Blut ist dicker als Wasser - Lisa Gardner - E-Book
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Blut ist dicker als Wasser E-Book

Lisa Gardner

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Beschreibung

Justin und Libby Denby führen ein Leben wie aus dem Hochglanzmagazin: Sie sind wohlhabend, gut aussehend, wohnen mit ihrer reizenden Tochter Ashlyn in einem wunderschönen Haus in bester Bostoner Lage. Die perfekte Familie. Doch dann kommt der Abend, an dem die Denbys in die Katastrophe stürzen: Sie werden entführt und verschleppt, in ein altes Gefängnis im Norden New Hampshires. Ihre Entführer sind maskiert, die Motive völlig unklar. Geht es tatsächlich um Geld? Oder vielmehr darum, eine alte Rechnung zu begleichen? Detective Tessa Leoni tappt lange im Dunklen. Sehr spät erst merkt sie: Auch hinter der schönsten Fassade lauern Abgründe … «Eine Ausnahmeautorin!» (Karen Slaughter) «Lisa Gardners neuer Roman übertrifft alles!» (Publishers Weekly)

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Lisa Gardner

Blut ist dicker als Wasser

Thriller

Aus dem Englischen von Michael Windgassen

Rowohlt E-Book

Inhaltsübersicht

Kapitel 1Kapitel 2Kapitel 3Kapitel 4Kapitel 5Kapitel 6Kapitel 7Kapitel 8Kapitel 9Kapitel 10Kapitel 11Kapitel 12Kapitel 13Kapitel 14Kapitel 15Kapitel 16Kapitel 17Kapitel 18Kapitel 19Kapitel 20Kapitel 21Kapitel 22Kapitel 23Kapitel 24Kapitel 25Kapitel 26Kapitel 27Kapitel 28Kapitel 29Kapitel 30Kapitel 31Kapitel 32Kapitel 33Kapitel 34Kapitel 35Kapitel 36Kapitel 37Kapitel 38Kapitel 39Kapitel 40Kapitel 41Kapitel 42Kapitel 43Kapitel 44Anmerkungen und Danksagungen
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Kapitel 1

Es gibt etwas, das ich im Alter von elf Jahren gelernt habe: Schmerzen haben einen Geschmack. Es stellt sich eigentlich nur die Frage, welchen.

 

An diesem Abend schmeckte mein Schmerz nach Apfelsinen. Ich saß meinem Mann gegenüber in einer Ecknische des Restaurants Scampo in Beacon Hill. Diskrete Kellner schenkten uns wortlos Champagner ein. Für ihn war es das zweite Glas, für mich das dritte. Wir hatten frisch gebackenes Brot und eine Auswahl von der Mozzarella-Bar vor uns auf dem weißen Leinentischtuch. Als Nächstes würden uns handgeschnittene Nudeln mit Erbsen, knusprigen Pancetta-Streifen und einer leichten Sahnesoße serviert werden. Justins Lieblingsgericht. Er hatte es vor zwanzig Jahren auf einer Geschäftsreise nach Italien für sich entdeckt und bestellte es jedes Mal, wenn wir bei einem guten Italiener waren.

Ich hob mein Glas. Nippte daran. Setzte es ab.

Justin lächelte. In den Augenwinkeln kräuselten sich Fältchen. Seine hellbraunen, kurzgeschnittenen Haare wurden an den Schläfen grau, was ihm aber gut stand. Er hatte diesen smarten Outdoor-Look, der nie aus der Mode kommt. Frauen taxierten ihn, wenn er eine Bar betrat. Männer auch, neugierig auf dieses unverkennbare Alphatier, das abgetragene Arbeitsstiefel mit zweihundert Dollar teuren Hemden von Brooks Brothers kombinierte und gut aussehen ließ.

«Willst du nichts essen?», fragte mein Mann.

«Ich warte auf die Pasta.»

Er lächelte wieder, und ich dachte an weiße Sandstrände, an salzige Meeresluft. Ich erinnerte mich an das Gefühl der weichen Bettlaken, in denen sich meine nackten Beine verfangen hatten, als wir am zweiten Morgen unserer Flitterwochen immer noch nicht aus unserem Hotelbungalow herausgekommen waren. Justin hatte mich mit Orangenstücken gefüttert, während ich ihm den klebrigen Saft von den Fingern leckte.

Ich nahm noch einen Schluck Champagner, behielt ihn diesmal noch eine Weile im Mund und konzentrierte mich auf das Prickeln.

Ob sie hübscher war als ich, fragte ich mich. Aufregender? Besser im Bett? Aber womöglich zählte so etwas gar nicht. Vielleicht liefen solche Sachen ganz anders ab. Männer betrogen, weil sie halt betrogen. Und wenn sich einem Mann die Gelegenheit bot, nutzte er sie.

So gesehen wäre dieser Seitensprung, für sich betrachtet, nicht unbedingt persönlich zu nehmen.

Ich nahm einen weiteren Schluck und schmeckte statt Champagner wieder Orangen.

Justin verputzte den Rest seiner Appetithappen, nippte an seinem Glas und legte geistesabwesend das Besteck zurecht.

Er hatte mit siebenundzwanzig Jahren das Bauunternehmen seines Vaters geerbt. Geschätztes Betriebsvermögen: fünfundzwanzig Millionen Dollar. Die meisten Söhne hätten eine so erfolgreiche Firma sich selbst überlassen. Nicht Justin. Als wir uns kennenlernten, war er vierunddreißig und hatte den Wert des Unternehmens auf fünfzig Millionen verdoppelt. In zwei Jahren wollte er die Fünfundsiebzig-Millionen-Marke erreicht haben. Und nicht etwa von irgendeinem Schreibtisch aus. Justin brüstete sich damit, Meister fast aller Gewerke zu sein. Installateur, Elektriker, Trockenbauspezialist, Betonverarbeiter. Er packte mit an, verbrachte viel Zeit mit seiner Truppe und den Subunternehmern, war immer der Erste auf der Baustelle und der Letzte, der ging.

Anfangs war es genau das, was ich am meisten an ihm schätzte. Dass er ein echter Kerl war, einer, der sich in holzvertäfelten Vorstandsbüros ebenso sicher bewegte wie auf Basketballplätzen und auch gern mal mit seiner Magnum auf Zielscheiben ballerte.

Unser allererstes Date hatte auf einem Schießplatz stattgefunden, wo er sich mit seinem großen, kräftigen Körper von hinten an mich schmiegte, mir eine relativ kleine Zweiundzwanziger in die Hände legte und zeigte, wie man das Ziel anvisierte. Meine ersten Versuche gingen völlig daneben. Trotz Gehörschutz erschreckten mich die Detonationen so sehr, dass ich zusammenzuckte. Ich feuerte in den Boden oder traf, wenn ich Glück hatte, den Rand der Zielscheibe.

Justin war überaus geduldig. Er hielt mich von hinten umfasst, brummte aufmunternde Worte und hielt mir die Hände.

Die Besuche auf dem Schießplatz wiederholten sich. Manchmal endeten sie in der Besenkammer des Clubgebäudes oder auf dem Rücksitz seines SUV. Er grub mir dann seine Finger in die Hüften und ließ seiner Leidenschaft freien Lauf. Und ich der meinen. Ich hatte noch den Geruch von Schießpulver in der Nase und war außer mir vor Lust, überwältigt von seiner Kraft.

Salz. Schießpulver. Orangen.

Justin entschuldigte sich und ging zur Toilette.

Als er fort war, verteilte ich die Nudeln auf meinem Teller, damit es so aussah, als hätte ich davon gegessen. Dann öffnete ich unter dem Tisch heimlich meine Handtasche und zauberte vier weiße Pillen hervor, die ich mit einem halben Glas Wasser hinunterspülte.

Dann nahm ich wieder meine Champagnerflöte und wappnete mich für den Höhepunkt des Abends.

 

Der Heimweg dauerte mit dem Wagen nur fünf Minuten. Justin hatte das Haus in der Bostoner Innenstadt an dem Tag gekauft, an dem meine Schwangerschaft bestätigt worden war. Von der Arztpraxis ging er auf direktem Weg zum Immobilienmakler. Nach der mündlichen Zusage zeigte er mir das Haus wie ein Großwildjäger seine Trophäe. Eigentlich hätte ich an seiner Eigenmächtigkeit Anstoß nehmen müssen. Stattdessen lief ich mit offenem Mund durch viereinhalb Etagen mit edelstem Parkett, drei Meter hohen Decken und wunderschönen Stuckverzierungen.

Das also war der Gegenwert von fünf Millionen Dollar. Helle, sonnendurchflutete Räume, eine herrliche Dachterrasse, und das alles inmitten altehrwürdiger, prächtig renovierter Klinkerbauten, die wie alte Freunde Schulter an Schulter beieinanderstanden.

Unsere Straße, die Marlborough Street, war von Bäumen gesäumt und nur ein paar Schritte von der schicken Newbury Street entfernt; natürlich lag auch der Stadtpark ganz in der Nähe. Die weniger wohlhabenden Nachbarn fuhren Saabs, und wer Kinder hatte, engagierte ein Kindermädchen mit französischem Akzent. Selbstverständlich wurde der Nachwuchs schon in der ersten Woche nach seiner Empfängnis an einer Privatschule angemeldet.

Justin gab mir eine Carte blanche. Möbel, Kunst, Draperien, Teppiche. Wie sie aussahen und ob sie mit oder ohne Beratung eines Innenarchitekten ausgewählt wurden, interessierte ihn nicht. Richte das Haus nach deinem Geschmack ein, Geld spielt keine Rolle, Hauptsache, wir fühlen uns wohl darin.

Das tat ich dann auch. Wie in dieser Szene aus Pretty Woman, nur dass ich außerdem mit Anstreichern, Dekorateuren und Antiquitätenhändlern zu tun hatte, die mir ihre Waren und Leistungen aufdrängten, während ich mich mit immer größer werdendem Bauch auf diversen Diwanen fläzte und mit lässig-eleganter Handbewegung dieses oder jenes verlangte. Um ehrlich zu sein, ich genoss es. Endlich konnte ich mein künstlerisches Talent zur Entfaltung bringen. Statt immer nur Schmuck aus Silberknete zu entwerfen, richtete ich nun ein Bostoner Stadthaus ein.

Es war eine aufregende Zeit. Justin arbeitete an einem größeren Projekt, dem Bau eines Wasserkraftwerks. Er war fast nur noch mit einem Hubschrauber unterwegs, machte aber immer wieder Zwischenstation in Boston. Ich zeigte ihm dann, was es in unserem Zuhause Neues zu sehen gab, während er mir den Rücken massierte und die Haare zur Seite strich, um an meinem Hals zu knabbern.

Schließlich kam Ashlyn und mit ihr jede Menge Glück und Freude. Justin strahlte. Er machte Fotos und gab mit seinem kostbaren Baby schrecklich an. Seine Arbeiter tappten durch unser Haus, nachdem sie ihre lehmverschmierten Stiefel in der glänzenden Eingangshalle abgestellt hatten. Auch eine Abordnung von Justins ehemaligen Mitstreitern der Navy SEALs sowie etliche Ex-Marines begafften unsere schlafende Tochter in ihrer pinkfarben gefütterten Wiege. Sie überboten sich gegenseitig mit praktischen Ratschlägen zum Thema Windelwechseln und machten sich daran, dem Säugling das Abc in Rülpslauten beizubringen.

Justin informierte sie darüber, dass seine Tochter für ihre Söhne tabu sei, was sie gutmütig akzeptierten. Statt des Säuglings begafften sie nun mich. Ich sagte, sie könnten von mir haben, was sie wollten, vorausgesetzt, sie erklärten sich bereit, auch um zwei Uhr nachts Windeln zu wechseln. Mein Angebot wurde so lebhaft kommentiert, dass Justin seine Truppe abkommandierte.

Aber er war glücklich, ich war es auch, und wir freuten uns des Lebens.

Das ist Liebe, nicht wahr? Man lacht, man weint, mal gibt der eine, mal der andere dem Kind das Fläschchen, und wenn man dann auch wieder miteinander schläft, tut man das sehr behutsam und stellt fest, dass sich zwar einiges geändert hat, aber man im Großen und Ganzen doch mehr als zufrieden sein kann. Justin überschüttete mich mit Geschenken. Ich nahm die üblichen Yogastunden und kaufte in unverschämt teuren Läden Babykleidung. Nun ja, mein Mann war viel unterwegs, aber ich zählte nicht zu jenen Frauen, die sich allein zu Hause grämten. Ich hatte meine Tochter und stellte schließlich Dina ein, damit ich wieder in mein Atelier zurückkehren konnte, um kreativ zu sein, Schmuck zu entwerfen und mich zu verwirklichen.

Justin bremste den Range Rover ab und suchte nach einer Parklücke. Zu unserem Haus gehörte zwar eine Kellergarage, die die Grundsteuer fast verdoppelte, aber sie war natürlich mir und meinem Auto vorbehalten.

Als wir an unserem Haus vorbeifuhren, blickte ich unwillkürlich hinauf zum Fenster von Ashlyns Zimmer. Es war dunkel, was mich verwunderte, weil sie doch den Abend hatte zu Hause verbringen wollen. Vielleicht saß sie vor ihrem Laptop und hatte einfach nur darauf verzichtet, Licht zu machen. Fünfzehnjährige Mädchen konnten, wie ich wusste, auf diese Weise viele Stunden verbringen. Mit eingepfropften Ohrenstöpseln, gläsernem Blick und zusammengepressten Lippen.

Justin fand schließlich eine Lücke. Ein kurzes Rangiermanöver, rückwärts, ein kleines Stück nach vorn, und er war drin. Er stieg aus, ging um das Fahrzeug herum und öffnete mir die Tür.

Meine Hände lagen im Schoß, so fest zu Fäusten geballt, dass die Knöchel weiß waren. Ich zwang mich, ruhig zu atmen. Ein. Aus. War nichts weiter dabei. Immer schön mit der Ruhe.

Wie würde er es anfangen? Mit einem Kuss auf die Lippen? Oder hinters Ohr, wo ich es, wie er festgestellt hatte, besonders gern hatte? Oder würden wir uns einfach ausziehen, ins Bett gehen und die Sache hinter uns bringen? Im Dunkeln und mit geschlossenen Augen? Vielleicht würde er die ganze Zeit an sie denken. Vielleicht sollte ich mir nichts daraus machen. Schließlich war er bei mir. Ich hatte gewonnen. Er, der Vater meines Kindes und mein Gatte seit achtzehn Jahren, hielt zu mir.

Er reichte mir die Hand und half mir aus dem Wagen. Wortlos gingen wir auf unser Haus zu.

 

Justin hatte die Haustür erreicht. Er streckte die Hand aus, um den Zahlencode einzutippen, hielt inne und runzelte die Stirn. Er warf mir einen flüchtigen Blick zu.

«Sie hat die Anlage ausgeschaltet», murmelte er. «Die Tür ist ungesichert, wieder einmal.»

Ich schaute auf die Tastatur neben der Tür und sah, was er meinte. Justin hatte das System selbst installiert und ein Schloss eingebaut, das elektronisch gesteuert wurde. Gab man den richtigen Code ein, ließ sich die Tür öffnen. Falscher Code, kein Zutritt.

Dieses System hatte sich als elegante Lösung für eine halbwüchsige Tochter empfohlen, die häufig ihren Schlüssel irgendwo liegenließ. Aber damit es funktionierte, musste es aktiviert werden, und damit schien Ashlyn ein bisschen überfordert zu sein.

Justin drehte den Knauf, und tatsächlich: Die Tür öffnete sich lautlos ins Dunkel.

Jetzt runzelte ich die Stirn. «Sie hätte wenigstens Licht brennen lassen können.»

Meine Highheels klapperten laut, als ich den Eingangsbereich durchquerte, um den Lüster unter der Decke einzuschalten. Ohne Justins stützenden Arm war ich wacklig auf den Beinen. Ich fragte mich, ob es ihm auffiel. Oder ob es ihn überhaupt interessierte.

Ich fand den Schalter an der Wand und drückte ihn. Nichts. Ich versuchte es erneut, mehrmals hintereinander. Nichts.

«Justin?», rief ich verstört.

Ich hörte ihn nur noch sagen: «Libby …»

Dann machte es Peng wie aus einer kleinkalibrigen Waffe. Ein Pfeifen. Justin bäumte sich auf. Wie vom Donner gerührt sah ich, wie er fast auf den Zehenspitzen stand und den Rücken wölbte, während sich kehliger Schmerzenslaut durch seine zusammengebissenen Zähne presste.

Ich roch versengtes Fleisch.

Dann sah ich den Mann.

Er war groß. Größer noch als mein Eins-achtundachtzig-neunzig-Kilo-Gatte, der im Baugewerbe arbeitete. Eine riesige Gestalt in Schwarz lauerte auf der anderen Seite des Flurs und hielt eine seltsame Pistole mit eckigem Lauf gepackt. Grünes Konfetti, dachte ich geistesabwesend. Hellgrüne Partikel regneten auf mein Parkett, während mein Mann einen makaberen Tanz aufführte und der gesichtslose Mann einen Schritt nach vorn machte.

Er senkte die Waffe. Justin hörte mit seinen Verrenkungen auf und sackte keuchend in sich zusammen. Der Mann drückte wieder ab. Vier, fünf, sechs Mal ließ er Justins Körper spastisch zucken, während ich mit offenem Mund danebenstand, die Arme ausgestreckt, weil um mich herum alles ins Wanken geriet.

Ich hörte meinen Mann etwas sagen, konnte ihn aber im ersten Moment nicht verstehen. Doch dann entnahm ich seiner gequälten Miene die Aufforderung davonzurennen.

Ich wandte mich der Treppe zu und blickte flehend nach oben, betete, dass meine Tochter wohlbehalten in ihrem Bett lag, die Stöpsel ihres iPods im Ohr, ohne von dem, was sich hier unten abspielte, etwas mitzubekommen.

Der riesige Mann fuhr herum und nahm mich ins Visier. Mit einem Schlenker aus dem Handgelenk ließ er eine eckige Hülse aus der Waffe springen, in der ich jetzt einen Taser erkannte. Er sprang auf mich zu, presste mir den Lauf seitlich auf den Oberschenkel und drückte ab.

Ein unerträglicher Schmerz durchfuhr mich. Noch mehr verbranntes Fleisch. Schreie. Wahrscheinlich meine eigenen.

Zweierlei nahm ich wahr: den akuten Schmerz und das Weiße in den Augen des Angreifers. Er trug eine Maske, wie ich am Rande registrierte. Eine schwarze Skimütze, die Nase und Mund verhüllte. Er war kein Mensch, sondern ein gesichtsloses Monster mit weißen, weißen Augen, wie aus einem Albtraum in mein Haus gekommen.

Justin hatte sich wieder aufgerafft. Er wankte von hinten herbei und ließ die Fäuste fliegen, doch es waren nur schwache Schläge, die auf den Rücken des Eindringlings tropften. Die maskierte schwarze Gestalt drehte sich um und hackte mit der Handkante auf Justins Hals ein.

Mein Mann röchelte fürchterlich und ging zu Boden.

Mein linkes Bein gab unter mir nach. Ich stürzte, wälzte mich auf den Bauch und erbrach Champagner.

Überwältigt von Schmerzen, Schrecken und Panik dachte ich nur noch: Er darf Ashlyn nicht finden.

Doch dann hörte ich sie mit einem schrillen, entsetzten Ruf. «Daddy. Mommy. Daddy!»

In meiner letzten wachen Sekunde gelang es mir, den Kopf zu drehen. Ich sah zwei weitere schwarze Gestalten, die meine Tochter in ihre Mitte genommen hatten und sie mit Gewalt die Treppe herunterzerrten.

Ganz kurz trafen sich unsere Blicke.

Ich liebe dich, wollte ich sagen.

Aber die Worte kamen mir nicht über die Lippen.

Die maskierte Gestalt hob wieder ihren Taser. Lud ihn in aller Ruhe neu. Zielte, feuerte ab.

Meine fünfzehnjährige Tochter schrie.

 

Schmerzen haben einen Geschmack. Es stellt sich eigentlich nur die Frage, welchen.

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Kapitel 2

Das Piepsen ihres Handys weckte sie auf. Es überraschte sie aus zwei Gründen. Zum einen, weil sie beruflich nicht mehr zur Unzeit angerufen wurde; zum anderen, weil sie offenbar eingeschlafen sein musste und nicht wie seit Monaten – zumindest gefühlt – die halbe Nacht wach gelegen hatte.

Tessa Leoni lag auf der linken Seite. Der Klingelton wurde lauter und brauste zu einer Kaskade von Klängen auf. Ihr Arm war ausgestreckt, wie ihr auffiel. Nicht etwa in Richtung Handy, sondern über die leere Betthälfte. Selbst zwei Jahre nach seinem Tod griff sie immer noch dorthin, wo ihr Mann geschlafen hatte.

Das Handy zwitscherte hartnäckig. Sie wälzte sich auf die andere Seite, zum Nachttisch hin, und meinte, noch benommener zu sein, als wenn sie nicht geschlafen hätte.

Sie nahm den Anruf an, kurz bevor sich die Voicemail einschaltete, und schon wieder gab es eine Überraschung für sie, denn es meldete sich ihr Chef, der noch nie von sich aus in Kontakt mit ihr getreten war. Endlich lichtete sich der Nebel in ihrem Kopf, und ihr jahrelanges Training gewann die Oberhand. Sie nickte, stellte die nötigen Fragen und war wenige Minuten später fertig angezogen.

Ein kurzes Zögern noch. Waffe, ja oder nein? Früher, als sie noch für die Polizei von Massachusetts gearbeitet hatte, war sie unverzichtbar gewesen. Sie ließ sich die Informationen ihres Chefs durch den Kopf gehen – Situation, Zeitrahmen, Anzahl der bekannten Unbekannten – und traf eine Entscheidung. Ihre Waffe lag im Safe. Licht zu machen brauchte sie nicht, um das Kombinationsschloss zu öffnen. Sie holte die Glock heraus und steckte sie in das Schulterholster.

Samstagmorgen. 6:28 Uhr. Sie war startklar.

Sie steckte ihr Handy in die Jackentasche und ging durch den Flur, um die Concierge/Kinderfrau/langjährige Freundin zu wecken.

Mrs. Ennis war schon wach. Wie viele ältere Frauen besaß sie die geradezu übernatürliche Fähigkeit, im Voraus zu wissen, wann sie gebraucht wurde, und darauf vorbereitet zu sein. Sie saß aufrecht im Bett, hatte die Nachttischlampe eingeschaltet und hielt einen Notizblock in der Hand, um sich letzte Instruktionen diktieren zu lassen. Das knöchellange, rot-grün karierte Flanellhemd, das sie trug, hatte sie letztes Jahr von Sophie zu Weihnachten geschenkt bekommen. Hätte die kleine weiße Nachtmütze nicht gefehlt, wäre Mrs. Ennis ein Abziehbild von Rotkäppchens Großmutter gewesen.

«Ich bin aus dem Bett geklingelt worden», erklärte Tessa, was ohnehin offensichtlich war.

«Was soll ich ihr sagen?», fragte Mrs. Ennis. Mit «ihr» war Sophie gemeint, Tessas achtjährige Tochter. Nach dem Verlust ihres Vaters, der vor zwei Jahren einer Gewalttat zum Opfer gefallen war, mochte Sophie ihre Mutter nicht mehr aus den Augen lassen. Ihr zuliebe und auch auf eigenen Wunsch hin hatte Tessa nach Brians Tod ihren Polizeidienst quittiert. Ihre Tochter brauchte Stabilität und sollte zumindest halbwegs sicher sein können, dass wenigstens ein Elternteil abends nach Hause zurückkehrte. Tessas neuer Job in der Detektei nahm sie von neun bis siebzehn Uhr in Anspruch. Es gab allerdings Ausnahmen …

Sie zögerte. «Die Sache scheint dringend zu sein», gab sie zu. «Könnte sein, dass ich erst morgen oder übermorgen zurück bin. Hängt davon ab, wie schnell wir zum Zug kommen.»

Mrs. Ennis nickte nur.

«Sophie kann mir ja simsen», sagte Tessa schließlich. «Vielleicht bin ich nicht immer für sie zu sprechen, aber auf eine Textnachricht werde ich so schnell wie möglich antworten.»

Tessa wusste, wie wichtig es für Sophie war, mit ihr Kontakt zu halten. Ob sie nun die Hand nach ihr ausstreckte oder ihre Kurzwahltaste drückte, Hauptsache, das Mädchen konnte seine Mutter jederzeit erreichen.

Einmal hatte Sophie vergeblich nach ihr verlangt, und darunter litt sie schon seit zwei Jahren.

«Sie hat den Vormittag über Gymnastik», sagte Mrs. Ennis. «Vielleicht bringt sie anschließend eine Freundin mit nach Hause. Dann hätte sie Ablenkung.»

«Danke. Ich versuche, noch vor dem Abendessen anzurufen, spätestens vor dem Zubettgehen.»

«Mach dir um uns keine Sorgen», erwiderte Mrs. Ennis forsch. Sie kümmerte sich um Sophie seit ihrer Geburt einschließlich der vielen Jahre, in denen Tessa in Nachtschicht Streife gefahren war. Es gab nichts in ihrem Haushalt oder was Sophie anbelangte, womit Mrs. Ennis nicht umzugehen vermochte, und das wusste sie.

«Geh jetzt», sagte sie und machte eine entlassende Handbewegung in Richtung Tür. «Wir kommen schon klar.»

«Danke.» Tessa meinte es so.

«Pass auf dich auf.»

«Immer.» Auch das meinte sie so.

Tessa ging den Flur entlang, langsamer als beabsichtigt. Vor der offenen Tür zum Zimmer ihrer Tochter blieb sie stehen. Einzutreten und das schlafende Mädchen zu wecken wäre allzu eigennützig gewesen. Also begnügte sie sich damit, einen Blick in den dunklen Raum zu werfen, bis sie den Wust der braunen Haare ihrer Tochter auf dem hellgrünen Kissen erkennen konnte.

Zwei kleine Lichter brannten, weil Sophie völlige Dunkelheit nicht ertragen konnte. Ihre Hände umfassten ihre Lieblingspuppe namens Gertrude, eine Stoffpuppe mit Haaren aus braunem Garn und dunklen Knopfaugen. Nach Brians Tod hatte Sophie Gertrude einen Verband um die Brust gewickelt, weil ihr, wie sie sagte, das Herz weh tue, und Tessa hatte verständnisvoll genickt.

Nicht nur Sophie litt seit zwei Jahren. Jedes Mal, wenn Tessa das Haus verließ, sei es, weil sie zur Arbeit musste, eine Runde joggen oder einkaufen wollte, kam ihr die Trennung von ihrer Tochter vor, als würde es sie in zwei Hälften zerreißen, die erst dann wieder zusammenfänden, wenn sie zurückgekehrt wäre. Und manchmal träumte sie noch von Schnee und Blut, davon, dass sie die Hand nach ihrem stürzenden Mann ausstreckte. Ebenso häufig sah sie sich im Traum die Pistole halten und abdrücken.

Sie machte kurz in der Küche halt, um eine Nachricht auf einen Zettel zu schreiben, den sie auf den Stuhl ihrer Tochter legte. Ich liebe dich. Bin bald wieder zurück …

Dann holte sie tief Luft und verließ das Haus.

 

Polizistin zu werden war für Tessa kein Kindheitstraum gewesen. Ihr Vater hatte seine Brötchen als Mechaniker verdient und mehr Interesse an seinem täglichen Quantum Jack Daniels gezeigt als an seiner einzigen Tochter. Ihre Mutter hatte ein Schattendasein geführt und nur selten das Schlafzimmer verlassen. Sie war früh gestorben und hatte Tessa eine wehmütige Vorstellung davon hinterlassen, was sie ihr hätte sein können.

Auf sich allein gestellt, war Tessa einen Weg gegangen, der sie einsam, schwanger und bettelarm gemacht hatte. Und plötzlich war sie erwachsen gewesen. Sich selbst vernachlässigt zu haben machte ihr nichts aus, aber nie hätte sie ihr Kind vernachlässigt. Also hatte sie – Punkt eins der Geschäftsordnung – einen Beruf angestrebt, der sich für eine ledige Mutter mit abgeschlossener Abendschule eignete. Während der sechs Monate auf der Polizeiakademie lernte sie zu schießen, zu kämpfen und Strategien auszuhecken. Zu ihrer eigenen Verwunderung stellte sie fest, dass ihr alle drei Disziplinen lagen.

Mehr noch, sie fand Gefallen daran. Am Job, der Uniform, den Kollegen. Vier Jahre lang fuhr sie auf Massachusetts’ Highways Streife, nahm Betrunkene in Gewahrsam, entschärfte Schlägereien und sorgte für häuslichen Frieden. In dieser Zeit hatte sie das Gefühl gehabt, etwas zu bewirken und Sinnvolles zu tun. Sie war glücklich gewesen.

Sie verließ sich ganz auf ihre Ausbildung, als sie nun in der Bostoner Innenstadt nach einem Parkplatz suchte und die ersten Gedanken um den Tatort kreisen ließ. Die Denbes wohnten in Back Bay, einem der vornehmsten Viertel Bostons, wie es sich für den Vorstandsvorsitzenden eines Hundert-Millionen-Dollar-Unternehmens gehörte. Die Gegend bestand aus Straßenzügen stattlicher Einfamilienhäuser, die zwar dicht beieinanderstanden, aber wahrscheinlich so gut schallisoliert waren, dass sich ihre Bewohner einbilden konnten, auf einer Insel zu leben, umgeben vom Meer des städtischen Treibens.

Ein Rettungsfahrzeug oder eine mobile Kommandozentrale waren nicht zu sehen, was Sinn ergab, weil ihr Einsatzbefehl einem einfachen B- beziehungsweise E-Ruf entsprach. Allerdings zählte sie über sechs Streifenwagen sowie mehrere nicht gekennzeichnete Dienstfahrzeuge. Ein großes Aufgebot für einen Einbruch. Und all die Detectives … offenbar hatte man nach einer ersten Einschätzung der Situation Verstärkung angefordert.

Tessa bog von der Marlborough Street in eine kleine Seitengasse ein, in der nur Anlieger parken durften. Sie fand eine Lücke und nahm sie in Beschlag, natürlich unberechtigterweise, aber sie war gewiss nicht die erste Ermittlerin, die sich über Verkehrsregeln hinwegsetzte. Es würde zwecklos sein, dass sie ihren Dienstausweis unter die Windschutzscheibe aufs Armaturenbrett legte, denn ein Protokoll würde er ihr nicht ersparen. Sei’s drum.

Sie stieg aus ihrem Lexus, schlang den langen, schokoladenbraunen Wollmantel um sich und zögerte plötzlich wieder.

Ihr erster Impuls drängte sie, die Glock im Handschuhfach zu deponieren. Die Detectives würden sich daran stoßen, dass sie bewaffnet am Tatort erschien, aber das war ihr egal. Cop-Regel 101: Lass niemanden sehen, dass du schwitzt.

Das Kinn nach oben gereckt und die Schultern gestrafft, schnallte sich Tessa das Holster mit der Glock um, für die sie einen Waffenschein hatte, und machte sich auf den Weg.

Die Sonne ging gerade auf und warf einen goldenen Schein über die Stadthäuser aus rotem Ziegel und cremefarbenen Verblendungen. Zurück in der Marlborough Street, folgte sie dem gepflasterten Gehweg in Richtung der Denbe’schen Residenz und bestaunte die Erntedankdekorationen aus Getreidegarben und anderen Feldfrüchten, die die überdachten Eingänge schmückten. Den meisten Häusern waren kleine Gärten vorgelagert, begrenzt von schmiedeeisernen Zäunen in Schwarz. Zu dieser Jahreszeit beschränkte sich die Bepflanzung auf Buchsbaum-Miniaturen und immergrünes Gesträuch. Zum Glück war es nicht allzu kalt, und die Sonne versprach sogar steigende Temperaturen. Ihre Kraft nahm allerdings mit den kürzer werdenden Tagen weiter ab, und je näher es auf den Dezember zuging, desto schärfer wurden die frostigen Winde.

Ein junger Polizist in Zivil stand allein vor dem Haus der Denbes. Er trat von einem Fuß auf den anderen, vielleicht um sich warm zu halten, vielleicht um wach zu bleiben. Vom Gehweg aus betrachtet deutete an dem gepflegten Äußeren des Hauses nichts auf ein Verbrechen hin. Es war kein Absperrband gespannt worden, und vor den Eingangsstufen stand keine fahrbare Krankentrage in Bereitschaft. Alles wirkte völlig ruhig und so unverfänglich, dass sich Tessa fragte, was die Polizei der Öffentlichkeit wohl zu verheimlichen versuchte.

Laut Auskunft ihres Chefs hatte die Haushälterin der Denbes kurz nach 5:30 Uhr die Polizei alarmiert und gemeldet, dass allem Anschein nach eingebrochen worden sei. Es war sofort ein Detective losgeschickt worden, der im Haus eine Entdeckung gemacht hatte, die auf mehr schließen ließ als auf einen gewöhnlichen Einbruch und mehrere Anrufe nach sich zog, einschließlich den aus Justin Denbes Firma bei Tessas Arbeitgeber.

Eklig, hatte Tessa während der Schilderungen ihres Chefs gedacht, und als sie nun durch die geöffnete Walnusstür ins Haus blickte, änderte sie ihren ersten Kommentar um in «kompliziert». Sehr kompliziert.

Sie zeigte dem jungen Officer ihren Dienstausweis, der erwartungsgemäß den Kopf schüttelte.

«Das hier ist ’ne Privatparty», erklärte er. «Nur für Cops.»

«Ich bin aber eingeladen worden», entgegnete Tessa. «Vom Familienunternehmen höchstselbst, Denbe Construction. Eine Firma, die sich auf sündhaft teure Projekte spezialisiert hat, in Auftrag gegeben von Senatoren und hochrangigen Insidern Washingtons. Also Leuten, die unsereins besser nicht verärgert.»

Der Officer schaute sie verständnislos an. «Was für Insider?»

«Einflussreiche Lobbyisten, dank derer Justin Denbe ein gerngesehener Gast im Weißen Haus ist. Solche Insider.» Sie übertrieb ein wenig, war aber zuversichtlich, sich klar genug ausgedrückt zu haben.

Der Officer verlagerte sein Gewicht vom linken auf den rechten Fuß. Er schien ihr die Beziehungen zum Weißen Haus nicht abzukaufen, aber die Adresse hier war einfach zu vornehm, um so etwas ganz auszuschließen.

«Hören Sie», drängte Tessa. «Diese Familie, diese Nachbarschaft. Mensch, wir spielen in einer ganz anderen Liga. Deshalb hat Denbe Construction meine Agentur eingeschaltet. Eine Privatfirma, die Privatinteressen schützt. Ich behaupte nicht, dass das richtig ist und dass Sie es toll finden müssen. Aber wir wissen doch, dass in solchen Kreisen entschieden wird, wie sich die Welt dreht.»

Sie sah dem jungen Mann an, dass sie damit durchkam. Doch in diesem Moment tauchte – wie hätte es anders sein können? – Detective Sergeant D.D. Warren auf.

Die kantige, blonde Frau trat durch die Eingangstür, pellte sich ihre Latexhandschuhe von den Fingern und grinste, als sie Tessa sah.

«Hab schon gehört, dass Sie sich jetzt als Rent-a-Cop verdingen», sagte die Ermittlerin vom Morddezernat. Ihre kurzen blonden Locken wippten in der Morgensonne, als sie die Stufen heruntersprang. D.D. trug verwaschene schwarze Jeans, ein hellblaues Herrenhemd und eine karamellfarbene Lederjacke. Die dazu passenden Schuhe hatten zehn Zentimeter hohe Absätze, die sie aber nicht aus dem Takt kommen ließen.

«Hab schon gehört, dass Sie Mom geworden sind.»

«Verheiratet bin ich auch.» D.D. zeigte einen blau funkelnden Ring und wandte sich dann dem uniformierten Kollegen zu, der nach links und rechts schaute, als suchte er nach einer Fluchtmöglichkeit.

Das letzte Mal waren sich D.D. und Tessa vor zwei Jahren in einem Krankenhauszimmer begegnet. D.D. und ihr Partner Bobby Dodge hatten sie zu den Schüssen auf ihren Mann vernommen, mit denen er zwei Tage zuvor getötet worden war. Tessa hatte sich an D.D.s Fragen gestört und mit ihren Antworten die gute Frau geärgert. Anscheinend waren sie sich immer noch nicht grün.

D.D. deutete mit dem Kinn auf den Wulst unter Tessas aufgeknöpftem Mantel. «Man lässt Sie tatsächlich eine Waffe tragen?»

«Das kommt davon, wenn das Gericht einen von allen Anklagepunkten freispricht. Meine Unschuld ist also gewissermaßen verbrieft.»

D.D. verdrehte die Augen. Sie hatte ihr die Geschichte von damals immer noch nicht abgenommen. «Was wollen Sie hier?», fragte sie scharf.

«Ihren Fall an mich reißen.»

«Das können Sie nicht.»

Tessa sagte nichts. Schweigen demonstrierte Stärke.

«Im Ernst», fuhr D.D. fort. «Sie können meinen Fall nicht an sich reißen, weil es gar nicht meiner ist.»

«Was?», platzte es aus ihr heraus, verwirrt über diese Nachricht, denn D.D. stand schließlich an der Spitze der Bostoner Supercops.

D.D. fuhr mit dem Kopf herum und blickte in Richtung Hauseingang. «Der leitende Detective ist Neil Cap. Wenn Sie sich mit ihm anlegen wollen, nur zu …»

Tessa musste eine Weile in ihrem Gedächtnis kramen. «Augenblick. Dieser fuchsige Jungspund? Der ständig in der Pathologie rumhängt? Den Neil meinen Sie?»

«Ich habe ihn großgezogen», erklärte D.D. bescheiden. «Und ganz nebenbei bemerkt, ist er vier Jahre älter als Sie. Als Jungspund bezeichnet zu werden gefällt ihm ganz und gar nicht. Wenn Sie an seinem Fall mitarbeiten wollen, sollten Sie sich bessere Manieren zulegen.»

«Nicht nötig. Meine Mitwirkung wird vom Eigentümer des Hauses ausdrücklich gewünscht.»

Jetzt war es D.D., die überrascht schien. Ihre blauen Augen verengten sich zu Schlitzen. «Von der Familie? Haben Sie mit Angehörigen gesprochen? Das würden wir nämlich auch gern tun. So schnell wie möglich.»

«Ich spreche nicht von der Familie. Als Eigentümer ist Justin Denbes Firma eingetragen. So regeln das viele erfolgreiche Unternehmer, wie ich mir habe sagen lassen.»

Detective Warren schaltete schnell. «Mist!»

«Heute Morgen gegen sechs», klärte Tessa sie auf, «wurde meine Agentur, Northledge Investigations, von Denbe Construction beauftragt, sich um alles zu kümmern, was mit dieser Immobilie zu tun hat. Ich bin autorisiert, das Haus zu betreten und unabhängige Ermittlungen durchzuführen. Wir könnten nun alle miteinander darauf warten, dass Sie in Ihrem Büro ein bestätigendes Fax vorfinden, oder aber Sie lassen mich endlich meine Arbeit tun. Wie ich schon diesem jungen Kollegen hier erklärt habe, hat Familie Denbe recht beeindruckende Beziehungen. Mit anderen Worten, Sie wären gut beraten, mich durchzulassen. Wir hätten Zeit gewonnen, und Sie könnten einfach mir die Schuld geben, wenn etwas schieflaufen sollte.»

D.D. schwieg und schüttelte den Kopf. Den Blick auf die Ziegelfassade gerichtet, schien sie sich um Fassung zu bemühen. Vielleicht holte sie aber auch nur zu einem neuen Angriff aus.

«Wie lange waren Sie bei der Polizei, Tessa?», fragte sie. «Vier, fünf Jahre?»

«Vier.»

D.D. blickte auf. Spöttisch wirkte ihre Miene nicht, vielmehr offen und unverstellt. «Und Sie sind ausschließlich Streife gefahren, nicht wahr? Das qualifiziert nicht unbedingt für einen solchen Fall», erklärte sie geradeheraus. «Oder haben Sie schon einmal Spuren gesichert, dazu noch an einem Tatort, der aus fünf Etagen besteht? Oder Verantwortung in einer vergleichbaren Situation übernommen? Wir haben es hier nicht mit Radarfallen oder Alkoholtests zu tun. Hier ist eine ganze Familie verschwunden.»

Tessa zeigte sich unbeeindruckt. «Ich weiß.»

«Wie geht es Sophie?», fragte D.D. unvermittelt.

«Gut, danke der Nachfrage.»

«Übrigens, mein Sohn heißt Jack.»

«Wie alt?»

«Elf Monate.»

Tessa lächelte unwillkürlich. «Er ist Ihnen wahrscheinlich schon so sehr ans Herz gewachsen, wie Sie es vorher nicht für möglich gehalten hätten, nicht wahr? Und mit jedem neuen Tag lieben Sie ihn mehr.»

D.D. hielt ihrem Blick stand. «Ja.»

«Habe ich Ihnen doch gleich gesagt.»

«Ich erinnere mich, Tessa. Und wissen Sie was? Ich bin immer noch der Meinung, dass Sie sich täuschen. Es gibt Grenzen, die man nicht überschreiten darf. Das hätten gerade Sie als Cop wissen müssen, und trotzdem haben Sie einen Menschen kaltblütig erschossen. Ob aus Liebe oder Hass – zu morden ist nie richtig.»

«Mutmaßlich», entgegnete Tessa kühl. «Ich habe mutmaßlich einen Menschen erschossen.»

D.D. krauste die Stirn. Mit weicher Stimme fuhr sie fort: «Aber … Sie haben Ihre Tochter zurück. Und wie Sie vorhergesehen haben, gibt es Tage, an denen ich meinen Sohn anschaue und … Ich weiß nicht. Wenn er in Gefahr geriete und ich um sein Leben fürchten müsste … Nun, ich will mich mit Ihnen nicht darüber streiten, ob das, was Sie getan haben, richtig oder falsch war. Sagen wir, ich kann Sie heute besser verstehen.»

Tessa blieb ungerührt. Bei einer Frau wie D.D. Warren kam so ein Statement fast einer Entschuldigung gleich. Umso mehr war Tessa auf der Hut vor dem, was von der Bostoner Polizistin jetzt noch kommen mochte.

Und tatsächlich: «Schön und gut, ich kann Sie nicht davon abhalten, das Haus zu betreten und unabhängige Ermittlungen durchzuführen, denn Sie haben offenbar die Erlaubnis des Eigentümers», konstatierte D.D. «Aber Sie werden doch hoffentlich unsere Arbeit respektieren, oder? Neil ist ein tüchtiger Detective und hat erfahrene Kollegen im Rücken. Und was die Spurenanalyse angeht, haben wir schon einen kleinen Vorsprung. Wenn zutrifft, was wir vermuten, hängt das Schicksal der Familie davon ab, dass wir den Fall so schnell wie möglich lösen.»

Tessa wartete einen Herzschlag lang ab. «So ein freundlicher Ton sieht Ihnen gar nicht ähnlich.»

«Und es sähe Ihnen nicht ähnlich, wenn Sie sich dumm verhielten.»

«Da haben Sie wohl recht.»

«Sind wir handelseinig?»

Die Sonne war ein gutes Stück gestiegen. Sie wärmte den gepflasterten Gehweg, beleuchtete die Fassade mit den cremefarbenen Fensterlaibungen und tastete mit ihren Strahlen durch die offene Eingangstür. Was für eine schöne Straße, dachte Tessa, und ausgerechnet hier hatte ein so scheußliches Verbrechen stattgefunden. Aber sie wusste besser als die meisten anderen, was selbst unter privilegierten Umständen, sogar in der Bostoner Elite, hinter verschlossenen Türen alles möglich war.

Sie setzte sich in Bewegung. «Ich komme Ihnen nicht in die Quere.»

«Ich sagte bereits, dass –»

«Ich will nur die Computer.»

«Warum?»

«Das erkläre ich Ihnen, wenn ich sie gefunden habe. Wir sollten keine Zeit mehr verlieren. Die Uhr läuft. Glückwunsch zu Ihrer neuen Familie, D.D.»

Detective Sergeant Warren folgte ihr. «Danke. Und Sie beglückwünsche ich zu Ihrem neuen Job. Ich nehme an, Sie schwimmen jetzt im Geld.»

«So ist es.»

«Dafür werden Sie wahrscheinlich jede Menge Überstunden machen müssen.»

«Zum Abendessen bin ich immer pünktlich zu Hause.»

«Aber Sie werden uns doch wohl vermissen, oder?»

«Oh, eigentlich nur meistens.»

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Kapitel 3

Der weiße Lieferwagen fuhr nach Norden, über den Storrow Drive auf die 93 und dann weiter auf der 95. Es war fast ein Uhr, und auf den Highways kam man am schnellsten voran.

Ein weißer Lieferwagen, der mit rund hundert Stundenkilometern durch Massachusetts fuhr, fiel nicht weiter auf. Der Fahrer entdeckte zwei Streifenwagen der Staatspolizei und tippte kurz auf die Bremse, wie es jeder vorsichtige Verkehrsteilnehmer tat, und beschleunigte dann wieder etwas. Nichts, worüber man sich wundern würde.

Um drei Uhr wurde zum ersten Mal haltgemacht, neben einer alten Autobahnraststätte, die schon seit Jahren geschlossen war. In der Mitte von nirgendwo gab es hier einen großen Parkplatz mit Schotterbelag, wie geschaffen für Trucker, die ein kurzes Nickerchen einlegen oder die Sträucher bewässern wollten. Vor allem war es ein Ort, der unbeachtet blieb, weil hier, so weit draußen, nichts Aufregendes passierte.

Das jüngste Mitglied der Mannschaft, ein Bursche, den sie Radar nannten, wurde nach hinten geschickt, um nach der Ladung zu sehen. Er ging um den Wagen herum und öffnete die Hecktür. Das Mädchen und die Frau rührten sich nicht, wohl aber der Mann. Er öffnete ein trübes Auge und richtete es benommen auf Radar. Plötzlich kam Bewegung in ihn. Es schien fast, als wollte er den Burschen angreifen. Aber die Spritze, die ihm gesetzt worden war, wirkte offenbar immer noch. Er kippte nach vorn, landete mit dem Gesicht auf der Gummimatte und blieb reglos liegen. Radar zuckte mit den Achseln und fühlte seinen Puls, holte dann eine bereits aufgezogene Spritze aus seinem Bereitschaftskoffer und stach sie dem Mann in den Oberarm. Er würde jetzt noch eine Weile still bleiben.

Radar vergewisserte sich bei allen dreien, dass sie noch gefesselt und die Klebestreifen auf den Mündern nicht verrutscht waren.

So weit, so gut. Er klappte seinen Koffer zu und machte sich daran, die Tür zu schließen, hielt aber inne. Warum, wusste er selbst nicht genau. Vielleicht, weil er wirklich gut war in seinem Job und über einen untrüglichen sechsten Sinn verfügte, dem er seinen Spitznamen verdankte. Er trug ihn seit seinem ersten Feldeinsatz, der etliche Länder, Jahre und Einheiten zurücklag. Aus welchem Grund auch immer stellte er den Koffer wieder ab, obwohl Z vom Fahrersitz aus laut zur Eile drängte. Unbeirrt setzte Radar seine Inspektion fort.

Handys, Autoschlüssel, Brieftaschen, Taschenmesser, iPods, iPads – alles, das zu irgendetwas hätte taugen können, war, zu einem kleinen Berg aufgehäuft auf der Kochinsel in der Küche des Bostoner Stadthauses, zurückgelassen worden. Radar fand die Vorsichtsmaßnahmen ein bisschen übertrieben, zumal sie sich lediglich um zivile Zielpersonen kümmern mussten, doch Z hatte ausdrücklich darauf bestanden. Der Mann, so war ihnen gesagt worden, sei durchaus ernst zu nehmen. Natürlich habe er nicht annähernd so viel drauf wie sie, aber er könne «sich ganz gut behaupten». Nur Idioten unterschätzten andere, und sie waren keine Idioten.

Gerade deshalb … Radar nahm sich zuerst das Mädchen vor. Sie stöhnte leise, als er sie abtastete, und er wurde rot, weil er sich wie ein Perversling vorkam, der ein minderjähriges Mädchen begrapschte. Kompartmentalisieren, verlangte er von sich, nicht denken, handeln! Als Nächstes kam die Frau an die Reihe. Es war ihm unangenehm, sie zu durchsuchen, doch er tröstete sich mit dem Gedanken, dass es für die Frau besser war, er filzte sie und nicht Mick. Als hätte Mick seine Gedanken erraten, drehte er sich auf dem Rücksitz um und richtete seine unheimlichen, hellblauen Augen auf ihn. Sie waren immer noch geschwollen und blutunterlaufen, was mit Sicherheit auf seine Laune abfärbte.

«Wird’s bald?», bellte Mick. «Was fummelst du an denen rum?»

«Da stimmt was nicht», murmelte Radar.

«Wie kommst du darauf?» Z, der Riese am Steuer, merkte auf. Sofort öffnete er die Tür, um auszusteigen.

«Ich weiß nicht», antwortete Radar und suchte weiter mit.

Mick, der Blonde, hielt den Mund. Er konnte den Jungen nicht leiden, kannte ihn aber lange genug, um zu wissen, dass seine Ahnungen ernst zu nehmen waren. Wenn Radar einen Verdacht hatte, lag er meistens richtig.

Z kam auf Radar zu. Trotz seiner massigen Gestalt bewegte er sich erstaunlich schnell, und in der mondlosen Nacht wirkte Z, immer noch ganz in Schwarz gekleidet, umso beängstigender.

«Was ist?», wollte er wissen.

Die Antwort lag auf der Hand, als sich Radar den Mann vorknöpfte. Ihre Mission hatte erst vor sechs Stunden begonnen, und schon war ihnen ein Fehler unterlaufen, einer, der sie teuer zu stehen kommen konnte. Er überlegte noch, was zu tun sei, als Z schon zur Tat schritt.

Bevor Radar mit den Augen blinzeln konnte, hatte der Riese ein Messer in der Hand. Er sprang zur Seite, um nicht über den Haufen gerannt zu werden, und schaute unwillkürlich weg.

Blitzschnell stach Z dreimal zu. Dann trat er einen Schritt zurück und betrachtete sein Werk. Er grunzte zufrieden und kehrte auf den Fahrersitz zurück. Radar, der Letzte in der Rangordnung, war selbstredend für die Entsorgung zuständig.

Mit flachem Atem schickte er sich an zu tun, was von ihm verlangt worden war. Nur gut, dass er dafür plädiert hatte, diesen entlegenen Rastplatz anzusteuern, und dass es stockdunkel war. Zum Glück sah er nicht einmal selbst, was er tat.

Als er fertig war, nahm er seinen Koffer von der Ladefläche. Kompartmentalisieren, schärfte er sich ein. Es war die oberste Maxime in seinem Gewerbe. Er schloss die Hecktür und weigerte sich, noch einmal hinzusehen.

Dreißig Sekunden später saß er wieder auf seinem Platz neben Mick.

Sie setzten ihre Fahrt durch die Nacht fort. Weißer Lieferwagen, Richtung Norden.

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Kapitel 4

Tessa betrat das Stadthaus mit gemischten Gefühlen. Sie war nervös und beklommen, weil zu befürchten war, dass ein Kind zu Schaden gekommen war, aber auch neugierig darauf zu erfahren, wie sich Multimillionäre in Boston so einrichteten. Um restaurierte alte Häuser in dieser Lage rankten sich Legenden, und auf den ersten Blick enttäuschte sie die Residenz der Denbes nicht. Tessa war beeindruckt von den zahllosen Quadratmetern polierten Parketts, den hohen Decken mit ihren Original-Zahnfriesen aus Gips und den schmuckvollen Holzarbeiten, die etliche Schreiner ein ganzes Jahr lang beschäftigt haben mochten.

Wie die meisten Bostoner Stadthäuser hatte das der Denbes einen relativ schmalen, aber dafür umso tieferen Grundriss. Das zwei Stockwerke hohe Foyer bildete die Bühne für einen riesigen Lüster – venezianisches Glas, wie sie vermutete – und einen elegant geschwungenen Treppenaufgang dahinter. Auf der linken Seite öffnete sich ein großer Raum mit einer prächtigen historischen Feuerstelle. Von diesem Raum ging in Richtung Hinterhaus eine Küche ab, die mit ihren Arbeitsflächen aus Granit, ihren Einbauschränken und High-End-Geräten auf dem allerneuesten Stand zu sein schien.

Kleinlich kann man das nicht nennen, dachte Tessa. Allerdings auch nicht ultramodern. Unerwartete Farbflecke setzten Akzente in der Gestaltung aus vornehmlich neutralen warmen Tönen. Zeitgenössische Kunst mischte sich auffällig mit antiken Möbeln. Die Einrichtung sollte nicht überwältigen, aber durchaus beeindrucken.

Weshalb die Szene im Foyer umso mehr verstörte.

Vor der rechten Wand, drei Schritte vom Eingang entfernt, hatte sich eine große, wässrige Pfütze aus Erbrochenem ausgebreitet. Konfetti. Hellgrüne winzige Teilchen, millionenfach, von denen jedes die Seriennummer des Tasers trug, der hier abgefeuert worden war. Eine Mordsarbeit, so etwas sauber zu machen, wusste Tessa aus Erfahrung, denn sie hatte in ihrer Ausbildung auch mit solchen Waffen zu schießen gelernt und war sogar selbst einmal Zielscheibe gewesen. Brandnarben an der Hüfte und am Fußgelenk zeugten davon.

Gelbe Beweismittelschildchen wurden gerade vor den Konfettiniederschlag, den Auswurf und vor dunkle Striemen auf dem Parkett gestellt, die darauf schließen ließen, dass jemand mit schwarzen Schuhabsätzen darüber geschleift worden war. Tessa bückte sich, um das Konfetti und die Schleifspuren zu inspizieren. Mit den Seriennummern auf den grünen Partikeln würde wahrscheinlich nichts anzufangen sein. Über sie ließ sich zwar, wie anhand der Spurrillen eines Geschosses, nachweisen, welche Waffe der Täter abgefeuert hatte, doch in Massachusetts waren Taser für den zivilen Gebrauch verboten. Der hier zum Einsatz gekommene musste also auf dem Schwarzmarkt und mit gefälschten Papieren erworben worden sein.

Die Schleifspuren interessierten sie mehr, obwohl sie nicht viel hergaben. Sie vermutete jedoch, dass sie von Halbschuhen mit schwarzer Sohle oder von Arbeitsstiefeln herrührten. Denen von Justin Denbe? Von seinen Angreifern? Der Katalog von Fragen, die sie sich stellte, wuchs an, und mit ihm ein Gefühl von Grauen.

Und plötzlich sah sie sich in ihre eigene Küche zurückversetzt, noch in Uniform und mit umgelegtem Dienstkoppel, den Trooper-Hut tief in die Stirn gezogen. Sie hatte ihre Sig Sauer langsam aus dem Holster gezogen und sie zwischen sich und ihrem Mann an der Hand baumeln lassen … Wen liebst du?

«Die Alarmanlage ist auf dem neuesten Stand der Technik», erklärte D.D. «Laut Auskunft der Haushälterin war sie allerdings nicht aktiviert, als sie heute Morgen um halb sechs ihre Arbeit antreten wollte. Statt durch den Haupteingang kommt sie immer von der Seite durch die Garage ins Tiefparterre. Justin Denbe ist angeblich sehr auf Sicherheit bedacht. Das Garagentor lässt sich nur öffnen, wenn man den richtigen Zahlencode eingibt. Ständig gesichert ist die Tür zum Keller. Das Garagentor war verschlossen, aber die Kellertür stand offen. Als sie die Treppe heraufkam, sah sie als Erstes die Kochinsel.»

Vorsichtig durchquerte D.D. den Eingangsbereich, achtete darauf, nicht in das Konfetti am Boden zu treten, und steuerte auf die Küche zu. Tessa folgte ihr ebenso behutsam.

Ihr eigenes Heim, das sie am frühen Morgen verlassen hatte – ein Dreihunderttausend-Dollar-Einfamilienhaus in einem Bostoner Arbeiterviertel –, wirkte eher bescheiden. Doch was damals in ihrer schlichten Küche passiert war und nun hier in dieser großbürgerlichen Pracht …

Gewalt, der große Gleichmacher. Sie scherte sich nicht um Geld und Status und suchte einen eines Tages einfach heim.

Die große Küche erstreckte sich bis zur Rückseite des Hauses. Sie war tipptopp in Ordnung und überraschend leer. Tessa warf D.D. einen flüchtigen Blick zu. Auf der Straße standen fünf bis sechs Polizeifahrzeuge, doch hier im Haus waren sie beide allein.

Doch dann musste sich Tessa korrigieren. Im Parterre waren sie allein. Unwillkürlich schaute sie nach oben unter die Decke. Was sie im Eingangsbereich gesehen hatte, war schlimm genug. Wie mochte es erst in den oberen Stockwerken aussehen, die all die Bostoner Detectives, die angerückt waren, in Beschlag nahmen?

«Schauen Sie mal.» D.D. zeigte auf die große Kochinsel.

Sie war mindestens zweieinhalb Meter lang und bestand aus grüngoldenem Granit, durch den sich wellengleich dunkelgraue Adern zogen. Mitten auf der blankpolierten Oberfläche häufte sich ein Durcheinander aus verschiedenen Gegenständen.

Tessa trat näher heran und zog ein paar Latexhandschuhe aus ihrer Manteltasche.

Sie identifizierte eine Handtasche aus braunem Leder, anscheinend ein italienisches Fabrikat. Smartphone. iPod. Eine Herrenbrieftasche. Ein weiteres Smartphone, zwei Schlüsselanhänger, der eine mit einem Mercedesstern, der andere zu einem Range Rover gehörig. Ein rotes Schweizer Taschenmesser, zusammengeklappt. Schließlich einen Lippenstift, hellrosa, ein Bündel Geldscheine und einen verbogenen Kaugummistreifen, noch eingewickelt in Silberpapier.

Die Handtasche gehörte der Frau. Dem Mann waren wohl die Brieftasche, das Taschenmesser und wenigstens eines der Smartphones zuzuordnen. Der eine Schlüsselbund ihrem Wagen, der andere seinem. Alles andere stammte wahrscheinlich von Ashlyn: iPod, Handy, Lippenstift, Geld, Kaugummi. Ziemlich genau das, worauf moderne Teenager nicht verzichten konnten.

Tessa hatte das Sammelsurium aus den Taschen einer wohlhabenden Familie vor Augen, wie als Opfergaben auf einem Altar zurückgelassen, nur dass es sich bei diesem Altar um eine Kochinsel handelte.

Wieder richtete sie ihren Blick auf D.D. und sah sich von ihr beobachtet.

«Die beiden Handys?», fragte Tessa.

«Drei. In der Handtasche ist noch eins. Von Libby. Mit dem Betreiber haben wir schon Kontakt aufgenommen. Er stellt eine Liste aller Anrufe und Textnachrichten zusammen, die während der letzten achtundvierzig Stunden ein- und abgegangen sind. Vorläufiges Ergebnis: Von der Familie hat niemand nach 22:00 Uhr vergangener Nacht angerufen. An Ashlyn sind nach diesem Zeitpunkt noch mehrere SMS von Freundinnen mit zunehmend besorgten Nachfragen gesendet, aber von ihr nicht beantwortet worden. Ihre letzte SMS wurde um 21:48 Uhr abgeschickt. Die letzte an sie gerichtete kam kurz nach Mitternacht; es war die vierte ihrer besten Freundin Lindsay Edmiston, die auf eine Antwort drängte.»

«Die Täter haben die Familie überrascht», sagte Tessa und stellte sich das Szenario vor. «Anderenfalls hätte jemand um Hilfe gerufen. Das Konfetti im Foyer lässt darauf schließen, dass Eltern und Tochter mit einem Taser außer Gefecht gesetzt wurden. Man hat sie wahrscheinlich gefesselt und ihnen die Taschen leer geräumt.»

«Raubüberfall?», fragte D.D.

«Nein», antwortete Tessa spontan. «Gewöhnliche Einbrecher hätten dieses Zeug nicht dort liegenlassen.»

Tessa fragte sich, ob die Opfer des Überfalls zu diesem Zeitpunkt bei Bewusstsein gewesen waren. Höchstwahrscheinlich. Von einem Taser getroffen zu werden war äußerst schmerzhaft. Ein Stromstoß durchzuckte den Körper des Geschädigten, befeuerte jedes einzelne Nervenende. Jedoch nur so lange, wie der Abzugshebel gedrückt gehalten wurde. Ließ man ihn los, versiegte der Energiefluss, und die Schmerzen klangen ab. Das Opfer war zwar noch eine Weile kampfunfähig, mochte aber noch auf den Beinen stehen.

Die meisten Polizisten zogen deshalb solche Waffen dem Einsatz von Pfefferspray vor. Pfefferspray machte selbst aus einem Riesen ein sabberndes Häufchen Elend, das der Officer dann in den Streifenwagen hieven musste. Mit einem Taser hingegen hatte man schon nach zwei oder drei kurzen Stromimpulsen die meisten Widersacher davon überzeugt, dass es für sie besser war, freiwillig im Streifenwagen Platz zu nehmen.

Eltern und Tochter waren also aller Wahrscheinlichkeit nach bei Bewusstsein gewesen. Gefesselt und ruhiggestellt, während die Täter ihre Taschen durchsuchten und alles, was sie darin fanden, auf die Kochinsel legten. Zumindest die Eltern waren sich wohl über das Ausmaß und die Folgen des Übergriffs im Klaren gewesen.

Definitiv kein Raubüberfall.

Es ging um etwas Persönliches, sehr viel Bedrohlicheres.

«Schön, dass Sie so genau hinschauen und nichts anfassen», lobte D.D. «Zum Dank möchte ich Sie in ein kleines Geheimnis einweihen.»

Tessa wartete. D.D. deutete auf die gefilzten Gegenstände.

«Darunter haben wir auch Familienschmuck gefunden. Einen Verlobungsring, Eheringe, Diamantenklunker, Goldreifen, zwei Ketten, eine Rolex. Meiner sehr konservativen Schätzung nach würde man für dies alles in jeder Pfandleihe mindestens hundert Riesen kriegen.»

«Scheiße», entfuhr es Tessa.

«So viel zum Thema Raubüberfall.»

«Na schön, erzählen Sie mir doch was über die elektronische Anlage, mit der das Haus gesichert ist.»

«Denbes Firma baut unter anderem Gefängnisse. Ein ähnliches System wie das, womit die Zellen gesichert werden, hat er in seinem Haus einbauen lassen. Die Türschlösser haben mehrere Stahlriegel und werden zentral gesteuert. Über einen Zahlencode verschließt oder öffnet man sämtliche Ein- und Ausgänge. Ich schätze, es lassen sich auch über bestimmte Codes einzelne Türen ansteuern, aber Genaueres weiß ich nicht. Natürlich sind auch alle Fenster und Türen alarmgesichert. Ein Wach- und Schließdienst ist in kürzester Zeit zur Stelle, wenn jemand einzudringen versucht.»

«Und diese Anlage war ausgeschaltet, als die Haushälterin um fünf Uhr dreißig kam?»

«Ja. Was ziemlich ungewöhnlich ist. Justin Denbe hat großen Wert darauf gelegt, dass die Anlage jederzeit funktioniert, egal, ob jemand zu Hause ist oder nicht.»

«Verständlich, in der Stadt kann man nie vorsichtig genug sein», kommentierte Tessa trocken. Sie kam zur nächsten logischen Frage: «Wer kannte die Codes?»

«Die Familienmitglieder, die Haushälterin und die Wach- und Schließgesellschaft.»

«Wie oft wurden sie gewechselt?»

«Monatlich.»

«Kann man die Anlage außer Kraft setzen? Indem man Drähte durchtrennt oder dergleichen?»

«Die Wachgesellschaft versichert, dass jeder Manipulationsversuch sofort Alarm auslöst. Es gibt sogar für den Fall einer technischen Panne zusätzliche Sicherheitsvorkehrungen. Doppelt ausgelegte Bewegungssensoren. Justin Denbe kennt sich aus und nutzt sein Know-how nicht zuletzt für seinen privaten Bereich. Wie dem auch sei, bei der Wachgesellschaft ist kein Alarm eingegangen. Wer sich Zutritt zum Haus verschafft hat, wusste offenbar genau, was zu tun ist.»

«Sie sagten, die Haushälterin betrete das Haus immer durch die Garage», erinnerte Tessa. «Wie ist es mit der Familie?»

«Wenn sie zu Fuß unterwegs sind, nutzen sie den Haupteingang. Kommt Libby mit dem Wagen, stellt sie ihn in der Garage ab und geht auf geradem Weg durch den Keller. Die Eheleute hatten sich laut Auskunft der Haushälterin zum Dinner verabredet, und in solchen Fällen fährt immer er.»

«Er parkt seinen Wagen aber nicht in der Garage, stimmt’s?»

«Nein. Da haben sie nur einen Stellplatz, den er, wie ich vermute, galanterweise ihr überlässt. In der Nähe gibt es noch einen reservierten Platz an der Straße, gleich um die Ecke, doch den nutzt immer die Haushälterin. Weil er oft unterwegs ist, stellt er seinen Wagen meist in der Parkgarage seiner Firma ab und lässt sich bringen oder abholen. Manchmal versucht er wie jedermann sonst auch, eine Lücke vorm Haus zu finden.»

«Und das Mädchen, Ashlyn? Wo war sie?»

«Hier, im Haus. Sie hatte sturmfreie Bude.»

Tessa dachte nach. «Sie war also zu Hause. Die Eltern kommen zurück, kommen zur Tür herein … Der Angreifer erwartet sie bereits und fällt im Eingangsbereich über sie her.»

«Der oder die Angreifer?»

«Vermutlich mehrere. Für einen dürfte es kaum möglich sein, mit einem Taser die ganze Familie in Schach zu halten. Und Justin ist ein Bär von Mann. Mein Chef sagt, er weiß anzupacken.»

«Ja», bestätigte D.D. «Er ist groß und sehr fit.»

«Also Angreifer im Plural. Mindestens zwei, die im Eingangsbereich die Eltern überrascht haben. Fragt sich, wo das Mädchen war.»

«Um wen würden Sie sich als Kidnapper als Erstes kümmern, um die Eltern oder das Kind?»

«Das Kind», antwortete Tessa sofort. «Mit ihm haben Sie auch die Eltern in Ihrer Gewalt.»

«Genau. An der Stelle haben die Einbrecher ihren ersten Fehler gemacht. Das Zimmer des Mädchens liegt im zweiten Stock. Kommen Sie.»

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Kapitel 5

Mein Vater starb an meinem elften Geburtstag. Sooft ich an ihn denke, liegt mir der Geschmack von Duncan Hines’ Yellow Cake mit Buttercreme und bunten Schokostreuseln im Mund. Ich rieche das heiße Wachs der Kerzen, die, dicht gedrängt auf den runden, schiefen Kuchen gesteckt, zwei Einsen bildeten. Und ich höre, um ganz genau zu sein, die Melodie von «Happy Birthday», einem Lied, das ich nie für mein Kind oder meinen Mann gesungen habe und nie singen werde.

Es war ein Motorradunfall, wie sich herausstellte. Mein Vater hatte keinen Helm getragen.

Meine Mutter sprach von gerechtem Schicksal, aber ihre blauen Augen waren schon zu diesem Zeitpunkt stumpf, ihre Gesichtszüge von einer tiefen Traurigkeit geprägt. Sie bot mir das erste Beispiel dafür, dass man jemanden hassen und gleichzeitig fürchterlich vermissen konnte.

Einen Elternteil zu verlieren bringt große finanzielle Probleme mit sich. Mein Vater hatte als Elektriker gearbeitet, meine Mutter als Teilzeitkraft in einer chemischen Reinigung. Ihr Einkommen sicherte uns einen bescheidenen Lebensstandard. Wir bewohnten ein nettes kleines Apartment in einem Arbeiterviertel von Boston. Meine Mutter fuhr einen klapprigen Gebrauchtwagen, mein Vater leistete sich sein Wochenend-Motorrad. Unsere Kleidung kauften wir bei J.C. Penney oder, wenn meine Mutter in verschwenderischer Laune war, bei T.J. Maxx. Darüber, nichts zu essen oder kein Dach über dem Kopf zu haben, brauchte ich mir keine Sorgen zu machen. Meine Freundinnen stammten aus demselben Milieu, und wenn ich auch nicht viel hatte, hatte ich doch immerhin so viel wie sie.

Leider reicht das Einkommen von kleinen Leuten gerade mal zur Deckung der monatlichen Grundkosten. Ein bisschen was auf die hohe Kante zu legen ist natürlich nicht drin. Ganz zu schweigen von dem Luxus einer Lebensversicherung.

Mit dem Tod meines Vaters büßten wir, meine Mutter und ich, siebzig Prozent des verfügbaren Geldes ein. Die Sozialversicherung zahlte eine kleine Witwen- und Waisenrente, die aber bei weitem nicht ausreichte. Meine Mutter musste Vollzeit arbeiten und nebenbei auch noch putzen gehen, damit wir genug auf dem Tisch hatten. An zwei Abenden in der Woche und an den Wochenenden half ich ihr beim Staubsaugen von Büroetagen.

Von unserem hübschen kleinen Apartment mussten wir uns trotzdem trennen und vorliebnehmen mit einer Zweizimmerwohnung in einer großen, seelenlosen Mietskaserne, für die es einen staatlichen Zuschuss gab und als Bonus rund tausend Kakerlaken pro Bewohner. Abgefeuerte Schusswaffen gehörten zur nächtlichen Geräuschkulisse. Freitagabends drehte meine Mutter den Gasherd hoch, und ich stand mit einer Dose Insektenspray in Bereitschaft. Zwei bis drei Dutzend Kakerlaken blieben jedes Mal auf der Strecke, und danach feierten wir unseren Erfolg vor einem kleinen Schwarz-Weiß-Fernseher mit einer weiteren Folge von Seinfeld.

Gute Zeiten im Rahmen der neuen Weltordnung.

Ich hatte Glück. Meine Mutter hielt sich wacker. Nie überließ sie sich der Hoffnungslosigkeit, jedenfalls nicht vor meinen Augen. Manchmal aber hörte ich sie nachts im Bett schluchzen – sozialer Wohnungsbau hat bekanntlich dünne Wände. Kummer, Erschöpfung, Stress. Sie hatte die volle Dreierpackung zu verkraften, schaffte es aber jeden Morgen, aufzustehen und klaglos den Kampf ums Überleben fortzusetzen.

In der High School entdeckte ich die Kunst für mich. Meine Kunstlehrerin Mrs. Scribner war eine tolle Frau, die bunte Schlabberröcke und jede Menge Silber- und Goldreifen an den Handgelenken trug, eine Zigeunerin, die sich nach Boston verirrt zu haben schien. Die Schüler lästerten ständig über sie. Aber wer ihren Unterrichtsraum betrat, fühlte sich sofort in eine andere Welt versetzt. Die kalkweißen Wände hingen voller Seerosen nach Monet, Sonnenblumen nach van Gogh, Pollock’schen Drippings und schmelzenden Dalí-Uhren. Farben, Blumen, Formen, Muster. Die schäbigen Flure, verbeulten Spinde und stockfleckigen Decken einer unterfinanzierten öffentlichen Schule waren vergessen. Ihr Klassenzimmer wurde zu unserem Refugium, und wir fanden darin tatsächlich den Mut, befeuert von ihrer Begeisterung, auf die Suche nach Schönheit zu gehen in einer Realität, die für die meisten von uns sehr bitter und für viele tragisch kurz war.

Als ich meiner Mutter sagte, dass ich gern Kunst auf dem College studieren würde, rechnete ich damit, auf herbe Ablehnung zu stoßen. Kunst, was soll man damit anfangen? Mach doch lieber was Praktisches, eine kaufmännische Lehre. Damit verdienst du später Geld, kannst dieses Elend hier hinter dir lassen. Oder wie wär’s mit einem Job in der Werbung, wenn du unbedingt kreativ sein möchtest. Werbegrafikerin, das wäre doch was. Du willst dich doch nicht ein Leben lang fragen müssen, ob du dir einmal in der Woche Pommes leisten kannst?

Aber Mrs. Scribner redete ihr gut zu. Nicht etwa, indem sie mir Talent bescheinigte, das gefördert werden müsse, oder von Träumen sprach, die verwirklicht werden sollten. Stattdessen machte sie sie auf eine Anzahl von Stipendien aufmerksam. Geschenktes Geld war zu diesem Zeitpunkt der Schlüssel zum Herzen meiner Mutter. Ich studierte also, versuchte mich an Gemälden und an Bildhauerei, lernte die unterschiedlichsten Techniken und Materialien kennen und kam dann irgendwann zufällig mit Silberknete zum Herstellen von Schmuck in Berührung, womit ich Kunst und Gewerbe unter einen Hut bringen konnte. Das gefiel auch meiner Mutter, denn Schmuck war etwas, das sich gut verkaufen ließ, nicht zuletzt an die Leute, für die sie putzte.

Ich war noch nicht lange auf dem College, als bei meiner Mutter Krebs diagnostiziert wurde. Gerechtes Schicksal, murmelte sie und blickte traurig, aber sehnsuchtsvoll auf ihre Zigarettenpackung. Von den Therapiemöglichkeiten, die sich anboten, ließ sie sich auf keine ernsthaft ein. Ich glaube, sie trauerte immer noch um meinen Vater. Ich glaube, sie wollte ihn nach neun Jahren endlich wiedersehen.

In meinem zweiten Studienjahr musste ich sie beerdigen. Ich war zwanzig Jahre alt und plötzlich ganz auf mich gestellt, ausgestattet mit einem Stipendium und dem unwiderstehlichen Drang, der Welt, wie sie war, etwas Schönes abzugewinnen.

Ich kam zurecht. Wenn meine Eltern mir etwas beigebracht hatten, dann die Härten des Lebens mit Fassung zu ertragen. Dann lernte ich Justin kennen. Er staunte über meine Belastbarkeit und Ausdauer, sah aber auch, wie verletzlich ich war. Ich arbeitete fleißig, ließ mir aber von ihm helfen. Dass er selbst offenbar das Verlangen hatte, hundert Stunden in der Woche zu arbeiten, akzeptierte ich, denn auch er ließ mich arbeiten, so viel ich es wollte, so viel ich es brauchte. Nie hätte ich auch nur im Traum darauf gehofft, von einem Märchenprinzen gerettet zu werden, an dessen Seite ich ein unbeschwertes Leben würde verbringen können.

Und doch … Ich verliebte mich bis über beide Ohren. Und wenn mir dieser starke, gut aussehende, unglaublich hart arbeitende Kerl die Welt zu Füßen legen wollte – wieso hätte ich das ablehnen sollen?

Es stimmte einfach alles zwischen uns. Wir liebten uns, hatten Respekt für- und jede Menge Lust aufeinander. Bald bezogen wir unser Bostoner Stadthaus und pflegten einen Lebensstil, der alles übertraf, was ich mir bis dahin hatte vorstellen können.

Und dann hatten wir Ashlyn.

Noch verrückter als auf meinen Mann war ich auf unsere Tochter. Mir schien es, als hätte sich mein ganzer Lebensweg auf diesen Moment hin entwickelt, auf mein Meisterwerk, meine größte Leistung, dieses winzige, überaus kostbare Bündel Mensch.

Als sie nach der Entbindung eingewickelt auf meiner Brust lag, streichelte ich ihre runden Wangen und versprach ihr alles Glück der Welt. Es sollte ihr an nichts mangeln, nicht an Nahrung, Kleidung, Sicherheit und Liebe. Sie sollte nicht ihr Leben lang verfolgt werden vom Geschmack eines Geburtstagskuchens und dem Geruch schmelzenden Kerzenwachses. Sie sollte auch niemals nachts mit dem Geräusch von Schießereien einschlafen oder vom Schluchzen ihrer Mutter geweckt werden.

Für sie sollte immer die Sonne scheinen, versprach ich ihr, sollten der Horizont unendlich weit und die Sterne in greifbarer Nähe sein. Ihre Eltern würden sie bedingungslos lieben und ihr jeden Wunsch erfüllen.

Dies und mehr versprach ich meinem Kleinod an seinem ersten Tag auf der Erde.

Damals, als mein Mann und ich uns noch liebten, war ich überzeugt davon, dass wir, wenn nötig, Berge versetzen konnten.

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Kapitel 6

Im ersten Obergeschoss setzte sich der elegant geschwungene Aufstieg als einfache U-Treppe fort. D.D. und Tessa stiegen hinauf in den zweiten Stock.

Auch dort waren keine Detectives zu sehen, nur eine Unmenge gelber Schildchen, von denen die meisten Schuhspuren zu markieren schienen. Sie mussten, wie Tessa glaubte, von den Einbrechern stammen, denn eine gute Haushälterin hätte sie längst entfernt oder sogar von Anfang an verlangt, dass man Schuhe mit schwarzen Sohlen am Eingang auszieht.

«Es gibt einen Fahrstuhl», sagte D.D.

«Tatsächlich?»

«Von der Tiefgarage bis rauf zum Dachgarten. Versteckt hinter den schönen Holztüren, die man auf jedem Treppenabsatz sieht. Das sind Attrappen, die zur Seite gleiten, wenn man den Knopf drückt. Ich wette, Mrs. Denbe nutzt ihn, wenn sie vom Yoga nach Hause zurückkommt.»

Tessa sagte nichts. Klar, dass ein Hundert-Millionen-Dollar-Unternehmen seine Vorzüge hatte.

«Übrigens befinden sich im Keller außerdem ein beachtliches Weinlager, ein eingebauter Waffenschrank und eine kleine Einliegerwohnung für das Au-pair-Mädchen. Weinlager und Waffenschrank sind verschlossen, die Wohnung nicht, scheint aber ebenfalls nicht betreten worden zu sein.»

«Haben die Denbes ein Au-pair-Mädchen?»

«Nicht mehr. Sie hatten wohl eins, als Ashlyn jünger war. Zurzeit gibt es nur die Haushälterin, Dina Johnson, aber die wohnt nicht im Haus. Hat ihre eigene Wohnung.»

«Ordentlich Platz für drei Personen», bemerkte Tessa. «Ich würde sagen, auf jedes Familienmitglied kommen mindestens zweihundert Quadratmeter. Wie finden die da noch zueinander?»

D.D. zuckte mit den Achseln. «Vielleicht sind weite Wege gut für den Haussegen.»

«Sophie kommt immer noch zu mir ins Bett gekrochen», hörte sich Tessa sagen.

«Wirklich? Ich wäre froh, wenn Jack überhaupt schlafen würde. Anscheinend erfüllt er einen Fünfjahresplan.»