Bildung verstehen - Nicolaus Wilder - E-Book

Bildung verstehen E-Book

Nicolaus Wilder

0,0

Beschreibung

Kern der Überlegungen des vorliegenden Bandes der Reihe „Moderne der Tradition“ ist die Auseinandersetzung mit einem Bildungsverständnis, dessen Einheit sich in Vielfalt charakterisiert. Nicolaus Wilder erhebt in seinem Beitrag dieses Spannungsverhältnis explizit zu seinem Erkenntnisinteresse und nähert sich dem schillernden und kontroversen Bildungsbegriff in seiner semantischen Vielfalt unter Zuhilfenahme des GOODMANschen Konzeptes der Weltversionen an. Hierdurch wird es möglich sowohl das Allgemeine der unterschiedlichen Bildungsverständnisse als auch deren Unterschiede vergleichend zu analysieren. Melanie Beiermann hingegen spürt einer längst als verstanden geglaubten Weise, Bildung zu verstehen, nach, indem sie Wilhelm VON HUMBOLDT noch einmal neu liest und so seinen Begriff der Proportionalität unter erweiterter systemtheoretischer Perspektive auslegt. Hierbei führt sie die Idee nicht linear dynamischer Gleichgewichtsansätze in ihrer Argumentation mit, die es erst heute ermöglichen, dem Anspruch an Proportionierlichkeit unter strenger wissenschaftlicher Absicherung Genüge zu leisten.

Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:

Android
iOS
von Legimi
zertifizierten E-Readern

Seitenzahl: 489

Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:

Android
iOS
Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Die Autoren:

Nicolaus Wilder, geboren 1983 in Oldenburg in Holstein, studierte von 2005 bis 2011 Erziehungswissenschaft an der Christian-Albrechts-Universität zu Kiel mit Abschluss als Diplom-Pädagoge. Seit 2011 ist er als wissenschaftlicher Mitarbeiter am Lehrstuhl für Berufs- und Wirtschaftspädagogik am Institut für Pädagogik in Kiel tätig. Seine Forschungsschwerpunkte liegen im Bereich der wissenschaftstheoretischen und ethischen Grundlagen sowie den Grundbegriffen der Pädagogik. Das vorliegende Werk ist eine überarbeitete Fassung seiner Diplomarbeit.

Melanie Beiermann, geboren 1986 in Bad Driburg (Westf.), studierte von 2008-2013 Wirtschaftswissenschaften im Profil Handelslehramt an der Christian-Albrechts-Universität zu Kiel, wobei im Jahr 2012 der Abschluss Bachelor of Arts erfolgte und das Studium 2013 mit dem Abschluss Master of Arts beendet wurde. Von Mai 2012 bis September 2013 war sie als Wissenschaftliche Hilfskraft am Lehrstuhl für Berufs- und Wirtschaftspädagogik am Institut für Pädagogik in Kiel tätig. Das vorliegende Werk entstand im Rahmen des Bachelorabschlusses als Bachelorarbeit und diente als Ausgangspunkt für weitere Untersuchungen im Masterstudium.

VORWORT DER HERAUSGEBER

Zum Geleit

Kern der Überlegungen des vorliegenden Bandes der Reihe „Moderne der Tradition“ ist die Auseinandersetzung mit einem Bildungsverständnis, dessen Einheit sich in Vielfalt charakterisiert. Während Nicolaus Wilder in seinem Beitrag dieses Spannungsverhältnis explizit zu seinem Erkenntnisinteresse erhebt, dem er auf der Basis einer erweiterten Hermeneutik nachgeht, spürt Melanie Beiermann einer längst als verstanden geglaubten und bekannten Weise, Bildung zu verstehen, nach, indem sie Wilhelm VON HUMBOLDT noch einmal neu liest und so u. a. seinen Begriff der Proportionalität unter erweiterter Perspektive auslegt.

Dabei ist es vor allem diese von Anfang bis Ende durchkonstruierte, sich stets erweiternd aufbauende, strenge und in beeindruckend anspruchsvoller Sprache artikulierte Gedankenführung der Wilderschen Untersuchung, die die gleichwohl stets in ihrem äußerlichen Schein zurückgenommene argumentative Brillanz seiner Ausführungen auszeichnet, zumal in Zeiten einer an mehr oder weniger genau bestimmten Verteilungskennzahlen sich ergehenden Bildungsforschung, die den glänzenden Schein ihrer Oberfläche als Tiefenstruktur modernen Bildungsverständnisses vorzutäuschen vermag, gleichwohl ohne jeglichen Rekurs auf das eigentliche Phänomen, dessen Weisen sie auszuloten vorgibt.

Wilders sehr weit in die Tiefe reichender bildungstheoretischer Text erweist sich deshalb geradezu als geisteswissenschaftlicher Balsam auf die ausschließlich mit empirischen Widerhaken und so wohl mutwillig aufgerissenen Wunden der Bildung, ohne jedoch schon Heilung zu versprechen, wohl aber den Weg zeigen, der gegangen werden müßte.

Möglich wird diese zugleich ausgreifende wie durchdringende Gedankenführung durch die wissenschaftstheoretisch wohl abgewogene Wahl des Argumentationsfundamentes geisteswissenschaftlicher Provenienz, das eine als solche schon bestens verstandene Hermeneutik europäischer Prägung durch den angloamerikanischen Ansatz von Nelson GOODMAN kofundiert, der sich genau jener Differenzierbarkeit des Einheitlichen verpflichtet weiß, um die es Wilder in seinem Bemühen um das rechte Verstehen von Bildung geht. Dabei erweist sich dieser GOODMANsche, das Selbstverständnis hermeneutischen Arbeitens eminent erweiternden Ansatz für den pädagogischen Diskurs als sehr gewinnbringend.

Auf der Basis dieser im zweiten Kapitel der Untersuchung herausgearbeiteten Überlegungen sich erweiternder Hermeneutik, entwirft sich dann in einem dritten Kapitel ein durch vier Dimensionen bestimmter Erkenntnisraum, in dem sich die Differenzierbarkeit von Bildung als Einheit konturieren läßt, ohne dabei die möglichen Differenzierungen gegeneinander zu führen, als sichtbarer Ausdruck von Bildung als Einheit.

Jede dieser vier Dimensionen wird in ihrer Tiefenstruktur streng und umfassend sowie in Rekurs auf jene Positionen ausgeleuchtet, die für die jeweilige Dimension charakteristisch und paradigmatisch sind. Während sich die Dimension: α »struktural/prozessual« weitgehend an Ergebnissen der Komplementaritätstheorie orientiert, lotet Wilder seine Dimension β »normativ/deskriptiv« in Anlehnung an die Ansätze Richard HAREs aus.

Eine gleichermaßen erschöpfende Analyse KANTscher Überlegungen weisen den Erkenntnisweg für die Dimension γ »autonom/heteronom«, die schließlich mit der Auslegung der Dimension δ »zeitgemäß/unzeitgemäß« nicht nur die Moderne brillanter Unzeitgemäßheit der philosophischen Einlassungen Friedrich NIETSCHEs zu dieser Thematik zeigt, sondern auch die Konturierung des nunmehr aufgespannten Bildungsraumes abschließt.

Nicht zuletzt Wilders äußerst kritischer Umgang mit der Orthogonalität seiner Dimensionen zur Vermeidung oder aber mindestens redlichen Indizierung möglicher Überschneidungen sorgt dafür, daß er die Auseinandersetzung mit jeder seiner Dimensionen umfassend an die dazu möglichen philosophischen Diskurse - umfänglich literaturgestützt - rückbindet, so daß der so nun als Einheit konturierte vierdimensionale Bildungsraum Differenzierbarkeit von Bildung in verschiedene Weisen geradezu herausfordert, ohne dabei an Einheitlichkeit zu verlieren.

Dies arbeitet Wilder nun im vierten Kapitel heraus, in dem er zunächst drei Weisen der Bildung auswählt. Neben dem klassischen neuhumanistischen Bildungsverständnis Wilhelm VON HUMBOLDTs untersucht er das Bildungsverständnis Wolfgang KLAFKIs, und zwar zum einen jene Position, die unter dem Begriff »bildungstheoretisch« als Vollendung geisteswissenschaftlicher Pädagogik im Sinne DILTHEYs und WENIGERs Mitte der 1960er Jahre ihren Abschluß fand, sowie zum anderen jene Position, die KLAFKI unter Revision seiner bildungstheoretischen Überlegungen dann unter dem Leitbegriff »kritisch-konstruktiv« ausformulierte und verfolgte.

Alle drei Weisen der Bildung werden in gewohnt geisteswissenschaftlicher Strenge und philologischer Akribie umfassend und tiefgreifend zugleich untersucht und in den aufgespannten Bildungsraum differenziert eingeordnet, um so ihre Verschiedenheit sichtbar zu machen, ohne ihren einheitlichen Anspruch, gleichwohl stets Bildung zu bestimmen, zu gefährden.

Auf diese Weise gelingt es, verschiedene Weisen der Bildung in komparativer Form erschöpfend zu akzentuieren und die dabei sichtbar werdende Differenziertheit nicht kontrovers sondern moderat begründend in den Argumentationsgrenzen der Einheitlichkeit zu bannen - ein für den aufgeregten, die gegenwärtige ideologische Moderne kennzeichnenden Diskurs um Bildung vorbildlicher und richtungsweisender Weg.

Wie weit und konsequent Wilder diese Zurücknahme des entschieden einzig Richtigen gegenüber des begründet möglichen Verschiedenen treibt, wird deutlich, wenn er auf die durchaus sich anbietende und sicherlich auch sehr hohe Anschaulichkeit ermöglichende Visualisierung der von ihm untersuchten differenten Bildungsweisen im Bildungsraum explizit verzichtet; denn –so sein Argument – genau dadurch bestehe die Gefahr für den Leser, sich allzu vorschnell zu entscheiden und die ausdrücklich angestrebte Differenziertheit des Einheitlichen zu mißachten.

Viel wichtiger sei es, darauf hinzuweisen, daß die Dimensionierung des Bildungsraumes durchaus auch mit anderen Dimensionen möglich sei, die es deshalb auch unbedingt zu untersuchen gelte. Gleichermaßen notwendig sei es, sich den vielen anderen zur Zeit schon gegebenen Weisen der Bildung in diesem oder auch anderen Bildungsräumen hermeneutisch-analytisch zuzuwenden, was man sich als Leser - trotz des bis hierhin bereits erreichten umfänglichen Textkorpus´ - allemal wünschen würde.

Eine Weise, das Verständnis von Bildung neu einzuordnen, zeigen die Überlegungen Melanie Beiermanns. Sie nimmt eine zentrale Aussage Wilhelm VON HUMBOLDTs zum neuhumanistischen Bildungsverständnis zum Ausgangspunkt und zur Leitidee ihres Erkenntnisinteresses und wird dabei dem Anspruch an exegetischer Explizität insoweit mehr als gerecht, als sie ausgehend von der klassischen Formulierung dieser Bildungskonzeption, die im Titel der Arbeit angesprochen wird, die einzelnen, dort genannten Aspekte in philologischer Feinarbeit im Kontext der Einflüsse auf HUMBOLDT herausarbeitet, um dann über ihre Beziehung eine Interpretation der zum Ausdruck gebrachten Bildungsvorstellung zu entwickeln.

Ergebnis ist die Rekonstruktion eines komplexen Interdependenzgeflechts von Individuum, Gemeinschaft, handlungsrelevanten Situationen, Sprache und Kultur, das eine Person im Sinnen eines mündigen, autonomen Individuums erst ermöglicht. Zentral ist hier, daß diese Autonomie sowohl als Voraussetzung als auch als Resultat der Bildung einer Person aufzufassen ist, die darin besteht, die genannten Aspekte durch das Aneignen von Fähigkeiten immer wieder neu in ein harmonisches Verhältnis – in ein Gleichgewicht – bringen zu können.

Die sowohl im hermeneutischen wie phänomenologischen Sinne wahrlich geisteswissenschaftliche Strenge, die Frau Beiermann zum Ausdruck bringt, wird in gleicher Weise ausgezeichnet analytisch ergänzt, wenn sie sich in aufklärerischer Absicht KANTschen Überlegungen zuwendet, um diese in ungewöhnlicher Strengführung über den LEIBNIZschen Kraftbegriff der Monadenlehre zu sichern.

In gleicher Weise macht Frau Beiermann SIMMELs Ansätze zur Wechselwirkung und zum Ganzheitsbegriff fruchtbar, was schließlich in einem neuen, gleichwohl sehr tiefen Verständnis des HUMBOLDTschen Bildungsbegriffs mündet. Dabei führt sie in geradezu hoch moderner systemischer Denkweise die Idee sogenannter nicht linear dynamischer Gleichgewichtsansätze in ihrer Argumentation immer mit, die erst heute dazu in der Lage zu sein scheint, dem Anspruch an Proportionierlichkeit unter strengen wissenschaftlichen Kautelen auch nur einigermaßen zu entsprechen.

Unter dieser Perspektive systemtheoretischer Denkweise, in der Ganzheit sich als wechselwirkendes Gleichgewicht seiner Elemente, eben als Proportionalität, manifestiert, eröffnet sich eine ganz neue Sicht auf ein Bildungsverständnis, das auch die zur Zeit übermächtig erscheinende Moderne konstruktivistischer Zugänge zum Bildungsgeschehen, ausgedrückt im Konstrukt der Selbstorganisation, zu relativieren verspricht.

Dies zu lesen und dann zu bedenken, verspricht allemal reichlichen Lohn . . .

Kiel und Chemnitz im November 2013

Hans-Carl Jongebloed Volker Bank

IWEISEN DER BILDUNG ‒ ODER: ÜBER DIE DIFFERENZIERBARKEIT DES EINHEITLICHEN

(NICOLAUS WILDER)

II „DER WAHRE ZWEK DES MENSCHEN […] IST DIE HÖCHSTE UND PROPORTIONIRLICHSTE BILDUNG SEINER KRÄFTE ZUEINEM GANZEN“ ZUR EXEGESE DES BILDUNGSBEGRIFFS VON HUMBOLDTS

(MELANIE BEIERMANN)

INHALTSVERZEICHNIS

V

ORWORT DER

H

ERAUSGEBER

I W

EISEN DER

B

ILDUNG

(W

ILDER

)

1 E

INLEITUNG

1.1 Gegenstand der Betrachtung

1.2 Darstellung der Vorgehensweise

2 W

EISEN UND ANDERE

G

RUNDANNAHMEN

2.1 Zur Notwendigkeit des Verstehens

2.2 Zur Rechtfertigung einer sprachlich relativen Betrachtung von Bildung

2.3 Weisen nach Goodman

3 E

NTWURF EINES

B

ILDUNGSRAUMES

3.1 Dimensionen von Bildung im Einzelnen

3.2 Der Bildungsraum

4 B

ETRACHTUNG UND

V

ERGLEICH AUSGEWÄHLTER

W

EISEN DER

B

ILDUNG

4.1 Etymologische Einführung in den Bildungsbegriff

4.2 Der Bildungsbegriff bei von Humboldt

4.3 Der Bildungsbegriff bei Klafki

4.4 Vergleich der Weisen anhand des Bildungsraumes

5 F

AZIT UND

A

USBLICK

L

ITERATURVERZEICHNIS

II Z

UR

E

XEGESE DES

B

ILDUNGSBEGRIFFS VON

H

UMBOLDTS

(B

EIERMANN

)

1 E

INLEITUNG

2 D

IE KONTEXTUALE

E

INORDNUNG

2.1 Das Leben Wilhelm von Humboldts

2.2 Historische Situation

3 D

IE

B

ILDUNGSVORAUSSETZUNGEN

3.1 Humboldts Freiheitsbegriff

3.2 „Mannigfaltigkeit der Situationen“

3.3 Vernunft

3.4 Zusammenfassung

4 D

ER

B

ILDUNGSBEGRIFF

– B

ILDUNG ALS „WAHRE[R]

Z

WEK DES

M

ENSCHEN“

5

„HÖCHSTE UND PROPORTIONIERLICHSTE

B

ILDUNG SEINER

K

RÄFTE“

- D

ER

K

RAFTBEGRIFF

5.1 Die Monadenlehre Gottfried Wilhelm Leibniz‘

5.2 Humboldts Kraftbegriff

5.3 Die Kräfte

5.4 Harmonie und Gleichgewicht

5.5 Wechselwirkungen

6 D

AS

G

ANZE

7 F

AZIT

L

ITERATURVERZEICHNIS

I WEISEN DER BILDUNG ‒ ODER: ÜBER DIE DIFFERENZIERBARKEIT DES EINHEITLICHEN

(NICOLAUS WILDER)

„Es gibt vielerlei Augen.

Auch die Sphinx hat Augen –:

und folglich gibt es vielerlei ›Wahrheiten‹,

und folglich gibt es keine Wahrheit.“

(Friedrich Wilhelm Nietzsche, 1887)

1 EINLEITUNG

„Philosophie ist die Kunst, das Selbstverständliche nicht selbstverständlich zu finden.“1 In diesem Sinne sollte die Pädagogik – als eine Wissenschaft, die sich erst seit relativ kurzer Zeit von der Philosophie emanzipiert hat2 – diesen Kern philosophischen Denkens trotz Emanzipation beibehalten und auf ihren Gegenstandsbereich übertragen, wobei der Gegenstandsbereich der Pädagogik mit BALLAUFFS Worten folgendermaßen beschrieben wird: „Mit Pädagogik haben wir es nur dann zu tun, wenn eine Antwort auf die Frage nach Sinn und Maß der Bildung gegeben wird.“3 Auch wenn man möglicherweise der Bildung noch die Erziehung zur Seite stellen und vielleicht auch schon die Suche nach einer Antwort als Pädagogik bezeichnen könnte, so wird hiernach doch eines klar, und zwar, dass eine zentrale Aufgabe der Pädagogik darin besteht, das Selbstverständnis von »Bildung« immerwährend zu hinterfragen und zu diskutieren.

Während sich Arbeiten zum Thema Bildung häufig reißerischer Thesen apokalyptischer Untergangsszenarien als Aufhänger bedienen4, soll diese Arbeit einmal – zur Illustration des Selbstverständnisses von »Bildung« – inmitten der Lebenswelt beginnen und zwar zu dem Zeitpunkt als feststand, dass »Bildung« zum Gegenstand der hier vorliegenden Diplomarbeit werden sollte. Viele Gespräche im Kreise der Bekannten, bei denen zum ersten Mal die Themenwahl darlegt wurde, liefen dabei nach folgendem Muster ab:

Autor (A): „Ich schreibe über Bildung!“ Gesprächspartner (G): „Wie Bildung? Was will man denn 100 Seiten über Bildung schreiben? Das ist doch klar, was das ist.“ A: „Ach ja? Was denn?“ G: „Naja, also, man muss eben bestimmte Dinge wissen.“ A: „Wie zum Beispiel?“ G. „Naja, Deutsch oder Geschichte…“ A: „Dann wären also nur deutschsprachige Historiker gebildet?“ G: „Nein, es können ja auch Naturwissenschaftler sein.“ A: „Also zeichnet sich Bildung durch möglichst tiefgreifende Kenntnis einer bestimmten Fachwissenschaft aus?“ G. „Nein, das auch nicht. Allgemeinbildung gehört natürlich auch dazu.“5 A: „Spiegelt sich Bildung denn ausschließlich im Wissen wider? Oder gibt es auch Personen, die viel wissen, die man aber trotzdem nicht als gebildet bezeichnen würde?“ G: „Die gibt es wohl auch. Natürlich gehören auch soziale Fähigkeiten mit dazu. Gesellschaftlicher Umgang, Höflichkeit...“ A: „Dann wäre also Einstein, der sich – wenn überhaupt – nur um wenige gesellschaftliche Konventionen scherte, nicht gebildet, dafür aber ein jeder Allgemeingebildeter, der gesellschaftlichen Umgang pflegt, darunter Mörder, Kinderschänder, Diebe, Tyrannen?“ G: „Nein, das auf keinen Fall.“ Usw. usf.

Das Resultat ist Folgendes: Was Bildung ist, gilt lebensweltlich als völlig selbstverständlich, was jedoch genau unter »Bildung« zu verstehen ist, weiß fast niemand so recht zu sagen, ähnlich wie es bereits AUGUSTINUS für die Zeit feststellte: „Quid est ergo tempus? Si nemo ex me quaerat, scio; si quaerenti explicare velim nescio“6. In diesem Sinne ist das Ziel dieser Arbeit also ein Annäherungsversuch an die semantische Vielfalt des Bildungsbegriffes oder, genauer gesagt, die Entwicklung und Erprobung eines Verfahrens für einen solchen Annäherungsversuch. Die dafür ausgewählten zentralen Elemente dieser Arbeit sind zum einen – als notwendige Grundlage – eine Betrachtung von Sprache, insbesondere in ihrem Verhältnis zur Wirklichkeit sowie in ihrer semantische Bedeutung – mithin das Verhältnis von Einzelnem zu Allgemeinem – und zum anderen, darauf aufbauend, der Versuch eines hermeneutisch-pluralistischen Umganges mit dem Begriff »Bildung«, der nicht – zumindest nicht ohne erhebliche semantische Verluste – taxonomisch exakt klassifiziert werden kann, ohne dass sich dabei der ‚Verstand Beulen holt‘7 und deshalb unter Zuhilfenahme eines Konzeptes in Anlehnung an die WITTGENSTEINsche Idee der »Familienähnlichkeit«8 komparativ analysiert werden soll.

Für eine wissenschaftliche Betrachtung, die sich der Aufgabe verpflichtet fühlt, ‚das Selbstverständliche nicht selbstverständlich zu finden‘, ergeben sich für eine Betrachtung von »Bildung« zwei elementare Fragen: Zum einen die Frage danach, was Bildung ist, also die Frage nach dem Sein von Bildung und zum anderen die Frage, was unter »Bildung« verstanden wird, also die Frage nach dem semantischen Sinn von »Bildung«. Dabei sind beide Fragen jedoch nicht voneinander losgelöst zu betrachten, denn die Beantwortung der Frage nach dem Sein hat unmittelbaren Einfluss auf die Möglichkeiten der Beantwortungen der Frage nach dem Sinn. Betrachtet man das ontologische Sein von Bildung als etwas Absolutes, weiß man also, was Bildung wirklich ist, so muss dasjenige, was unter »Bildung« verstanden wird, dem entsprechen, was Bildung ist, alles andere wäre als falsch zu bezeichnen. Weiß man hingegen noch nicht, was Bildung wirklich ist, unterstellt aber die mögliche Erkenntnis dessen, so ist die Frage nach dem Sinn die Suche nach dem Sein. Stellt man jedoch die Erkenntnismöglichkeit des Absoluten, also dessen, was Bildung wirklich ist, infrage, so wird das Sein von Bildung überhaupt erst durch den ihr zugewiesenen Sinn konstituiert. Bildung ist dann also dasjenige, was unter »Bildung« verstanden wird.

Soviel sei an dieser Stelle bereits vorweggenommen, dass in dieser Arbeit der letztere Weg eingeschlagen werden wird, denn „es würde uns helfen, die Hoffnung hinter uns zu lassen, die Philosophie werde irgendwie eine Verbindung herstellen zwischen uns und einer ahistorischen, absoluten Instanz.“9 In diesem Sinne RORTYS wird es also in dieser Arbeit nicht darum gehen, irgendein ‚Wesen‘, eine ‚Idee‘, einen ‚Geist‘ oder überhaupt etwas den Menschen und die Gemeinschaft Transzendierendes, Absolutes von Bildung zu erkennen, sondern darum, den der »Bildung« zugesprochenen Sinn zu betrachten, zu verstehen und zu analysieren. Die aus der Aufgabe des Absoluten resultierende Konsequenz, dass es nicht mehr ‚die eine wahre Bildung‘ gibt, sondern es viele unterschiedliche Verständnisse von Bildung geben kann, macht ein Vorgehen notwendig, das genau das Herausarbeiten von Unterschiedlichkeiten und Gemeinsamkeiten der Verständnisse fokussiert und alternative Kriterien zur Beurteilung dieser Verständnisse bereitstellt als das der ‚absoluten Wahrheit‘. Eben dieses soll mit dem GOODMANschen Konstrukt der »Weise« sowie dem zu entwickelnden Konstrukt des »Bildungsraumes« in dieser Arbeit versucht werden, welche es ermöglichen sollen, die unterschiedlichen Verständnisse von »Bildung« miteinander in Beziehung zu setzen und zu vergleichen.

1.1 Gegenstand der Betrachtung

„Der Mensch ist nicht Gott, weil der Gott nicht nach Bildung strebt; denn dieser ist von sich her unveränderlich und bedarf der Bildung nicht.“10 So bedarf der Mensch also aufgrund seiner ‚Veränderlichkeit‘ der Bildung. „Die höchste Möglichkeit des Menschen besteht in diesem Abstreifen des zufälligen Individuellen und dem Hervortreten dieser unverwechselbaren, nie wiederholbaren Eigentümlichkeit. Aus dieser Sicht ist Bildung ein ständiges Individuellerwerden.“11 Aus einer anderen Sicht heraus kann Bildung jedoch auch ein ständiges ‚Kollektiverwerden‘ bedeuten, dessen Ziel das Aufgehen des Individuums in der Gemeinschaft ist. „So wird die Frage nach der Bildung des Menschen zu einer Frage über Leben und Tod, über Unvergänglichkeit und Erlöschen in der Erinnerung der Menschheit.“12

Gegenstand dieser Arbeit ist »Bildung«, einer der wahrscheinlich elementarsten Begriffe, wenn nicht sogar der elementarste Begriff der Pädagogik, was besonders an der ursprünglichen Verwendung des Begriffes »Pädagogik« deutlich wird. „[D]as um 1770 eingeführte Fremdwort [Pädagogik meint] eigentlich die (wissenschaftliche) Lehre von der menschlichen Bildung bzw. Bildungslehre.“13

Bildung. Ist ein, wenn nicht der Grundbegriff der Pädagogik in Deutschland. Da sich in ihm das jeweilige Selbst- und Weltverständnis des Menschen widerspiegelt, kann er nicht zeitlos definiert, sondern nur in seiner historischsystematisch-dynamischen Vielschichtigkeit erschlossen werden.14

»Bildung« ist demgemäß nicht nur einer der elementarsten Begriffe, sondern zugleich durch seine historische und sozio-kulturelle Bedingtheit auch einer der unklarsten und umstrittensten in der Pädagogik. In seiner Schillernheit ist »Bildung« zugleich Schwierigkeit als auch Möglichkeit: Schwierigkeit aufgrund seiner unzähligen Menge an divergenten und teilweise sogar widersprüchlichen Bedeutungen, Möglichkeit, da durch ihn den Menschen ein Mittel zur Verfügung steht, das es erlaubt, die ‚Veränderlichkeit‘ des Menschen in bestimmte Bahnen zu lenken und das ‚jeweilige Selbst- und Weltverständnis‘ sowie das geistige Kulturgut zu vermitteln. Bildung ist damit als „Grundfeste menschlicher Kultur“15 zu verstehen, möglicherweise sogar als notwendige Bedingung menschlicher Kultur, da durch Bildung die nachfolgende Generation immer schon auf dem von den vorherigen Generationen Geschaffenem aufbauen kann und somit eine auch über Jahrhunderte und Jahrtausende andauernde Weiterentwicklung menschlicher Kultur ermöglicht wird. Hierin ist die besondere Relevanz der Bildung für die Gesellschaft zu sehen, denn „Bildung lehrt den vernünftigen Umgang mit der Welt. Deshalb muss Bildung die zentrale Aufgabe unserer Gesellschaft werden.“16 Allerdings darf »Bildung« dabei nicht als das bloße Rezipieren von bereits Geschaffenem verstanden werden, denn „[w]o die Überlieferung von außen prägt, anstatt selbstständig anverwandelt zu werden, verliert sie ihren Sinn.“17 Der Wert von Bildung besteht hiernach also darin, das geistige Kulturgut, welches von der einen Generation der nächsten überliefert wird, ‚selbstständig anzuverwandeln‘, es also aufzunehmen, in Frage zu stellen und weiterzuentwickeln.18

Doch der Wert der Bildung wird nicht nur im gesellschaftlichen Nutzen gesehen, sondern oftmals auch in der Ermöglichung des ‚Individuellerwerdens‘. So beschreibt der Begriff »Bildung« zum Beispiel für HORKHEIMER die Möglichkeit zu einer „reicheren Entfaltung der menschlichen Anlagen, zu einer angemessenen Erfüllung der eigenen Bestimmung“19. Bildung ist dann als das Ermöglichen der Verwirklichung der sich durch das Individuum selbst gegebenen Bestimmung zu verstehen. Bildung als Weg zur Selbstbestimmung und Mündigkeit, als „Ausformung der Individualität“20 gilt überhaupt als eines der großen Ziele der Aufklärung21 und ist auch heute noch – als Gegenposition zu Bildung als Weg zu ökonomischer Verwertbarkeit – nicht weniger bedeutsam.

Eine das Individuum und die Gesellschaft übergreifende Auslegung des Bildungsbegriffes findet sich bei HEGEL, für den »Bildung« die Bedingung des Menschseins an sich darstellt, also zum entscheidenden Abgrenzungskriterium zwischen Mensch und Tier wird.

[D]er Mensch ist, was er ist, wie er als Mensch sein soll, erst durch Bildung; so ist er erst als Geist; es ist seine zweite Geburt; dadurch erst nimmt er Besitz von dem, was er mehr hat als das Tier, und so ist er erst als Geist, als Mensch.22

An anderer Stelle heißt es bei HEGEL zu der „Idee der menschlichen Freiheit“23:

Was der Mensch zunächst unmittelbar ist, ist nur seine Möglichkeit, vernünftig und frei zu sein, nur die Bestimmung, nur das Sollen; erst durch Zucht, Erziehung und Bildung wird er, was er sein soll, der Vernünftige. Der Mensch ist nur die Möglichkeit Mensch zu sein, wenn er geboren ist.24

Der Mensch nach HEGEL ist also nicht notwendigerweise Mensch, sondern nur möglicherweise, das heißt, die Möglichkeit Mensch zu sein ist zwar in jedem Menschen angelegt, aber wirklich Mensch sein kann der Mensch erst durch Bildung. Bildung ist hiernach notwendig zum Menschsein.

Anhand dieser kurzen grundsätzlichen Überlegung zum Bildungsbegriff sollte illustriert werden, von welcher besonderen Relevanz Bildung im allgemeinsten Sinne für den Mensch – also das Individuum, die Gemeinschaft und das Menschsein an sich – zu sein scheint. Und eben diese Relevanz ist es, die eine intensivere Analyse des Bildungsbegriffes lohnenswert erscheinen lässt, ebenso wie dessen bereits langwährende Aktualität.

Gestatten Sie mir die Banalität einer Aufzählung zusammengesetzter Begriffe, wie wir sie heute in der täglichen Zeitung bunt verstreut, im Lexikon alphabetisch aneinandergereiht finden: Bildungsbericht, Bildungsbilanz, Bildungsboom, Bildungsbudget, Bildungsdefizit, Bildungsdichte, Bildungsfernsehen, -finanzierung, -forschung, -förderung, -gefälle, -güter, -ideal, -inhalte, -kommission, -mittel, -monopol, -notstand, -ökonomie, -planung, -politik, -rat, -reform, -statistik, -stufen, -technologie, -urlaub. -wesen, Bildungswerbung, Bildungszentrum…

Viele dieser Begriffe sind Prägungen aus jüngster Zeit, die meisten von handgreiflicher Aktualität. Hinzu kommen noch die umgekehrten Wortzusammensetzungen, nicht weniger im Gespräch: Lehrerbildung, Erwachsenenbildung, Weiterbildung, Berufsbildung, Elternbildung usw.

Vielleicht wäre es nicht ganz abwegig, zu sagen: Bildung ist nicht eines unter anderen, sondern das Stichwort des Tages.25

Bildung ist ‚das Stichwort des Tages‘ und auch wenn dies bereits 1974 festgestellt wurde, so hat sich bis heute nicht viel daran geändert, verfolgt man die omnipräsente mediale Aufbereitung internationaler Bildungsvergleichsstudien sowie deren politische Diskussionen oder den ständigen europaweiten Reformierungsversuch der Schul-, Hochschul- und Ausbildungssysteme. Bildung ist also nach wie vor von zentraler Bedeutung und das Besondere daran scheint, dass diese Bedeutung einen nahezu klassisch-zeitlosen Charakter zu haben scheint. Während Begriffe wie Wirtschafts- oder Bankenkrise –von deren Auswirkungen sich die Gesellschaft in höchstem Maße betroffen zeigt – kurzzeitig eine mediale Vormachtstellung einnehmen und nach wenigen Wochen oder Monaten bereits wieder deutlich abflauen, ist die Präsenz des Bildungsbegriffes kontinuierlich – zwar mal mehr, mal weniger – aber selbst in Situationen der Krise deutlich erkennbar, wenn zum Beispiel während der Finanzkrise 2007 die möglichen Veränderungen des Bildungssystems zur Verhinderung solcher Krisen diskutiert wurden. Diesbezüglich äußert sich die Relevanz von Bildung also in ihrer dauerhaften Aktualität sowie ihrem Potential, mit vielerlei Gegenständen in Verbindung gebracht zu werden, zum Beispiel als Begründung oder Interventionsmaßnahme.

„Aber an sich ist das Einrücken der Bildungsproblematik in den Vordergrund oder besser Mittelpunkt menschlicher Bemühungen nicht etwa nur unserer Epoche eigentümlich.“26 Auch in der Antike und im Mittelalter waren Fragen zur Bildung bereits von zentraler Bedeutung27, betrachtet man zum Beispiel PLATONS „Politeia“28 oder COMENIUS „Pampaedia“29. Und schon bei diesen Werken und Auseinandersetzungen über den Bildungsbegriff, ebenso wie bei Ausführungen aktuelleren Datums wird deutlich, dass diese häufig mit einer Kritik am bestehenden System oder an der bisherigen Bildung des Menschen ansetzen. Bildung scheint also als ein wesentliches Mittel zur Veränderung des Bestehenden verstanden zu werden und ist möglicherweise deswegen in ihrer Menge an verschiedensten Variationen so umstritten.

Die machtvolle Auseinandersetzung gesellschaftlicher Interessengruppen um einen angemessenen Bildungsbegriff, um das, was gelehrt und gelernt werden soll, zeitigt also Normalität sowie Kontinuität und ist keineswegs nur eine Erscheinung der Zeit.30

Da nunmehr der Gegenstand der Betrachtung in seiner Bedeutsamkeit insbesondere für die Pädagogik dargelegt wurde, bleibt die Frage offen, wie man sich einem solchen, aufgrund seines Facettenreichtums nicht streng klassifizierbaren Phänomen analytisch annähern könnte, ohne dabei dessen Variationsreichtum und Potenzial einzuschränken oder auszublenden oder gar zu zerstören.

1.2 Darstellung der Vorgehensweise

Die hier vorliegende Arbeit stellt einen Versuch dar, sich dem Sachverhalt Bildung durch eine wissenschaftliche Analyse und deren textliche Aufbereitung in einer verständlichen und umfassenden Weise anzunähern. Die größte Schwierigkeit dieses Versuches offenbart sich dabei in der Frage danach, wie man sich einem solch schillernden Begriff überhaupt annähern kann und in der Rechtfertigung, warum man nach der Vielfalt und nicht der Einfalt dieses Begriffes sucht.

Es ist nicht klar, dass sich und wie sich richtige Anfänge und Wege von falschen und irreführenden unterscheiden lassen. Vielmehr schaffen erst der Aufweis vieler möglicher Wege und das Wissen über mögliche Abwege eine Übersicht über das zu erschließende Terrain.31

Da es, wie dieses Zitat verdeutlicht, nicht möglich ist, schon vor dem Betreten des Weges darüber zu entscheiden, ob ein bestimmter Weg der richtige sein wird, erscheint es umso notwendiger mit dem Ziel vor Augen einfach einen Weg zu beschreiten. Der hier zu beschreitende Weg ist dabei im Wesentlichen durch zwei geisteswissenschaftliche Denktraditionen geprägt, die es in dem ersten von drei Abschnitten des Weges offenzulegen gilt. Zum einen handelt es sich dabei um die Einsicht in die Notwendigkeit des Verstehens also um die Frage nach der Bedeutung des dem Begriff »Bildung« zugesprochenen Sinns.

Wie muß der Begriff ‚Bildung‘ heute ausgelegt und verstanden werden, wenn er weiterhin als ein Kernbegriff des pädagogischen Denkens und als eine Leitvorstellung des erzieherischen Handelns und der Gestaltung des Erziehungs-, Schul- und Hochschulwesens Anerkennung finden soll? Bedarf es nur der Renaissance einer ursprünglichen Sinngebung des Wortes? […] Oder geht es gerade nicht um Renaissance, sondern um tiefgreifende Revision, um ein Umdenken der uns überlieferten, auch der ‚ursprünglichen‘ Auslegung dessen, was ‚Bildung‘ meint, meinen könnte oder meinen soll? […] Renaissance eines ‚ursprünglichen‘ Bildungsbegriffs – Revision aller bisherigen Sinngebungen von Bildung – Abschied vom Begriff der Bildung überhaupt: wie auch immer die Lösung der Frage lauten mag sie kann nur sachgemäß ausfallen, wenn man sich mit der Sinngeschichte des Bildungsbegriffs auseinandergesetzt hat.32

KLAFKI verdeutlicht an dieser Stelle die Notwendigkeit einer Auseinandersetzung mit der ‚Sinngeschichte des Bildungsbegriffes‘. Hier jedoch soll noch einen Schritt früher angesetzt werden, indem erst einmal die Frage danach gestellt wird, welche Bedeutung Sinn denn überhaupt für »Bildung« hat. Diese Frage soll auf der Grundlage der Hermeneutik erörtert werden. Zum anderen jedoch gilt es nicht bloß die Frage nach dem Sinn, sondern, wie bereits erwähnt, auch die Frage nach dem Sein von »Bildung« zu stellen, deren Beantwortung auch der Legitimation einer Auseinandersetzung mit der Vielfalt von »Bildung« dienlich ist. Diese Frage wird auf der Grundlage des Pluralismus von GOODMAN diskutiert werden, der eine Auseinandersetzung mit Vielfalt nicht nur legitimiert sondern explizit fordert. Nachdem damit die Rahmenbedingungen des Weges skizziert sind, soll in dem zweiten Abschnitt ein Verfahren entworfen werden, welches eine komparative Analyse unterschiedlicher Bildungstheorien oder Auslegungen des Bildungsbegriffes ermöglicht. Dieses wird auf der Grundlage der dargestellten Rahmenbedingungen und unter Zuhilfenahme der WITTGENSTEINschen Idee der Familienähnlichkeit von Begriffen versucht werden. Im Zentrum dieser Überlegungen stehen dabei vier, zu einem Bildungsraum aufgespannte Dimensionen, anhand derer die unterschiedlichen Bildungstheorien analysiert und miteinander in Beziehung gesetzt werden sollen. Die vier Dimensionen spannen sich dabei jeweils zwischen zwei Polen auf: struktural – prozessual, normativ –deskriptiv, autonom – heteronom, zeitgemäß – unzeitgemäß, die es insbesondere in ihrer Bedeutung für den Bildungsbegriff zu erörtern gilt.

Als letzter Abschnitt des Weges wird dann der Versuch unternommen, dass zuvor entworfene Verfahren exemplarisch anhand von drei unterschiedlichen Auslegungen des Bildungsbegriffes anzuwenden – des Bildungsbegriffes VON HUMBOLDTS, des geisteswissenschaftlichen KLAFKIS und des kritischkonstruktiven KLAFKIS. Dafür werden die unterschiedlichen Bildungsbegriffe zunächst vorgestellt und dann im Hinblick auf die vier Dimensionen des Bildungsraumes analysiert, um dann abschließend mit Hilfe des Bildungsraumes verglichen zu werden. Im Fazit werden der hier beschrittene Weg und insbesondere das entwickelte und erprobte Verfahren kritisch betrachtet werden. Methodisch wird in dieser Arbeit hermeneutisch vorgegangen, das heißt in diesem Fall, dass Erkenntnisse mittels einer interpretativen Auseinandersetzung mit bereits Gedachtem zu gewinnen versucht werden.

1 ANGEHRN 2003, S. 9.

2 Auch wenn diesbezüglich kein festes Datum gesetzt werden kann, so ist eine gewisse Verselbstständigung der Pädagogik wohl am Ehesten in der Entstehung der »Geisteswissenschaftlichen Pädagogik« durch die Schüler DILTHEYS zu Beginn des 20. Jahrhunderts zu sehen. Vgl. hierzu BÖHM 2005, S. 478 ff., Stichwort: Pädagogik.

3 BALLAUFF 1966, S. 9.

4 Vgl. zum Beispiel: „Wir sind, was die Bildung betrifft, in der Lage Robinsons. Wir haben Schiffbruch erlitten. Das ist schlimm, aber es ist keine Katastrophe, solange man seine Moral behält, nicht in Panik gerät, lernfähig ist und zäh genug, alles wieder neu aufzubauen. Machen wir also Inventur. Sichten wir das Wissen und trennen wir das Wesentliche vom Unwesentlichen. Überprüfen wir unsere Maßstäbe. Korrigieren wir unsere Fehler. Und gewinnen wir dabei unsere Urteilsfähigkeit zurück. Wie ist die Lage, wenn wir sie nicht beschönigen? […] Bildung ist zu einem Schattenreich geworden. In ihm sind die Vorstellungen davon verdampft, was man eigentlich lernen soll. Eine ernsthafte, fachlich solide Überlegung über Bildungsziele findet nirgendwo statt. Statt dessen herrschen die beiden Schwestern – die große Verunsicherung und die große Unübersichtlichkeit.“ In: SCHWANITZ 1999, S. 24.

5 Die Frage, was genau Allgemeinbildung wiederum sei, wurde in den meisten Gesprächen nicht weiter vertieft.

6 AUGUSTINUS 2009, S. 213. Was ist also die Zeit? Wenn mich niemand danach fragt, weiß ich es; wenn ich es aber einem, der mich fragt, erklären sollte, so weiß ich es nicht.

7 „Die Ergebnisse der Philosophie sind die Entdeckung irgendeines schlichten Unsinns und Beulen, die sich der Verstand beim Anrennen an die Grenze der Sprache geholt hat. Sie, die Beulen, lassen uns den Wert jener Entdeckungen erkennen.“ In: WITTGENSTEIN 1969, S. 344. Die unter Umständen ungewöhnliche Verwendung einfacher Anführungszeichen soll an dieser Stelle kurz erläutert werden. Wie gewohnt werden einfache Anführungszeichen innerhalb von Zitaten zur Kennzeichnung von im Zitat wörtlich Zitiertem verwendet. Außerhalb von Zitaten hingegen werden mit einfachen Anführungszeichen zum einen umgangssprachliche Ausdrücke gekennzeichnet und zum anderen Passagen hervorgehoben, die im Text bereits wörtlich zitiert wurden oder noch werden, wobei die Grammatik gegebenenfalls an den Text angepasst wurde.

8 WITTGENSTEIN 1969.

9 RORTY 2005, S. 5.

10 MENZE 1978, S. 200.

11 Ebd., S. 200.

12 Ebd., S. 202. »Tod« wird an dieser Stelle – aus Sicht der Humanisten im Hinblick auf den aufkommenden Kollektivismus – in dem Sinne eines durch die Preisgabe jeglicher Individualität verschenkten und verschwendeten Lebens gebraucht, das zu vollständiger Erinnerungslosigkeit führt.

13 BÖHM 2005, S. 478, Stichwort: »Pädagogik«.

14 BÖHM 2005, S. 90, Stichwort: »Bildung«.

15 BAUMERT / FRIED / JOAS / MITTELSTRAß / SINGER 2002, S. 171.

16 Ebd., S. 171.

17 NIPKOW 1978, S. 154, in Bezugnahme auf NIETZSCHE.

18 Vgl. zum Verhältnis von »Bildung« und »Gesellschaft« auch die folgende Textstelle bei KLAFKI. Das Problem liegt darin, „daß ‚Bildung‘ immer eine auch (wiewohl keineswegs ausschließlich) gesellschaftlich vermittelte Wirklichkeit oder Vorstellung darstellt und immer gesellschaftlich relevant ist, und daß zum anderen das, was wir ‚Gesellschaft‘ nennen, nicht zuletzt durch die ‚Bildung‘ der in ihr lebenden und sie immer erneut hervorbringenden Menschen bestimmt ist.“ In: KLAFKI 1965, S. 9.

19 HORKHEIMER 1978, S. 22.

20 RITTER 1971, S. 924, Stichwort: »Bildung«.

21 Vgl. FROST 2007, S. 299.

22 HEGEL 1989, S. 173.

23 HEGEL 1996, S. 25.

24 Ebd., S. 31.

25 NICOLIN 1978, S. 213. Trotz der Erstveröffentlichung dieses Aufsatzes im Jahre 1974 haben die Begriffe bis heute nichts an ihrer Aktualität eingebüßt, könnten jedoch noch um einige Begriffe auch aktuelleren Datums erweitert werden wie zum Beispiel »Bildungsabstinenz«, »Bildungsbarrieren«, »Bildungschance«, »Bildungsgesamtplan«, »Bildungshilfe«, »Bildungskatastrophe«, »Bildungsprivileg«, »Bildungsrecht«, »Bildungsroman«, »Bildungssoziologie«, »Bildungssystem«, »Bildungsverwaltung« oder »Bildungswissenschaft«. Vgl. BÖHM 2005, die zuvor aufgelisteten Stichwörter.

26 NICOLIN 1978, S. 214.

27 Auch wenn in der Antike natürlich nicht das Wort »Bildung« benutzt wurde, so kann man doch bei einer ideengeschichtlichen Betrachtung eine Menge Gedanken finde, die man heute am ehesten dem Begriff beziehungsweise dem Thema »Bildung« zuordnen würde.

28 PLATON 1982. Vgl. dort zum Beispiel das Höhlengleichnis.

29 COMENIUS 1991.

30 JONGEBLOED 2001, S. 7.

31 KAMBARTEL / STEKELER-WEITHOFER 2005, S. 10.

32 KLAFKI 1965, S. 7 f.

2 WEISEN UND ANDERE GRUNDANNAHMEN

Dass eine jede Auseinandersetzung mit einem Gegenstand33 immer schon aus etwas heraus stattfindet, man also immer schon implizite oder explizite Voraussetzungen wie zum Beispiel ein Vorverständnis von Etwas mitbringt, die von großer Einflussnahme auf die Auseinandersetzung beziehungsweise das Resultat dieser sind, ist augenscheinlich. Erkenntnisse aus dem Nichts heraus zu generieren scheint nicht möglich.34 Auch wenn durch diese Annahme eine Bedingtheit aller Erkenntnis entsteht und die bedingungslose, absolute Wahrheit zur Utopie wird und man aufgrund der Unmöglichkeit bedingungsloser Erkenntnis möglicherweise den Drang zur Suche danach verliert, so findet sich in den folgenden Zeilen LESSINGS dennoch Hoffnung, warum man den Drang nach Wahrheit und Erkenntnis trotzdem aufrechterhalten oder vielleicht gerade deshalb anfeuern sollte.

Nicht die Wahrheit, in deren Besitz irgendein Mensch ist oder zu sein vermeinet, sondern die aufrichtige Mühe, die er angewandt hat, hinter die Wahrheit zu kommen, macht den Wert des Menschen. Denn nicht durch den Besitz, sondern durch die Nachforschung der Wahrheit erweitern sich seine Kräfte, worin allein seine immer wachsende Vollkommenheit bestehet. Der Besitz macht ruhig, träge, stolz – Wenn Gott in seiner rechten alle Wahrheit, und in seiner linken den einzigen immer regen Trieb nach Wahrheit, obschon mit dem Zusatze, mich immer und ewig zu irren, verschlossen hielte, und spräche zu mir: wähle! Ich fiele ihm mit Demut in seine Linke, und sagte: Vater gieb! die reine Wahrheit ist ja doch nur für dich allein!35

Es ist also nicht die Erkenntnis der einen Wahrheit, sondern das Streben nach Erkenntnis überhaupt, was den ‚Wert des Menschen‘ ausmacht, oder, um es mit ARENDTS Worten zu sagen:

Nicht nur die Einsicht, dass es die eine Wahrheit innerhalb der Menschenwelt nicht geben kann, sondern die Freude, daß es sie nicht gibt und das unendliche Gespräch zwischen den Menschen nie aufhören werde, solange es Menschen überhaupt gibt, kennzeichnet die Größe Lessings.36

Damit wären einige der grundlegenden Voraussetzungen für diese Arbeit offengelegt37, nämlich die Annahme, dass der Mensch nach Erkenntnis streben soll, dass die eine absolute Wahrheit wahrscheinlich außerhalb seiner Erkenntnismöglichkeit liegt und dass er froh darüber sein soll, da so ‚das unendliche Gespräch zwischen den Menschen nie aufhören werde‘. Um jedoch das ‚Gespräch zwischen den Menschen‘ möglichst fruchtbar zu gestalten – in dem Sinne, dass möglichst viele Missverständnisse auszuschließen versucht werden – erscheint es sinnvoll, das jeweilig zugrundeliegende Vorverständnis offenzulegen und gegebenenfalls zu begründen. Da es bei einer schriftlichen Ausführung nicht so wie beispielsweise bei einem Dialog38 zwischen zwei realen Personen möglich ist, auf direkte Nachfragen zu reagieren, sollen also zunächst einige zentrale Voraussetzungen für diese Arbeit dargelegt und begründet werden, natürlich in dem Wissen, dass dies nur für eine sehr eingeschränkte Auswahl geschehen kann. Es soll jedoch versucht werden, sich dabei auf diejenigen Voraussetzungen zu konzentrieren, die für das Verständnis der darauf folgenden Ausführung zu den relevantesten zählen.

2.1 Zur Notwendigkeit des Verstehens

ANGEHRN schreibt – die Notwendigkeit der Auseinandersetzung mit »Verstehen« auf den Punkt bringend – in den einleitenden Zeilen seines Buches: „Zu dem, was sich nicht von selbst versteht, gehört in eminenter Weise das Verstehen selbst.“39 Und eben diese Nicht-Selbstverständlichkeit des »Verstehens« ist es, die es notwendig macht, das Verständnis von »Verstehen« und den Umgang mit »Verstehen« ein wenig näher zu betrachten. Auch oder gerade bei einer Arbeit, die vorrangig in der Auseinandersetzung mit Lektüre besteht, drängt sich die Frage nach der möglichen Bedeutung des Gelesenen geradezu auf, also die Frage nach dem Verstehen der Sprache, dem Verstehen des Textes und dem Verstehen der Intention des Autors. Bei der Betrachtung von Texten spielt somit das Verstehen eine zentrale Rolle, denn das Nicht-Verstandene – streng zu unterscheiden von Missverstandenem – ist bedeutungslos, also ohne Sinn für den Verstehenden, denn erst durch Verstehen kann Sinn überhaupt entstehen.

Lebensweltlich zeigt sich auf der Basis eigener Erfahrung, dass der Mensch immer wieder in Verstehenszusammenhänge eingebunden ist. Offenbar werden einem diese Zusammenhänge jedoch meist erst dann, wenn Verstehen –in welcher Art und Weise auch immer – gestört wird, das heißt, dass das permanente Sich-im-Verstehen-Befinden meist erst durch ein konkretes Nicht- oder Missverstehen augenscheinlich wird.

Jeder Mensch praktiziert in seinem Alltagsleben, ohne dass er sich dessen explizit bewusst sein muss, das, was man ‚Verstehen‘ nennt. Die Verstehensleistungen erstrecken sich nämlich von den einfachsten Handgriffen bis zur Verarbeitung kompliziertester theoretischer Zusammenhänge.40

Es ist dem Menschen wesentlich, zu seinem Leben, zu anderen Menschen und zu seiner Welt in ein verstehendes Verhältnis zu treten […]. Er bedarf der Übersetzung und erklärenden Auslegung, um den Sinn einer Geschichte, eines Kunstwerks oder einer Geste zu erfassen.41

Sobald wir also uns selbst, andere Menschen oder die Welt betrachten, befinden wir uns in dem Prozess des Verstehens. Fast könnte man in Anlehnung an WATZLAWICK sagen: Der Mensch kann nicht nicht verstehen42, wobei mit »verstehen« hier jedoch der Prozess des Verstehens an sich gemeint ist und nicht – wie im lebensweltlichen Gebrauch üblich – schon irgendeine implizit mitschwingende Bewertung des zu Verstehenden, zum Beispiel ein richtiges Verstehen im Sinne einer akkuraten Wiedergabe der Intention des Senders oder des Inhaltes an sich.

Zur Universalität des Verstehens gehört nicht nur, dass das Verstehen ein Grundvollzug des menschlich-zwischenmenschlichen Seins ist, sondern dass es eine unendliche Aufgabe darstellt. […] Diese Auffassung vom Verstehen als unendliche Aufgabe bedeutet, dass bei allem Verstandenen stets bisher noch nicht Verstandenes (und das heißt: bisher noch nicht Gedachtes, aber Denkbares) bleibt, was aber prinzipiell verstanden und gedacht werden könnte.

Dieser prinzipielle Charakter des Verstehenkönnens darf allerdings nicht darüber hinwegtäuschen, dass das Verstehen untrennbar mit dem Missverstehen verbunden ist. Denn es ist alles andere als selbstverständlich, dass das Verstehen immer in der Weise gelingt, wie es dem Sinnhaften bzw. Intendierten gemäß ist, das man zu begreifen versucht.43

Diese Ausführungen über »Verstehen« gelten für die Lebenswelt ebenso wie für die Wissenschaft. Auch Wissenschaft sieht sich mit der ‚unendlichen Aufgabe‘ konfrontiert, ihren jeweiligen Gegenstandsbereich zu verstehen, da ‚stets bisher noch nicht Verstandenes bleibt‘. Auf sprachlicher Ebene wurde zwar mehrfach unter anderem von CARNAP und WITTGENSTEIN der Versuch unternommen, eine neue exakte Wissenschaftssprache einzuführen, bei der Gesagtes und Gemeintes zusammenfallen und ein Missverstehen des Gesagten somit auszuschließen wäre, jedoch können dieses Versuche als gescheitert – in jedem Fall unvollendet – betrachtet werden. WITTGENSTEIN selbst hat sich bereits in seinem Spätwerk von dieser Idee distanziert.44 Auch RORTYS Kritik an der Philosophie beinhaltet eine Betrachtung eben dieser Versuche:

Wir verfügen nicht über eine Sprache, die als eine dauerhafte neutrale Matrix der Formulierung jedweder brauchbaren Erklärungshypothesen fungieren kann, und wir haben nicht die leiseste Idee, wie wir zu ihr gelangen könnten.45

Diese deutliche Stellungnahme RORTYS zu den Versuchen, eine exakte Wissenschaftssprache zu definieren, bedeutet, dass sich Wissenschaft auch weiterhin mit dem Problem des »Verstehens« auseinanderzusetzen hat. Menschsein und Verstehen sind untrennbar miteinander verflochten, ebenso wie Verstehen und Missverstehen.

Wenn es also darum geht, unterschiedliche Weisen der Bildung zueinander in Beziehung zu setzen, so stellt sich unweigerlich auch hier die Frage nach dem Verstehen der einzelnen Weisen. Da Verstehen nicht nur allgegenwärtig und unumgänglich zu sein scheint, sondern zudem – möchte man der Lernzieltaxonomie BLOOMS folgen – die notwendige Bedingung von »Analyse«, »Synthese« und »Bewertung«46 ist, was für den weiteren Verlauf dieser Arbeit ebenfalls noch von Bedeutung sein wird, scheint eine wissenschaftliche Betrachtung von »Verstehen« notwendig. Im Folgenden wird somit die Hermeneutik – „im allgemeinen Sinne als Kunst des Verstehens und Auslegens“47 verstanden – sowohl bei dem Entwurf der einzelnen Dimensionen als auch bei der Betrachtung der einzelnen Weisen der Bildung eine wesentliche Rolle spielen. Auch wenn BLOOMS Verstehensbegriff vielleicht kein hermeneutischer ist, in dem Sinne, dass er nicht die Fragen danach stellt, „[w]ie Verstehen zustande kommt, auf welchen Wegen es sich vollzieht, unter welchen Bedingungen es gelingt oder scheitert“48, so erscheint es dennoch sinnvoll zum einen eben diese Fragen für den Verlauf der gesamten Arbeit zu berücksichtigen, da die unterschiedlichen Weisen der Bildung auch nur zu verstehen versucht werden können und dieses Verständnis durchaus nicht alternativlos sein wird, weshalb – im Rahmen der Möglichkeiten einer solchen Arbeit –zumindest der Versuch unternommen wird, ein wohlbegründetes Verständnis offenzulegen, und zum anderen die Facetten des »Verstehens« – und damit der Hermeneutik – aufgrund der bedeutsamen Rolle für die Wissenschaft an dieser Stelle noch eingehender zu beleuchten.

Zu Beginn der Betrachtung soll zunächst die grundlegende SCHLEIERMACHERsche Unterscheidung stehen, anhand derer eine der wesentlichen Ursachen für das Verstehensproblem deutlich wird:

Wie jede Rede eine zweifache Beziehung hat, auf die Gesamtheit der Sprache und auf das gesamt Denken ihres Urhebers: so besteht auch alles Verstehen aus den zwei Momenten, die Rede zu verstehen als herausgenommen aus der Sprache, und sie zu verstehen als Tatsache im Denkenden.49

Daran zeigt sich, dass Rede, unabhängig davon, ob es sich dabei um das gesprochene oder das geschriebene Wort handelt, mindestens zwei Bezugsrahmen hat, nämlich den der Sprache an sich und den des Urhebers, was wiederum dazu führt, dass man Rede auch in mindestens zweierlei Hinsicht verstehen kann, nämlich unabhängig vom jeweiligen Urheber oder als etwas vom Urheber mit einer bestimmten Intention und Meinung Versehens. Der Vollständigkeit halber müsste jedoch noch ein dritter Bezugsrahmen – der des Empfängers – eingeführt werden, da der Empfänger nicht nur derjenige ist, der zwischen den beiden vorher genannten Bezugsrahmen abwägt, sondern zugleich auch immer ein eigenes Vorverständnis mit sich bringt, so dass man also verstehen kann im Hinblick auf den Urheber, die Sprache an sich und sich selbst, wobei bei jedem einzelnen Verstehensprozess ein individuelles Verhältnis der drei Bezugsrahmen zueinander denkbar ist. Die daraus resultierenden Probleme sind augenscheinlich. Zum einen ist ein Verständnis der Rede abhängig von dem jeweiligen Vorverständnis des Erschließenden und zum anderen kann in den unterschiedlichsten Gewichtungen das Verständnis der Rede eher in dem Gesprochenen an sich oder in der möglichen Intention des Urhebers erschlossen werden, so dass eine Vielzahl unterschiedlicher Verständnisse möglich wird. Die Bedeutsamkeit von »Sprache« und »Verstehen« soll an folgendem Zitat deutlich gemacht werden:

Hermeneutik ist getragen von der Grundüberzeugung der Macht der Sprache: von der Überzeugung, daß Sprache unser mächtigstes Instrument ist, mittels dessen wir uns über uns verständigen, den Dialog mit anderen Menschen eröffnen, Wirklichkeit erschließen. Viel heller als das Sonnenlicht für das Auge eröffnet nach Platon der Logos dem Denken die Welt. Diese Macht der Sprache und das Zurückbleiben des Sagens hinter dem Meinen bilden das Spannungsverhältnis, das zum innersten Antrieb der Hermeneutik gehört. Hermeneutik hat mit dem Verstehen von Sinn zu tun, im Bewusstsein dessen, daß Sinn noch nicht zum restlosen Ausdruck, zur vollen Manifestation gekommen ist. Sinn bleibt für das Sagen wie für das Verstehen grundlegend auslegungsbedürftig.50

Die Ausgangssituation der Hermeneutik ist also eine Überzeugung, die davon ausgeht, dass »Sprache« ein, vielleicht sogar das entscheidende Instrument für den Menschen ist, sich mit der Welt, seinen Mitmenschen und sich selbst auseinanderzusetzen und dass »Sprache« an einen Sinn gekoppelt ist, der grundsätzlich einer Auslegung bedarf. „Der Mensch ist in der Lage, Sinn zu stiften, und er ist darauf angewiesen, Sinn vernehmen und aufnehmen zu können.“51 Selbst bei rein formallogischen Aussagen ist es notwendig – so man diese als Empfänger in demselben Sinne verstehen möchte wie der Urheber –, den verwendeten Symbolen den richtigen Sinn zuzuordnen, um die Aussagen verstehen zu können, wobei diese Symbole in anderen Kontexten andere Bedeutungen haben können.

Für den Umgang – also Konstitution, Erschließung und Kommunikation –mit Sinn, was demzufolge das Wesentliche der Hermeneutik ausmacht,52 gibt es nach ANGEHRN drei unterschiedliche Möglichkeiten: »Verstehen«, »Interpretieren« und »Dekonstruieren«.

Die drei Potenzen, die unser Umgang mit der Sinnhaftigkeit der Welt idealtypisch einschließt – das Vernehmen, das Konstruieren und das Auflösen –, sind teils für sich ausgebildet und prägen Typen des Verstehens: die Pietät des Hörens und Bewahrens, die Kreativität und Selbstaffirmation des Hervorbringens, die kritische Destruktion; teils verbinden sie sich zu komplexen Modi des Deutens, Aneignens und Tradierens. Auch wenn sie, wie gesagt, in den konkreten Konstellationen der Hermeneutik, der Interpretation und der Dekonstruktion alle zugleich enthalten sind, so bestehen zumal zu den beiden ersten schwerpunktmäßige Zuordnungen: Hermeneutik hat ein leitendes Vorbild im Hören, Interpretation im Entwurf. Dekonstruktion hingegen definiert sich über eine originäre Verbindung der gegenläufigen Stoßrichtungen, indem sie in der Auflösung gegebener und Produktion neuer Deutungen sich um ein Verständnis des so Re-Konstruierens bemüht.53

Da im Rahmen dieser Arbeit keine vollständig ausgearbeitete Positionierung innerhalb der unterschiedlichen Hermeneutiken, also der unterschiedlichen Umgangsweisen mit »Sinn«, geleistet werden kann – was jedoch deswegen nicht gravierend ist, da es der modernen Hermeneutik vielmehr darum geht, das Verstehensproblem und die damit einhergehenden Konsequenzen als solche aufzudecken und zu beleuchten, als einen Methodenkatalog richtigen Verstehens aufzustellen54 –, sei jedoch darauf verwiesen, dass bei dem Entwurf der Dimensionen »verstehen« eher im Sinne des RICŒURschen Interpretationsbegriffes ausgelegt wird, es also – stark verkürzt und vereinfacht gesagt – nicht darum geht, sich möglichst objektiv der Intention des jeweiligen Autors zu nähern, sondern sich selbst als Leser die ‚Welt‘ zu erschließen, die durch den Text an sich dargeboten wird, also nicht „das subjektive Erleben und Sagenwollen des Autors, sondern das objektiv Gesagte und im Text zum Ausdruck Gebrachte“55 zum Gegenstand der Betrachtung zu machen und somit das kreativ Hervorbringende in den Mittelpunkt zu rücken, während bei der Betrachtung der einzelnen Weisen der Bildung im Gegensatz dazu der Versuch unternommen wird, sich den Intentionen der jeweiligen Autoren so gut wie eben möglich ‚hörend und bewahrend‘ anzunähern, auch wenn die dafür – unter anderem von DILTHEY und SCHLEIERMACHER geforderte – notwendige Intensivität in der Auseinandersetzung mit den jeweiligen Autoren in diesem Rahmen nicht dargestellt werden kann.56

Für diese Arbeit wird – ganz im Sinne des traditionellen Ursprunges der Hermeneutik, der sich in der Auslegung der Heiligen Schrift findet57 –, wie bereits erwähnt, die Textauslegung eine zentrale Rolle einnehmen, weshalb der Text als ein sinn-vermittelndes Medium noch etwas genauer betrachtet werden soll.

Der Text ist die indirekte Äußerung par excellence, in gewissem Sinn noch wie eine direkte, vom Autor ausgehende, an mich gerichtete Äußerung, wie eine Stimme, die zu mir spricht, doch abgelöst von ihrer Herkunft, verselbstständigt gegenüber dem lebendigen Austausch, in das Medium der Äußerlichkeit und Schrift versetzt und im gegebenen Fall ohne nachkonstruierbare Rückbindung an den Äußerer und die Sprechsituation, in der Anonymität des Gesagten und der Fremdheit der Sprache.58

Die Besonderheit des Textes besteht also in dessen ambivalentem Charakter zwischen einer direkten vom Urheber getätigten Äußerung bei gleichzeitiger unüberbrückbarer – soweit der Urheber dem Empfänger nicht zum Dialog bereitsteht – Loslösung von eben diesem Urheber. Für den Umgang mit Text lassen sich nach ANGEHRN wiederum drei unterschiedliche Wege aufzeigen:

Drei Wege lassen sich hier unterscheiden, die zugleich verschiedene Aspekte der Exemplarität der Texthermeneutik illustrieren. Zum einen kann die Arbeit am Text die Absicht verfolgen, durch Rekonstruktion der Vermittlungsschritte das ursprünglich Gemeinte zu entziffern, den schriftlichen Niederschlag idealiter in den sprachlichen Äußerungsakt zurückzuübersetzen. Zum zweiten kann sich die Lektüre dem Text selbst zuwenden und ihn gewissermaßen als Sinnquelle eigener Dignität und eigenen Ursprungs interpretieren. Drittens kann Hermeneutik sich für die gegenständlich-objektive Dimension des Textes – vom Sprachsystem bis zur Materialität der Schrift – interessieren und von ihr her Prämissen für die Rekonstruktion von Sinn formulieren.59

Ähnlich wie zuvor für die Hermeneutik im Allgemeinen erläutert, tritt eine vergleichbare Unterscheidung in Bezug auf das Medium Text auf. Während es also bei der Betrachtung der einzelnen Weisen der Bildung vorrangig darum geht, den Text in seinen ‚sprachlichen Äußerungsakt zurückzuübersetzen‘, um somit das von dem Urheber Intendierte herauszufiltern, soll bei der Erschaffung der Dimensionen das interpretative Moment vorrangig sein, das in dem Text einen Sinnquell eigener kreativer Produktion sieht:

Interpretation wird darin, nach dem Vorbild der These Nietzsches, mit der subjektiven Setzung und Hervorbringung assoziiert. Das Pathos des Konstruierens, Schreibens und Neu(be)schreibens setzt auf das Produzieren, nicht das Vernehmen von Sinn; nicht ursprünglich als Lesende, sondern als Schreibende erschließen wir die Welt.60

Dieses Moment des kreativ Schöpferischen nimmt auch in der RORTYschen Auffassung der Hermeneutik eine entscheidende Rolle ein. Hermeneutik nach RORTY in Anlehnung an GADAMER beschreibt den Menschen als „Schöpfer seiner selbst [, der sich ständig im Sinne des GADAMERschen »wirkungsgeschichtlichen Bewusstseins«] durch vermehrtes Lesen, Schreiben und Kommunizieren“61 reproduziert.

Gadamer führt seinen Begriff des wirkungsgeschichtlichen Bewußtseins ein (eines Bewußtseins von Vergangenem, das uns verändert), um eine Einstellung zu beschreiben, der es weniger darum zu tun ist, was es da draußen in der Welt alles gibt oder in der Geschichte alles gegeben hat, als darum, was wir aus Natur und Geschichte für unsere eigenen Zwecke ›herausholen‹ können.62

Das heißt, dass dasjenige, was zuvor als Vorverständnis beschrieben wurde und hier als ‚wirkungsgeschichtliches Bewusstsein‘ bezeichnet wird, den Verstehensprozess bedingt, sich jedoch gleichzeitig beim Verstehen reproduziert, in dem Sinne, dass das Verstandene in das Vorverständnis mit einfließt, woraus wiederum ein erneuertes Vorverständnis entsteht. Und dieses Vorverständnis ist unmittelbar an die Frage geknüpft, wie man etwas für sich nutzbar machen kann. Im Hinblick auf die später zu entwerfenden Dimensionen von Bildung bedeutet das: Wie kann man sich auf der Grundlage des eigenen Vorverständnisses die Ideen anderer zum Zwecke eines Bildungsmodelles zu Nutze machen?

Ein weiterer interessanter Aspekt zu der Zusammenführung der Weisen der Bildung mit dem Bildungsraum findet sich bei MAYRING in Bezugnahme auf DILTHEY, bei dem sich das Verhältnis von »Bewahren« und »Konstruieren« folgendermaßen darstellt:

Das deskriptiv-hermeneutische Vorgehen ist zwar notwendige Grundlage der Geisteswissenschaften, erklärende Konstruktionen können aber als zweiter Schritt darauf aufbauen. Diese wiederum können durch beschreibende Zusammenhänge verdeutlicht und kontrolliert werden.63

Hierbei geht es also in einem ersten Schritt darum, die vom Urheber intendierte Sinnhaftigkeit einer Aussage zu rekonstruieren – was bei der Betrachtung der einzelnen Weisen der Bildung versucht werden soll –, um diese dann in einem zweiten Schritt in eine Konstruktion einzuordnen, mit dem Ziel, die unterschiedlichen Weisen anhand des Modelles verstehbarer zu machen. „In unserer Schematisierung, Synthetisierung und Perspektivierung schaffen wir die Form, in der die Dinge nach ihrer Sinnhaftigkeit erfahrbar werden.“64 Und eben diese ‚Schematisierung, Synthetisierung und Perspektivierung‘ sollen mit dem Bildungsraum für den Betrachtungsgegenstand »Bildung« unternommen werden.

Wir haben die Konjunktur des Hermeneutischen im Kontext der sprachtheoretischen Wende situiert, welche die Philosophie des 20. Jahrhunderts kennzeichnet und für das Bewußtsein der sprachlichen Vermitteltheit von Denken und Erkennen steht. Die These von der Unhintergehbarkeit der Sprache meint nicht nur die faktische Unmöglichkeit, hinter der Sprache ein basaleres Medium der Erfassung der Welt auszumachen, sondern affirmativ die Tatsache, daß Wirklichkeit als solche, soweit sie in ihrer Bestimmtheit Gegenstand ist, über Sprache konstituiert und als sprachlich geprägte rezipiert wird.65

Das Problematische des »Verstehens«, insbesondere die Notwendigkeit einer wissenschaftlichen Auseinandersetzung mit diesem Problem, entfaltet sich überhaupt erst mit der bedeutsamen Rolle der Sprache – hier als die ‚Unhintergehbarkeit der Sprache‘ bezeichnet – für die Erkenntnis. Während sich die Hermeneutik also vornehmlich mit dem Verhältnis von Sprache und Sinn beschäftigt, liegt der Fokus der Sprachphilosophie auf der Frage nach der Bedeutung von Sprache für Erkenntnis und Wahrheit. Nachdem nun die Frage nach dem Sinn der Sprache im Hinblick auf die Bedeutung für den Gegenstand Bildung beleuchtet wurde, gilt es nun, sich der Frage nach dem Sein von Sprache in Bezug auf Bildung anzunähern.

2.2 Zur Rechtfertigung einer sprachlich relativen Betrachtung von Bildung

Gemäß dem Untertitel dieser Arbeit „Über die Differenzierbarkeit des Einheitlichen“ soll anhand des vorherigen Abschnittes deutlich geworden sein, dass sich die Differenzierbarkeit im Verstehen findet. Das Einheitliche jedoch besteht erst einmal in dem sprachlichen Wort an sich, also der Aneinanderreihung der Buchstaben B, i, l, d, u, n und g.66 Bezogen auf »Bildung« bedeutet das: Das Einheitliche der Bildung ist also das Wort Bildung als solches, während die Differenzierbarkeit der Bildung in den unterschiedlichen Auslegungen des Begriffes liegt. Dieses Einheitliche beziehungsweise das Verhältnis von Einheitlichem zu Differenziertem soll nun Gegenstand der folgenden Ausführungen sein, ebenso wie die Frage, warum überhaupt unterschiedliche Weisen (Differenzierungen) ‒ außer zur Befriedigung einer historischen Neugierde ‒ betrachtet werden sollen und nicht eine absolute – die einzig wahre – Auslegung des Bildungsbegriffes gewählt oder gesetzt wird.

Den Ausgangspunkt dieser Überlegungen bildet eine der Kernfragen sprachphilosophischer Auseinandersetzungen, die auch nach Jahrtausenden der Erörterung noch zu den heftig umstrittenen gehört. „Besteht Sprechen nur im Benennen sprachunabhängig gegebener Denk- und Wahrnehmungsinhalte oder sind diese Inhalte immer schon sprachlich vermittelt, so daß die Formen unserer Sprache als Formen unserer Erfahrung anzusehen sind?“67 Verkürzt gesagt, geht es also um den Einfluss der Sprache auf das Erkennen von Welt beziehungsweise auf den „Aufbau der Wirklichkeit“68. Im Rückgriff auf die analytische Sprachphilosophie baut diese Arbeit auf dem sogenannten »sprachanalytischen Prinzip« auf, mithilfe dessen sich die zuvor gestellte Frage folgendermaßen beantworten lässt:

[Das] sprachanalytische Prinzip […] besagt, daß uns die Wirklichkeit nie als solche unabhängig von unseren Denkmustern und von unseren Sprachrastern gegeben ist. [I]n der Sprachanalyse habe man es nicht mit Gegenständen in der Welt wie in anderen Wissenschaften zu tun, sondern lediglich mit unserer Art, sie zu sehen und über sie zu sprechen.69

Anders formuliert bedeutet das, dass der Mensch die Welt ‒ also den Gegenstand seiner Wahrnehmung ‒ nicht unabhängig von sich selbst betrachten kann und somit seine Erkenntnisse über die Welt keine objektive, wahre Realität abbilden, sondern eine je subjektive Auslegung darstellen. Eine dieser bedingenden Variablen, die also das subjektive Erkennen der Welt beeinflussen, ist die Sprache. Auch bei NIETZSCHE – bereits lange vor der sprachphilosophischen Wende – heißt es hierzu auf die Frage, was also Wahrheit sei, das diese ein „bewegliches Heer von Metaphern, Metonymien, Anthropomorphismen, kurz eine Summe menschlicher Relationen“70 sei. Der NIETZSCHEsche Wahrheitsbegriff wird an dieser Stelle in Bezug auf Sprache verwendet, also Wahrheit als Gegensatz zur Lüge, wie aus dem Titel des Aufsatzes „Über Wahrheit und Lüge um außermoralischen Sinn“71 deutlich wird. Inwieweit Sprache bei NIETZSCHE die Wahrnehmung von Welt beeinflusst, kann zumindest auf Basis dieses Aufsatzes nicht geklärt werden, jedoch wird deutlich, dass der Wahrheitsgehalt von Aussagen in Relation zum jeweiligen Subjekt steht. Diese Abhängigkeit der Wahrheit vom Menschen ist nach NIETZSCHE jedoch nicht auf eine Fehlerhaftigkeit des Menschen zurückzuführen, sondern liegt vielmehr in der grundlegenden Unüberwindbarkeit zwischen Subjekt und Objekt.

Überhaupt aber scheint mir ›die richtige Perzeption‹ – das würde heißen: der adäquate Ausdruck eines Objekts im Subjekt – ein widerspruchsvolles Unding: denn zwischen zwei absolut verschiedenen Sphären, wie zwischen Subjekt und Objekt, gibt es keine Kausalität, keine Richtigkeit, keinen Ausdruck, sondern höchstens ein ästhetisches Verhalten […].72

Eine entscheidende Funktion von Sprache besteht in der Möglichkeit, das Wahrgenommene zu projizieren und damit einhergehend es mitteilen zu können, wie zum Beispiel in der sprachlichen Darstellung einer gemachten Erfahrung. Deswegen nennt NIETZSCHE den Menschen auch ein „künstlerisch schaffendes Subjekt“73 im Sinne des zuvor zitierten ‚ästhetischen Verhaltens‘ und sieht genau in dieser Fähigkeit des Darstellens und Projizierens das wesentliche Merkmal zur Unterscheidung zwischen Mensch und Tier, denn „[a]lles, was den Menschen gegen das Tier abhebt, hängt von dieser Fähigkeit ab, die anschaulichen Metaphern zu einem Schema zu verflüchtigen, also ein Bild in einen Begriff aufzulösen.“74 Jedoch birgt diese Möglichkeit der Projektion auch die Gefahr, dass genau dieser Projektionscharakter vergessen oder missachtet wird und somit die Projektion als identisches Abbild des Wahrzunehmenden gesehen wird.

Die Gefahr des Platonismus [also der Annahme einer naiven Korrespondenztheorie der Wahrheit] besteht darin, die Welt selbst mit den zu ihrer Darstellung konstruierten Modellen zu identifizieren. Das heißt, dass Kommentierungen von Gegenständen, Eigenschaften, Relationen und Funktionen des Modells unmittelbar als Aussagen über Gegenstände, Eigenschaften, Relationen und Funktionen in der Welt aufgefasst werden. Damit vergisst man zu beurteilen, wann und wozu der projektive Gebrauch des Modells etwa zur sprachlichen Darstellung oder Explikation von Formen der Welt oder des Handelns sinnvoll ist und wo die Grenzen der Orientierungsleistung der Projektion liegen.75

Auch NIETZSCHE hat sich in ähnlicher Weise mit den Schwierigkeiten von Sprache auseinandergesetzt und Begriffe an sich als ‚qualitas occulta‘ bezeichnet. Er verlieh Begriffen deswegen das Prädikat ‚qualitas occulta‘, weil mit der Benutzung eines Begriffes die eigentliche konkrete Qualität des durch den Begriff zu Beschreibenden verloren geht, da ein Begriff sich eben genau durch das Abheben und Abstrahieren des je Individuellen auszeichnet, ebenso wie in dem vorigen Zitat der Modellcharakter von Sprache betont wurde, der deshalb modellhaft ist, weil er sich nicht auf das je spezifisch Individuelle bezieht, sondern abstrahierend metaindividuell ist.

„Jeder Begriff entsteht durch Gleichsetzen des Nichtgleichen.“76 Somit ist jeder Begriff auf ungleiche Fälle anwendbar und seine eigentliche Qualität ist umso schwieriger zu bestimmen, je weiter die ungleichen Fälle voneinander abweichen, also je mehr ‚Ungleiches gleichgesetzt‘ wird. Im folgenden Zitat NIETZSCHES soll am Beispiel der Ehrlichkeit das Problem der ‚qualitas occulta‘ nochmals verdeutlicht werden:

Wir wissen ja gar nichts von einer wesenhaften Qualität, die ›die Ehrlichkeit‹ hieße, wohl aber von zahlreichen individualisierten, somit ungleichen Handlungen, die wir durch Weglassen des Ungleichen gleichsetzen und jetzt als ehrliche Handlungen bezeichnen; zuletzt formulieren wir aus ihnen eine qualitas occulta mit dem Namen: ›die Ehrlichkeit‹. Das Übersehen des Individuellen und Wirklichen gibt uns den Begriff, wie es uns auch die Form gibt, wohingegen die Natur keine Formen und Begriffe, also auch keine Gattungen kennt, sondern nur ein für uns unzugängliches und undefinierbares X.77

Was hier für den Begriff »Ehrlichkeit« beschrieben, scheint so oder in ähnlicher Form, vielleicht sogar besonders auf den Begriff »Bildung« anwendbar zu sein. Insbesondere bei der alltagssprachlichen Verwendung von »Bildung« werden die schärfsten Gegensätze, die sich in den unterschiedlichen Weisen der Bildung finden lassen – also im höchsten Maße Ungleiches – gleichgesetzt, wodurch die eigentlichen Qualitäten dieser Weisen verloren gehen. Der Begriff »Bildung« in seiner verallgemeinernden, nicht-individuellen, alltagssprachlichen Verwendung scheint somit eine ‚qualitas occulta‘.

Ähnliche oder sogar weitergehende Ansätze über die konstitutive Bedeutung von Sprache lassen sich bereits bei VON HUMBOLDT finden, dessen Ideen von CASSIRER zu einer „Philosophie der symbolischen Formen“78 weiterentwickelt wurden. PRECHTL fasst die wesentlichen Merkmale eines Zeichens bei CASSIRER folgendermaßen zusammen:

dem Zeichen kommt im Gegensatz zu dem realen Wechsel der Einzelinhalte des Bewußtseins eine bestimmte ideelle Bedeutung zu, die Kontinuität aufweist;

das Zeichen ist (anders als die gegebene einfache Empfindung) ein Repräsentant für die Gesamtheit – besser: für den Inbegriff möglicher Inhalte.

79

In dem je einzelnen Erlebnis wird immer schon ein durch die Kenntnis des repräsentativen Zeichens bedingter Sinnzusammenhang miterfasst. Eine Erfassung des bloßen Erlebnisses ist, sobald man über irgendein anwendbares Zeichen verfügt, nicht mehr möglich.

Sprache dient nicht der Darstellung oder Repräsentation von etwas, was bereits da ist oder sprachunabhängig gegeben ist. Die Tatsache, daß mit der Umgangssprache dem Menschen bereits ein Sinn vermittelt ist, berechtigt zu der Feststellung eines ›Sinnapriori der Sprache‹.80

Die Ausführungen über die Bedeutung der Sprache für die Betrachtung der Welt sollen an dieser Stelle – wieder ohne eine abschließend konkrete Positionierung innerhalb der Möglichkeiten sprachphilosophischer Theorien – erst einmal enden. Entscheidend war es aufzuzeigen, dass Sprache eine konstitutive Bedeutung haben kann und keine getreue Abbildung der Wirklichkeit darstellt. Für die Betrachtung von »Bildung« bedeutet das – zumindest für diese Arbeit: Bildung ist, was unter dem Begriff »Bildung« verstanden wird. Und unter der Bedingung, dass unterschiedliche Verständnisse für möglich und zulässig erklärt werden81, folgt daraus, dass unterschiedliche Weisen der Bildung ebenso möglich sind.

In dieser Arbeit soll es deswegen darum gehen, Bildung als ‚qualitas occulta‘ möglichst weitgehend zu entmystifizieren, indem unter der Berücksichtigung des ‚Sinnapriori der Sprache‘ der Versuch unternommen wird, das Ungleiche möglichst ungleich zu belassen. Nicht die eine allgemeingültige wahre Bildung soll somit Gegenstand dieser Arbeit sein, sondern die je individuellen, subjektiv ausgelegten, in ihrer Differenziertheit betrachteten Weisen der Bildung. Dass eine solche Herangehensweise sowohl Vorteile als auch Schwierigkeiten mit sich bringt, ist augenscheinlich. Eine elementare Schwierigkeit findet sich darin, dass an die Annahme, unterschiedliche Weisen der Bildung seien gleichwahr und gleichrichtig, sobald man sich für eine Verwendung des Begriffes entschließt, die Unumgänglichkeit einer Entscheidung und Legitimation geknüpft ist82