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Die Blackwater-Saga gilt als eine der besten unheimlichen Erzählungen aller Zeiten. Ein über mehrere Generationen verteiltes Familienfresko. Die Publikation war ein solcher Erfolg, dass sie Stephen King (ein Bewunderer der Werke von Michael McDowell) dazu inspirierte, The Green Mile ebenfalls in sechs Bänden zu veröffentlichen. Blackwater ist anders als alles, was du je gelesen hast. Eine Familiensaga mit einer einzigartigen Atmosphäre schleichenden Grauens. Blackwater erzählt von dem verschlafenen Perdido in Alabama und den Schrecken, die Elinor Dammert über die Familie Caskey und die Stadt bringt. Blackwater Buch 3: Das Haus 1928 in Perdido. Während der Caskey-Clan im gnadenlosen inneren Krieg zwischen Mary-Love und ihrer Schwiegertochter auseinandergerissen wird, lauern in den dunklen Ecken von Elinors Haus abscheuliche Erinnerungen, die unerbittlich ihre tödlichen Netze weben. Stephen King: »Ein Schriftsteller für die Ewigkeit.«
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Aus dem Amerikanischen von Andreas Decker
Impressum
Die amerikanische Originalausgabe Blackwater 3: The House
erschienen 1983 im Verlag Avon Books.
Copyright © 1983 by Michael McDowell
Copyright © dieser Ausgabe 2024 by Festa Verlag GmbH, Leipzig
Lektorat: Joern Rauser
Titelbild: César Pardo
Alle Rechte vorbehalten
eISBN 978-3-98676-125-7
www.Festa-Verlag.de
BUCH 3
DAS HAUS
1
MIRIAM UND FRANCES
Frances und Miriam Caskey waren Schwestern, die nicht einmal ganz im Abstand von einem Jahr geboren worden waren. Sie wohnten Tür an Tür in Häusern, die kaum ein paar Dutzend Meter voneinander entfernt standen. Aber zwischen ihren Haushalten gab es so wenig Kontakt, dass die Schwestern, wenn sie sich einmal begegneten – bei den seltenen Familienfeiern der Caskeys –, schüchtern und misstrauisch wirkten.
Auch wenn Miriam nur zwölf Monate älter war, schien sie ihrer Schwester um Jahre voraus zu sein, sofern es um die Reife ging. Aufgezogen von ihrer Großmutter Mary-Love Caskey und ihrer Tante Sister Haskew – bis Sister und ihr Mann wegzogen –, war sie jeden wachen Moment ihrer sieben Jahre verhätschelt und verwöhnt worden. Diese Milde hatte sich seit 1926 noch viel deutlicher ausgeprägt, als Sister, die die Einmischungen und Aufdringlichkeiten ihrer Mutter einfach nicht länger ertragen konnte, ihren Ehemann dazu überredete, nach Mississippi zu ziehen. Mary-Love und Miriam waren in ihrem riesigen Haus allein zurückgeblieben, leisteten sich gegenseitig Gesellschaft und spendeten einander Trost. In Perdido herrschte allgemein die Ansicht, dass Miriam Mary-Love ganz genau glich, dafür aber kein bisschen ihrer eigenen Mutter, die gleich nebenan wohnte und ihre erstgeborene Tochter seltener zu Gesicht bekam als ihre Friseurin.
Wie alle Caskeys war Miriam groß und schlank, und Mary-Love sorgte dafür, dass sie immer nach der neuesten Kindermode gekleidet war. Miriam war ein ordentliches, pingeliges Kind; zwar sprach sie fast ununterbrochen, aber nie laut. Ihre Unterhaltung drehte sich meistens um Dinge, die andere besaßen und die sie gesehen hatte, darum, welche Dinge sie kürzlich bekommen hatte und nach welchen Dingen sie sich noch immer sehnte. Sie hatte ihr eigenes Zimmer, für das sie eigene Möbel besaß. Den kleinen Rollschreibtisch hatte sie höchstpersönlich in einem Möbelgeschäft in Mobile ausgesucht. Sie liebte seine vielen winzigen Schubladen. Jetzt war jede davon gefüllt: Knöpfe, Spitzenstoff, billige Schmuckstücke, Bleistifte, kleine Porzellanfiguren von Hunden, Pailletten, Schleifen, Fetzen von Buntpapier und ähnlicher hübscher Müll, den man in einem reich mit irdischen Besitztümern ausgestatteten Haushalt einsammeln konnte. Miriam konnte sich stundenlang damit beschäftigen, diese Gegenstände durchzusehen, neu zu ordnen, zu zählen, in einem sauber geführten Kontobuch aufzulisten und Pläne zu schmieden, noch mehr davon zu bekommen.
Diejenigen Besitztümer, die Miriam Caskey ihr größtes Vergnügen bereiteten, durfte sie jedoch nicht in ihrem Zimmer aufbewahren. Das waren die Diamanten, Smaragde und Perlen, die ihre Großmutter ihr zu Weihnachten, am Geburtstag oder auch an ganz gewöhnlichen Tagen dazwischen geschenkt und dann in einem Bankschließfach in Mobile verborgen hatte. »Du bist noch zu jung, um diesen Schmuck selbst zu haben«, erklärte Mary-Love ihrer geliebten Enkelin, »aber du darfst niemals vergessen, dass er dir gehört.«
Miriam hatte eine undeutliche Vorstellung vom Erwachsensein und war sich nicht sicher, ob sie diesen erhabenen Zustand jemals erreichen würde. Aber obwohl sie keinesfalls mit Bestimmtheit wusste, dass der Schmuck jemals in ihren direkten Besitz übergehen würde, hatte das nicht die geringste Bedeutung für sie. Jeden Abend, bevor sie einschlief, dachte sie an diesen Schmuck in dem fernen, weggesperrten, stummen Bankschließfach in Mobile, und das schien beinahe das Schlaflied zu ersetzen, das ihre richtige Mutter ihr niemals vorsingen würde.
Frances Caskey war ganz anders. Wo Miriam tatkräftig und robust war und nur aus nervöser Spannung zu bestehen schien, hatte Frances ihren Körper und seine Gesundheit offenbar nur schlecht im Griff. Mit bestürzender Leichtigkeit suchten sie Erkältungen und Fieber heim; sie entwickelte Allergien und kurze, nicht zu diagnostizierende Krankheiten, und zwar mit einer Häufigkeit, mit der andere Kinder sich das Knie aufschürften. Sie war grundsätzlich zaghaft und wäre genauso wenig auf die Idee gekommen, eifersüchtig auf ihre Schwester oder deren Besitztümer zu sein, wie sie geglaubt hätte, das Recht zu haben, sich zur Königin von ganz Amerika zu erklären.
Frances verbrachte jeden Tag mit Zaddie Sapp, holte sich in der Küche schüchtern irgendwelche Sachen oder folgte ihr durchs Haus, saß still mit gehobenen Füßen in der Ecke, während die schwarze Frau putzte, fegte oder Staub wischte. Frances war wohlerzogen, niemals mürrisch, gab sich bei jeder Krankheit geduldig und bereitwillig, wenn nicht sogar eifrig, jede an sie delegierte Aufgabe zu erledigen. Ihre Zurückhaltung war so ausgeprägt, dass ihre Großmutter sie bei den seltenen Gelegenheiten, wenn sie sie sah, bei den Schultern nahm und schüttelte. »Kopf hoch, Kind! Wo ist dein Mumm? Du benimmst dich ja, als würde gleich jemand hinter der Tür hervorspringen und dich verschleppen!«, ermahnte sie sie bei diesen Gelegenheiten.
An jedem Wochentag schlüpfte Frances morgens auf die vordere Veranda im ersten Stock und beobachtete verstohlen, wie ihre Schwester zur Schule ging. Miriam kam wie immer in einem frisch gestärkten Kleid und auf Hochglanz polierten Schuhen mit ihren Schulbüchern aus dem Haus und setzte sich artig auf den Rücksitz des Packard. Miss Mary-Love trat auf die Veranda hinaus und rief: »Bray, komm und fahr Miriam zur Schule!« Bray hörte dann mit der Gartenarbeit auf, wischte sich die Hände ab und fuhr los, und Miriam saß immer so still, beherrscht und vornehm da, als wäre sie auf dem Weg zur Königin von England. Wenn Frances den Chauffeur nachmittags wieder aufbrechen sah, ging sie hinaus, um die Rückkehr ihrer Schwester zu beobachten, die genauso gelassen und wie aus dem Ei gepellt wie bei ihrem Aufbruch am Morgen wirkte.
Frances war nicht auf ihre Schwester eifersüchtig, aber sie empfand Ehrfurcht vor ihr, und die Erinnerungen an die paar Gelegenheiten, bei denen Miriam ein freundliches Wort für sie übrig gehabt hatte, waren ihr lieb und teuer. Am Hals trug sie die dünne Goldkette mit dem Anhänger, den ihre Schwester ihr zu Weihnachten geschenkt hatte. Und es spielte nicht die geringste Rolle, dass Miriam ihr danach zugeflüstert hatte: »Großmama hat sie ausgesucht. Ivey hat die Schachtel besorgt. Sie haben meinen Namen draufgeschrieben, aber ich habe nicht einmal gesehen, was drin war. Ich hätte bestimmt nicht so viel Geld für dich verschwendet.«
Im Herbst 1928 konnte es Frances kaum erwarten, in die Schule zu kommen. Unablässig beschäftigte sie sich mit der Frage, ob man ihr wohl erlauben würde, jeden Morgen mit Miriam und Bray zur Schule zu fahren. Aus Angst, die Antwort würde Nein lauten, wagte sie es nicht, ihre Eltern offen zu fragen. Die Vorstellung, neben Miriam auf dem Rücksitz des Packard sitzen zu dürfen, ließ sie vor Erwartung zittern. In ihren Tagträumen war sie ihrer Schwester ganz nahe.
Als der erste Schultag schließlich gekommen war, sorgte Zaddie dafür, dass sie ihr bestes Kleid anzog. Oscar küsste seine Tochter, und Elinor wies sie an, sehr brav und auch sehr schlau zu sein. Erwartungsvoll trat Frances ganz allein durch die Haustür, als wäre es das erste Mal in ihrem Leben, nur um sehen zu müssen, wie der Packard ihrer Großmutter mit Bray am Steuer davonfuhr. Die aus dem Ei gepellte Miriam saß allein auf dem Rücksitz. Frances hockte sich auf die Stufen und weinte. Oscar marschierte zum Haus seiner Mutter und trat ohne zu klopfen ein.
»Mama, wie in aller Welt konntest du Bray losfahren lassen, obwohl die arme kleine Frances noch auf der Treppe saß?«, fragte er Mary-Love ärgerlich.
Sie tat überrascht. »Wollte Frances denn mit Miriam mitfahren?«
»Das weißt du ganz genau, Mama. Es ist ihr erster Schultag. Miriam hätte ihr alles zeigen können.«
»Das wäre leider nicht möglich gewesen«, erwiderte seine Mutter hastig. »Denn dann wäre sie vielleicht zu spät gekommen. Ich kann Miriam am ersten Schultag doch unmöglich zu spät kommen lassen.«
Oscar seufzte. »Miriam wäre nicht zu spät gekommen. Und die arme Frances sitzt auf der Treppe und weint bitterlich.«
»Daran kann ich auch nichts ändern«, erwiderte Mary-Love ungerührt.
»Gut, dann sag mir bitte eines, Mama«, fuhr Oscar fort, »wirst du mein kleines Mädchen von jetzt an mit Bray und Miriam mitfahren lassen?«
Mary-Love dachte einen Augenblick lang nach, dann erwiderte sie beinahe widerstrebend: »Wenn sie darauf besteht. Aber nur wenn sie schon am Auto wartet, sobald Miriam dieses Haus verlässt. Ich lasse nicht zu, dass Miriam einen Eintrag ins Klassenbuch bekommt, weil Frances sich nicht rechtzeitig anziehen kann.«
»Vergisst du nicht, dass ich die Hälfte von Brays Lohn bezahle?«
»Und vergisst du nicht, dass es mein Automobil ist?«
Oscar war außer sich. An diesem ersten Tag der Schulerziehung seiner Tochter fuhr er sie selbst zur Schule, zeigte ihr das richtige Klassenzimmer und stellte sie ihrer Lehrerin vor. Beim Abendessen erzählte er seiner Frau, was Mary-Love gesagt hatte.
»Oscar, deine Mama behandelt Frances wie den Dreck unter ihren Fingernägeln«, antwortete Elinor. »Ich möchte gar nicht wissen, wie viele Diamanten sie Miriam gekauft hat. Und ich möchte gar nicht wissen, was dieses Kind allein an Rubinen und Perlen wert ist. Dieser Anhänger, den sie zu Weihnachten geschickt haben, hat bestenfalls 75 Cent gekostet. Ich lasse nicht zu, dass Miss Mary-Love uns einen Gefallen tut. Wir werden Frances nicht erlauben, in diesem Auto mitzufahren – nicht ein einziges Mal! Die Leute in der Stadt werden sehen, wie Miss Mary-Love die eigene Enkelin behandelt!«
Frances, die so sehr gehofft hatte, etwas vertrauter mit ihrer Schwester zu werden, erfuhr nicht die geringste Nähe von ihr. Jeden Morgen nahm Zaddie sie bei der Hand und brachte sie zur Schule – tatsächlich sogar bis zur Tür des Klassenzimmers. Manchmal überholten Bray und Miriam sie auf der Straße, aber Miriam hatte für ihre Schwester nicht einmal ein Nicken übrig. Auf dem Spielplatz weigerte sie sich, bei einem Spiel mitzumachen, an dem ihre Schwester teilnahm. »Ich bin in der zweiten Klasse«, erklärte Miriam bei einer der seltenen Gelegenheiten, bei denen sie sich überhaupt herabließ, mit ihr zu sprechen. »Und ich weiß so viel mehr als du!« Als Miriam die Arme ausbreitete, so weit sie konnte, wurde Frances von dem Gefühl ihrer Minderwertigkeit geradezu zermalmt.
Mary-Loves Vernachlässigung ihrer zweiten Enkelin entging Miriam keineswegs, die angefangen hatte, ihre Schwester von Herzen zu verabscheuen. Frances’ billige Garderobe machte sie genauso verlegen wie ihre Schüchternheit, ihre Abhängigkeit von Zaddie Sapp in Dingen wie Gesellschaft und Zuneigung und ihr mangelndes Wissen über echten Schmuck, echtes Kristallglas und gutes Porzellan.
Im Laufe der ersten Dezemberwochen verstärkten sich diese Gefühle noch, als die ersten und zweiten Klassen der Grundschule von Perdido mit ihrem Weihnachtsmarkenverkauf begannen.
Miriam betrachtete es als unter ihrer Würde, wie ein Staubsaugervertreter von Tür zu Tür zu gehen, um sie zu verkaufen. Sie entschied sich, es genauso wie im Vorjahr zu machen und Mary-Love und Queenie Marken im Wert von ein paar Dollar zu verkaufen, damit auf der Tafel im Schulkorridor hinter ihrem Namen keine Null stand.
Aber Frances nahm die Angelegenheit auf ihre kleine Weise bitterernst und wollte so viele Marken verkaufen, wie sie nur konnte; die Lehrerin hatte ihr gesagt, dass es um eine gute Sache ging. Mit Oscars Erlaubnis stattete Frances dem Sägewerk einen Besuch ab und wandte sich an jeden Arbeiter. Sie war so bescheiden, so zart und auf ihre Weise so charmant, dass jeder eine große Anzahl kaufte. Ihr Onkel James Caskey und seine Tochter Grace kauften mehr Marken als alle Holzarbeiter zusammen. Plötzlich hatte sie mehr verkauft als jeder andere Erstklässler.
Ihr Erfolg erstaunte und demütigte Miriam. Plötzlich gab es nichts Wichtigeres auf der Welt, als ihre Schwester beim Verkauf von Weihnachtsmarken zu schlagen. Mary-Love konnte nicht verstehen, warum diese Sache ihrer Enkelin so wichtig war, und weigerte sich, mehr zu kaufen, als sie brauchte.
Also begab sich Miriam nach nebenan zu James und Grace, die behaupteten, ihr gern helfen zu wollen, dass sie aber bereits genug hätten. In James’ Obhut ging Miriam zum Sägewerk, aber dort hatte bereits jeder seinen Geldbeutel für Frances geöffnet. Miriam schluckte sogar genug Stolz herunter, um an ein paar Türen zu klopfen, aber da die Kampagne schon fast vorbei war, hatte jeder, der sich zum Kauf überreden ließ, seine Marken bereits erstanden.
Verzweifelt ging sie zu ihrer Großmutter und erklärte ihr Dilemma. Ganz im Gegensatz zu ihrer Erwartung war Mary-Love jedoch keineswegs ärgerlich. »Miriam, mein Schatz, du willst mir also sagen, dass das kleine Mädchen von nebenan dich schlagen wird – und du bist in der zweiten Klasse und sie in der ersten?«
»James und Grace haben so viele Marken gekauft, Großmama. Und mir wollten sie nicht eine einzige abkaufen!«
»Nicht? Aber von Frances haben sie sie gekauft?«
Miriam nickte düster. »Ich hasse Frances!«
»Ich lasse nicht zu, dass Elinor Caskeys Kind dich besiegt. Wie viele hat sie bis jetzt verkauft? Weißt du das?«
»Für 35 Dollar und 35 Cent.«
»Und was hast du verkauft?«
»Für drei Dollar und zehn Cent.«
»Und wann ist der Wettbewerb zu Ende?«
»Übermorgen.«
»Also gut.« Mary-Love senkte die Stimme. »Ich sage dir was, mein Schatz. Morgen in der Schule findest du heraus, ob Frances noch mehr verkauft hat. Dann sagst du mir ihr Endergebnis, hast du verstanden?«
Der letzte Tag des Weihnachtsverkaufs brachte Miriam Caskey 42 Dollar, eine erstaunliche Summe, zog man in Betracht, dass mittlerweile jeder in Perdido eine ganze Schublade voll von diesen Dingern und Miriam bis zu diesem Augenblick nicht mehr als drei Dollar verdient hatte. Als sie von ihrer Lehrerin gefragt wurde, wer in aller Welt so viele Marken gekauft hatte, erwiderte Miriam: »Ich habe an jeder Tür der Stadt geklopft. Ich habe mir fast die Füße abgelaufen.«
Die Caskey-Schwestern belegten bei diesem Wettbewerb den ersten und den zweiten Platz, aber Miriam schlug ihre Schwester um fast sieben Dollar. Miriam gewann eine Bibel mit sechs Farbillustrationen und Jesus’ Worten in Rot gedruckt. Frances bekam eine Schachtel Pralinen von Whitman.
Nach der Preisverleihung öffnete Frances die Schachtel und bot sie ihrer Schwester an, sagte ihr, sie solle so viele nehmen, wie sie wollte. Aber als Miriam in das größte Stück biss, das sie finden konnte, spritzte Kirschkonfitüre auf das Oberteil ihres gestärkten Kleides. »Ach, das ist deine Schuld, Frances!«, rief sie. »Sieh mich doch mal an!« Und damit schlug sie ihr die Schachtel aus der Hand und verteilte alle Pralinen über den schmutzigen Schulhof.
Die Rivalität, die zwischen den entfremdeten Schwestern zu bestehen schien, war für die bedeutend größere Rivalität symbolisch, die zwischen Elinor Caskey und ihrer Schwiegermutter Mary-Love gewachsen war. Die beiden kleinen Mädchen spiegelten in einer verzerrten Miniaturausgabe die hitzige Beziehung ihrer Mutter und Großmutter wider. Mary-Love war das unangefochtene Oberhaupt der Familie Caskey und hatte diese Position nach dem Tod ihres Mannes vor vielen Jahren eingenommen. Vor der Ankunft von Elinor Dammert in Perdido hatte niemand ihre Autorität infrage gestellt. Elinor hatte mit einer zielstrebigen Energie, ihrer besten Waffe, dafür gesorgt, dass Mary-Loves einziger Sohn Oscar ihr den Hof machte und sie heiratete.
Der Stil der beiden Frauen unterschied sich beträchtlich voneinander. Elinor hatte nicht Mary-Loves polternde Art; ihre Methoden waren subtiler. Elinor wartete ab, ihre Schläge erfolgten schnell, präzise und stets unerwartet. Das war Mary-Love bekannt, und sie war in den letzten paar Jahren unruhig geworden, als wartete sie auf den Schlag, der sie stürzen würde. Die Antipathie gegenüber ihrer Schwiegertochter war schrill und ungebührlich geworden. In Perdido wurde viel geklatscht, und die Meinungen richteten sich immer gegen Mary-Love. Es war eine Sache, die Frau des Sohnes nicht zu mögen, aber es war etwas völlig anderes, diese Abneigung allgemein bekannt zu machen. Irgendwann hatte Mary-Love eingesehen, dass es einfach nicht angebracht war, ihre Schwiegertochter auf direktem Weg zu bekämpfen. Elinor blieb stets kühl und schien immer schon über das nächste Scharmützel nachzudenken, während sie noch hitzig mit dem gegenwärtigen beschäftigt war. Elinor wich auf strategische Weise zurück und ließ ihr Schwert in genau dem Augenblick aufblitzen, in dem Mary-Love den Arm hob, um ihren Sieg zu verkünden. Also traf Mary-Love wie ein gelähmter General die Entscheidung, sich vom Schlachtfeld zurückzuziehen, den Krieg aber nicht aufzugeben.
In ihrer Enkelin Miriam hatte sie eine eifrige, gewissenlose und blutdürstige kleine Soldatin. Und Frances, Elinors Repräsentantin, war ein kränklicher Feind – zaghaft und waffenlos. Ein Scharmützel zwischen den Schwestern würde Mary-Loves Seite den unbestrittenen Sieg einbringen. Jeden Tag kleidete sie ihre Enkelin in ihre schönsten Kleider und auf Hochglanz polierte Schuhe, küsste sie auf die Wange und flüsterte: »Keine Gnade zeigen …«
Aber diese leichten Siege schenkten weder Miriam noch ihrer Großmutter eine Befriedigung, weil Frances sich nicht wehrte. Sie blickte sich nur verwirrt um und begriff nicht einmal, dass sie auf ein Schlachtfeld gewandert war. Elinor hätte ihre Tochter im Kampf und in der Strategie durchaus unterrichten können, aber sie hatte nichts getan. Perdido redete über die beiden kleinen Mädchen, wie es zuvor über Elinor und Mary-Love geredet hatte. Und kam zu dem Schluss, dass Miriam unsympathisch und viel zu überheblich war, während Frances so lieb war, wie man es sich nur vorstellen konnte – was etwas über die beiden Haushalte aussagte, in denen die Kinder aufwuchsen.
Auf diese Weise hatte Elinor den Tag gewonnen, indem sie ihre Abgesandte unbewaffnet, unvorbereitet und sogar ohne die geringste Ahnung, dass der Krieg erklärt worden war, aufs Feld geschickt hatte. Wie lange würde es noch dauern, fragte sich Mary-Love voller Unbehagen, bevor Elinor die Zitadelle stürmte und die Oberherrschaft über die Caskeys verkündete? Warum hatte sie es noch gar nicht getan? Falls sie auf ein Zeichen wartete, wie sah es aus? Wie konnte sich Mary-Love nur auf diesen unausweichlichen Tag vorbereiten? Und wenn die beiden Frauen in die Schlacht zogen, welche Verluste würden blutüberströmt und gebrochen vom Feld geborgen werden?
2
DIE MÜNZEN IN QUEENIES TASCHE
Queenie Strickland war nach ihrem bühnenhaften Auftauchen in Perdido sechs Jahre zuvor inzwischen zur Ruhe gekommen. Sie und ihre Kinder hatten sich zu deutlich mehr als nur den armen Verwandten der Caskeys entwickelt. Es war allgemein bekannt, dass Queenies drittes Kind Daniel Joseph – den man von der Stunde seiner Geburt an nur Danjo rief – das Resultat einer Vergewaltigung durch ihren entfremdeten Ehemann war. Es war ebenfalls allgemein bekannt, dass Danjos Vater nichts taugte und der Junge besser dran war, wenn er aufwuchs, ohne auch nur jemals ein Foto seines Erzeugers gesehen zu haben.
Queenie hatte sich einen Ruf als Schnorrerin erworben. Sie verabscheute diese Bezeichnung allerdings, auch wenn sie durchaus zutreffend war. Kurz nach der Geburt ihres dritten Kindes erklärte sie James, eine Anstellung zu suchen. James, der nicht wollte, dass jemand in der Stadt eine Last schulterte, die er als die seine betrachtete, machte sie zu seiner persönlichen Sekretärin. Das Verantwortungsgefühl für seine unglückselige und mittellose Schwägerin war größer als seine Zweifel über das Ausmaß ihrer bürotauglichen Fähigkeiten und seine Bedenken, wie sich die tägliche Nähe im Büro des Sägewerks anfühlen würde.
Im Sommer 1925 hatte er sie nach Pensacola auf einen Schreibmaschinenkurs geschickt und ihr damit eine dringend benötigte Ruhepause von Malcolms, Lucilles und des kleinen Danjo Ansprüchen verschafft. James wollte diese ungestümen Kinder nicht in seinem Haus haben, das mit so vielen zerbrechlichen und wertvollen Dingen gefüllt war, also schickte er Grace los, um sich in dieser Zeit um sie zu kümmern.
Als Queenie zurückkehrte, konnte sie ausreichend gut Schreibmaschine schreiben und wurde für ihren Schwager in kürzester Zeit unentbehrlich. Sie sorgte für Bleistifte, Rat, Kaffee, ein geneigtes Ohr und die Freiheit von lästigen Anrufern. Sie bewies ihren Wert sowohl in ihrer offiziellen wie auch in ihrer privaten Stellung, und zwar weit über alles hinaus, was sich James Caskey jemals hätte vorstellen können. Queenie wusste schnell alles, was es über den Betrieb des Sägewerks zu wissen gab. Da sie Elinor ausgesprochen nahestand, erfuhr Elinor nun auch noch das wenige, das ihr Ehemann ihr noch nicht erzählt hatte. Queenie war schon vor langer Zeit zu Elinors Spionin geworden, und sie behielt diese Position.
Ihre Nähe zu James und Elinor half ihr dabei, sich sicherer zu fühlen, und sie wurde allmählich ausgeglichener. Während ihres ersten Jahres in Perdido hatte sie nie gezögert, eine enthusiastische Heuchelei an den Tag zu legen, um zu bekommen, was sie wollte. Sie hatte für James’ Kristallglas geschwärmt, in Elinors Klage über den Dammbau eingestimmt und eifrig bei der Liste der Ungerechtigkeiten genickt, die man Mary-Love nach deren Ansicht angetan hatte. Aber dann war ihr bewusst geworden, wie schnell die Caskeys das durchschaut hatten, und jetzt gab sie sich große Mühe, bei jeder Angelegenheit die eigenen Gefühle zu erforschen und ihnen immer vorsichtig Ausdruck zu verleihen. Ehrlichkeit erwies sich in diesem Fall als die weitaus beste Verfahrensweise, obwohl sie Ehrlichkeit genauso einsetzte wie zuvor Heuchelei – als Mittel zum Zweck und nicht als eine Sache, die man um ihrer selbst willen pflegen sollte.
Obwohl sie ihren wichtigsten Kampf augenscheinlich gewonnen hatte – Carl Strickland blieb gnädigerweise von der Bildfläche verschwunden –, erduldete sie doch ihren Teil an Prüfungen. Für gewöhnlich ging es dabei um ihre Kinder und konzentrierte sich hauptsächlich auf Malcolm, ihren Ältesten. Er war jetzt zehn Jahre alt, in der vierten Klasse, und neigte dazu, nichts als Unsinn anzustellen. Er warf die Fenster leer stehender Häuser ein, steckte bei Ben Franklin Kleinigkeiten in die Tasche, ohne zu bezahlen, und schwamm im oberen Perdido, wo er in die Gefahr geriet, am Zusammenfluss in die Tiefe gezogen zu werden und zu ertrinken. Er warf Sand durch das Fliegengitter von Miss Elinors Küche, um Zaddie Sapp zu ärgern. Außerdem stieß er die Pflanzentöpfe seiner Lehrerin von der Fensterbank, nur um sie auf dem Bürgersteig zerbrechen zu hören. Er bewarf kleine Mädchen mit Kartoffeln. Er stahl seinen Freunden die Murmeln. Er war laut. Er beleidigte jedes schwarze Kind, das seinen Weg kreuzte, und nutzte weiterhin jede Gelegenheit, seinem Bruder und seiner Schwester in den Bauch zu boxen. Jedes Mal wenn in James’ Büro das Telefon klingelte, befürchtete Queenie, es würde die nächste Beschwerde über Malcolms Benehmen sein.
Die achtjährige Lucille war keine derartige Belastungsprobe für die Nerven ihrer Mutter, trotzdem bereitete sie Queenie viel Kummer. Lucille war hinterhältig, obwohl Queenie das niemals öffentlich zugegeben hätte, nicht einmal Elinor gegenüber. Lucille log, wenn es ihr nützte. Lucille ließ sich nicht zu Bett bringen, ohne ihrer Mutter ein Unrecht ins Ohr zu flüstern, das sie von der Hand ihres Bruders erlitten hatte. Wenn sie sich in den Kopf gesetzt hatte, ein neues Paar Schuhe zu brauchen, scheute sie sich nicht, trotz strengster Verbote auf den Damm zu klettern und einen ihrer besten Lederschuhe absichtlich in das schlammige Wasser des Perdido zu treten und damit ihrem Wunsch Nachdruck zu verleihen.
Immerhin hegte Queenie große Hoffnungen für ihr drittes Kind, den vierjährigen Danjo. Er war bemerkenswert anders als seine Geschwister; er war alles, was sie nicht waren. Er war ruhig, still, ehrlich und brav. Man hätte glauben können, sein ganzes Wesen wäre von dem intuitiven Wissen um die unglückseligen Umstände seiner Zeugung geläutert worden. Er war das einzige von Queenies Kindern, das James in seinem Haus duldete, das einzige Kind, dem Mary-Love einen Kuss gab, und das einzige Kind, das Elinor dazu einlud, sich neben sie auf die Verandaschaukel zu setzen. Danjo benahm sich, als würde sein Leben von der großzügigen Duldung der ganzen Welt abhängen und als würden ihn hundert Hände ergreifen und ohne jede Gnade in den Fluss werfen, sollte er auch nur eine ungehörige Tat vollbringen oder ein unpassendes Wort sagen. Dass ihn weder seine Schwester noch sein Bruder ausstehen konnten, wurde allgemein als Punkt zu seinen Gunsten betrachtet. Während seines abendlichen Bades fand seine Mutter meistens einen frischen Bluterguss, den Malcolm oder Lucille ihm verstohlen beigebracht hatte. Die Lehrer in der Schule stießen einen Seufzer der Erleichterung aus, wenn Malcolm in die nächste Klasse versetzt wurde, ertrugen die Gegenwart der nicht vertrauenswürdigen Lucille mit steinerner Resignation und hatten alle den gleichen Gedanken: Lieber Gott, ich kann es kaum erwarten, dieses liebe Kind Danjo Strickland zu bekommen! Nach Malcolm und Lucille habe ich ihn mir verdient!
Queenie hörte nichts von ihrem Ehemann und hatte nicht die geringste Ahnung, was er tat, wo er war oder wie seine Situation war. Es bestand die nicht von der Hand zu weisende Möglichkeit, dass er fernblieb, weil ihn Gitterstäbe und Gefängnismauern daran hinderten. Was auch immer der Grund sein mochte, Queenie wusste, dass James und Oscar sie vor ihm beschützen würden, wie sie ihr auch schon zuvor zu Hilfe geeilt waren, trotzdem wurde sie die Furcht nicht los, von ihm überrascht zu werden. Nachts war ihr Haus fester verschlossen als jedes andere in Perdido, und zu dieser Stunde hätte es ein Eindringling vermutlich leichter gehabt, in die Bank einzubrechen. Saß sie auf ihrer Veranda, hatte sie immer eine Fluchtroute im Sinn für den Fall, dass sie Carl auf der Straße kommen sah. Jedes fremde Auto, das vor dem Haus anhielt, verursachte Beklemmungen. Ihr grauste vor dem Briefträger, denn möglicherweise überbrachte er eine Nachricht von Carl. Sie hasste es, zu Hause ans Telefon zu gehen – aus Angst, am anderen Ende Carls Stimme zu hören.
Aber sämtliche ihrer Vorkehrungen waren nutzlos; als Carl zurückkehrte, war Queenie nicht einmal annähernd auf die Stunde und die Art seiner Ankunft vorbereitet.
Sie kam eines Nachmittags nach Hause, und er saß einfach auf ihrer Veranda. Danjo war ein unglücklicher Gefangener auf dem Schoß seines Vaters. Lucille und Malcolm standen in der Sicherheit des Hauses und gestikulierten ihrer Mutter durch die Fliegengittertür wild zu.
»Ma!«, rief Malcolm mit einem Bühnenflüstern, als sie die Stufen hinaufstieg, »wir haben die Tür verschlossen. Wir haben ihn nicht reingelassen.«
»Hallo, Queenie«, sagte Carl leise. »Wie geht’s?«
Er trug einen Anzug und wirkte darin unbehaglich.
Queenie fühlte plötzlich die Last der ganzen Welt auf ihren Schultern. Sie erkannte, wie glücklich sie in den vergangenen fünf Jahren gewesen war, sie hatte keinen Moment echter Unruhe erlebt, sie war nie ohne Geld oder Gesellschaft oder – und der Gedanke kam ihr zum ersten Mal, was sie erstaunte – Respekt gewesen. Doch mit dem Wiederauftauchen ihres Mannes in Perdido löste sich das alles in Luft auf.
»Was machst du hier, Carl?«
»Dich sehen, Queenie. Wo kommt denn dieser Junge her?«
Queenie antwortete nicht.
»Bist du einsam gewesen?«, fragte er mit einem anzüglichen Grinsen.
»Nein. Nicht einen einzigen Moment.« Sie scheuchte Malcolm und Lucille von der Tür weg. Sie wichen ein paar Schritte zurück, kamen aber fast sofort wieder, sobald ihre Mutter ihnen erneut den Rücken zukehrte. Queenie setzte sich Carl gegenüber auf den Schaukelstuhl. »Gib mir mein Baby«, sagte sie.
»Von wem ist er?« Carl ließ Danjo nicht los.
»Von dir.«
»Bist du sicher? Vielleicht hast du dich vertan.«
»Ich habe mich nicht vertan. Danjo, komm her.«
»Gib deinem Daddy einen Kuss«, verlangte Carl.
Danjo entwand sich seinem Griff und floh auf den Schoß seiner Mutter.
»Wo bist du gewesen?«
Queenie sah ihren Mann nicht an, sondern starrte auf die Straße.
»Hier und da.«
»In welchem Gefängnis?«
»Tallahassee.« Er grinste.
»Wofür dieses Mal?«
»Das braucht dich nicht zu interessieren.«
Queenie schwieg einen Moment lang. »Carl, ich möchte, dass du gehst«, sagte sie dann. »Ich, Malcolm, Lucille und Danjo brauchen dich nicht. Wir wollen dich auch nicht.«
»Ich kann doch meine Familie nicht im Stich lassen. Wofür hältst du mich?«
»Ich will mich nicht streiten«, sagte Queenie, und ihre Stimme war voller Müdigkeit und Verzweiflung. »Ich möchte nur, dass du diese Stadt verlässt und niemals wiederkehrst.«
»Ach, Queenie, du kannst mich gar nicht loswerden. Ich bin dein Ehemann. Ich habe Rechte. Hier sind meine Kinder, die mich brauchen. Dieser Malcolm ist ein toller Junge, das sag ich dir. Diese Lucille ist ein kleines Püppchen! Und dieser Junge, Danjo, ich werde dir helfen, ihn richtig zu erziehen.«