Bleib cool, Franzi - Klaus Möckel - E-Book

Bleib cool, Franzi E-Book

Klaus Möckel

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Beschreibung

Auf einmal wird es richtig gefährlich für Franzi: In diesem Augenblick hört sie erneut ein Knacken hinter sich, ein Rascheln und schnelle, knirschende Schritte. Vernimmt das Geräusch zurückschnellender Zweige. Sie will sich umdrehen, kommt aber nur halb dazu. Sie sieht ein Paar Hosenbeine, ein Paar dunkelbraune Lederschuhe. Dann ist ihr die Sicht durch eine Decke genommen, die ihr über den Kopf geworfen wird. Zwei Arme umschlingen sie so fest, dass sie sich nicht wehren kann. Eine nuschelnde, krächzende, offenbar verstellte Stimme sagt: „Ruhig, Franzi, ruhig, bleib ganz cool! Wenn du still bist, geschieht dir nichts. Ich werd dir was erzählen, und du hörst zu, okay?“ Was heißt okay, Franzi hat keine Wahl! Sie bleibt ganz und gar nicht cool, aber sie verhält sich mucksmäuschenstill, nickt nur unter der Decke. Der Schrei, den sie ausstoßen wollte, ist ihr im Hals steckengeblieben. „Ihr hört auf, nach dem Obdachlosen zu suchen, verstanden! Auf dem See ist nichts passiert, du hast dich gestern geirrt!“ Während der Fremde spricht, zerrt er Franzi vom Wasser weg hinter einen Strauch. „Verstanden? Du hast nichts gesehen!“, wiederholt der Mann. Ein Mann ist es bestimmt; denn die Fäuste, mit denen er sie gepackt hält, sind eisenhart. „Ja“, haucht Franzi verzweifelt und muss unter der alten, kratzenden Decke husten. Kurze Zeit später ist das Mädchen wieder frei, aber sie hat nicht gesehen, wer sie da überfallen und eingeschüchtert hat. Ihre beiden Begleiter, Nicole und Max, mit denen sie auf der Schlangeninsel nach Spuren des verschwundenen Obdachlosen gesucht hatte, haben von der ganzen, gemeinen Aktion nichts mitbekommen. Und aus Angst traut sie sich auch nicht, ihnen davon zu erzählen. Aber immerhin weiß sie jetzt, dass sie am Freitagmittag beim Baden richtig beobachtet hatte, dass jemand mit einem Motorboot einen Schwimmer überfahren und keine Hilfe geleistet hatte. Der Schwimmer, der danach nicht wieder aufgetaucht war, könnte Kilian gewesen sein, ein Landstreicher, wie ihn mancher Bewohner der Bungalowsiedlung am See nahe Berlins bezeichnen. Kurz nach diesem Unglück war sie mit ihrem Vater, der ihr wie auch ihre Mutter kaum glauben wollte, schon einmal mit dem Boot über den See und zur Insel gefahren. Aber sie hatten weder Kilian noch irgendwelche verdächtigen Spuren entdecken können. Und auch später finden sie, ihre neue Freundin Nicole und Max, ein Junge aus einem Nachbardorf, nichts. Der Obdachlose scheint den Ort verlassen zu haben. Aber stimmt das?

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Impressum

Klaus Möckel

Bleib cool, Franzi

Krimi für Kinder, Eltern und Großeltern

ISBN 978-3-86394-469-8 (E-Book)

Die Druckausgabe von erschien 1995 im Rowohlt Taschenbuch Verlag GmbH, Reinbek.

Die kriminellen Sprüche wurden dem Buch "Wer zu Mörders essen geht..." von Klaus Möckel, erschienen 1993 bei Frieling & Partner GmbH Berlin, entnommen.

Gestaltung des Titelbildes: Ernst Franta

© 2012 EDITION digital®Pekrul & Sohn GbR Alte Dorfstraße 2 b 19065 Godern Tel.: 03860-505 788 E-Mail: [email protected] Internet: http://www.ddrautoren.de

1. Kapitel

Franzi beginnt zu frieren, Franzi bibbert schon ein bisschen, Franzi hat blaue Lippen.

Das ist kein Wunder, sie war viel zu lange im Wasser. Nach einer endlosen Schulwoche in Berlin ist sie hier draußen vom Grundstück aus gleich zum See gerannt, hat sich in die Fluten gestürzt. Trotz des kühlen Wetters und obgleich sie die Einzige an der Badestelle war.

Sie ist weit hinausgeschwommen, hat gepaddelt, geplanscht, sich auf dem Rücken treiben lassen.

Sie hat alles gemacht, was man allein im Wasser anstellen kann, und sich dabei pudelwohl gefühlt.

Eine Stimmung, die jetzt noch anhält, obwohl Franzi merkt, dass es nun genug ist. Deshalb gleitet sie von der Rücken- in die Brustlage, schiebt eine großblättrige Pflanze zur Seite, die ihr an den Bauch glitscht, und erreicht mit ein paar Armzügen Ufernähe. Wenn sie auch nicht so ein Superstar ist wie ihre Namensvetterin, Franziska van Almsick - schwimmen kann sie für ihre elf Jahre ausgezeichnet.

Links auf schlammigem Boden Schilf, rechts am Grund der Badestelle aber weißer, körniger Sand. Ein Strand, wie man ihn sonst nur am Meer, an der Ost- oder Nordsee, findet. Franzi watet an Land, wo ihre Sachen liegen, streift den Badeanzug ab und rubbelt sich trocken. Wohlige Wärme durchzieht ihren ganzen Körper, als sie in die Latzhose und den Pulli schlüpft. Sie bindet ihre weiße Plastikuhr um und stellt fest, dass es gleich eins ist. Höchste Zeit, zurück zum Häuschen zu laufen, wo die Mutter bestimmt schon mit einem Imbiss wartet.

Vielleicht liegt es an dem kalten Wind, der die Bäume zaust, an den Wolken vor der Sonne, vielleicht auch an der Mittagsstunde, jedenfalls ist Franzi nach wie vor allein. Kein Mensch auf der Wiese oder auf einem der Stege, kein Boot auf dem Wasser. Kein Segler, kein Surfer, niemand. Es stört sie nicht, aber sie ist ein wenig verwundert. Nun ja, morgen, am Sonnabend, ist bestimmt wieder mehr Betrieb.

Ein Reiher zieht mit schwerem Flügelschlag über den See, ihm gefällt die Ruhe natürlich. Franzi verfolgt seinen Flug, und da, ein ganzes Stück entfernt, entdeckt sie doch noch jemanden. Einen Schwimmer, der auf die Schlangeninsel zukrault. Ja, sie weiß sogar, um wen es sich handelt. Zwar sieht sie nur den Hinterkopf des Mannes, seine Arme, die er im Wechsel nach vorn führt, doch sie erkennt ihn an seinen unbeholfenen, ruckartigen Bewegungen. Kein Zweifel, das ist Kilian, der Mundharmonikaspieler aus dem Dorf.

«Kilian!», ruft Franzi, denn sie freut sich echt. Ein Gefühl der Verbundenheit zwischen Leuten, die bei solchem Wetter den Mut haben, ins kühle Nass zu tauchen. Sie versucht, dem Schwimmer zuzuwinken. Er bemerkt sie aber nicht, und sie lässt es auch gleich wieder sein. Ihr fällt nämlich ein, dass die Eltern es gar nicht gern haben, wenn sie mit Kilian spricht. Der Grund: Er ist ein Obdachloser, vor ein paar Monaten erst in der Gegend aufgetaucht und in einer Scheune untergekommen, die früher der LPG gehörte, der Landwirtschaftlichen Produktionsgenossenschaft. Die Leute im Dorf dulden ihn, mögen ihn im Grunde aber genauso wenig wie die in der Bungalowsiedlung, wo das Wochenendhaus von Franzis Eltern steht. Sie haben Angst, dass er irgendwo einbrechen und dann im Suff die Bude anzünden könnte. Vielleicht auch, dass er durch sein Beispiel andere «Assis» anlockt. Die Mutter befürchtet sogar, dass er Franzi etwas antut. Sie hat ihr streng verboten, sich mit ihm abzugeben.

Dabei ist Kilian die Freundlichkeit in Person und besser als so mancher mit einer großen Villa, findet Franzi. Es stimmt zwar, dass er immer mal die Schnapsflasche beim Wickel hat, aber er stiehlt bestimmt nichts außer ein paar Kartoffeln vom Feld und tut keinem Menschen etwas zuleide. Ein paar Mal hat Franzi sich schon mit ihm unterhalten oder mit anderen Kindern neben ihm auf der Treppe vom Heimatmuseum gesessen. Dort hat er seinen Stammplatz, döst vor sich hin oder spielt seine Lieder. Die Besucher des Museums werfen ihm hin und wieder eine Münze in die Mütze, und er bedankt sich mit einem Kopfnicken. Den Kindern aber erzählt er sonderbare Geschichten. Zum Beispiel, dass er in einem früheren Leben ein indischer Maharadscha war oder ein Löwenbändiger.

Inzwischen hat Kilian fast die Spitze der Insel erreicht, die, mit Büschen und Bäumen bewachsen, mitten im See liegt. Näher zum gegenüberliegenden Ufer allerdings als zum diesseitigen. Er hat aber wohl nicht vor, an Land zu gehen, denn er hält einen Augenblick inne und kehrt dann in einem Bogen um. Franzi, die ihm lange genug zugeschaut hat, bückt sich nach ihren Badesachen. Doch gerade als sie losrennen will, passiert es.

Alles geht so schnell und überraschend, dass sie noch nicht einmal einen Schrei ausstößt. Sie hört vom See her ein Brummen, das plötzlich zum Geheul anschwillt, und sieht ein Motorboot hinter der Insel hervorschießen. Rot und weiß lackiert, einer der kleinen Flitzer, die über die Wellen springen, eine scharfe Furche ins Wasser schneiden. Der Himmel ist grau, weißer Gischt schäumt auf, und das Boot saust, ohne die Geschwindigkeit zu vermindern, geradewegs auf Kilian zu. Der überfährt ihn noch, denkt Franzi erschrocken.

Der Bootsführer scheint den einsamen Schwimmer tatsächlich nicht zu sehen, und Kilian, der zunächst suchend zum Ufer blickt, erkennt die Gefahr erst, als es zu spät ist. Jäh wendet er sich um, hebt einen Arm und schreit etwas. Dann wirft er sich zur Seite, doch da ist das Boot schon bei ihm. Vielleicht hat der Mann am Steuer, ein kräftiger Kerl mit Mütze, ihn in letzter Sekunde bemerkt, wollte ausweichen und überrollt ihn gerade deshalb. Täuscht sich Franzi, oder hat sie ein dumpfes Krachen gehört, einen Aufprall? Ein Wasserwirbel, der Motor des Flitzers stottert und spuckt. Plötzlich jedoch heult er erneut auf, und das Boot zieht in einer Schleife davon.

Von Kilian ist nichts mehr auszumachen, Franzi, die jetzt richtig entsetzt ist, sieht, dass der Bootsführer zu der Stelle zurückschaut, wo der Zusammenprall stattgefunden hat. Für einen Moment glaubt sie, dass er umkehren wird. Doch nein, der Flitzer rast weiter und verschwindet wieder hinter der Insel. Erneut starrt das Mädchen zum Unglücksort. Die Bugwelle des Bootes hat sich verlaufen, und nur noch der Wind peitscht das Wasser.

Es ist wie in einem Traum, in dem man etwas Schreckliches beobachtet und kurz danach zweifeln muss, ob es wirklich stattgefunden hat. Treibt dort ein Körper, oder ist es bloß das Wellenspiel, das irgendwelche Schatten erzeugt? Kilians Kopf ist nicht mehr zu sehen, ebenso wenig die Schultern, die Arme, das ist eindeutig. Ich muss ihm helfen, denkt Franzi und weiß sofort, dass es unmöglich ist. Die Entfernung ist viel zu groß, selbst wenn sie hinschwimmen würde, sie könnte nichts tun. Wahrscheinlich ist Kilian betäubt oder schon tot, sonst würde er auftauchen und um Hilfe rufen. Verstört hält sie nochmals nach allen Seiten Ausschau, doch kein weiteres Boot ist in der Nähe.

Da rennt sie endlich los, den Weg entlang, der zur Bungalowsiedlung führt.

2. Kapitel

Es ist Freitag, und nur wenige Bungalowbesitzer sind anwesend. Die meisten rollen erst im Laufe des Nachmittags an oder morgen, falls sie jetzt, Ende September, nicht ohnehin in der Stadt bleiben. Franzi rennt an Zäunen entlang, hinter denen noch Ruhe herrscht, überspringt einen Graben und prallt fast mit einem Opel zusammen, der ziemlich flott um die Ecke biegt. Auf den Wegen hier ist Tempo 30 angesagt, doch wer hält sich schon daran. Der Fahrer bremst erschrocken und fängt an zu schimpfen, was nun wirklich das Letzte ist. Er sollte sich an die eigene Nase fassen. Sie kennt ihn oberflächlich, es ist Herr Heinzen aus der dritten oder vierten Reihe. Das ist am anderen Ende der Siedlung; was hat der Mann hier herumzukurven? Aber bei diesem Gedanken hält sich Franzi nicht auf, sie läuft, ohne Antwort zu geben, weiter. Kurz darauf erreicht sie das Grundstück der Eltern.

Ein Stück Rasen, Büsche, ein Häuschen, aus grauen Steinen gemauert und mit einem flachen Dach versehen. Der Boden, auf dem es steht, ist nur gepachtet, wie der ganze Grund hier. «Wenn uns der gehören würde, wären wir fein raus», sagt die Mutter manchmal.

Die Eltern sitzen bereits am Tisch, der im größeren der beiden Räume steht. Daneben gibt es im Haus noch ein kleines Bad, eine Küche und eine Veranda. Die Mutter, die einen nervösen Eindruck macht, wie so oft in letzter Zeit, schiebt unwillig den Stuhl zurück, als Franzi ins Zimmer stürzt. «Was ist denn mit dir los, bist du nicht ganz bei Trost? Kommst zu spät zum Mittagessen und stürmst hier herein...»

Auch der Vater will etwas sagen, doch Franzi lässt die beiden nicht weiter zu Wort kommen: «Ich konnte nicht eher, da ist was passiert. Wir müssen runter zum Kahn und auf den See. Kilian ist überfahren worden!»

«Kilian? Wer soll das sein?» Der Vater begreift nicht. Er war vor der Wende Mitarbeiter bei einem wissenschaftlichen Institut, hat nach seiner Entlassung eine Umschulung gemacht und kürzlich eine Arbeit in einem Verlag gefunden. Weit weg, in Braunschweig. Er pendelt und ist deshalb nur noch selten hier draußen. Er ist überhaupt nicht mehr auf dem Laufenden.

«Das ist... ein Bekannter», erwidert Franzi ungeduldig und mit einem schiefen Blick zur Mutter.

«Und was heißt überfahren? Mit dem Auto?»

«Nein, mit einem Motorboot. Deshalb müssen wir ja auf den See. Er ist gleich untergegangen. Aber vielleicht können wir ihn noch retten.»

Die Mutter legt die Gabel aus der Hand. «Kilian, ist das nicht dieser Landstreicher aus dem Dorf?», sagt sie gedehnt.

«Er ist kein Landstreicher, er hat bloß seine Wohnung verloren. Wir müssen ihm helfen. Bitte!»

Ihre Miene zeigt den Eltern, dass sie es ernst meint. Doch so schnell kriegt sie den Vater nicht auf Trab. Er ist froh, am Wochenende mal ausspannen zu können. Zwar steht er auf, aber dann zögert er. «Moment mal. Da soll also jemand von einem Motorboot angefahren worden sein, und du hast es beobachtet?»

«Sag ich doch. Von der Badestelle aus. Es war drüben bei der Schlangeninsel.»

Der Vater wirft seiner Frau einen zweifelnden Blick zu. Sie zuckt mit den Schultern, als wollte sie sagen: Wer weiß, was unsere Tochter wieder mal gesehen hat. Die spinnt sich doch dauernd etwas zusammen. Aber sie fragt nur: «Wann soll das gewesen sein?»

«Eben, vor zehn Minuten.»

«Und war niemand sonst da, der ihm helfen konnte?»

«Nein, ich war ganz allein.»

Der Vater zögert immer noch. «Im Boot müssen Leute gesessen haben», wendet er ein. «Was haben die denn unternommen?»

«Da saß nur einer drin, glaub ich. Der ist weggefahren. Komm doch!»

«Wenn das vor zehn Minuten war, könnt ihr sowieso nichts mehr retten», erklärt die Mutter.

Aber der Vater hat sich nun endlich entschlossen. «Vielleicht ist wirklich was passiert, und der Mann ist verletzt zur Insel geschwommen. Vielleicht braucht er tatsächlich Hilfe.»

Sie laufen den Weg hinunter, den Franzi schon vorhin entlang gehetzt ist. Der Vater trägt die Ruder, die er immer oben im Schuppen einschließt, damit sie nicht geklaut werden. Er hat auch den Schlüssel zum Vorhängeschloss mit, durch das der Kahn gesichert ist. In letzter Minute hat er ihn vom Schlüsselbrett genommen. Franzi in ihrem Eifer hätte nicht daran gedacht.

«Du irrst dich nicht, da war wirklich jemand im Wasser?», fragt der Vater unterwegs erneut.

«Ich hab ihn doch schwimmen sehen.»

«Was war das für ein Motorboot?»

«So ein kleines, wie der Doktor eins hat.» Einen Augenblick lang überlegt Franzi, ob es gar Dr. Petersen war, der Kilian überfahren hat. Die Farbe könnte hinkommen. Aber der ist Arzt und einmalig freundlich. Der wäre bestimmt nicht einfach abgehauen.

«Wie sah der Mann im Boot aus?»

Franzi zögert mit der Antwort. Viel hat sie von ihm nicht gesehen. «Ich glaube, er war dick und hatte eine grüne Mütze auf», sagt sie schließlich.

«Eine grüne Mütze?»

«Ja, mit Schirm. Mehr fällt mir nicht ein. Alles ging so furchtbar schnell.»

Sie sind bei dem Kahn angelangt, der zusammen mit anderen Ruderbooten an einem halb verfallenen Steg hängt. Der Vater benutzt ihn manchmal zum Angeln.

Ein Segelboot kreuzt jetzt auf dem See, im Übrigen ist die Lage unverändert.

«Dort drüben war's.» Franzi stellt sich auf die Zehenspitzen und zeigt in die Richtung.

«Bei dem Wellengang haben wir ganz schön zu tun, um dort hinzukommen», erklärt der Vater missmutig.

Trotzdem macht er das Boot los, und sie stoßen ab. Sofort nähern sich ein paar Blesshühner, die darauf hoffen, gefüttert zu werden. In ihrem schwarzen Federkleid und mit dem weißen Flecken auf der Stirn sehen sie putzig aus. Auch zwei, drei Möwen schießen heran. Als sie merken, dass es nichts zu holen gibt, jagen sie wieder davon.

Der Vater kämpft sich durch die Wellen, und Franzi, die vorn sitzt, um die Spitze niederzudrücken, weil man dadurch leichter vorankommt, kriegt etliche Spritzer ab. Plötzlich erscheint ihr das Geschehene unwirklich. Wahrscheinlich hat die Mutter recht: Da ist nichts mehr zu retten.

Aber es ist passiert, denkt sie, und es war Kilian, den's erwischt hat. Kilian, der mal erzählt hat, dass er früher eine Wohnung und einen Wellensittich besaß. Als er noch in Berlin lebte und bei der Straßenbahn arbeitete. Der im Boot hat ihn einfach überrannt, ich hab's gesehen. Man kann nicht so tun, als wäre alles in Ordnung.

Endlich haben sie die Insel erreicht und rudern nun an ihrem Ufer entlang im Windschatten.

«Wo war es genau?», fragt der Vater.

Hier draußen sieht alles anders aus. Franzi schaut zur Badestelle, von der aus sie den Unfall beobachtet hat, und versucht sich zu orientieren. «Da drüben ungefähr.»

«Ungefähr?»

«Ich hab's doch bloß von weitem gesehen. Es war ein Stück von der Insel entfernt. Von der Spitze dort vorn. Kilian schwamm schon wieder aufs Ufer zu, und das Motorboot kam von hinten.»

Sie rudern zu der Stelle und werden erneut vom Wind gepackt. Diesmal von der Seite. Heftige Wellen schlagen gegen den Kahn, sonst aber gibt es nichts Besonderes. Kein Körper treibt im Wasser.

Franzi beugt sich über den Bootsrand und starrt angestrengt nach unten. Viel kann sie nicht erkennen. Der See gehört zu den saubersten in der Gegend, aber er ist aufgewühlt und der Grund ziemlich verschlammt. Man sieht kaum einen Meter tief.

«Wenn dieser Kilian wirklich ertrunken sein sollte, holt ihn keiner so schnell hoch», sagt der Vater. «Hier sind es sieben oder acht Meter. Höchstens treiben ihn später die Gase nach oben.»

Franzi versteht so ungefähr, was er meint, und hat einen schlechten Geschmack im Mund. Sie klammert sich fest an den Bootsrand.

«Komisch, dass ein Landstreicher bei solchem Wetter hier herumgeschwommen sein soll.»

«Er war es aber, ich hab ihn schon öfter hier schwimmen sehen. Er ist nicht so dreckig, wie Mama denkt. Er geht baden, wenn wenig Leute da sind. Er war es bestimmt.»

«Woher kennst du ihn denn so genau?», will der Vater wissen.

«Aus dem Dorf. Er sitzt immer beim Museum und spielt Mundharmonika. Er spielt ganz toll.»

Sie steuern die Insel an, springen an Land und binden das Boot fest. Das Ufer ist an dieser Stelle flach und mit Gesträuch bedeckt. Überhaupt ragt die Insel nicht weit aus dem Wasser, nach schneereichen Wintern, die zuletzt freilich selten waren, ist sie halb überschwemmt. Früher soll es hier mal giftige Schlangen gegeben haben, daher der Name. Vor allem bei einer Turmruine in der Mitte, die angeblich noch aus dem Mittelalter stammt. Es geht sogar die Sage, dass an diesem Ort einst eine Prinzessin von einer Schlange gebissen wurde und an dem Gift starb. Jetzt finden sich hier höchstens noch Eidechsen und Blindschleichen.

«Wenn dieser Kilian verletzt war, müsste er hierher geschwommen sein», sagt der Vater. «Bis zum anderen Ufer ist es zu weit.»

Das leuchtet Franzi ein, und sie schauen sich genau um.

Doch von dem Obdachlosen ist nichts zu entdecken. Das Unterholz liegt friedlich da, und aus dem Schilf jagen sie bloß ein paar Enten auf.

«Weißt du was?», sagt der Vater. «Ich glaub dir schon, dass es hier einen Verrückten gab, der bei solchem Wetter baden gegangen ist. Genau wie meine Tochter. Meinetwegen war es sogar dein Kilian, und möglicherweise ist auch ein Motorboot aufgetaucht. Bloß dass er überfahren wurde, hast du dir eingebildet. Rudern wir zurück, ich hab heute noch was anderes vor.»

«Aber er war weg, der Kilian, er war unter Wasser, ist nicht mehr hochgekommen!», ruft Franzi.

«Wie war das doch kürzlich zu Hause in Berlin? Hast du nicht gesehen, wie Bernd von einem Baum gefallen ist, und dann lief er uns putzmunter über den Weg?» Der Vater steigt wieder ins Boot.

Franzi wird rot. Es stimmt, da hat sie Quatsch gemacht. Die Jungen in der Klasse haben sie reingelegt, haben ihr das mit Bernd erzählt, und um anzugeben, hat sie so getan, als sei sie dabei gewesen. Doch dann stellte sich heraus, dass die Geschichte frei erfunden war.

«Das war was anderes», sagt sie leise.

«Na, komm schon, du siehst doch, dass hier niemand ist. Wir müssen zurück.»

Franzi steigt ein, und der Vater legt sich in die Riemen. Beide schweigen sie jetzt, und da der Wind zumindest auf dem letzten Stück von hinten bläst, schaffen sie es schneller als auf der Hinfahrt. Das weiße Segelboot von vorhin ist noch da, hat Gesellschaft von einem Surfer bekommen. Die Bewölkung lockert etwas auf, es wird heller.

«Aber der im Motorboot ist einfach weggefahren», beharrt Franzi, «er hat sich umgedreht und ist dann weg. Das geht doch nicht!»

«Bestimmt, weil nichts passiert war.»

«Und wenn doch?»

«Dann finden sich schon welche, die sich drum kümmern», erwidert der Vater leicht gereizt.

3. Kapitel

Am Nachmittag schwingt sich Franzi aufs Rad und legt mit Vollgas die zwei Kilometer bis zum Dorf zurück. Obwohl sie inzwischen fast selbst glaubt, sie habe sich nur was eingebildet, will sie Gewissheit. Am Wochenende kommen immer ein paar Reisebusse mit Besuchern, die sich die Kirche und das Museum anschauen. Das fördert das Geschäft bei den Händlern und auch bei Kilian. Wenn ihm nichts zugestoßen ist, wird er nicht lange ausbleiben.

Erst das Museum, dann die Scheune, in der er pennt, denkt Franzi und fragt sich, weshalb sie sich eigentlich derart ins Zeug legt. So gut stand sie sich mit dem Obdachlosen nun auch wieder nicht. Aber zum einen tut sie's für sich, um zu beweisen, dass sie nicht gesponnen hat, zum anderen widerstrebt es ihrem Gerechtigkeitsgefühl, die Sache auf sich beruhen zu lassen. Sie sieht Kilian noch immer in den Wellen und danach die leere Wasserfläche. Den Flitzer, der heranbraust und jäh wieder davonschießt. Das ist nichts anderes, überlegt sie, als wenn jemand auf der Straße einen Unfall verursacht und abzischt, ohne nach dem Verunglückten zu schauen. Bloß dass hier sein Opfer in der Tiefe verschwindet.

Das Dorf ist lang gestreckt und breitet sich nur zur Mitte hin sternförmig aus. Dort, wo der Marktplatz ist, der «Gasthof zur Linde» und eben das Museum. Seit neuestem sind hier auch einige Stände aufgebaut, an denen Lebensmittel verkauft werden und aller möglicher Trödel. Sogar ein Kettenkarussell befand sich vor kurzem auf dem Platz, Franzi hat beim Rundendrehen einen großen Teil ihres Taschengelds durchgebracht.

Sie schließt ihr Rad ans Geländer vor der Drogerie an - man kann nie wissen. Kilian ist nicht am gewohnten Ort, das hat sie schon von weitem gesehen, aber vielleicht hält er sich ja irgendwo in der Nähe auf. Sie muss sich ein bisschen umtun, Ausschau halten. Sie läuft ums Museum herum, geht bis zum Stadttor, das früher Tor der Freundschaft hieß, und zurück zum Friedrichsbrunnen. Auch er hatte vorher einen anderen Namen, irgendwas mit Befreiung.

Sie läuft die Strecke zweimal ab, doch vergebens. Autos und ein paar Touristen, aber kein Mundharmonikaspieler. Dann entschließt sie sich, den Museumswächter zu fragen, der in einer silberbetressten Uniform an der wuchtigen Tür steht. «Was willst du denn von dem Penner?», erkundigt sich der Mann verwundert.

«Nur wissen, ob er heute schon mal hier war. Ich muss ihm was ausrichten.»