine Einführung in grundlegende Fragen der Erziehungswissenschaft aussehen könnte.

Um diesen Vorschlag näher vorzustellen, sei zunächst erläutert, was darin unter Grundbegriffen, Theorien und Methoden verstanden wird. Die Bedeutung dieser Termini lässt sich am besten anhand der unterschiedlichen Funktionen beschreiben, die ihnen im Blick auf pädagogisch relevante Handlungssituationen zukommen. Als Grundbegriffe werden hier diejenigen Begriffe bezeichnet, die dazu dienen, grundlegende Sachverhalte in der Erziehungswirklichkeit zu erfassen, zu unterscheiden und in Beziehung zueinander zu setzen. Die schwierige und philosophisch umstrittene Frage, ob solche Sachverhalte in der Erziehungswirklichkeit unabhängig von jenen Begriffen vorliegen und durch diese nur bezeichnet werden oder ob die Leistung wissenschaftlicher Begriffe vielmehr darin besteht, solche Sachverhalte überhaupt erst hervorzubringen, kann hier nicht diskutiert werden. Fürs Erste soll es genügen, sich klarzumachen, dass Begriffe vor allem dazu dienen, ein eher diffuses Gebilde wie »die Erziehungswirklichkeit« genauer zu strukturieren und darin einigermaßen präzise voneinander abgrenzbare Phänomene zu unterscheiden, indem man sie zu benennen, ihre Eigenschaften zu beschreiben und mit den Eigenschaften anderer Phänomene zu vergleichen versucht.

Die Vielzahl unterschiedlicher Systematisierungsversuche, die sich in Einführungen und Handbüchern der Erziehungswissenschaft finden (vgl. z. B. Lenzen 2006/07 und Krüger 2009), legt Zeugnis ab von der Schwierigkeit, diese Grundbegriffe in eine systematische Ordnung zu bringen oder auch nur eine genau abgrenzbare Anzahl solcher Grundbegriffe anzugeben. Der hier vorgelegte Vorschlag, der die Grundbegriffe Erziehung, Bildung und Sozialisation in den Mittelpunkt stellt, geht von der Überlegung aus, dass an pädagogisch relevanten Situationen regelmäßig mindestens drei Instanzen beteiligt sind: eine(r) oder mehrere Pädagogen bzw. Pädagoginnen (Eltern, Lehrer usw.), eine Zielgruppe, die aus den Adressaten des pädagogischen Handelns besteht (Zu-Erziehende, Schüler usw.), und eine oder mehrere Institutionen, innerhalb derer das Erziehungsgeschehen stattfindet (Familie, Schule usw.).

Abb. 1: An pädagogisch relevanten Situationen beteiligte Instanzen

Eine mögliche Ordnung erziehungswissenschaftlicher Grundbegriffe könnte man erhalten, wenn man versuchen würde, in der Erziehungswissenschaft häufig vorkommende Begriffe jeweils einer dieser drei Instanzen zuzuordnen (wie z. B. den Begriff Kindheit der Instanz Zielgruppe oder den Begriff Erziehungsziel der Instanz der Pädagog(inn)en). Dabei fällt jedoch auf, dass viele Begriffe keiner der drei Instanzen eindeutig zuzuordnen sind, sofern sie gerade das Geschehen bzw. die Interaktionen zwischen den Instanzen betreffen (wie z. B. Erziehung, Bildung, Sozialisation, Unterricht, Lernen usw.). Auf solche Begriffe konzentriert sich die folgende Darstellung. Dabei wurden mit Erziehung, Bildung und Sozialisation drei Grundbegriffe ausgewählt, die als besonders zentral gelten können.7

Als Theorien lassen sich mehr oder weniger systematisch geordnete Aussagen über Sachverhalte in der Erziehungswirklichkeit verstehen, die sich auf solche Grundbegriffe beziehen und diese zueinander in Beziehung setzen. Theorien im Sinne solcher Aussagensysteme erheben den Anspruch, mit Hilfe jener Grundbegriffe pädagogisch bedeutsame Sachverhalte möglichst adäquat zu beschreiben und auf diese Weise dem Nachdenken über diese Sachverhalte und über pädagogisches Handeln eine Grundlage zu bieten. Die folgende Darstellung beschränkt sich dabei auf Theorien, die sich jeweils einem der drei behandelten Grundbegriffe zuordnen lassen, d. h. also auf Theorien der Erziehung, der Bildung und der Sozialisation. Um sowohl die historische als auch die aktuelle Dimension solcher Begriffe und Theorien einzubeziehen, wurden für die Darstellung in diesem Band jeweils exemplarisch eine ältere und ein bis zwei jüngere Theorien ausgewählt, also für den Begriff Erziehung z. B. die Erziehungstheorie Kants aus der Zeit um 1800 sowie die beiden einander entgegengesetzten Erziehungskonzepte Brezinkas und Krons als Beispiele aus der Gegenwart.

Als Methoden werden in diesem Buch diejenigen Verfahren bezeichnet, die in einer Wissenschaft verwendet werden, um zu mehr oder weniger systematisch geordneten Aussagen über einen Gegenstandsbereich zu gelangen. Im Mittelpunkt steht hier also die Frage, wie solche Aussagensysteme zustande kommen und was sie zu wissenschaftlichen Theorien macht. Die Kenntnis solcher Methoden ist u. a. wichtig, um pädagogische Veröffentlichungen kritisch analysieren und auf ihren Geltungsanspruch hin befragen zu können. Dabei sind allerdings zwei Einschränkungen wichtig. Zum einen geht es hier ausschließlich um Methoden der Erziehungswissenschaft, also um die Verfahrensweisen, die bei der wissenschaftlichen Erforschung pädagogisch relevanter Sachverhalte zum Einsatz kommen – und nicht etwa um Methoden der Erziehung, d. h. um solche Praktiken, derer sich Menschen in ihrem pädagogischen Handeln bedienen. Und zum andern behandelt diese Einführung nicht einzelne Forschungsmethoden wie z. B. das biographische Interview, die teilnehmende Beobachtung oder statistische Auswertungsverfahren, sondern nur die grundlegenden methodischen Ansätze, auf denen solche Forschungsmethoden beruhen und in deren Rahmen sie Verwendung finden. In diesem Sinne werden im zweiten Teil dieses Bandes die drei – zumindest historisch gesehen – wichtigsten methodischen Ansätze der Erziehungswissenschaft vorgestellt, die zugleich mit drei verschiedenen Konzeptionen von Wissenschaft oder Wissenschaftlichkeit verbunden sind: der methodische Ansatz der Empirischen Erziehungswissenschaft (in der vor allem empirisch-analytische Verfahren eine Rolle spielen), der hermeneutische Ansatz (für den interpretative Vorgehensweisen kennzeichnend sind) und der methodische Ansatz der Kritischen Erziehungswissenschaft (für deren Wissenschaftsverständnis der Begriff des Erkenntnisinteresses zentral ist). Dabei wird zugleich versucht, nicht nur die historische, sondern auch die aktuelle Bedeutung dieser Ansätze deutlich zu machen.

4           Zum Umgang mit diesem Buch

Im Blick auf den Aufbau und die Darstellungsform ist diese Einführung durch drei Ziele geprägt. Wie bereits erwähnt, geht es erstens um eine Verbindung von Überblick und exemplarischer Vertiefung. Einen Überblick über die begrifflichen, theoretischen und methodischen Grundlagen der Erziehungswissenschaft vermittelt das Buch dadurch, dass es die drei Grundbegriffe Erziehung, Bildung und Sozialisation nicht nur jeweils in größere historische und theoretische Kontexte einzuordnen, sondern auch in ihrem systematischen Verhältnis zueinander darzustellen versucht. Die exemplarische Vertiefung ausgewählter Probleme wird dadurch erreicht, dass anstelle einer oberflächlichen Behandlung mehrerer Theorien pro Grundbegriff jeweils nur eine historische und ein bis zwei aktuelle Theorien ausgewählt und eingehender dargestellt bzw. diskutiert werden.

Ein zweites Anliegen gilt der Verknüpfung von sachlich-informierender Darstellung und kritischer Problematisierung der ausgewählten Theorien und methodischen Ansätze. Im Vordergrund steht dabei zunächst die Bemühung um eine verständliche und nachvollziehbare Darstellung der zum Teil komplexen Theoriezusammenhänge. Darüber hinaus werden die ausgewählten theoretischen und methodischen Konzeptionen nach der referierenden Darstellung jeweils kritisch auf ihre Reichweite und Grenzen hin untersucht. Dabei liegen jedem Kapitel ein bis zwei kürzere Originaltexte zugrunde, die auch für Studienanfänger verständlich sind und es den Leserinnen und Lesern erlauben sollen, den Gang der argumentativen Auseinandersetzung selbst anhand eigener begleitender Lektüre mitzuverfolgen.

Ein drittes Ziel dieses Buches besteht schließlich darin, die zu behandelnden Grundbegriffe und Theorien im Sinne der oben skizzierten Reflexionskompetenz in einen Bezug zu Handlungssituationen aus der pädagogischen Praxis zu setzen. Dabei geht es keineswegs darum, solche Handlungssituationen oder Praxisbeispiele nur zur Veranschaulichtung abstrakter theoretischer Zusammenhänge heranzuziehen und so dem theoretischen Wissen mehr oder weniger umstandslos unterzuordnen. Der Bezug von Begriffen und Theorien auf Beispiele aus der Erziehungswirklichkeit verfolgt vielmehr, wie oben erläutert, zwei einander ergänzende Ziele. Er soll es einerseits erlauben, die praktische Bedeutung theoretischer Ansätze zu verdeutlichen, die darin liegt, dass sie den jeweiligen »Fall« in einem neuen Licht erscheinen lassen und dabei bisher nicht genutzte pädagogische Handlungsmöglichkeiten erschließen. Auf der anderen Seite dienen die Beispiele jedoch auch dazu, das theoretische Wissen gleichsam auf die Probe zu stellen, seine Grenzen herauszuarbeiten und zumindest anzudeuten, in welcher Richtung dieses Wissen weiterentwickelt werden müsste.

Anstelle einer Vielzahl unterschiedlicher und schwer zu vergleichender Situationen aus der pädagogischen Praxis stützt sich die folgende Einführung durchgängig auf Beispiele aus einem zeitgenössischen literarischen Text, in dem Erziehungsfragen eine zentrale Rolle spielen. In dem 1998 erstmals erschienenen Roman About a boy erzählt der britische Autor Nick Hornby die Geschichte einer ungewöhnlichen Dreiecksbeziehung, die sich zwischen dem 12-jährigen Marcus, seiner alleinerziehenden Mutter Fiona und dem 36-jährigen überzeugten Single Will entspinnt. Bei diesem Roman handelt es sich zwar um einen fiktiven »Fall«, der aber eine Fülle anschaulich beschriebener Situationen enthält, die mit guten Gründen als Beispiele möglicher Erziehungswirklichkeit aufgefasst werden können. Hornbys Kunstgriff, abwechselnd jeweils ein Kapitel lang aus der Perspektive seines 12-jährigen Helden und aus der des erwachsenen Will zu erzählen, erlaubt es außerdem, die unterschiedlichen Sichtweisen der am Erziehungsgeschehen Beteiligten zu thematisieren. Die Beispiele aus dem Buch, auf die sich die Argumentation im Folgenden bezieht, werden jeweils ausführlich zitiert. Leserinnen und Lesern sei aber trotzdem die Lektüre von Hornbys Roman ans Herz gelegt. Abgesehen von dem damit verbundenen Lesevergnügen bietet die selbstständige Lektüre von About a boy nicht nur die Chance, die hier vorgelegten Interpretationen zu prüfen und mit eigenen Deutungen zu konfrontieren, sondern auch andere Passagen des Romans heranzuziehen, um sie aus der Perspektive der vorgestellten Theorien zu betrachten und dabei zugleich diese Theorien auf die Probe zu stellen.

Zuletzt bleibt mir noch, all denen, die zum Zustandekommen dieses Buches beigetragen haben, zu danken. Dazu gehören vor allem die Kolleginnen und Kollegen der Universität Hamburg, die an der Entwicklung und Erprobung des Rahmenkonzepts »Grundbegriffe, Theorien und Methoden der Erziehungswissenschaft« im Rahmen des Kerncurriculums beteiligt waren (namentlich Stefan Aufenanger, Manfred Buth, Werner Friedrichs, Helga Gebert, Herbert Gudjons, Christine Mayer, Helmut Richter, Hans-Joachim Roth, Olaf Sanders und Michael Wimmer), sowie die Studierenden und Tutoren der Lehrveranstaltungen, aus denen dieses Buch hervorgegangen ist und die mich immer wieder dazu genötigt haben, meine Vorstellungen vom Kern eines erziehungswissenschaftlichen Studiums neu zu überdenken (insbesondere Sönke Ahrens, Dennis Blesinger, Frank Elster, Oliver Janoschka, Christoph Koenig, Oliver Liebenberg, Nadine Rose, Elke Rüpke und Christian Schomann). Wichtige Anregungen verdanke ich außerdem Jenny Lüders und Werner Friedrichs, die frühere Fassungen des Buches kritisch kommentiert haben, sowie Birgit Haustedt, die mich auf Hornbys Roman aufmerksam gemacht und die Entstehung des Buches in vielen Gesprächen begleitet hat. Ihnen allen – und denen, die ich möglicherweise vergessen habe – gilt mein herzlicher Dank.

 

 

 

Teil I    Grundbegriffe und Theorien

1          Der Erziehungsbegriff der Aufklärung: Kant

 

 

 

Die Darstellung von Grundbegriffen und Theorien der Erziehungswissenschaft beginnt mit dem Begriff der Erziehung. Das ist naheliegend (schließlich heißt die Disziplin ja auch Erziehungswissenschaft), versteht sich aber keineswegs von selbst. Denn da die beiden anderen Begriffe, die im Folgenden erörtert werden sollen, nämlich Bildung und Sozialisation, in ihrem Gegenstandsbereich jeweils umfassender sind als der Erziehungsbegriff, gäbe es gute Gründe, die Darstellung mit einem von ihnen zu beginnen. Für einen Anfang mit dem Grundbegriff Erziehung sprechen jedoch vor allem zwei Argumente. Zum einen ist Erziehung im Unterschied zu Sozialisation und Bildung ein Wort, das auch in der Alltagssprache in relativ klar umrissener Bedeutung vorkommt und deshalb für einen Einstieg besser geeignet ist als der Fachterminus Sozialisation oder der vieldeutige Bildungsbegriff. Und zum andern entspricht von den drei genannten Grundbegriffen der Erziehungsbegriff am ehesten der Perspektive, die pädagogisch Handelnde auf die Erziehungswirklichkeit haben, und eignet sich deshalb besser dazu, einen ersten Zugang zur wissenschaftlichen Analyse pädagogischer Handlungssituationen zu eröffnen.

Dabei nimmt die Erörterung des Erziehungsbegriffs ihren Ausgang von einer Fassung, die dieser Begriff in der Zeit um 1800 gefunden hat. Der Zeitraum von etwa 1770 bis 1830 kann in historischer Perspektive als eine Phase entscheidender Veränderungen in der wirtschaftlichen, politischen und kulturellen Verfasstheit der mittel- und westeuropäischen Gesellschaften angesehen werden – Veränderungen, die in vielerlei Hinsicht bis heute fortwirken. Sozialgeschichtlich betrachtet handelt es sich bei dieser Zeit um die Phase, in der die feudale Ständegesellschaft von einer bürgerlichen Gesellschaftsordnung abgelöst wird, und ideengeschichtlich gesehen entstehen im selben Zeitraum spezifisch moderne Auffassungen vom Menschen und seinem Verhältnis zur Gesellschaft und zur Welt. Besondere Bedeutung kommt in diesem Zusammenhang dem kulturellen Phänomen der Aufklärung zu, einer europäischen Bewegung, die im 17. Jahrhundert begann und in Deutschland ihren Höhepunkt in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts hatte.

1.1       »Was ist Aufklärung?«

Eine prägnante Beschreibung der Grundgedanken dieser Bewegung findet sich in der berühmten Schrift »Was ist Aufklärung?« von Immanuel Kant (1724–1804), der als einer der wichtigsten Vertreter aufklärerischen Denkens gilt. Dort heißt es:

»Aufklärung ist der Ausgang des Menschen aus seiner selbst verschuldeten Unmündigkeit. Unmündigkeit ist das Unvermögen, sich seines Verstandes ohne Leitung eines anderen zu bedienen. Selbstverschuldet ist diese Unmündigkeit, wenn die Ursache derselben nicht am Mangel des Verstandes, sondern der Entschließung und des Mutes liegt, sich seiner ohne Leitung eines anderen zu bedienen. Sapere aude! Habe Mut, dich deines eigenen Verstandes zu bedienen! ist also der Wahlspruch der Aufklärung.« (Kant 1784/1983, S. 53)

Entscheidender Bezugspunkt für die Begründung individuellen wie kollektiven Handelns ist Kant zufolge also weder die Berufung auf Tradition und Sitte noch die Autorität politischer oder religiöser Obrigkeiten, sondern der menschliche Verstand, von dem jeder Einzelne selbstständig Gebrauch machen kann und soll. Den Gegensatz zu diesem selbstständigen Gebrauch markiert die »Leitung« durch andere, für die Kant im weiteren Verlauf seiner Schrift anschauliche Beispiele anführt. Da gibt es das Buch, dessen Lektüre an die Stelle der Benutzung des eigenen Verstandes tritt, den Seelsorger, der eigene Gewissensentscheidungen überflüssig macht, den Arzt, der Diätvorschriften erlässt, sowie ganz allgemein »Satzungen und Formeln«, die Kant als »Fußschellen einer immerwährenden Unmündigkeit« bezeichnet, weil sie den selbstständigen Gebrauch des Verstandes ver- oder behindern (Kant 1784/1983, S. 54).

Dafür, dass die Menschen solchen Vorschriften folgen, statt sich ihres eigenen Verstandes zu bedienen, führt Kant vor allem zwei Gründe an: einerseits die »Faulheit und Feigheit« (Kant 1784/1983, S. 54) derer, die sich von anderen leiten lassen, und andererseits Drohungen und Bevormundungen von Seiten der Obrigkeiten, die Leitung ausüben, indem sie die Freiheit ihrer Untertanen einschränken und Mündigkeit als etwas Gefährliches darstellen. Die entscheidende Bedingung von Aufklärung besteht für Kant daher in nichts anderem als in der Freiheit, »von seiner Vernunft in allen Stücken öffentlichen Gebrauch zu machen« (Kant 1784/1983, S. 55). Hier kommt eine wichtige politische Dimension aufklärerischen Denkens zum Ausdruck, die in der Forderung nach Freiheitsrechten für alle Bürger besteht – und d. h. hier in erster Linie in der Forderung nach dem Recht jedes Menschen, seine eigene Meinung in Wort und Schrift öffentlich kundzutun.1

Die Grundgedanken der Aufklärung haben auch für den Bereich der Erziehung Konsequenzen. Das lässt sich besonders gut am Beispiel von Kants Vorlesung »Über Pädagogik« verdeutlichen, die 1776/77 erstmals gehalten, aber erst 1803 veröffentlicht wurde. Zuvor freilich gilt es, den erziehungshistorischen Kontext von Kants pädagogischen Überlegungen zu skizzieren.

1.2       Das »pädagogische Jahrhundert«

Das 18. Jahrhundert ist bereits von Zeitgenossen als das »pädagogische Jahrhundert« bezeichnet worden (vgl. Tenorth 2010, S. 79). Aus heutiger Sicht ist dies insofern einleuchtend, als sich in diesem Jahrhundert nicht nur neue (und in ihren Grundzügen bis heute wirksame) Auffassungen von Erziehung durchgesetzt haben, sondern auch wesentliche Momente der praktischen Organisation von Erziehung, ohne die unser heutiges Erziehungssystem nicht denkbar wäre.

Eine entscheidende Voraussetzung moderner Erziehungsvorstellungen ist das, was man die »Entdeckung der Kindheit« genannt hat. Wie der französische Historiker Philippe Ariès in seiner bahnbrechenden »Geschichte der Kindheit« gezeigt hat, gab es Kindheit als eine besondere, vom Erwachsenenalter abgegrenzte Lebensphase keineswegs schon immer. Die Auffassung, dass Kinder eine von den Erwachsenen deutlich geschiedene Altersgruppe bilden, ist Ariès zufolge vielmehr eine Errungenschaft der Neuzeit, die in Europa seit etwa 1500 allmählich aufkam und sich erst im 19. Jahrhundert in allen Bevölkerungsschichten endgültig durchgesetzt hat. Ein besonders eindrücklicher Beleg, den Ariès für diese These anführt, ist die Darstellung des kindlichen Körpers in der Bildenden Kunst. Während Kinder auf Bildern aus dem Mittelalter noch durchweg als verkleinerte Erwachsene dargestellt werden, entsteht erst ab etwa 1500 allmählich ein Blick für die Besonderheit kindlicher Körperproportionen (vgl. Ariès 1975/2007, S. 92ff.).

Im Zuge dieser Entdeckung der Kindheit als einer eigenen Lebensphase setzen sich Ariès zufolge nun auch besondere, pädagogische Formen des Umgangs mit Kindern durch. Während Kinder bisher vor allem durch die selbstverständliche Teilnahme am Leben der Erwachsenen in deren Welt hineinwuchsen, werden sie nun, wie Ariès an einer Fülle von Beispielen demonstriert, immer mehr aus dieser Welt ausgegrenzt, in eine Art Schonraum versetzt und einer Sonderbehandlung unterzogen, die man als »Erziehung« im modernen Sinne bezeichnen kann. Ein deutliches Indiz dieser Entwicklung ist etwa die auch von anderen Historikern beschriebene Entstehung der modernen (Klein-)Familie, die sich durch eine private, von der Außenwelt bzw. vom Arbeitsleben abgeschirmte und emotional aufgeladene Binnensphäre auszeichnet, in deren Mittelpunkt das Kind bzw. die Kinder stehen.

Parallel dazu etabliert sich in einem langen Prozess seit dem Mittelalter auch eine besondere Institution zur Vorbereitung der Kinder auf das Leben in der Gesellschaft: die Schule. Die paradoxe Struktur dieser Institution, die auf das Alltagsleben vorbereitet, indem sie die Kinder daraus ausgrenzt, beruht u. a. darauf, dass das Erwachsenenleben zu komplex, zu störungsanfällig oder zu gefährlich geworden ist, um Kinder das, was zur aktiven Teilnahme daran notwendig ist, wie früher einfach durch Partizipation und Nachahmung lernen zu lassen. Aus diesem Grund entsteht im Laufe der Zeit eine besondere, aus dem Alltagsleben ausgegliederte Institution, in der Kindern die erforderlichen Kenntnisse und Fähigkeiten systematisch vermittelt werden. Wie lange der Prozess der Durchsetzung dieser Institution gedauert hat, kann man daran ablesen, dass die allgemeine Schulpflicht in Preußen zwar schon zu Beginn des 18. Jahrhunderts verkündet wurde, aber erst in der Mitte des 19. Jahrhunderts auf breiter Ebene (d. h. vor allem auch für die Kinder der Unterschichten, die zuvor als Arbeitskräfte benötigt wurden) wirklich durchgesetzt werden konnte (vgl. Herrlitz, Hopf, Titze & Cloer 2005, S. 50f.).

Alle diese, hier nur grob skizzierten Tendenzen stehen im Zusammenhang mit einer weiteren, für die Geschichte der Pädagogik folgenreichen Entwicklung: der Etablierung eines pädagogischen Diskurses über Erziehungsfragen, die sich in Deutschland in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts vollzieht. Diese Entwicklung kommt nicht nur im sprunghaften Anstieg pädagogischer Veröffentlichungen und der Gründung eigener Zeitschriften zum Ausdruck, sondern auch darin, dass in diesem Zeitraum pädagogische Probleme, wie z. B. die Frage der Erziehung von Waisenkindern, zum Gegenstand öffentlich geführter Debatten werden. Ein weiteres Indiz der Etablierung des neuen Diskurses ist darin zu sehen, dass 1779 in Halle die erste Professur für Pädagogik an einer deutschen Universität eingerichtet wurde, während das Fach bis dahin als Teildisziplin der Philosophie gegolten hatte (vgl. Tenorth 2010, S. 108).

Als Teilbereich der Philosophie begegnet uns das Nachdenken über Fragen der Erziehung auch noch im Werk Kants, zu dessen Pflichten es als Philosophieprofessor an der Universität Königsberg gehörte, in regelmäßigen Abständen eine Vorlesung über Pädagogik zu halten. Doch das neue Interesse an Erziehungsfragen spiegelt sich darin, dass Kants Vorlesung in vielerlei Hinsicht über die frühere Behandlung des Themas hinausgeht und der Erziehung eine zentrale Stellung im aufklärerischen Denkgebäude zuweist. Worin nun besteht der spezifische Beitrag Kants zur theoretischen Fassung des Erziehungsbegriffs?

1.3       Kants Begriff von Erziehung

Ausgangspunkt von Kants Argumentation2 ist eine anthropologische Bestimmung von weit reichender Bedeutung: »Der Mensch ist das einzige Geschöpf, das erzogen werden muß.« (Kant 1803/1983, S. 697) Die Begründung dafür liegt Kant zufolge in der besonderen Ausstattung des Menschen im Unterschied zum Tier:

»Ein Tier ist schon alles durch seinen Instinkt; eine fremde Vernunft hat bereits alles für dasselbe besorgt. Der Mensch aber braucht eigene Vernunft. Er hat keinen Instinkt, und muß sich selbst den Plan seines Verhaltens machen. Weil er aber nicht sogleich im Stande ist, dieses zu tun, sondern roh auf die Welt kommt: so müssen es andere für ihn tun.« (Kant 1803/1983, S. 697)

Während das Verhalten der Tiere weitgehend durch Instinkte festgelegt ist, zeichnet sich der Mensch für Kant also durch eine größere Offenheit aus, die aber zugleich mit einer Art Hilflosigkeit verbunden ist und deshalb eine besondere Angewiesenheit auf andere mit sich bringt. Und eben dies, worauf der Mensch angesichts seiner Instinktarmut angewiesen ist, bezeichnet Kant nun als Erziehung. In diesem Sinne gehört für ihn Erzogenwerden zum Menschsein dazu:

»Der Mensch kann nur Mensch werden durch Erziehung. Er ist nichts, als was die Erziehung aus ihm macht.« (Kant 1803/1983, S. 699)

Betrachtet man diese Aussage näher, so handelt es sich um ein Paradox. Denn einerseits ist der Mensch für Kant offenbar zunächst noch gar nicht Mensch, sondern ein »nichts«, aus dem erst durch Erziehung ein Mensch wird. Auf der anderen Seite beginnt die Aussage mit »Der Mensch …«, und daraus folgt zwingend, dass der Mensch doch auch schon vor aller Erziehung auf irgendeine Art Mensch sein muss, denn sonst könnte er gar nicht als solcher identifiziert (und erzogen) werden. Zum Wesen des Menschen scheint für Kant also eine Art Noch-nicht zu gehören: Gerade insofern der Mensch Mensch ist, ist er es noch nicht, sondern muss durch Erziehung erst noch dazu werden.

Das Paradox lässt sich nur auflösen, wenn man das, was den Menschen als Menschen auszeichnet, als eine erst noch zu entfaltende Anlage begreift, als entwicklungsoffenes Potenzial, als Möglichkeit, zu deren Realisierung es eben einer besonderen Praxis namens Erziehung bedarf. Genau das tut Kant, wenn er schreibt: »Die Menschengattung soll die ganze Naturanlage der Menschheit, durch ihre eigne Bemühung, nach und nach von selbst herausbringen« (Kant 1803/1983, S. 697). Die »Menschheit« als Inbegriff dessen, was den Menschen als solchen ausmacht3, kommt ihm also zwar von Natur aus zu, aber doch nur als Anlage, die erst noch »heraus(zu)bringen«, zu entwickeln oder zu entfalten ist.

Daraus erwächst jedoch ein Problem: Wenn das, was den Menschen als Menschen ausmacht, noch nicht von Anfang an in ihm anzutreffen ist, sondern erst noch durch Erziehung hervorgebracht werden muss, woher kann man dann wissen, worin dieses Menschsein und damit das Ziel von Erziehung besteht? Die nahe liegende Antwort, man müsse nur ein bereits erzogenes Exemplar der Gattung Mensch betrachten, um zu sehen, wozu die noch nicht erzogenen Menschen gebracht werden sollen, scheidet für Kant deshalb aus, weil Erziehung selbst ein Werk von Menschen und deshalb notwendigerweise unvollkommen sei (vgl. Kant 1803/1983, S. 699).

Die von Kant zwar nicht ausdrücklich formulierte, in seinen Überlegungen aber implizit enthaltene Konsequenz dieses Gedankengangs besteht darin, dass das Ziel von Erziehung letztlich unbestimmt bleiben muss. Dem steht auch die Idee einer »Vervollkommnung der Menschheit« nicht entgegen, die Kant im nächsten Absatz ausführt:

»Vielleicht, dass die Erziehung immer besser werden, und daß jede folgende Generation einen Schritt näher tun wird zur Vervollkommnung der Menschheit; denn hinter der Edukation steckt das große Geheimnis der Vollkommenheit der menschlichen Natur. […] Es ist entzückend, sich vorzustellen, daß die menschliche Natur immer besser durch Erziehung werde entwickelt werden, und daß man diese in eine Form bringen kann, die der Menschheit angemessen ist. Dies eröffnet uns den Prospekt zu einem künftigen glücklichern Menschengeschlechte.« (Kant 1803/1983, S. 700)

Gerade weil das Ziel der Erziehung unbestimmt ist und die »Vollkommenheit der menschlichen Natur« ein »Geheimnis« bleiben muss, ist die »Vervollkommnung der Menschheit« als ein zukunftsoffener Prozess möglich und nötig. Dabei ist – trotz des »Vielleicht«, mit dem die zitierte Passage beginnt – unverkennbar, dass Kants Optimismus im Blick auf einen stetigen Fortschritt dieses Vervollkommnungsprozesses größer ist, als dies nach den Erfahrungen des 20. Jahrhunderts angemessen erscheinen mag. Aber man muss diesen Fortschrittsoptimismus nicht teilen, um dennoch am Gedanken der Vervollkommnung festhalten zu können. Das wird deutlich, wenn Kant das Ziel des durch Erziehung zu bewirkenden Vervollkommnungsprozesses beschreibt:

»Es liegen viele Keime in der Menschheit, und nun ist es unsere Sache, die Naturanlagen proportionierlich zu entwickeln, und die Menschheit aus ihren Keimen zu entfalten, und zu machen, daß der Mensch seine Bestimmung erreiche. Die Tiere erfüllen diese von selbst, und ohne daß sie sie kennen. Der Mensch muß erst suchen, sie zu erreichen, dieses kann aber nicht geschehen, wenn er nicht einmal einen Begriff von seiner Bestimmung hat.« (Kant 1803/1983, S. 701)

In Übereinstimmung mit der oben skizzierten Auffassung des Menschseins als einer Möglichkeit, eines zukunftsoffenen Entwicklungspotenzials, wird hier das Ziel von Erziehung als proportionierliche, d. h. verhältnismäßige oder ausgewogene Entfaltung aller menschlichen »Keime« bzw. »Naturanlagen« beschrieben. Dabei ist es kein Widerspruch zur These, dass dieses Ziel unbestimmt sei, wenn hier von der »Bestimmung des Menschen« die Rede ist. Denn diese Bestimmung ist für Kant eben gerade keine Bestimmtheit, kein vorgezeichneter Weg, dem man unproblematisch folgen könnte, sondern vielmehr ein Weg, den es erst noch zu »suchen« gilt, ein unabgeschlossener und vielleicht nie ganz abzuschließender Prozess.