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Die Blackwater-Saga gilt als eine der besten unheimlichen Erzählungen aller Zeiten. Ein über mehrere Generationen verteiltes Familienfresko. Die Publikation war ein solcher Erfolg, dass sie Stephen King (ein Bewunderer der Werke von Michael McDowell) dazu inspirierte, The Green Mile ebenfalls in sechs Bänden zu veröffentlichen. Blackwater ist anders als alles, was du je gelesen hast. Eine Familiensaga mit einer einzigartigen Atmosphäre schleichenden Grauens. Blackwater erzählt von dem verschlafenen Perdido in Alabama und den Schrecken, die Elinor Dammert über die Familie Caskey und die Stadt bringt. Blackwater Buch 6: Der Regen Die mysteriöse Saga der Caskeys endet: Eine neue Generation übernimmt die Macht. Doch selbst unvorstellbarer Reichtum kann die Familie nicht vor den Sünden ihrer Vergangenheit schützen. Längst vergessene Geheimnisse sprudeln an die Oberfläche des dunklen Flusses und beschwören einen Sturm herauf, wie ihn Perdido noch nie erlebt hat. Stephen King: »Ein Schriftsteller für die Ewigkeit.«
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Aus dem Amerikanischen von Andreas Decker
Impressum
Die amerikanische Originalausgabe Blackwater 6: Rain
erschienen 1983 im Verlag Avon Books.
Copyright © 1983 by Michael McDowell
Copyright © dieser Ausgabe 2024 by Festa Verlag GmbH, Leipzig
Lektorat: Joern Rauser
Titelbild: César Pardo
Alle Rechte vorbehalten
eISBN 978-3-98676-131-8
www.Festa-Verlag.de
BUCH 6
DER REGEN
1
DIE VERLOBUNG
Vielleicht waren sie das wirklich: zwei alte Frauen, die sich im Schlafzimmer eines alten Hauses in einer abgelegenen Ecke von Alabama mit nichts anderem als Klatsch beschäftigten. 1958 war Sister Haskew 64 Jahre alt, verkrüppelt, bettlägerig, quengelig, schwach, abhängig und anspruchsvoll. Queenie Strickland war 66, fett, glücklich, lebhaft, ergeben und fröhlich. Beide Frauen waren unglaublich reich und keine von ihnen verschwendete auch nur einen Gedanken an ihr Geld. Queenie war Sisters Sklavin und Spionin. Queenie holte ihr alles Gewünschte. Queenie verließ ihr Haus nebenan genau um fünf vor sieben, um Sister jeden Morgen um genau sieben Uhr ihr Frühstückstablett hinaufzutragen, und an jedem Abend trug sie Sisters Abendbrottablett um genau 19 Uhr in Iveys dunkle Küche, wo sie es mit einem Scheppern und einem Seufzen auf die Theke fallen ließ. Sister hätte sie nie von ihrer Seite weichen lassen, wäre da nicht ihre unstillbare Neugier auf die Stadt, das Sägewerk und ihre Familie gewesen. Queenie durfte Bridge spielen, einkaufen, zur Farm ihrer Tochter Lucille hinausfahren und nebenan bei Elinor essen, aber das auch nur, weil sie, wenn sie in Sisters muffiges und vollgestelltes Schlafzimmer zurückkehrte, haarklein alles berichtete, was sie getan und gehört hatte. Sister nahm diese zufälligen Informationshäppchen in sich auf und zog wilde Schlüsse und Vorhersagen daraus, und Queenie würde unweigerlich sagen: »Sister, du irrst dich, das wird nicht passieren.« Und in der Tat erfüllten sich Sisters Prophezeiungen nie, nicht eine einzige. Sister war so lange von der Gesellschaft getrennt, dass sie fast vergessen hatte, wie sie funktionierte. Queenie war eine der Wahrheit verpflichtete Reporterin, aber Sisters darauffolgende Analyse stimmte nie.
Das Haus, in dem Sister und Miriam lebten, hatte im letzten Dutzend Jahren seinen ganzen Charakter verändert. Zu Mary-Loves Lebzeiten und während Miriams Kindheit schien der Ort von einer Vitalität durchdrungen gewesen zu sein, die – wie manche bestimmt gesagt hätten – der Bosheit entsprungen war. Aber vielleicht war es auch nur energische Zielstrebigkeit gewesen. Es hatte seinen Platz zwischen Elinors viel größerer Residenz auf der einen und James’ vornehmerem Zuhause auf der anderen Seite behauptet. Jetzt erweckte etwas an seinem Anblick mit den Veranden und all den – von ungehindert gewucherten Azaleen und Kamelien – verborgenen Fenstern im Erdgeschoss den Eindruck, dass sich das Haus in sich zurückzog, dass es nicht länger im Wettstreit mit seinen Nachbarn stand und sich aus dem Kampf zurückziehen wollte. Drinnen roch es alt. Die Möblierung war noch genau die gleiche wie an dem Tag von Mary-Loves Tod vor 22 Jahren. Das hatte nichts mit Respekt vor der Verstorbenen zu tun, sondern lag daran, dass sich Miriam nicht genug dafür interessierte, um daran etwas zu ändern, und weil Sister gern so oft wie möglich daran erinnert wurde, dass ihre Mutter tot war – auch wenn sie das niemals zugegeben hätte, nicht einmal vor sich selbst. Ivey Sapp war ebenfalls eine alte Frau, so alt wie Queenie, und sie hatte Bray im Frühling 1957 begraben. Nun half ihr Melva, eine Enkelin von James’ Köchin Roxie. Ivey war noch fetter als Queenie und tat den ganzen Tag nichts anderes, als in der Küche zu sitzen, Radio zu hören und Melva Anweisungen zu erteilen; sie rührte sich nur, um die wenigen Gerichte zu kochen, die Sister aß.
Sister lag nun schon seit so vielen Jahren im Bett, dass das ganze Haus nach ihr und ihrem Leiden roch, ein schwacher lavendelartiger, süßlicher Geruch, der den Kräutern ähnelte, mit denen die Ägypter die Körperhöhlen einer ausgenommenen Leiche ausgestopft hatten. Eine Person mit zartem Gemüt hätte in diesem Haus dem Wahnsinn verfallen können, ohne je den Grund dafür zu erkennen. Miriam Caskey, nun 37, war von einem so robusten Temperament, dass sie der Brüchigkeit der Atmosphäre, in der sie jede Nacht schlief, mühelos widerstand; allerdings war die Luft in ihrem Zimmer nicht ganz so kränklich, denn sie achtete darauf, dass die Tür den ganzen Tag fest geschlossen blieb.
Obwohl Early Haskew nie einen Versuch unternommen hatte, Sister zu holen, behauptete sie, nicht ruhig schlafen zu können, bevor Miriam jeden Abend die Schlösser an allen Türen im Erdgeschoss und die Riegel an den Fenstern zweimal überprüft hatte. »Dieser Mann wird alles versuchen, um an mich ranzukommen«, behauptete Sister noch immer vehement. »Dieser Mann wird eine Leiter ans Haus stellen und mich durchs Fenster beobachten.« Miriam hatte aufgehört zu argumentieren, dass Early, wo auch immer er steckte, nun 64 Jahre alt und vermutlich ziemlich dick war und wohl kaum noch zu derart sportlichen Aktivitäten neigte.
Sister und Miriam standen sich nicht gerade nahe. Miriam konnte nicht vergessen, dass Sisters Gebrechen, das mittlerweile zweifellos echt war, als Täuschung angefangen hatte. Nach dem durch die zeitweilige Blindheit verursachten Treppensturz hatte sie sich wegen einer angeblichen Schwäche in den Beinen ins Bett gelegt. Um ihrem Ehemann aus dem Weg zu gehen, war sie dann einfach in diesem Bett geblieben und bereit gewesen, ihre Beine verkümmern zu lassen, damit Early keine Gelegenheit bekam, sie aus ihrem geliebten Haus zu holen. Miriam konnte sich nicht dazu überwinden, eine Frau zu versorgen, die sich vorsätzlich selbst zum Krüppel gemacht hatte. Und Sister wiederum war der Ansicht, dass ihre Nichte dem Sägewerk und dem Ölgeschäft der Familie zu viel Zeit widmete und ihr zu wenig. »Ich bin reich, ist dir das klar?«, sagte sie zu Queenie. »Ich habe so viel Geld, dass ich nicht einmal weiß, was ich damit anstellen soll. Und wer wird das alles einmal erben? Jeder Penny geht doch an Miriam. Das habe ich ihr gesagt. Und wie behandelt sie mich? Sie behandelt mich wie eine arme Cousine.«
»Ich war auch mal die arme Cousine«, meinte Queenie.
»Genau.« Sister nickte energisch. »Und Miriam behandelt mich, wie Mama und jeder in der Familie dich behandelt hat. Als wäre ich eine nichtsnutzige Schnorrerin.«
Diese Ansprache überraschte Queenie, aber nicht weil sie unverschämt war – denn das war sie ohne Zweifel –, sondern weil auch Mary-Love Caskey genau so etwas hätte sagen können. Es machte sie nachdenklich, und sie nahm sich vor, Sisters Verhalten in Zukunft mehr Aufmerksamkeit zu schenken. Queenie beobachtete und sie hörte genau zu und kam zu dem Schluss, dass Sister immer mehr Züge ihrer toten Mutter annahm.
Im Frühherbst 1958 hielt Queenie Miriam eines Tages nach der Rückkehr von der Kirche auf dem Hof zurück. »Miriam, ist dir etwas an Sister aufgefallen?«
»Du meinst, dass sie jeden Tag anstrengender wird?« Der Sommer war in Alabama noch immer zu spüren und Miriam zog erleichtert die Handschuhe aus. Sie zog die Hutnadel aus dem Hut und schüttelte das Haar aus.
»Nein.« Queenie runzelte leicht die Stirn. »Ich spreche davon, dass sie jeden Tag mehr zu Mary-Love wird.«
Miriam lächelte. »Ist dir das vorher noch nie aufgefallen? Hast du nicht gesehen, wie sie ihre Schecks unterzeichnet?«
»Mit Elvennia Haskew. Wie sollte sie sonst unterschreiben?«, fragte Queenie überrascht.
»Nein.« Miriam drehte sich um, ging die Stufen zur Veranda hinauf und setzte sich in einen Korbschaukelstuhl. Queenie schloss sich ihr an. »Vor ungefähr einem Jahr«, fuhr Miriam fort, »bekam ich einen Anruf von der Bank, angeblich fälschte jemand Sisters Schecks. Also fuhr ich hin und sah mir die betreffenden Schecks an. Dort stand ›Elvennia Haskew‹ – aber in Großmamas Handschrift.« Miriam lachte. »Im ersten Moment ist mir fast das Herz stehen geblieben. ›Lieber Gott!‹, habe ich gedacht, ›sie ist aus dem Grab zurückgekehrt, was sollen wir jetzt nur tun?‹ Die ›n‹ sahen genauso aus wie ihre ›n‹, auch das ›a‹ am Ende des Wortes. Genau wie bei Großmama. Ich bin also nach Hause gefahren und habe zu Sister gesagt: ›Warum spielst du mit deiner Unterschrift herum? Du machst die Leute in der Bank nervös.‹ Aber sie wusste nicht einmal, wovon ich rede. Also habe ich ihr ihre alte Unterschrift gezeigt und dann die, mit der sie gerade einen Scheck unterschrieben hatte. ›Ich sehe da keinen Unterschied‹, bekam ich zu hören. Ich habe nichts mehr gesagt. Aber sieh es dir mal selbst an, lass sie etwas für dich schreiben – es ist Großmamas Handschrift, Schleife für Schleife.«
»Du hast deine Großmama geliebt«, bemerkte Queenie, als hätte Miriam etwas anderes angedeutet.
»Das habe ich wirklich. Ich habe sie sogar sehr geliebt. In meinem ganzen Leben habe ich niemanden so sehr geliebt wie sie. Aber Gott sei Dank ist sie nun tot und Gott sei Dank kommt sie nie zurück. Damals war sie die Herrin im Haus. Und jetzt bin ich die Herrin im Haus. Also ist es gut, dass sie und ich nicht darum kämpfen müssen.«
»Wäre Mary-Love am Leben, würde sie nicht mit dir kämpfen. Sie würde noch immer mit Elinor kämpfen. Dich würde sie in Ruhe lassen.«
»Von wegen«, sagte Miriam. »Sie würde mich für arrogant halten und versuchen, mich auf meinen Platz zu verweisen. Genau wie Sister in diesem Augenblick. Sister hält mich für arrogant, wegen der Art und Weise, auf die ich das Sägewerk leite. Was spielt es schon für eine Rolle, dass ich für uns alle das Geld verdiene? Ich schenke ihr nicht genug Aufmerksamkeit und bediene sie nicht von vorn bis hinten so wie du.«
»Mich stört das nicht«, meinte Queenie.
»Das weiß ich, aber mich würde es stören. Und ich würde es auch nie tun. Das alles hat sich Sister selbst zuzuschreiben, das weißt du genau. Sie ist vor elf Jahren die Treppe runtergefallen. Schon wenige Wochen später hätte sie wieder laufen können, aber nach so vielen Jahren lässt sie sich noch immer bedienen, und zwar von Leuten, die mit ihrem Leben etwas Besseres anstellen könnten. Ich liebe Sister. So wurde ich erzogen. Ich werde sie bis zu der Minute lieben, in der sie tot auf diesen fünf Federbetten und diesen verdammten sieben Kissen liegt. Aber mir werden nie die Worte ›Es tut mir leid, dass du verkrüppelt bist‹ oder ›Es tut mir leid, dass du dort oben einsam bist‹ über die Lippen kommen. Und sie weiß zu gut Bescheid, als dass sie mich danach fragen würde.«
In diesem Augenblick kam Lilah vom Nebenhaus herüber. Miriam lächelte und streckte ihrer elfjährigen Nichte die Hände entgegen. Lilah kam die Stufen herauf.
»Großmama lässt ausrichten, dass das Essen in einer Viertelstunde fertig ist, und du sollst rüberkommen, wenn du magst.«
Queenies Appetit hatte sie in all den Jahren nie im Stich gelassen, also stand sie sofort auf. »Kommst du?«, fragte sie Miriam.
Lilah sagte schnell: »Miriam, nimmst du mich mit rauf und zeigst mir deinen Schmuck?«
»Ich zeige dir ein paar Stücke«, sagte ihre Tante. »Und du darfst auch ein paar davon anlegen.« Also gingen Miriam und Lilah ins Haus und Queenie überquerte den sandigen Hof in der Hoffnung, etwas in der Küche zum Naschen zu finden, bevor sich alle zu Tisch setzten.
»Wer ist da?«, rief Sister, als sie Schritte auf der Treppe hörte.
»Ich bin’s!«, rief Miriam. »Und Lilah.«
»Lilah, komm und unterhalte dich mit mir.«
Das Kind rannte durch den Korridor, steckte den Kopf in Sisters Zimmer und sagte ungeduldig: »Später! Miriam lässt mich etwas von ihrem Schmuck anlegen.«
»Häng ihn dir um, dann kommst du her und zeigst ihn mir.«
Lilah eilte in Miriams Zimmer zurück. Sie befürchtete, den besten Teil verpasst zu haben, das Öffnen der Schublade, aber das hatte sie nicht. Miriam stand vor der Kommode und lächelte. »Du darfst das heute machen«, sagte sie.
Lilah ließ sich auf die Knie fallen und zog andächtig die unterste Schublade aus der alten Kommode. Neun Schmuckkästen waren darin untergebracht, alle unterschiedlich in Größe, Alter und Material. Lilah fand, dass sie so unterschiedlich wie neun Personen in einer Schlange vor dem Bankschalter aussahen. Und jeder davon war voller Schätze.
»In welchen möchtest du hineinsehen?«
Lilah zeigte auf den mittleren Kasten des rechten Stapels. »In den da!«
Miriam holte einen kleinen Schlüssel aus der Tasche und ging zu einem eigentümlichen kleinen Schrank in der Zimmerecke. Er war so groß wie sie und genauso schmal, und in die Tür war ein Spiegel eingelassen. Lilah liebte diesen Schrank, denn sie hatte noch nie einen vergleichbaren gesehen. Darin befanden sich ein Dutzend schmale Fächer, und dort bewahrte Miriam Dinge auf, die sonst niemand sehen durfte. Auf dem obersten Brett gab es nichts als Schlüssel, Hunderte von Schlüsseln, und nur Gott und ihre Tante allein wussten, welche Schlösser sie öffneten. Ohne zu zögern, holte Miriam einen Schlüsselring mit kleinen Schlüsseln hervor und schob einen davon zielsicher in das Schloss des gewählten Kastens. Der Deckel ließ sich mühelos öffnen.
Darin lagen achtlos hineingeworfene Ohrringe: Ohrclips mit Smaragden, Rubinen und Diamanten, Perlen in Goldfassungen, winzige Ohrstecker aus Gold in der Form von Sternen, Schiffen und Pferden, antike Tropfen, wie Lilah sie noch nie zuvor gesehen hatte, massiv und aufwendig gearbeitet, mit den verschiedensten Edelsteinen und filigran bearbeiteten Edelmetallen, schlichte moderne schwarze Perlen. Sie griff in das Kästchen und wurde von scharfen Haken und Stiften gestochen – aber sie fand diesen Schmerz aufregend. Es schien unmöglich zu sein, dass jedes Stück, das sie nahm, in der Fülle der Edelsteine ein Gegenstück hatte, aber ihre Tante versicherte ihr, dass es genau so war. »Ich kaufe keine Einzelstücke. Und ich verliere auch nie etwas, also müssen sie irgendwo sein.«
»Soll ich sie nicht für dich zusammensuchen?«
»Wozu die Mühe? Wir legen sie ja doch ins Kästchen zurück, und sie geraten nur wieder durcheinander. Außerdem wird Queenie vermutlich gleich dem Hungertod nahe sein. Such dir ein Paar aus und probier sie an.«
Lilahs Ohren waren nicht durchstochen, also musste sie Clips nehmen. Sie fand einen massiven roten Stein mit einem quadratischen Schliff. »Was ist das?«
»Ein Rhodolith. Er kommt aus Südafrika. Ich habe ihn 1953 in New York auf der Fifth Avenue gekauft.«
Miriam griff in das Kästchen, und eine Sekunde später hielt sie den zweiten Clip in der Hand. Lilah war sich nicht einmal sicher, ob sie überhaupt hingesehen hatte. Sie schien es allein aus dem Gefühl heraus gemacht zu haben. Miriam befestigte die Clips an den Ohren ihrer Nichte. Sie waren absurd schwer und zogen die Ohrläppchen des Kindes nach unten. »Wie sehen sie aus?«, rief Lilah und schaute in den Spiegel.
»Wirklich albern. Und jetzt geh und zeig sie Sister – und beeil dich! Mein Magen hat schon während der ganzen Predigt geknurrt.«
»Ich weiß«, erwiderte Lilah und eilte aus der Tür. »Ich habe es gehört.«
Sie rannte durch den Korridor in Sisters Zimmer. Neben dem Bett blieb sie stehen und drehte den Kopf in die eine und dann die andere Richtung, damit der Schmuck gebührend bewundert werden konnte.
»Sie sind kostbar«, sagte Sister, »genauso wie du, mein Liebling.«
»Vielen Dank.«
»Miriam lässt niemanden außer dir ihren Schmuck tragen.«
»Sie hat so viel!«, flüsterte das Kind.
»Es ist ein Wunder, dass wir in diesem Haus überhaupt noch Geld fürs Essen haben«, sagte Sister ernst, »wenn man bedenkt, was sie für den Quatsch ausgibt.«
»Das ist doch kein Quatsch!«
»Wenn sie ihn nicht trägt, schon! Das ist vermutlich das erste Mal, dass diese Ohrringe getragen werden, seit sie sie gekauft hat.«
»Ich werde sie wieder abnehmen müssen.« Lilah seufzte.
»Lilah!«, rief Miriam aus dem Korridor.
Lilah wollte gehen, aber Sisters Hand schoss unter der leichten Decke hervor und packte ihren Arm.
»Dein Daddy ist einsam«, sagte Sister leise.
»Ma’am?«
»Dein Daddy ist einsam, seit deine Mama im Perdido ertrunken ist.«
»Ja, Ma’am«, stimmte Lilah ihr zögernd zu, ebenfalls in leisem Tonfall.
»Das ist jetzt zwei Jahre her, oder? Letzten Mai waren es zwei Jahre.«
»Ja, Ma’am.«
»Ich bin überrascht, dass er noch nicht wieder geheiratet hat.«
»Heiraten? Wen sollte Daddy denn heiraten?«, fragte Lilah überrascht.
Sister fixierte sie mit ihrem Blick, dann sah sie bezeichnend zur Tür.
Lilah folgte dem Blick, verstand aber nicht.
»Wen?«, fragte sie noch einmal.
Sister nickte, wollte aber nichts sagen.
»Du meinst, Daddy sollte Miriam heiraten?«
»Wen sonst?«
»Daddy wird doch nicht Miriam heiraten«, rief Lilah. »Wer hat dir denn das gesagt?«
»Niemand. Das war auch nicht nötig. Ihr alle glaubt, nur weil ich hier an mein Lager der Qual gefesselt bin, weiß ich nichts und sehe nichts. Aber das tue ich. Queenie sagt mir alles, was ich wissen muss. Ich habe meine eigenen Augen, schaue aus diesem Fenster. Und ich habe die nötige Zeit, den Dingen auf den Grund zu gehen. Es würde mich sehr überraschen, wenn du nicht bald eine neue Mama hättest.«
»Ich kann das nicht glauben. Ich werde Miriam fragen.«
»Sie wird es abstreiten. Sie wird mir nicht die Befriedigung gönnen, dass ich recht hatte. Aber bald wirst du von der Schule nach Hause kommen, und dein Daddy wird sagen: ›Lilah, mein Schatz, Miriam und ich, wir sind gerade durchgebrannt und haben geheiratet.‹ Du wirst schon sehen.«
»Ich glaube das noch immer nicht.«
»Möchtest du diese Ohrringe nicht haben?« Sister schnippte mit einem knochigen Finger gegen den Clip an Lilahs linkem Ohr. Das Kind zuckte zusammen.
»Doch, Ma’am. Natürlich hätte ich sie gern.«
»Wenn Miriam deine Mama wird, bekommst du sie, wenn sie stirbt. Du wirst die Erbin eines Vermögens aus Edelsteinen sein.«
Ihrer Miene nach zu urteilen schien Lilah diese Vorhersage stark anzuzweifeln. Miriam rief sie erneut.
»Ich muss jetzt gehen«, sagte sie und entzog sich Sisters Griff.
Sister lächelte wissend und ließ den Arm los. Lilah rannte aus dem Zimmer. Miriam wartete im Korridor, nahm Lilah die Ohrringe ab und ließ sie in der Tasche verschwinden. »Elinor wird uns umbringen«, sagte sie, »also wollen wir uns beeilen.«
Perdido war der Meinung, dass Billy Bronze den Tod seiner Frau nicht ausreichend betrauert hatte. Frances Caskey war im Frühling 1956 in einer stürmischen Nacht im Perdido ertrunken. Billy war zu der Zeit auf Reisen gewesen. Man hatte den Perdido ober- und unterhalb des Zusammenflusses halbherzig abgesucht, aber Frances’ Leiche war nicht gefunden worden. Elinor hatte Billy vom Tod ihrer Tochter berichtet. »Sie ist hinausgegangen, Billy, so wie sie es immer getan hat. Aber dieses Mal ist sie einfach nicht zurückgekommen.«
Billy sagte: »Einfach so zu ertrinken, das sieht Frances nicht ähnlich. Keiner konnte besser schwimmen als sie. In dieser Nacht hat es gestürmt, sagst du. Vielleicht wurde sie vom Blitz getroffen.«
Billys Trauer war leise. Er ging wie gewöhnlich zur Arbeit, seine Routine änderte sich nicht, er schien nie mit den Gedanken woanders zu sein. Perdido entging diese scheinbare Gefühllosigkeit in Billy nicht, und deswegen dachte man schlecht von ihm. Aber die Caskeys stellten sich vor ihn. Elinor und Queenie ließen hier und dort ein leises Wort fallen und erinnerten die Stadt daran, wie distanziert Frances in den letzten Jahren ihres Lebens gewesen war, dass sie angefangen hatte, Ehemann und Kind zu ignorieren, dass sie sich anscheinend nur noch für den Fluss interessiert hatte.
Auf jeden Fall behielt Billy sein gutes Verhältnis zu der Familie bei, auch wenn er sich vielleicht von seiner Frau entfremdet hatte. Ihr Tod hatte keinen Einfluss auf diese Beziehung. Er blieb bei seinem Schwiegervater und seiner Schwiegermutter im Haus und kam gar nicht auf den Gedanken, sich eine andere Unterkunft zu suchen. Als Oscar darauf hinwies, dass die Tatsache, dass man die Leiche seiner Frau nie gefunden hatte, möglicherweise zu Problemen führen würde, fragte Billy nur: »Was für Probleme?«
»Na ja, falls du wieder heiraten möchtest …«, sagte Oscar unbehaglich.
»Heiraten?« Billy lachte. »Wen in aller Welt soll ich denn heiraten?«
»Das weiß ich nicht, aber eines Tages könnte es jemanden geben. Zugegeben, ich kann mir das zwar nicht vorstellen, aber es könnte passieren. Eines Tages.«
Billy lachte wieder. »Elinor würde es nicht zulassen.« Und er zuckte kaum merklich mit den Schultern, was so viel heißen sollte wie: Und ich würde es auch nicht anders wollen.
In diesen ersten beiden Jahren seiner Witwerschaft änderte sich Billys Beziehung zu Miriam nicht. Sie waren so freundlich, geschäftsmäßig und vertraut miteinander wie immer. Niemand kam auch nur im Entferntesten auf die Idee, es könnte möglicherweise eine Ehe zwischen Billy Bronze und seiner Schwägerin geben – so lange nicht, bis Sister diesen Einfall hatte. Lilah hatte keine genaue Vorstellung davon, wie die Konsequenzen einer solchen Vereinigung aussehen mochten, aber da war die vage Ahnung, dass sie möglicherweise schlecht sein würden. Also ging sie zu ihrer Großmutter. »Wird Daddy Miriam heiraten? Und wenn er sie heiratet, bekomme ich dann automatisch ihre Juwelen, wenn sie stirbt?«
»Wie kommst du denn nur auf diese Idee?«, fragte Elinor ihre Enkelin.
»Sister hat gesagt, es sei nur eine Frage der Zeit, bis Daddy und Miriam zusammen durchbrennen. Werden sie hier leben oder nebenan?«
Elinor sagte: »Ich will kein Wort mehr darüber hören. Es ist nicht nett.«
»Nicht nett?«, fragte Lilah verwundert.
»Nicht nett«, wiederholte Elinor, und für eine Weile bedeutete das für Lilah das Ende der Angelegenheit.
Aber nicht für Elinor. Sie ging zu Oscar. »Hast du etwas davon gehört, dass Billy Miriam heiratet?«
Oscar war das neu. Das galt auch für Queenie, Lucille, Grace, Zaddie oder Ivey. Elinor stattete Sister einen Besuch ab. »Wie kommst du nur auf eine solche Idee?«
Sister lehnte sich wichtigtuerisch in ihre Kissen zurück und sagte geheimnisvoll: »Ich weiß, was ich weiß …«
Elinor war noch nicht zufrieden. »Oscar, sprich du mit Miriam. Du bist der Einzige in dieser Familie, auf den sie hören wird.«
»Was für einen Unterschied macht das denn, ob Billy sie heiratet oder nicht?«, fragte er.
»Da bin ich mir nicht sicher«, gestand Elinor ein, »aber wir sollten sehen, ob wir es auf die eine oder andere Weise herausfinden können.«
An diesem Abend räusperte sich Oscar am Abendbrottisch, während Zaddie vor dem Nachtisch abräumte, und sagte: »Miriam, darf ich dir eine Frage stellen, ohne dass du mir an die Kehle gehst?«
»Das weiß ich nicht«, erwiderte seine Tochter, die nicht so leicht in die Falle ging. »Vielleicht. Vielleicht auch nicht. Wie lautet die Frage?«
»Na gut …«, sagte Oscar zögernd, »vielleicht sollte ich lieber Billy fragen.«
Billy warf Oscar einen Blick zu, dann Miriam. »Frag mich, klar. Ich werde bestimmt nicht sauer.«
»Dann frage ich euch beide«, sagte Oscar, zögerte dann aber. Zaddie stand mit einem Stapel Teller in den Händen in der Tür.
»Machen Sie schon, Mr. Oscar«, sagte sie, »bevor ich jeden dieser Teller zerbreche.«
»Wir haben uns gefragt …«
»Wer ist wir?«, fragte Miriam.
»Wir alle«, platzte Malcolm hervor und errötete.
»Was gefragt?«, sagte Billy.
»Ob ihr beiden durchbrennen und heiraten wollt.«
Billy und Miriam sahen sich erstaunt an.
»Ihr alle habt herumgesessen und darüber nachgedacht?«, gab Miriam nach ein paar Augenblicken verblüfften Schweigens zurück.
»Miriam und ich?«, krächzte Billy.
»Sister hat das behauptet«, rief Queenie.
»Sister hat vergessen, dass es am Ende dieses Korridors eine andere Welt gibt«, sagte Miriam scharf.
»Dann werdet ihr das nicht tun?«, fragte Lilah.
»Natürlich nicht!«, sagte Miriam. »Das ist der größte Unsinn, den ich je gehört habe. Warum in aller Welt sollte ich Billy heiraten wollen?«
»Ihr seid doch dauernd zusammen«, antwortete Queenie. »Und Billy ist ohne Frances einsam und traurig. Ihr verreist ständig gemeinsam, also könntet ihr genauso gut heiraten. Billy würde nur eine Caskey heiraten, und du würdest dir nicht die Mühe machen müssen, einem Mann nachzujagen, der ein Fremder für dich ist.«
»Das sind Sisters Ideen«, sagte Elinor.
»Also, sie sind völlig falsch«, sagte Miriam. »Ich kann nicht für Billy sprechen …«
»Doch, kannst du«, sagte Billy schnell.
»… aber wir sind nicht einmal auf die Idee gekommen zu heiraten, und das werden wir auch jetzt nicht tun.«
»Ich vermisse Frances«, sagte Billy, »aber Lilah leistet mir Gesellschaft. Ich brauche keine neue Frau. Und ich würde nicht auf die Idee kommen, eine Frau herzubringen, über die ihr nicht das Geringste wisst.«
»Sie wäre hier auch nicht willkommen«, fauchte Elinor.
»Das weiß ich«, sagte Billy, »und ich werde bestimmt nicht alles aufgeben, nur um jemanden zu haben, der mir nachts die Füße wärmt.«
Und so wurde eine weitere von Sisters Analysen zunichtegemacht, und die Familie war erleichtert. Sie war sich nicht einmal sicher, warum sie erleichtert war, aber sie war es.
Zaddie trug die Teller hinaus, brachte den Kaffee, noch mehr Teller, noch mehr Gabeln, und dann kam sie mit einem Brombeerkuchen herein, der heiß aus dem Ofen kam; außerdem gab es Pfirsicheis.
Elinor schenkte Kaffee ein und verteilte die Tassen. Sie unterhielten sich über andere Dinge, aber Miriam blieb stumm. Sie drehte die Tasse auf der Untertasse und blickte sich übellaunig im Zimmer um. Als die Unterhaltung schließlich einen Augenblick lang zum Erliegen kam, schaute sie auf und bemerkte: »Billy und ich könnten gar nicht heiraten, wisst ihr?«
»Warum denn nicht?«, fragte Queenie, deren sehnlichster Daseinszweck darin bestand, Unterhaltungen in Gang zu halten. »Weil Frances nicht gesetzlich für tot erklärt wurde?«
»Nein«, erwiderte Miriam. »Weil ich bereits verlobt bin.«
2
VERSCHIEBT DIE HOCHZEIT
Miriam sah sich am Tisch um. »Will denn keiner fragen, wer es ist?«, sagte sie nach einem Moment. »Schließlich ziehe ich nicht jeden Tag los, um zu heiraten.«
Alle waren sprachlos. Wenn nicht Billy, wen in aller Welt wollte Miriam dann heiraten?
»Wer ist es?«, fragte Queenie schließlich. »Miriam, wir freuen uns ja so für dich, wer auch immer es sein mag, aber …«
»Aber was?«
»Aber wir hatten ja keine Ahnung«, sagte Oscar.
Miriam zuckte mit den Schultern. »Ich auch nicht. Ich habe es gerade eben entschieden. In dieser Minute. Wenn ihr alle so sehr wollt, dass ich heirate, werde ich wohl heiraten müssen.«
»Hast du es dem Mann denn schon gesagt?«, fragte ihre Mutter.
»Noch nicht«, antwortete Miriam. »Vielleicht sollte ich das sofort tun.« Sie sah Malcolm an, der die ganze Zeit stumm und mit großen Augen dagesessen hatte. »Malcolm, ich nehme deinen Antrag an.« Dann richtete sie den Blick zuerst auf Queenie, die neben ihrem Sohn saß, dann auf Elinor am Kopf der Tafel. »Wer von euch möchte die Hochzeit planen?«
Queenie packte die Hand ihres Sohnes unter dem Tischtuch. »Malcolm!«, zischte sie. »Was in aller Welt hast du dir dabei gedacht, Miriam zu fragen, ob sie dich heiratet?«
»Er heiratet mich wegen meines Geldes, Queenie«, sagte Miriam ungerührt. »Und weil ich ihm sage, was er tun soll. Und wahrscheinlich auch, weil er mich liebt. Er braucht jemanden, der ihn unter Kontrolle hält, und du wirst nicht immer da sein. Du bist eine alte Frau.«
»Das weiß ich«, erwiderte Queenie. »Aber warum hast du den Antrag angenommen?«
»Weil ich vielleicht heiraten sollte! Und weil Malcolm mich gefragt hat, und weil ihr alle wisst, dass ich niemanden ertrage, der mir auch nur die geringsten Probleme macht. Und Malcolm« – Miriam fixierte ihren frischgebackenen Verlobten auf der anderen Seite des Tisches – »du wirst doch weiter tun, was ich dir sage, oder?«
»Ja, Ma’am«, sagte Malcolm mit einem irgendwie übertrieben enthusiastischen Grinsen. »Mama, du tust mir weh!«
Queenie ließ die Hand ihres Sohnes los.
»Queenie und ich kümmern uns gemeinsam um die Hochzeit«, verkündete Elinor ernst. »Miriam, ich glaube, du hast eine kluge Wahl getroffen. In dieser Familie können wir keine Außenseiter gebrauchen.« Während dieser Worte legte sie die Hand sanft auf Billy Bronze’ Hand neben ihr, als wollte sie ihm versichern, dass sie ihn nicht auf diese Weise betrachtete.
Lilah, die auf der anderen Seite ihres Vaters saß, schaute zu ihm hoch und flüsterte: »Daddy, bist du enttäuscht?« Sonst sollte keiner am Tisch diese Frage hören, aber sie hörten sie alle.
Billy lachte und legte den Arm um seine Tochter. »Mein Gott, nein!«, sagte er. »Miriam sitzt mir auch so schon genug im Nacken. Glaubst du, ich will auch noch mit ihr leben? Malcolm, da hast du dir ja viel vorgenommen!«
Malcolm grinste nur. »Ich werde nächsten Monat 40. Miriam wird im Frühling 37. Es wird Zeit, dass wir sesshaft werden.«
»Es ist fast schon zu spät für Kinder.« Queenie seufzte. »Ich hatte auf ein weiteres kleines Enkelkind gehofft. Aber wenn du schnell anfängst, Miriam …«
»Queenie, kein Wort mehr über Kinder«, sagte Miriam. »Wenn ich auch nur eines in meinem Haus entdecke, benutze ich seinen Kopf als Nadelkissen. Malcolm, lass dir von deiner Mutter nur nicht einreden, dass du ihr Enkel schenkst, denn mich wird niemand in Umstandskleider zwingen.«
»Malcolm, wo wollt ihr wohnen?«, fragte Oscar.
»Derartige Fragen darfst du mir nicht stellen«, erwiderte Malcolm. »Ich habe das selbst alles gerade erst erfahren. Wenn du etwas wissen möchtest, musst du Miriam fragen.« Er sah seine Verlobte an. »Hast du schon darüber nachgedacht, wo wir wohnen sollen?«
»Keine Ahnung«, sagte Miriam. »Sister hat keine hohe Meinung von dir, und ich weiß nicht, wie sie darauf reagieren wird, wenn du bei uns einziehst. Und deine Mama wäre nicht gerade davon begeistert, wenn ich in ihrem Haus wohne.« Queenie wollte sofort protestieren, aber Miriam ließ sie nicht zu Wort kommen. »Spar dir die Mühe, etwas Nettes zu sagen, denn das glaubt an diesem Tisch sowieso keiner.«
»Ich wollte dich gar nicht darum bitten, bei mir zu wohnen. Ich wollte dich fragen, ob du schon mit Sister über die Sache gesprochen hast.«
»Das habe ich nicht.« Miriam schob den Stuhl zurück. »Also sollte ich das besser auf der Stelle erledigen. Zaddie soll mir etwas von dem Kaffee warm halten. Ich weiß nicht, wann ich wieder da bin.«
Sister gefiel die Vorstellung überhaupt nicht. Miriam saß auf einem Stuhl mit hoher Lehne neben der Tür und spielte am Drehknopf des Radios herum, obwohl sie es gar nicht eingeschaltet hatte. Sister tobte.
»Ich habe geglaubt, du würdest Billy heiraten!«, rief sie. »Billy ist ein richtiger Mann. Malcolm Strickland taugt doch nichts, er hat noch nie etwas getaugt, und zwar seit dem Tag, an dem Queenie Strickland Perdido betreten hat. Ich habe Malcolm bei Genevieves Beerdigung kennengelernt, und ich habe zu Mama gesagt: ›Mama, aus diesem Kind wird nichts werden.‹ James und Dollie Faye Crawford haben diesen Jungen vor dem Gefängnis bewahrt. Du und Billy, ihr habt ihn aus einem Barbecue in Mississippi rausgeholt. Die vergangenen zehn Jahre mussten alle Caskeys dafür sorgen, dass der Junge nicht in Schwierigkeiten gerät.«
»Malcolm ist kein Junge mehr, Sister. Nächsten Monat wird er 40.«
»Und was hat er dafür vorzuweisen?«
»Er muss nichts vorweisen. Wir sind alle reich und können für ihn sorgen. Er ist eine große Hilfe, wie du ganz genau weißt. Er erledigt viele Dinge, die erledigt werden müssen. Er hält das Dach instand. Er kauft neue Glühbirnen. Erst vergangene Woche hat er diese Fledermaus in deinem Kamin getötet. Da warst du froh, ihn zu sehen.«
»Oh, Fledermäuse töten kann er«, erwiderte Sister sarkastisch. »Aber ich bin mir nicht sicher, ob das eine Empfehlung ist, um jemanden zu heiraten.«
»Mir sind viele Männer begegnet, die nicht einmal dazu zu gebrauchen waren«, erklärte Miriam. »Aber wie dem auch sei, es ist mir ziemlich egal, was du dazu zu sagen hast. Denn ich habe mich entschieden, ihn zu heiraten. Und genau das werde ich tun.«
»Wann hat er dir eigentlich einen Antrag gemacht?«, fragte Sister nach einem Moment. Die Neugier hatte das Missfallen zurückgedrängt.
»Letzte Woche. Letzten Monat. Letztes Jahr. Malcolm bittet mich schon seit zehn Jahren, ihn zu heiraten. Er bringt mir morgens die Post und sagt: ›Guten Morgen, Miriam. Willst du mich heiraten?‹«
»Und warum hast du dann plötzlich Ja gesagt?«
»Weil ich in diesen Tagen meine Geburtsurkunde in der Hand hatte und mir vor Augen geführt wurde, wie alt ich bin. Und ich dachte: Miriam, es wird Zeit. Und eines Tages habe ich dieses Zimmer betreten und gesehen, wie alt du bist, Sister.«
»Wie alt ich bin!«
Miriam nickte. »Ich dachte: Sister wird eines Tages sterben, und ich werde ganz allein sein.«
Die lässige Bemerkung über ihre Sterblichkeit schockierte Sister so sehr, dass sie entsetzt verstummte. Als sie schließlich wieder sprach, klang ihre Stimme schwach und sie hatte das Thema gewechselt. »Miriam, kannst du bitte das Radio in Ruhe lassen? Du machst mich noch ganz verrückt.«
Miriam ließ den Drehknopf los und sprach weiter, dabei blickte sie aus dem Fenster. »Ich habe nie allein gelebt. Ich musste darüber nachdenken, wie es wohl sein würde, ganz allein in diesem Haus zu sein. Und ich glaube nicht, dass ich das genießen könnte. Vermutlich würde ich den Verstand verlieren. Und ich habe zu viel zu tun, um meine Zeit damit zu verschwenden, verrückt zu werden.«
»Warum hast du dann nicht einfach gewartet, bis ich tot bin, bevor du heiratest? Dann müsstest du dich vorher nicht auch noch mit Malcolm abgeben.«
Miriam lachte. »Ach, Sister, du störst mich nicht mehr. Und Malcolm tut das auch nicht.«
»Ich glaube nicht, dass ich Malcolm Strickland in diesem Haus haben will. Seine Schritte sind so schrecklich laut.«
»Dann ziehen wir eben zu Queenie und lassen dich hier allein zurück.«
»Nein!«, rief Sister, von plötzlicher Panik ergriffen. »Miriam, warum verschiebst du die Hochzeit nicht eine Weile?«
»Bis du tot bist?«
»Nein.« Sister beruhigte sich etwas. »Nur bis ich mich an die Vorstellung gewöhnt habe. Nur eine Weile, nicht lange. Ich bin an dieses Bett gefesselt. Es fällt mir so schwer, mich zu ändern. Ich kann mir nicht einmal vorstellen, dass du heiratest. Du bist doch noch immer mein kleines Mädchen.«
Miriam wendete den Blick vom Fenster ab und lächelte.
»Was gibt es da zu lachen?«, wollte Sister wissen.
»Du versuchst mich von meiner Hochzeit abzubringen, so wie Großmama versucht hat, dich von deiner Hochzeit mit Early abzubringen.«