"Blind sein, lehrt deutlich sehen" - Gabriele Wasser - E-Book

"Blind sein, lehrt deutlich sehen" E-Book

Gabriele Wasser

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Beschreibung

Ursula Bruce erlebt die Jahre 1937-1939 in Oberdollendorf im Siebengebirge. Ihr Vater bereitet die Flucht nach Südafrika vor. Die stark sehbehinderte Ursula nimmt die Vorgänge in dem kleinen Ort intensiv wahr. In einem umfangreichen Interview läßt Ursula ihre ganze Lebensgeschichte revue passieren. Rassismus verfolgt sie und ihre Familie auch in ihrer neuen Heimat Südafrika. Unterstützung findet sie durch Nelson Mandela. Als ihr Sohn David als Kriegsdienstverweigerer zu langer Haft verurteilt wird, erhält sie Hilfe aus Deutschland und besonders aus Oberdollendorf.

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Seitenzahl: 67

Veröffentlichungsjahr: 2022

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Ursula Bruce

Foto v. 1996

Inhaltsverzeichnis

Vorbemerkung

Kindheit

Fluchtvorbereitungen

Die Oberdollendorfer Zeit

Schulzeit in Oberdollendorf

Jüdische Nachbarn in Oberdollendorf

Veränderungen im Dorf

„Kristallnacht“

Pfarrer Georg Kalckert

Und wieder „Kristallnacht“

Schule in Johannesburg

Heirat

Meine Schüler

Kämpfen gegen Rassismus

David

Unterstützung aus Deutschland

Besuche in Oberdollendorf

1967

1977

Weitere Begegnungen in Deutschland

Letzte Jahre in Johannesburg

Bestattung

David Bruce – Erinnerungen

Genealogie der Familie Süskind/Pfeffer

Quellenverzeichnis

Abbildungsverzeichnis

Vorbemerkung

Einzelne Teile dieses Lebensbildes verdanke ich persönlichen Gesprächen mit Ursula Bruce 1987 ,1988 und 1992 während ihrer Besuche in Deutschland. Ursulas Persönlichkeit hat mich tief beeindruckt.

Ruth Dekker, Ursulas Cousine, mit der ich auch mehrere Gespräche führte, überließ mir Familienfotos und viele weitere Informationen über die Familie Süskind.

Mitteilungen über Ursula Bruce erhielten wir auch von Martha Steeg sel.A. und ihrem Sohn Günther sel.A., dem ehemaligen Stadtarchivar der Stadt Bonn Dr. Manfred von Rey und Rektor Georg Kalckert, der 33 Jahre an der Oberdollendorfer St. Laurentius Pfarre wirkte. Ihnen allen gilt unser Dank.

Im Februar 1996 gab Ursula Bruce der USC Shoa Foundation ein sehr umfangreiches Interview in ihrer Wohnung in Johannesburg Es wurde in englischer Sprache geführt. Eine Videoaufnahme des Gesprächs, ist im „Visual History Archiv“ der Foundation zu sehen. Weite Teile des Interviews haben Eli Harnik und ich übersetzt und durch die vorhandenen Informationen ergänzt. Wir wollten dabei Ursulas Erzählweise so authentisch wie möglich lassen.

Für Mitteilungen über die genannten Örtlichkeiten und Personen in Oberdollendorf, die Ursula in ihrer Lebensgeschichte erwähnt, danken wir Theo Molberg.

Gabriele Wasser u. Eli Harnik

Wenn man durch das malerische Weindorf Oberdollendorf im Siebengebirge spaziert, trifft man auf die Straßennamen Cahn’s Berg und Süskind‘s Gäßchen. Sie erinnern an zwei jüdische Familien deren Mitglieder über lange Zeiträume die Ortsgeschichte mitprägten.

Die Familie Cahn war schon in der Zeit des Dreißigjährigen Krieges in Königswinter ansässig. Ende des 17. Jh. stellten sie sogar einen Repräsentanten der Erzstiftischen Judenschaft im Kurstaat Köln. Schließlich siedelte sich David Cahn in der Mitte des 19.Jh. in Oberdollendorf an und bezog das frisch erworbene Gut Sülz. Dort heiratete er ein „Dollendorfer Mädchen“, Fanny Süskind.

Die Süskind Familie war Ende des 18. Jh. aus Dierdorf im Westerwald nach Oberdollendorf gezogen. Nathan Süskind heiratete Sara, die Tochter des Moses Cahn aus Königswinter. Aus der Ehe gingen acht Kinder hervor.

Die beiden Familien verzweigten sich im Laufe der Jahrzehnte durch Heirat immer weiter. Sie verdienten ihren Lebensunterhalt durch Getreidehandel, Fell -und Lederhandel, Wein- sowie Ellenwarenhandel und andere Kaufmanngeschäfte.

Sie waren teils fromme, teils liberale Juden, alle sehr angesehen und vollständig in das Ortsgeschehen integriert.

In der Zeit des Nationalsozialismus wurden die Familien Cahn und Süskind plötzlich ausgegrenzt, verfolgt und große Teile beider Familien ermordet.

Einigen wenigen Familienmitgliedern gelang die Flucht in die USA und nach Südafrika.

Zurückgekehrt von der großen Familie Süskind ist, allerdings erst posthum, nur Ursula Bruce, deren Mutter eine geborene Süskind war. Ihr Grab befindet sich auf dem katholischen Friedhof von Oberdollendorf.

Die Familie Süskind, Falltorstr. 23, Oberdollendorf, v.l- Gertrud, Hugo, Meta, Ludwig, Lilli, Paul, 1928

Fanny (Annie) Süskind heiratete am 03. Oktober in Oberdollendorf Emil Pfeffer,1einen Kaufmann aus Gießen. Gefeiert wurde im Haus der Familie in der Falltorstraße 23.

Hochzeit der Fanny Süskind mit Emil Pfeffer

Zwei Jahre später, am 30. Dezember 1928, wurde die Tochter Ursula Amanda in Gießen2 bei Frankfurt geboren. Von Geburt an litt Ursula unter einem Glaukom -grüner Star- auf beiden Augen. Der Grüne Star schädigt den Sehnerv und dadurch auch die Netzhaut – mit fatalen Folgen: Das Gesichtsfeld der Erkrankten schränkt sich immer weiter ein. So war Ursula von Kind an stark sehbehindert und die Krankheit führt langsam zur Erblindung. Am Ende der zwanziger Jahre konnte man diese Krankheit kaum diagnostizieren und es gab auch keine Möglichkeiten eine Erblindung aufzuhalten.

1 Emil Pfeffer hatte zwei Brüder, sein Bruder Fritz war Zahnarzt. Er flüchtete 1938 in die Niederlande und lebte mit der Familie Frank im Hinterhaus des Hauses Prinsengracht 263 in Amsterdam. Anne Frank schreibt über „Doktor Dussel“in ihrem Tagebuch. https://de.wikipedia.org/wiki/Fritz_Pfeffer

2 1933 lebten in Gießen 855 Jüdinnen u. Juden. Sie bestritten ihren Lebenserwerb als Kaufleute und Händler, doch gab es auch zahlreiche Angehörige freier Berufe. Es existierten eine orthodoxe und eine liberale Gemeinde mit Synagogen. http://www.alemannia-judaica.de/giessen_personen.htm

„Blind sein, lehrt deutlich sehen“

Kindheit

Meine frühen Erinnerungen sind eher verschwommen. Ich habe mit meinen Eltern in einem Mehrfamilienhaus gewohnt. Mein Großvater Ignatz3, in dessen Haus in Gießen wir später zogen, wohnte mitten in der Stadt. Er betrieb ein Modegeschäft, in dem mein Vater und meine Mutter arbeiteten.

Als ich zur Schule gehen musste, zogen wir in das Haus meines Großvaters, weil es näher an der Schiller-Schule lag, die ich besuchen sollte. Das hatte seinen Grund in meiner schlechten Sehkraft. Ich blieb an dieser Schule bis Ende 1936, als mein Vater entschied, nach Südafrika auszuwandern und meine Mutter und ich in einen kleinen Ort namens Oberdollendorf zogen, der jetzt Teil der Stadt Königswinter geworden ist, die am Rhein liegt und ein sehr beliebter Touristenort ist.

In den sehr frühen Jahren meines Lebens hatte ich kein Bewusstsein dafür jüdisch zu sein, abgesehen von einigen

Synagoge Gießen

Chanukka-Partys 4 und der ein oder anderen Purim-Party5.

Ignatz Pfeffer, der Großvater

Wir zogen in eine eigene separate Wohnung in Großvater Pfeffers Haus. Er selbst hatte eine eigene Wohnung bei meiner Stiefgroßmutter Anna, die ein wunderbarer freundlicher Mensch war.

In dieser Zeit fing ich an, mir meiner jüdischen Religion bewusst zu werden. Es begann mit regelmäßigen Synagogenbesuchen. Meine Einführung in die Traditionen war, dass mein Großvater mich auf das Simchat-Tora Fest6 mitnahm und mich in der ersten Reihe neben Pralinenkistenstapeln sitzen ließ. Pralinen und andere Süßigkeiten gehören mit zu diesem Fest. Das ist wahrscheinlich der Grund, warum ich bis heute so süchtig nach Pralinen bin.

Großvaters Einfluss auf mich war sehr beträchtlich. Er war ein sehr frommer und engagierter Jude. Obwohl ich in meinem Leben nie einer Synagogengemeinde angehörte, haben mich die Erfahrungen mit Gottesdiensten und Gemeinschaftsleben in meinen späteren Jahren beeinflusst.

Ich verbrachte oft Zeit mit meinen Großeltern, besonders am Freitagnachmittag, wenn ich meiner Stiefgroßmutter Anna half, sich auf den Sabbat vorzubereiten. Ich ging auch freitagabends und samstagmorgens mit meinen Eltern in die Synagoge und dann nach oben in Großvaters Wohnung, um mit ihm und meiner Stiefgroßmutter das Sabbat-Essen einzunehmen. Das war immer der Höhepunkt meiner Woche.

Jüdischen Religionsunterricht habe ich nur zeitweilig besucht. Ich war kurz im Cheder7, aber es war einer dieser Cheder, wo alle Bar-Mizwa-Jungs8 vorne saßen und der Lehrer ihnen seine ganze Zeit widmete. Die Kleinen, wie ich, bekamen Hebräisch-Fibeln und wurden in die hintere Reihe gesetzt und für einen sehr großen Teil des Unterrichts zappeln gelassen.

Wenn ich mich langweilte, und das tat ich, wurde ich schwierig und ungezogen. Da mein Großvater Einfluss in der Gemeinde hatte, wollte man mich nicht von der von der Schule verweisen, aber am Ende habe ich es geschafft wegzukommen. Ich habe einfach entschieden, dass ich nicht Teil dieses Unterrichtes sein will.

Samstags hatten wir „Oneg Shabbat“9 , und das war ziemlich lustig. Das war etwas Besonderes für uns Kinder. Manchmal kamen wir zu einer Show oder Theateraufführungen zusammen. Es hat Spaß gemacht, weil viele andere Kinder da waren. Für mich Einzelkind war es eine wichtige Gesellschaft.

1933, als die Nazis an die Macht kamen, nahm ich zum ersten Mal antijüdische Gefühle wahr. Meine Eltern waren sehr aufgeregt und schickten mich mit unserem Kindermädchen zu einem Spaziergang nach draußen. Da waren plötzlich viele Männer mit braunen Uniformen und Hakenkreuz-Armbinden und all den Fahnen, den Hakenkreuz-Fahnen. Ich hatte ein Gefühl sehr großer Aufregung, fühlte mich unsicher, da ich ja ein sehr schlechtes Sehvermögen hatte. Ich konnte nur unscharfe Umrisse sehen.

Annie Pfeffer mit Ursula 1933

Es war sehr anstrengend die vielen neuen Dinge zu betrachten, ich brauchte viel Konzentration.

Später in der Schule, warfen die anderen Kinder mit Steinen und im Winter mit Schneebällen.

Obwohl sie überall Schneebälle warfen, waren diese besonders gegen mich gerichtet.



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