Das zweite Opfer - Lisa Gardner - E-Book

Das zweite Opfer E-Book

Lisa Gardner

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Beschreibung

Ich bin auf der Suche nach einem kleinen Mädchen. Ich muss sie retten. Aber vielleicht gibt es sie gar nicht … Eigentlich hätte Nicky Frank den Autounfall nicht überleben dürfen. Doch ein Gedanke verleiht ihr die Kraft der Verzweiflung: Vero. Wurde das Mädchen beim Aufprall aus dem Wagen geschleudert? Sergeant Wyatt Foster und sein Team finden allerdings keine Spur von einem zweiten Opfer. Die Ermittler stehen vor einem Rätsel: Existiert Vero nur in Nickys Phantasie? Und was hat es mit Nickys angeblicher Hirnverletzung auf sich, zu deren Einzelheiten ihr Ehemann Thomas beharrlich schweigt? Als Wyatt ihn genauer befragen will, ist er plötzlich verschwunden. Das Haus der Franks steht in Flammen. Und dann treffen die Ergebnisse der Spurensicherung ein: Die Fingerabdrücke im Auto gehören zu Veronica Sellers, als Sechsjährige entführt und seit 30 Jahren vermisst – Vero …

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Seitenzahl: 535

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Lisa Gardner

Das zweite Opfer

Thriller

Aus dem Englischen von Bettina Zeller

Ihr Verlagsname

Über dieses Buch

Ich bin auf der Suche nach einem kleinen Mädchen. Ich muss sie retten. Aber vielleicht gibt es sie gar nicht …

 

Eigentlich hätte Nicky Frank den Autounfall nicht überleben dürfen. Doch ein Gedanke verleiht ihr die Kraft der Verzweiflung: Vero. Wurde das Mädchen beim Aufprall aus dem Wagen geschleudert?

Sergeant Wyatt Foster und sein Team finden allerdings keine Spur von einem zweiten Opfer. Die Ermittler stehen vor einem Rätsel: Existiert Vero nur in Nickys Phantasie? Und was hat es mit Nickys angeblicher Hirnverletzung auf sich, zu deren Einzelheiten ihr Ehemann Thomas beharrlich schweigt? Als Wyatt ihn genauer befragen will, ist er plötzlich verschwunden. Das Haus der Franks steht in Flammen. Und dann treffen die Ergebnisse der Spurensicherung ein: Die Fingerabdrücke im Auto gehören zu Veronica Sellers, als Sechsjährige entführt und seit 30 Jahren vermisst – Vero …

Über Lisa Gardner

Lisa Gardner gehört zu den erfolgreichsten amerikanischen Thrillerautoren der Gegenwart – jeder ihrer Romane schaffte es in die Top Ten der New-York-Times-Bestsellerliste. Die Autorin lebt mit ihrer Familie und zwei Hunden in New Hampshire.

Kapitel 1

Ich bin schon einmal gestorben.

Soweit ich mich überhaupt an etwas erinnern kann, dann an starken, stechenden Schmerz, gefolgt von totaler Erschöpfung. Ich spürte das überwältigende Bedürfnis, mich hinzulegen, das weiß ich noch genau. Ich wollte es endlich hinter mir haben. Stattdessen setzte ich mich gegen den Schmerz, die Erschöpfung, das schrecklich helle Licht zur Wehr. Ich kämpfte mich ins Reich der Lebenden zurück.

Für Vero. Weil sie mich brauchte.

Was hast du nur getan?

Ich bin plötzlich schwerelos. Ganz entfernt wird mir klar, dass das falsch ist. Autos sollten nicht schwerelos sein; ein luxuriöser SUV ist nicht fürs Fliegen gemacht. Dann rieche ich etwas Scharfes, Beißendes. Alkohol. Whisky. Glenlivet, um genau zu sein. Für mich kam immer nur der gute Stoff in Frage.

Was hast du nur getan?

Da ich schon durch die Luft fliege und womöglich gleich ein weiteres Mal sterbe, möchte ich laut schreien, doch aus meiner Kehle dringt kein Laut. Ich starre durch die lädierte Windschutzscheibe, der stockfinsteren Nacht entgegen. Es regnet.

Wie in jener anderen Nacht. Bevor …

Was hast du nur getan?

Fliegen ist gar nicht so übel. Das Gefühl ist angenehm, geradezu berauschend. Man lässt die Schwerkraft, die Last des Daseins hinter sich. Ich sollte die Arme heben, sie ausbreiten und den nahenden zweiten Tod willkommen heißen.

Vero.

Die bildhübsche kleine Vero.

Und dann …

… rächt sich die Schwerkraft. Das Auto schlägt mit lautem Krachen auf, jäh ist es um die vermeintliche Schwerelosigkeit geschehen. Mein eben noch schwebender Körper wird wie eine Stoffpuppe gegen das Lenkrad, das Armaturenbrett, die Schaltung geschleudert. Glas springt. Scherben regnen auf mein Gesicht.

Starker, stechender Schmerz, gefolgt von totaler Erschöpfung. Ich will mich hinlegen. Ich will, dass es vorbei ist.

Vero, denke ich.

Und dann: O Gott, was habe ich nur getan?

Mein Gesicht ist nass. Mit der Zunge fahre ich mir über die Lippen, schmecke Wasser, Salz, Blut. Ich hebe schwerfällig den Kopf. Schmerz explodiert hinter meinen Schläfen. Ich zucke zusammen, lege automatisch das Kinn auf die Brust und bette meine gepeinigte Stirn auf das harte Plastik. Das Lenkrad drückt mir gegen den Brustkorb, mein Bein ist merkwürdig verdreht, und mein Knie klemmt unter dem ramponierten Armaturenbrett. Ich bin gestürzt, denke ich, und kann nicht aufstehen.

Ich höre Gelächter. Oder vielleicht Jammern. Es klingt merkwürdig. Hoch, anhaltend und leicht irr.

Es stammt von mir.

Es wird zunehmend feucht. Regen dringt in den Wagen. Oder bin ich ausgestiegen? Keine Ahnung. Whisky. Der Gestank ist so schlimm, dass ich mich am liebsten übergeben möchte. Meine Kleidung scheint alkoholgetränkt zu sein. Da bemerke ich die vielen Glasscherben um mich herum: die Überreste einer Flasche.

Ich sollte etwas tun. Aussteigen. Jemanden anrufen. Irgendetwas.

Mein Kopf tut so verdammt weh. Vor meinen Augen tanzen weiße Blitze am samtschwarzen Himmel.

Vero.

Ein Wort. Es steigt in mein Bewusstsein auf. Es erdet mich, führt mich, spornt mich an. Vero, Vero, Vero.

Ich rühre mich. Versuche mich aus dem Sitz zu schälen. Mein Jammern wird zum Schrei. Offenbar ist der Audi auf der Schnauze gelandet, und da ich stark nach vorne geneigt sitze, befindet er sich anscheinend noch in Schräglage. Ich mühe mich ab, dem schmalen Spalt zwischen Fahrersitz, Lenkrad und Armaturenbrett zu entkommen.

Der Airbag hat sich um meine Arme, mein Hände gewickelt. Frustrierte Schreie, Kampf und gestammelte Flüche. Aber die blinde Wut lässt meinen Adrenalinspiegel ansteigen und vertreibt immerhin die erdrückende Müdigkeit. Zurück bleibt nur der bodenlose, grauenhafte Schmerz, dem ich mich, das weiß ich jetzt, nicht hingeben darf. Ich zwänge mich seitlich zwischen Fahrersitz und Armaturenbrett hervor, dann sacke ich vor Erschöpfung keuchend auf der Mittelkonsole zusammen. Beine funktionieren noch. Arme auch.

Mein Kopf brennt wie Feuer.

Vero.

Rauch. Ist das Rauch? Im Nu verspüre ich Panik. Rauch, Schreie, Feuer. Rauch, Schreie, Feuer.

Lauf!

Nein. Ich reiße mich zusammen. Rauch gab es nur beim ersten Mal. Wie oft kann eine Frau sterben? Keine Ahnung. In meinem Kopf vermischt sich alles, der Geruch von feuchter Erde mit der Hitze der Flammen. Beides steht für sich und ist doch irgendwie miteinander verbunden. Ich bin tot. Nein, ich sterbe nur. Ich bin gestorben. Zum ersten Mal, zum zweiten Mal, zum dritten Mal?

Ich steige nicht mehr durch.

Nur eins ist wichtig, seit jeher: Ich muss Vero retten.

Rücksitz. Ich verdrehe mich. Zuerst stoße ich mir das linke, dann das rechte Knie, schreie wieder. Scheiß drauf. Mir egal. Rücksitz. Ich muss auf den Rücksitz krabbeln.

Ich taste im Dunkeln umher, lecke mir Regentropfen und Schlammspritzer von den Lippen und registriere die Schäden. Windschutzscheibe und Glasschiebedach sind kaputt, was den Regen im Inneren erklärt. Mein wundervoller, recht neuer und luxuriöser Audi Q5 Crossover SUV ist deutlich gestaucht. Die Front hat die Wucht des Aufpralls am stärksten abbekommen. Fahrer- und Beifahrertür sind so verzogen, dass sie sich nicht öffnen lassen. Der hintere Teil wirkt hingegen vergleichsweise intakt.

«Vero, Vero, Vero.»

Verwundert stelle ich fest, dass ich Handschuhe trage oder zumindest getragen habe. Das Glas hat sie in große blutige Fetzen zerschreddert, die jede Handbewegung erschweren. Nacheinander zerre ich sie herunter und stecke sie gewissenhaft in meine Hosentasche. Ich kann sie nicht einfach auf den Boden werfen und den Wagen vermüllen. Ich liebe meinen Wagen – oder habe ihn geliebt?

Mein Kopf tut so höllisch weh. Am liebsten möchte ich mich zusammenrollen und schlafen, einfach nur noch schlafen.

Aber nein. Das geht nicht – wegen Vero.

Obwohl mich jede Bewegung große Überwindung kostet, taste ich nach links und rechts, fingere im Dunkeln herum. Aber ich finde nichts. Niemanden. Zuerst suche ich die Rückbank ab, dann, stärker zitternd, den Boden. Weit und breit keine Spur von einem Kinderkörper.

Was, wenn … Wurde sie aus dem Fahrzeug geschleudert? Hat der Wagen versucht zu fliegen und Vero vielleicht auch?

Mami, schau her. Ich bin ein Flugzeug.

Was habe ich getan, was habe ich getan, was habe ich nur getan?

Ich muss mich befreien. Koste es, was es wolle. Alles andere ist nebensächlich. Dort draußen, in der Dunkelheit, im Regen, im Matsch ist etwas. Vero. Ich muss sie retten.

Auf den Ellbogen robbe ich auf die Rückbank, mache eine Vierteldrehung und nähere mich der Tür hinter dem Fahrersitz. Sie klemmt. Ich zerre am Griff, beschmiere ihn mit Blut, stemme mich gegen die Tür. Weine, bettle und flehe – vergeblich. Sie gibt nicht nach. Der Unfall, die Kindersicherung. Scheiße!

Ein letzter Fluchtweg bleibt mir noch. Ein Stück weiter hinten befindet sich der Kofferraum. Wieder setze ich mich in Bewegung, im Schneckentempo. Die Kopfschmerzen lösen Übelkeit aus. Obwohl ich das Gefühl habe, mich gleich übergeben zu müssen, lasse ich mich nicht beirren. Wenn ich Vero finden will, muss ich hier raus.

Die wässrige Flüssigkeit, die ich erbreche, riecht nach teurem Single Malt und einer langen Nacht voller Gewissensbisse.

Ich krieche durch die widerliche Lache, krabbele ein Stück weiter und stelle erleichtert fest, dass die Kofferraumklappe beim Aufprall aufgesprungen ist.

Ich drücke sie nach oben. Meine geprellten – gebrochenen? – Rippen zwingen mich, die Strategie zu ändern. Ich schiebe mich über den Rand der Öffnung und lande bäuchlings auf dem Boden. Die weiche, regennasse Erde dämpft meine Landung. Ich drehe mich auf den Rücken. Die Schmerzen, die Strapazen und meine ausweglose Lage nehmen mir den Atem.

Rain, rain, go away, come back some other day.

Mami, schau her. Ich bin ein Flugzeug.

Wieder spüre ich diese Müdigkeit, diese totale Erschöpfung. Eigentlich könnte ich hier einfach liegen bleiben. Hilfe wird kommen. Jemand, der den Unfall gesehen, den Aufprall gehört hat. Ein Autofahrer, der hier vorbeikommt. Oder jemand wird mich suchen. Jemand, dem ich etwas bedeute.

Vor meinem geistigen Auge taucht das Gesicht eines Mannes auf, aber ehe ich es erkennen kann, löst es sich in Luft auf.

«Vero», flüstere ich in den fallenden Regen, in die durchweichte Erde, in die sternenlose Nacht.

Der Geruch von Rauch, denke ich, ohne mich zu rühren. Die Hitze der Flammen. Nein, das war beim ersten Mal. Konzentriere dich, verdammt. Konzentriere dich!

Ich wälze mich wieder auf den Bauch und krieche vorwärts.

Die Straße liegt weit oben. Matsch, Grasbüschel, knorrige Büsche und scharfkantige Felsen trennen mich von meinem Ziel. In der Ferne, hoch über meinem Kopf, rauschen Autos vorbei wie exotische Käfer. Während ich auf dem Bauch Zentimeter um Zentimeter zurücklege, schwant mir, dass die Fahrzeuge zu weit weg sind. Sie sind oben, ich bin unten. Die Fahrer können mich nicht sehen. Keiner wird anhalten und mir helfen, Vero zu finden.

Drei, fünf, acht, zehn Zentimeter. Mir stockt der Atem, als ich gegen einen Felsen stoße, und ich fluche, als ich mich in einem Busch verfange. Meine zitternden Finger schieben sich nach vorn, tastend, suchend, während mein Kopf mich in den blanken Wahnsinn treibt. Ich muss mehrfach eine Pause einlegen und aufsteigenden Gallensaft ausspucken.

Vero.

Und dann: O Nicky, was hast du getan?

Wieder höre ich dieses Jammern, aber ich lasse mich davon nicht aufhalten. Ich will nicht wahrhaben, dass ich diese Laute von mir gebe, wie ein gequältes Tier.

Keine Ahnung, wie lange ich durch den glitschigen Schlamm robbe. Als ich den Hügelgrat erreiche, bin ich vom Scheitel bis zur Sohle von einem schwarzen Schlammfilm überzogen. Das amüsiert mich mehr, als dass es mich stört. Wie überaus passend, denke ich. Ich sehe aus, wie ich aussehen sollte.

Wie eine Frau, die aus dem Grab gestiegen ist.

Lichter. Zwei Nadelstiche, die näher kommen. Ich stütze mich auf Hände und Knie, damit der Autofahrer mich sehen kann. Da meine Rippen mich nicht mehr allzu sehr peinigen, gelingt mir der Vierfüßlerstand ohne größere Probleme. Mein Körper fühlt sich mittlerweile vollkommen taub an. Die Kopfschmerzen überlagern alle anderen Empfindungen.

Vielleicht bin ich schon tot. Vielleicht sehen so die Toten aus, denke ich, während ich einen Fuß vorschiebe und mich langsam aufrichte.

Bremsen quietschen. Das sich nähernde Fahrzeug gerät kurz ins Schlingern. Wie durch ein Wunder kommt der Wagen direkt vor meiner erhobenen Hand und meinem regennassen Gesicht zum Stehen.

«Heilige Sch…» Ich erhasche einen kurzen Blick auf einen älteren, sichtlich schockierten Mann. Zögerlich steigt er aus und richtet sich zu voller Größe auf. «Ma’am, sind Sie in Ordnung?»

Ich sage kein Wort.

«Hatten Sie einen Unfall? Wo ist Ihr Wagen? Ma’am, soll ich den Rettungsdienst rufen?»

Ich sage kein Wort.

Ich denke nur: Vero.

Schlagartig erinnere ich mich. Ich erinnere mich an alles. An eine gewaltige Explosion aus Licht, Grauen und Wut. An einen stechenden Schmerz in meinem Kopf und auch in meinem Herzen. Und da wird mir bewusst, wer ich bin: das Monster, das unter dem Bett lauert.

Der Mann mir gegenüber weicht mit einem kleinen Schritt vor mir zurück, als könnte er meine Gedanken lesen.

«Ähm … bleiben Sie da stehen, Ma’am. Einfach … ich werde, ähm, ich werde Hilfe rufen.»

Er verschwindet im Innern seines schwach beleuchteten Wagens. Wortlos und leicht schwankend stehe ich im Regen.

Ein letztes Mal denke ich: Vero.

Dann ist der Moment verstrichen, die Erinnerung erloschen.

Und ich bin nur noch eine Frau, die zwei Mal von den Toten auferstanden ist.

Kapitel 2

Der Anruf ging kurz nach fünf Uhr morgens ein: Autounfall ohne Fremdeinwirkung, bei dem ein einzelnes Fahrzeug von der Straße abgekommen war. Ob es Verletzte gab, wurde nicht gemeldet. Da es in der betreffenden Ortschaft keinen Polizisten gab, der Nachtschicht schob – willkommen im einsamen New Hampshire –, wurde die Angelegenheit der Country Patrol übertragen. Officer Todd Reynes traf erst fünfzehn Minuten später vor Ort ein – abermals willkommen im einsamen New Hampshire oder, genauer gesagt, auf den langen, kurvenreichen Nebenstraßen, die nie direkt von A nach B führen. Die Sanitäter mühten sich gerade, eine schlammverkrustete, blutüberströmte Frau auf eine Trage zu hieven. Die Fahrerin, wurde Todd gesagt, war schwer verletzt und stank dermaßen nach Alkohol, dass jeder, der neben ihr stand, Gefahr lief, ebenfalls blau zu werden.

In der Nähe wartete der ältere Herr, der die Frau entdeckt und die Notrufzentrale informiert hatte. Er hielt sich etwas abseits und nickte Officer Reynes kurz zu. Der Mann schien nur darauf zu warten, eine Aussage machen und unterschreiben oder was auch immer tun zu können, um ganz offiziell mit einem Ereignis abzuschließen, von dem er lieber Abstand nehmen wollte.

Officer Reynes nickte zurück. Er kannte den Ablauf in- und auswendig: Die Sanitäter würden die betrunkene Fahrerin jeden Augenblick abtransportieren, und das ramponierte Fahrzeug würde auf dem nächsten Schrottplatz landen. Ende der Geschichte.

In dem Moment bekam die regennasse, schlammverschmierte und blutüberströmte Frau eine Klettverschlussfixierung zu fassen, riss sich los, setzte sich kerzengerade auf und rief wie von Sinnen: «Vero! Ich kann sie nicht finden. Sie ist noch ein kleines Mädchen. Hilfe. Bitte, Gott oder sonst wer. Hilfe!»

Und deshalb stand Sergeant Wyatt Foster von der North Country Sheriff’s Criminal Division mit seinem Wagen kurz nach sieben Uhr auf dem langsam trocknenden Asphalt, wo es inzwischen von Mitarbeitern aller verfügbaren Strafverfolgungseinheiten zwischen Concord und Kanada nur so wimmelte. Na, das ist vielleicht übertrieben, dachte er. Aber nur ein wenig.

In der Dämmerung stieg Wyatt aus seinem Fahrzeug und fröstelte in der unangenehm kalten Herbstluft. Tagelang hatte es so stark geregnet, dass Hochwasserwarnungen ausgegeben worden waren. Die gute Nachricht: Es regnete endlich nicht mehr. Die schlechte Nachricht: Bei dem heftigen Sturm der vergangenen Nacht war vermutlich ein Großteil der Spuren vernichtet worden, was die Suche nach einem vermissten Mädchen erschwerte.

Sie brauchten Hunde, dachte er. Diese Aufgabe ging weit über das hinaus, was Menschen leisten konnten.

Ein paar Meter weiter spähte Detective Kevin Santos über die Böschung. Er trug seinen dicksten Dienstmantel, obwohl der Winter noch gar nicht eingebrochen war. Eine Hand steckte in der Manteltasche, in der anderen hielt er einen großen Kaffeebecher von Dunkin’ Donuts. Wyatt schlenderte zu ihm hinüber.

«Haben Sie zufälligerweise noch einen?» Er zeigte auf den Kaffee.

Kevin zog eine Augenbraue hoch. Er war zehn Jahre jünger als Wyatt und besaß ein nahezu enzyklopädisches Gedächtnis, weshalb er auch das Superhirn genannt wurde. Und zwar völlig zu Recht, wie sich an diesem grauen Morgen wieder einmal erwies.

«Habe vier Becher mitgebracht. In einer Situation wie dieser kann man gar nicht genug Kaffee kriegen.»

Er zeigte auf sein Fahrzeug, wo tatsächlich ein Pappträger mit drei weiteren Bechern auf der Motorhaube stand. Wyatt griff beherzt zu.

«Stand der Dinge?», fragte er nach dem zweiten Schluck, der ihn langsam aufwärmte.

Kevin deutete nach vorn oder, genauer gesagt, nach unten, wo sich gleich neben der Straße eine ziemlich tiefe Schlucht auftat. Schätzungsweise vierzig Meter weiter unten gab es eine Menge Büsche, gefällte Baumstämme, Felsen, Gestrüpp und einen Fluss, den Mutter Natur in einen rauschenden Strom verwandelt hatte.

Gleich neben dem Fluss konnte Wyatt das Heck eines seltsam geneigten dunklen SUVs mit offener Ladeluke ausmachen.

«Audi Q5», erklärte Kevin.

Durchaus beeindruckt zog Wyatt eine Augenbraue hoch. Ein Luxusschlitten, erst seit kurzem auf dem Markt. Das verriet einiges, das ihm nicht gefiel. Früher konnte man sich darauf verlassen, dass es sich bei Fällen von Trunkenheit am Steuer um alte Männer oder dumme Teenager handelte. Heute schienen die meisten betrunkenen Fahrer gutsituierte Hausfrauen zu sein, die verschreibungspflichtige Medikamente einwarfen und sich gehörig in die eigene Tasche logen.

«Anscheinend ist das Fahrzeug hier von der Straße abgekommen», sagte Kevin und deutete mit dem Kaffeebecher auf die entsprechende Stelle.

Auf dem Randstreifen waren trotz des Starkregens deutliche Reifenspuren zu erkennen.

«Sieht aus, als wäre der Wagen direkt dort hinuntergerauscht», murmelte Wyatt, die Augen auf die Stelle gerichtet, wo der Q5 gelandet war.

«Fürs Erste gehen wir davon aus, dass sie die Kurve nicht gekriegt hat.»

Jetzt zeigte Kevin auf einen anderen Straßenabschnitt ein Stück weiter vorn, wo die Fahrbahn eine Linkskurve beschrieb und der Audi offenbar nach rechts gefahren war.

«Muss wohl schon auf Schlingerkurs gewesen sein», sagte Wyatt, betrachtete den Streckenverlauf hinter sich und schaute dann wieder nach vorn. «Anderenfalls wäre der Wagen erst später von der Fahrbahn abgekommen.»

«Hat vielleicht schon gepennt. Oder war bewusstlos. So in der Art. Todd kennt sich mit Trunkenheit am Steuer aus.»

Wyatt nickte. Todd Reynes war ein erfahrener Streifenpolizist, der eine Zeitlang für die Task Force des Drogenpräventivprogramms gearbeitet hatte. Wie er gern behauptete, hatte er einen Riecher für Trinker und konnte sie schon aus der Ferne ausmachen. Außerdem war er ein begnadeter Hockey-Spieler. In den Bergen von New Hampshire waren das überaus nützliche Fähigkeiten.

«Todd meinte, so eine Fahne hätte er noch nie gerochen. Sie muss eine angebrochene Flasche im Wagen gehabt haben, die beim Aufprall kaputtgegangen ist. Ihre Klamotten waren mit Whisky getränkt.»

«Whisky?»

«Scotch – Glenlivet. Achtzehnjähriger Single Malt. Das Beste vom Besten. Nicht, dass ich Ahnung davon hätte. Ich habe die Überreste der Flasche gesehen.»

Wyatt verdrehte die Augen. «Unsere Fahrerin genehmigt sich also einen kleinen Scotch und verliert in der Kurve die Kontrolle. Mag sein, dass sie betrunken und ihr Blick getrübt war. Oder sie war schon bewusstlos. Wie auch immer, sie rauscht jedenfalls in den Abgrund.»

«Könnte in etwa hinkommen.» Die Technik würde den Hergang selbstverständlich analysieren. Sie würden den Unfallort mit Hilfe einer Totalstation auswerten, ähnlich dem Gerät, mit dem Straßenbauer Kurven, Biegungen und Strecken berechneten. Mit diesen Daten und einem Computer konnte man das Was, Wo, Wie und Warum ermitteln. Bei Bewusstlosigkeit wäre die Fahrerin zum Beispiel nur mit sehr geringer Geschwindigkeit von der Fahrbahn abgekommen, weil der Fuß vom Gaspedal gerutscht wäre. Wohingegen eine Frau, die schlingerte, hier ins Schleudern kam, dort zu stark bremste, ganz andere Spuren hinterließ. Wyatt und Kevin, die beide ein Seminar für Unfallrekonstruktion belegt hatten, kannten sich in diesem Metier aus.

Doch was sich hier abgespielt hatte, war gerade nicht von Belang. Vorerst hatten sie und alle anderen Beamten der lokalen und staatlichen Behörden, die diesen kalten, schlammigen Ort absuchten, nur ein Ziel: Sie mussten das vermisste Mädchen finden.

«Angenommen», meldete sich Wyatt in forschem Ton zu Wort, «das Fahrzeug ist hier von der Straße abgekommen, durch die Luft geflogen und dort unten gelandet …»

«Die ersten Streifenpolizisten haben einen Umkreis von fünfzehn Metern abgesucht. Jetzt müssen wir uns auf das Gelände zwischen der Schlucht und der Straße konzentrieren. Das Terrain ist steil, aber nicht undurchdringlich, und dennoch, wie Sie sehen …»

Von ihrem Standort aus hatten sie fast eine Vogelperspektive. Vor ein paar Stunden, also mitten in der Nacht und während eines Sturms, musste die Sicht katastrophal gewesen sein. Doch jetzt – Wyatt schaute auf seine Uhr – war es 7 Uhr 25, im Anbruch der Dämmerung fiel dunstiges graues Licht auf diesen matschigen, dichtbewachsenen Ort …

Ohne sich zu rühren, konnten sie einen Großteil der Schlucht überblicken: So weit das Auge reichte, war nur Schlamm zu sehen.

«Hunde», sagte Wyatt.

Kevin grinste. «Habe ich schon bestellt.»

Sie verließen die Straße und traten in den Schlamm.

«Was wissen wir über das Mädchen?», fragte Wyatt, während sie zum Autowrack hinunterstapften. Er richtete den Blick stur nach unten auf das aufgeweichte Erdreich. Zum einen wollte er sich nicht das Genick brechen, zum anderen keine wertvollen Spuren vernichten. Kaffee schwappte aus der kleinen Deckelöffnung und tropfte seitlich von seiner Hand. Wyatt bedauerte die Verschwendung dieses lebenswichtigen Getränks.

«Nichts wissen wir», erwiderte Kevin.

«Hä, was soll das denn heißen?»

«Die Fahrerin war wie von Sinnen. Der Alkohol, die Verletzungen, Gott weiß was. Todd zufolge befand sie sich zuerst in Schockstarre und reagierte wenig später nahezu hysterisch. Die Sanitäter haben sie klugerweise fixiert und weggeschafft, bevor sie jemanden verletzen konnte.»

«Aber sie erwähnte eine Tochter?»

«Vero. Sie konnte die Kleine nicht finden und hat um Hilfe gerufen.»

Wyatt, dem die Geschichte gar nicht schmeckte, legte die Stirn in Falten. «Wie alt in etwa?»

«Kein Kindersitz auf der Rückbank. Und auch kein aufgeblasener Beifahrerairbag. Das Kind ist zu alt für einen Kindersitz und zu jung, um vorn zu sitzen.»

«Also vermutlich zwischen neun und dreizehn. Kurz vor der Pubertät.»

«Damit kennen Sie sich besser aus als ich, mein Freund.»

Wyatt verdrehte die Augen, ohne auf den Kommentar einzugehen. «Blutspuren?»

«Ich bitte Sie. Der Innenraum des Fahrzeugs gleicht einem Schlachthaus. Die Fahrerin hatte mehrere tiefe Wunden. Ob sie von vor oder nach dem Unfall stammen, ist ungewiss. Aber als sie sich befreite und durch die Scherben nach hinten kroch … Es grenzt an ein Wunder, dass sie genug Kraft hatte, den Abhang hochzukrabbeln und ein Fahrzeug anzuhalten …»

«Den Abhang hochzukrabbeln?» Wyatt blieb plötzlich stehen.

Auch Kevin hielt an. Beide warfen einen Blick zur Straße, die jetzt hoch über ihnen lag. «Wie hätte man sonst von ihr Notiz nehmen können?», überlegte Kevin. «Wer bemerkt schon einen Wagen, der mitten in der Nacht in einer Schlucht liegt? Verdammt, wir können ihn ja bei Tageslicht kaum sehen, obwohl wir ihn direkt vor der Nase haben.»

«Mist», murmelte Wyatt leise, denn … Seltsam. Er hielt sich für einen kräftigen, körperlich ziemlich fitten Mann, was nicht nur an seinem Beruf lag, sondern auch an seiner Leidenschaft für das Schreinern. Für ihn gab es nichts Schöneres, als jede Woche ein paar Stunden mit einem Hammer herumzuwerkeln, um seine Muskeln zu stählen. Und ihn strengte es schon an, nach unten durch den Matsch zu stapfen und sich durch das dichte, stachelige Buschwerk zu schlagen. Er konnte sich kaum vorstellen, wie man im strömenden Regen und nach einem schweren Autounfall den Aufstieg bewerkstelligen sollte.

«Sie hielt einen Mann namens Daniel Ledo an», erklärte Kevin. «Der Typ meinte, sie hätte kein Wort gesagt. Er hat als Soldat in Korea gedient und verglich ihren Zustand mit einem Kriegstrauma. Laut seiner Aussage rührte die Fahrerin sich erst, als die Sanitäter sie auf die Trage hievten. Sie sah Todd und fing sofort an, von dieser Vero zu reden, dass sie sie nicht gefunden habe und wir ihr helfen sollten.»

«Wenn sie sagt, dass sie Vero nicht finden konnte, heißt das wohl, dass sie nach ihr gesucht hat.»

«Sicher», meinte Kevin.

«Kämpft sich durch Matsch und nasse Erde. Befreit sich deshalb aus dem Wagen und kraxelt zur Straße hoch. Um ihr verschwundenes Kind zu suchen.»

«Sieht ganz so aus.»

«Und wir …?»

«Keine Spur. Mehr als ein Dutzend Streifenpolizisten und unsere deutlich fähigeren Freunde vom Fish and Wildlife Service suchen schon seit zwei Stunden nach ihr. Ich war eine halbe Stunde vor Ihnen da, Wyatt. Da waren die Jungs schon bei der Arbeit und suchten in einem Radius von fünfzehn Metern um das Auto herum. Jetzt durchkämmen sie eine Fünf-Meilen-Zone. Bislang bin ich mit unserer Arbeit zufrieden.»

Wyatt verstand, was sein Detective sagen wollte. Ein Körper, der aus einem Auto fliegt, sollte leicht aufzufinden sein. Ein verängstigtes Mädchen, das sich nachts irgendwohin kauert und auf Hilfe wartet, würde auf die Rufe der Suchenden reagieren. Das konnte nur heißen, dass …

Wyatt ließ den Blick über das Buschwerk wandern, in dem ein verletztes, verwirrtes Kind stundenlang herumirren konnte. Er schaute hinunter, zu dem Fluss, der zurzeit ein reißender Strom war und einen bewusstlosen Körper wegtragen konnte.

«Hunde», wiederholte er.

Sie stiegen weiter hinab zum Fahrzeug.

Der Audi Q5 SUV, ein Premium-Modell, war eigentlich ein schöner Wagen. Schiefergraue Lackierung mit schwarzen und silbernen Sprenkeln, zweifarbiges Interieur, mit silbergrauen Ledersitzen, rabenschwarzem Furnier und Chromakzenten. Eins von diesen Fahrzeugen, mit denen man Lebensmittel sowie eine halbe Fußballmannschaft samt Hund transportieren und gleichzeitig gut aussehen kann.

Nun steckte die Front tief in der nassen Erde, das Heck ragte hinten hoch, und die Kofferraumklappe stand offen. Der Wagen wirkte wie ein schickes urbanes Geschoss, das in den Wäldern von New Hampshire eine Fehlzündung gehabt hatte und nun festhing.

«Zwanzig-Zoll-Felgen im Titanium-Finish», flüsterte Kevin halb ehrfürchtig, halb neidisch. «Sportlenkrad. 8-Gang-Tiptronic. Das ist die 3.0 Edition mit der 6-Liter-Maschine, von null auf hundert in weniger als sechs Sekunden. Pferdestärken bis zum Abwinken, und seine Golfschläger kann man auch noch reinpacken!»

Wyatt teilte weder Kevins Liebe zu Automobilen noch sein Statistikfaible. «Allradantrieb?», wollte er nur wissen.

«Bei allen Audis Standard.»

«Stabilitätskontrolle? Antiblockiersystem? Andere Hilfsmittel, die einem Fahrer bei Nacht und Nebel das Fahren erleichtern?»

«Sicher. Xenon-Scheinwerfer, LED-Schlussleuchten und ungefähr ein halbes Dutzend Airbags.»

«Der Wagen wäre also mit der Witterung klargekommen.»

«Absolut … es sei denn, es gab einen unerwarteten technischen Fehler.»

Wyatt grunzte wenig überrascht. Heutzutage waren Autos keine reinen Transportmittel mehr, sondern eher mit einem Computer auf Rädern vergleichbar. Und ein schicker Audi wie dieser …

Verdammt, der Einbau von etwa einem Dutzend unterschiedlicher Kontrollsysteme sollte Fahrer und Fahrzeug vor Schaden bewahren. Dass sich dieser Wagen in so einem Zustand befand …

Zur Klärung eines Unfallhergangs zäumte man das Pferd am besten von hinten auf. Man untersuchte zuerst das Wrack und arbeitete sich langsam zur Ursache vor. Hatte der Fahrer nicht gebremst, oder war das Auto ins Schlingern gekommen, was zu einer Kollision mit der Leitplanke führte? In diesem Fall deuteten die Schäden – zerknautschte Motorhaube, zersprungene Windschutz- und Seitenscheiben und weitere, zu einem schweren Aufprall passende Schäden – darauf hin, dass sich der Wagen mit der Schnauze in einem Fünfundvierzig-Grad-Winkel in die Erde gerammt hatte.

An der Fahrzeugseite waren weder Farbabsplitterungen noch Kratzer zu erkennen. Das legte nahe, dass der Audi aufgrund seiner Geschwindigkeit bei seinem – nach Wyatts Einschätzung – kerzengeraden Sturzflug über die Büsche hinweggesegelt war. Die Ergebnisse der Unfallanalyse würden ihnen sicherlich mehr verraten. Wahrscheinlich war das Fahrzeug an der Stelle, wo sie ihren Kaffee getrunken hatten, von der Straße abgekommen, durch die Luft geflogen und kurz darauf mit der Front im Schlamm gelandet.

Erste Frage: Warum war das Auto von der Straße abgekommen? Handelte es sich um einen Fahrerfehler, zumal in diesem speziellen Fall Trunkenheit am Steuer vorlag? Zweite Frage: Wie hoch waren Geschwindigkeit und Drehzahl gewesen? Mit anderen Worten: Hatte die Fahrerin entschlossen Gas gegeben und war absichtlich in den Abgrund gerauscht, oder war sie ohnmächtig gewesen und erst wieder zu Bewusstsein gekommen, als es schon zu spät gewesen war, um noch zu reagieren?

Gute Neuigkeiten für Wyatt: All diese neumodischen Computer auf Rädern waren mit elektronischen Datenschreibern ausgestattet, die die letzten Minuten aufzeichneten – ähnlich wie eine Blackbox im Flugzeug. Das Country Sheriff’s Department konnte die Daten zwar nicht auslesen, doch die Bundespolizei würde sie auf ihren Rechner herunterladen und mit einem Fingerschnippen alle Fragen beantworten.

Fürs Erste konzentrierte Wyatt sich auf das vorrangige Problem: ein vermisstes Mädchen zwischen neun und dreizehn Jahren.

Im Umfeld des Wracks gab es Fußabdrücke. Der Menge und Größe nach zu urteilen, stammten sie wohl eher von den Ersthelfern, die nach dem Kind gesucht hatten, und nicht von Fahrzeuginsassen, die durch die Beifahrertür ausgestiegen waren. Sicherheitshalber zog er einen Latexhandschuh an, machte einen Schritt nach vorn und versuchte, die Tür zu öffnen. Klare Sache. Sie klemmte. Anschließend testete er die hintere rechte Tür und stellte fest, dass sie ebenfalls blockiert war. Der Rahmen hatte sich beim Aufprall offenbar zu stark verzogen.

Blieb nur noch der offene Kofferraum. Er ging nach hinten, suchte den Boden nach weiteren Abdrücken ab und entdeckte fast ausschließlich Spuren von Stiefeln, wie die meisten Beamten sie trugen.

«Wurde der Boden inspiziert?», fragte er Kevin. «Von Todd oder den Helfern, die zuerst vor Ort waren? Haben sie nach Fußabdrücken gesucht?»

«Todd sagt, er hätte sich mit der Taschenlampe einen Überblick verschafft, bei den Bedingungen aber nichts sehen können. Er meint, die Fahrerin muss hinten ausgestiegen sein, weil das die einzig funktionierende Tür ist.»

«Angenommen, dass das Kind bei Bewusstsein war, muss es den Wagen also auch über die Ladeluke verlassen haben», merkte Wyatt an. «Ich denke mal ins Blaue … die Mutter glaubte wahrscheinlich, das Unglück hätte sich eben erst ereignet, richtig? Sie kommt wieder zu Bewusstsein, schaut sich nach ihrer Tochter um, reagiert panisch, als sie die Kleine nicht finden kann, und kraxelt dann heldenhaft nach oben, um Hilfe zu holen. Aber wenn man den Alkohol bedenkt, den harten Aufprall … Vielleicht war die Mutter ja eine ganze Weile ohnmächtig. Möglicherweise kam sie erst fünfzehn oder dreißig Minuten nach dem Crash wieder zu sich. Die Tochter versuchte, sie wach zu kriegen, bekam es mit der Angst zu tun, als die Mutter sich nicht rührte, und zog allein los.»

Dazu hatte Kevin nichts beizusteuern. Schließlich waren das alles nur Vermutungen und das Superhirn zog Fakten vor.

«Handy?», fragte Wyatt.

Damit konnte Kevin etwas anfangen. «Wurde unter dem Armaturenbrett gefunden und ist auf die Fahrerin zugelassen. Das ist alles.»

Wyatt zog die logische Schlussfolgerung. «Kennen Sie Kinder, die kein Handy haben?», fragte er Kevin.

«Ich? Sie denken, ich kenne mich mit Kindern aus?»

«Ihre Nichten, Neffen …»

«Klar, die haben alle iPods, Smartphones, solchen Kram. Ehrlich, es ist auch in unserem Interesse, ihnen irgendein elektronisches Gerät in die Hand zu drücken. Anderenfalls könnten sie sich ja mit uns unterhalten.»

«Wenn wir also annehmen, dass unser Kind ein Mädchen im Alter von neun bis dreizehn Jahren ist, wäre es naheliegend, dass sie ein Handy hat, und dann …» Wyatt überlegte. «Warum benutzt sie es nicht? Wieso bleibt sie nicht einfach im Auto, wo es relativ trocken ist, und ruft Hilfe, anstatt sich dem Sturm auszusetzen? Gibt es hier ein Netz?»

Kevin nickte. «Das Handy der Fahrerin zeigt Verizon als Mobilfunkanbieter an. Das ist auch meiner, und ich habe vier Balken.»

«Die Kleine hätte also telefonieren können. Aber was, wenn …»

Er versuchte, die Situation in Gedanken durchzuspielen, sich in ein verängstigtes Mädchen hineinzuversetzen. Kinder waren erfinderisch und zäher, als man dachte. Das hatte ihn die berufliche und persönliche Erfahrung gelehrt.

«Das arme Mädchen muss so einen Adrenalinstoß gehabt haben, dass sie nur an Kampf oder Flucht denken konnte», gab Kevin zu bedenken. «Vielleicht hat sie sich für die Flucht entschieden.»

«Oder sie ist verletzt. Hat eine Kopfverletzung abgekriegt und ist verwirrt.» Im Grunde gab es endlos viele Erklärungsmöglichkeiten. Was ihm gar nicht behagte. Er musste an die neunjährige Sophie mit ihrem stets abwesenden Blick denken, die schon brutal viel mitgemacht hatte. Wie hätte sie in so einer Situation reagiert? Wahrscheinlich hätte sie ihre Mutter vom Fahrersitz gezerrt und eigenhändig aus der Schlucht gezogen. Aus solch einem Holz war sie geschnitzt.

Und sie hasste ihn nicht. Sie schenkte ihm nur niemals ein Lächeln, sprach nicht mit ihm, nahm ihn einfach nicht zur Kenntnis. Doch das ging in Ordnung. Die Partie hatte erst begonnen, und er hatte noch einige Asse im Ärmel. Hoffentlich.

«Lassen Sie uns nach einem Handy forschen», schlug Wyatt vor. «Den Mobilfunkanbieter der Fahrerin kontaktieren und herausfinden, ob es einen Familientarif gibt. Denn wenn sie ein Mobiltelefon hat …»

«Können wir es orten», beendete Kevin den Satz für ihn.

«Und wo ein Handy ist …»

«Ist das Kind nicht weit.»

«Genau.»

Hocherfreut, endlich einen Plan zu haben, nahm Wyatt die oberflächliche Inspektion des Wracks wieder auf. Er ging zur Fahrertür. Davor lagen die Glasscherben der zersprungenen Seitenscheibe. Womöglich hatte die Fahrerin sie von innen mit dem Ellbogen zerschmettert. Oder vor Verzweiflung mit der Faust herausgehauen, um aus dem beschädigten Wagen zu gelangen.

Er spähte in den Innenraum. Passend zum Aufprall war das Armaturenbrett beschädigt und die Lenksäule Richtung Fahrersitz gedrückt worden. Der gelockerte Sicherheitsgurt hatte sich nicht wieder aufgerollt, was darauf hindeutete, dass die Fahrerin zum Zeitpunkt des Aufpralls angeschnallt gewesen war und ihn erst später gelöst hatte, um aus dem Wagen zu steigen. Es muss ganz schön schwierig gewesen sein, sich aus dem Chaos zu befreien, dachte er. Vor allem angesichts der möglichen Verletzungen: Fuß- oder Fußgelenkbrüche bei dem vergeblichen Versuch, zu bremsen und nicht in den Abgrund zu rauschen, Knieverletzungen vom Aufprall und womöglich sogar Prellungen an Bauch, Rippen und Schultern vom Sicherheitsgurt. Er hatte gesehen, wie Fahrer sich die Hände an Airbags verbrannt, Daumen am Lenkrad gebrochen, das Brustbein an der Lenksäule verletzt hatten.

Und der Aufprall war heftig gewesen. Darauf gab es einen eindeutigen Hinweis: Blut. Unmengen von Blut. Auf dem Lenkrad, auf dem Armaturenbrett, auf der hellgrauen Rückseite des Fahrersitzes, oben an der Tür. Die Fahrerin hatte geblutet, mutmaßlich aus mehreren Schnittwunden von den großen farblosen Glasscherben der Schnapsflasche und kleineren, getönten Scheibensplittern. Auf dem Armaturenbrett und auf dem Sitz waren mehrere komplette Handabdrücke zu erkennen. Hier hatte sie sich offenbar abgestützt, um nach hinten zu klettern.

Er überlegte, ob sie beim Aufprall bei Bewusstsein gewesen war. War sie im noch fahrenden Auto bewusstlos geworden und in einem völlig zerstörten Fahrzeug wieder zu sich gekommen? Oder war es noch schlimmer gewesen: Hatte sie in dem Moment ihr Bewusstsein wiedererlangt, als der Wagen durch die Luft flog? Hatte sie geschrien? Verzweifelt versucht zu bremsen? Oder instinktiv die Hand nach hinten zu ihrer Tochter ausgestreckt, als könnte sie ihren schrecklichen Fehler noch irgendwie ausbügeln?

Vielleicht empfand er so etwas wie Bewunderung für die Frau, die sich aus dem Wrack befreite und zur Straße hochkämpfte, um Hilfe für ihr Kind zu organisieren. Aber war das nicht so, als bewundere man den Brandstifter dafür, dass er aus dem brennenden Gebäude flieht?

Wyatts Blick fiel auf den Schalthebel, der im Leerlauf stand und nicht im Drive-Modus, wie zu erwarten gewesen wäre. Er warf Kevin einen Blick über die Schulter zu.

«Ist schon jemand dadrin gewesen?»

«Nein.»

«Hat jemand den Motor ausgestellt?»

«Nee, ist wahrscheinlich ausgegangen. Keine Ahnung. Todd war als Erster vor Ort. Und als er von dem Mädchen hörte, haben wir uns darauf konzentriert.»

Wyatt nickte. Leben zu retten hatte stets oberste Priorität.

Nun kam Kevin ins Grübeln. «Könnte der Schalthebel herausgesprungen sein? Während eines Aufpralls fliegt so manches durchs Auto. Lose Gegenstände, Handtasche, Ellbogen. Oder die Fahrerin hat ihn unabsichtlich verschoben, bei dem Versuch, rauszuklettern.»

«Möglich.» Wyatt streckte sich. Kevins These stellte ihn nicht wirklich zufrieden, aber jetzt war nicht der richtige Zeitpunkt für Spekulationen. Nach dem Abschleppen des Autos, der Entfernung der Türen und Sitze, nach den Tests im staatlichen Labor würden sie schlauer sein. Die Position des Fahrersitzes, der Spiegel, der rechte Handabdruck hier, der linke dort. Einen Unfall wie diesen konnte man nicht innerhalb von Stunden aufklären. Dafür brauchte man Tage, wenn nicht gar Wochen.

Trotzdem würden sie der Sache auf den Grund gehen. Gründlich. Gewissenhaft. Damit die ganze Welt erfuhr, was eine Glenlivet trinkende Mutter sich und ihrem Kind in einer dunklen, stürmischen Nacht angetan hatte.

In diesem Moment hörte Wyatt oben auf der Straße Gebell. Die Hundestaffel.

Er richtete sich auf, entfernte sich vom Fahrzeug und warf einen Blick auf seine Uhr.

Acht Uhr und zweiundzwanzig Minuten. Ungefähr drei Stunden und fünfzehn Minuten nach dem Notruf mussten sie immer noch einen Unfallhergang aufklären und – wichtiger noch – ein vermisstes Kind finden.

Am Ende führten alle Wege in dieselbe Richtung. Den durchweichten Abhang hoch zu dem hellgrauen Asphaltstreifen, wo die Tragödie ihren Anfang genommen hatte und der Spürhund nun wartete.

Er und Kevin machten sich an den Aufstieg.

Kapitel 3

«Schau her, Mami! Schau! Ich kann fliegen!»

Mit ausgebreiteten Armen läuft sie von mir weg, die rosafarbenen Lippen machen Flugzeuggeräusche. Ich bewundere das lange dunkle Haar, das hinter ihr herfliegt, während ihre kleinen Beine durch den engen Raum tapsen. War ich in dem Alter auch so energiegeladen? Und ähnlich mutig wie Vero, die jetzt über ein Hindernis springt und dem nächsten ausweicht?

Ich denke, tief in mir kenne ich bereits die Antwort auf diese Frage und sollte besser nicht zu tief graben.

Genieß diesen Augenblick. Die vierjährige Vero, die fliegen lernt.

Sie kichert, nimmt Anlauf, kriegt richtig Schwung. Dank ihrer unüberhörbaren Freude wird mir etwas leichter ums Herz. Sie biegt um eine Ecke, läuft um das abgewetzte braune Sofa herum. Aus einem Riss im Stoff quillt die Füllung, jemand hätte das reparieren sollen, hätte ich das reparieren sollen? Und da kann ich ihr Gesicht sehen, ihre geröteten Pausbacken, die grauen, von dicken Wimpern eingerahmten Augen, als sie ihr Ziel anvisiert und geradewegs auf mich zusteuert.

«Mami! Ich kann fliegen, ich kann fliegen, ich kann fliegen!»

Ich liebe dich, schießt es mir durch den Kopf, aber meine Gefühle behalte ich für mich. Sie rennt auf mich zu, und ich stehe einfach da und wappne mich für den Zusammenstoß.

Langsam. Immer mit der Ruhe. Es ist fast so, als wüsste ich, was als Nächstes passieren wird.

In letzter Sekunde bleibt ihr Fuß am Wohnzimmertischbein hängen, und für einen Augenblick schwebt ihr ausgestreckter Körper tatsächlich in der Luft, während sie mit Händen und Füßen rudert.

«Mami!», schreit sie.

Psst, versuche ich zu flüstern. Sei still. Er darf dich nicht hören.

Sie legt eine harte Landung hin. Ein dumpfer Aufprall.

Und dann brüllt sie erst richtig los.

Psst, versuche ich wieder zu flüstern.

In ihren grauen Augen steigen Tränen auf. Ihr Blick durchbohrt mich.

Aus dem Schlafzimmer dringt das Gebrüll eines Mannes. Schwere, unheilvolle Schritte nähern sich.

«Mami, ich kann fliegen», stellt Vero fest. Ihre Tränen sind versiegt.

Ich weiß, will ich ihr antworten. Ich habe es gesehen.

Ich wünschte, ich könnte die Hand ausstrecken, ihr Haar berühren, ihre Wange streicheln.

Stattdessen verschließe ich die Augen vor dem, was als Nächstes passieren wird.

Als ich aufwache, höre ich piepende Maschinen. Meine Augen brennen vom grellen Licht. Unbewusst zucke ich zusammen, wende den Kopf ab und bereue die Bewegung sofort. Hinter meiner Stirn explodiert ein unerträglicher Schmerz.

Ich liege flach auf dem Rücken in einem Krankenhausbett. Ein kratziges, straff über meinen Körper gespanntes weißes Laken unter einer dünnen blauen Decke drückt meine Arme an den Körper. Ich betrachte die Metallgitter zu beiden Bettseiten und dann die Kabel, die von einem Clip an meinem Finger zu unterschiedlichen Monitoren führen. Wäre es nicht so anstrengend, würde ich laut aufstöhnen.

Alles tut weh … jede Stelle meines Körpers. Vom Kopf bis zu den Füßen, von den Knien bis zu den Ellbogen. Zuerst denke ich, dass ich von einem zwanzigstöckigen Hochhaus gefallen bin und mir beim Aufprall jeden Knochen gebrochen habe. Wieso haben sie sich die Mühe gemacht, mich wieder zusammenzuflicken? Wenn ich endlich mutig genug war zu springen, warum haben sie mich dann nicht in Ruhe gelassen?

Dann sehe ich ihn. Mit nach vorn geneigtem Kopf sitzt er in einem Sessel am Fuß meines Bettes.

Mein Herz zieht sich zusammen. Ich denke: Ich liebe dich.

Mein Kopf explodiert. Ich denke: Verdammt, such das Weite!

Dann: Wie hieß er noch gleich?

Sein verwittertes Gesicht ist selbst im Schlaf von schweren Sorgenfalten und Anspannung gezeichnet, was alles andere als unattraktiv ist. Eher Anfang vierzig als Ende dreißig, dunkle, leicht angegraute Haare und immer noch schlank. Ich mag seinen Körper, daran zweifle ich keine Sekunde.

Und dennoch möchte ich nicht, dass er aufwacht. Am liebsten wäre mir, er hätte mich hier gar nicht gefunden.

«Mami, ich kann fliegen», wispert Vero in meinem Hinterkopf.

Ich muss an den alten Pilotenwitz denken: Nicht Fliegen ist schwierig, sondern die Landung.

Der Mann schlägt die Augen auf.

Es überrascht mich nicht, dass sie braun, traurig und tiefgründig sind.

«Nicky?», flüstert er, streckt die Arme aus und spannt jeden Muskel an.

«Vero?», krächze ich. «Bitte … wo ist Vero?»

Der Mann schweigt; sein Körper fällt in sich zusammen. Mit ein paar Worten habe ich seinen Kampfgeist zersprengt. Er legt eine Hand über die Augen, damit ich die sich darin spiegelnden Antworten nicht sehe.

Und dann flüstert dieser Mann, den ich liebe, dieser Mann, den ich hasse – verdammt, wie heißt er noch gleich? –, mit Nachdruck: «Ach, Liebling. Nicht schon wieder.»

Kapitel 4

«Sie heißt Annie. Gutes Mädchen. Vier Jahre alt, ein bisschen wild, aber mit hohem Antrieb. Einen besseren Hund gibt es nicht, so viel ist sicher.»

Don Frechette, der Diensthundeführer, kraulte Annie liebevoll hinter den Ohren, woraufhin die temperamentvolle gelbe Labradorhündin so stark mit dem Schwanz wedelte, dass sie damit beinahe gegen seinen Kopf schlug.

Wyatt mochte Hunde. Bei seinem letzten ungeklärten Fall hatte der Leichenspürhund einen fünfzig Jahre alten Knochen in einem ausgetrockneten Flussbett gefunden. Der Knochen hatte wie ein verdorrter Ast ausgesehen und nach Erde gerochen. Einer der jüngeren Polizisten war schon im Begriff gewesen, ihn wegzuschmeißen, was die forensische Anthropologin gerade noch verhindern konnte. Das alte Ding?, hatte der Beamte sich gewundert. Das ist doch nur ein Stock.

Die forensische Anthropologin fand das lustig. Später hatte sie Wyatt allerdings gestanden, dass sie die ganze Sache auch höchst erstaunlich fand. Nach ihrer Einschätzung war im Knochen längst kein organisches Material mehr nachweisbar. Was also hatte der Hund gerochen? Hunden kann man nichts vormachen, erklärte sie. Auf das neueste GPS-Tracking und forensische Analysen konnte man draußen verzichten, auf die unbeirrbare Nase eines Hundes jedoch nicht.

Tessa hatte Interesse bekundet, einen Hund anzuschaffen. Vielleicht konnte er mit ihr und Sophie dieses Wochenende einen Hund aus dem Tierheim holen, quasi als Familienzuwachs. Das würde ihm bei der Kleinen sicherlich ein paar Pluspunkte einbringen.

Oder wirkte das zu bemüht? Tessa hatte ihm klargemacht, dass nichts schlimmer war, als sich zu sehr ins Zeug zu legen.

Es ist ja nicht so, dass Sophie mich hasst, dachte er. Hoffentlich.

«Zu kalt?», fragte er Frechette und deutete dann auf dessen leichte Regenjacke und Annies dünnen Hundemantel. Die Temperatur lag kaum über null.

«Kein Problem. Uns wird schnell warm, wenn wir erst mal loslegen. Kälte ist gut. Sie konserviert Gerüche und erleichtert dem Hund die Arbeit. Außerdem wird Annie bei höheren Temperaturen schneller müde. An so einem Morgen mit klarem Himmel und knapp über dem Gefrierpunkt kann sie es gar nicht erwarten, sich in die Arbeit zu stürzen. Ähm, Sie sagten, es handelt sich um einen Autounfall.»

«Ja, Sir.»

«Glasscherben?»

«Eine ganze Menge, und zwar direkt beim Fahrzeug.»

«In dem Fall braucht sie ihre Schuhe. Wie ist das Terrain beschaffen?»

«Überwiegend matschig, ein reißender Strom. Es gibt ein paar Dornenbüsche, vereinzelt Felsen und abgebrochene Äste. Angesichts des starken Gefälles ist der Abstieg ziemlich schwierig. Aber unten in der Schlucht kommt man eigentlich ganz gut voran. Die Jungs von Fish and Wildlife sind wahrscheinlich schon nach Maine und wieder zurück gelaufen.»

«Fish and Wildlife? Wer wurde geschickt?»

«Barbara und Peter.»

«Die kann ich gut leiden. Kompetente Leute. Und sie haben nichts gefunden?»

«Keiner von uns hat irgendetwas gefunden.» Dass der Diensthundeführer die Mitarbeiter vom Fish and Wildlife Service kannte, überraschte Wyatt nicht. In New Hampshire gab es viele Wälder und wenig Menschen. Bisweilen kam es einem so vor, als würde man jeden kennen, dem man begegnete, und jedem begegnen, den man kannte.

«Wir gehen davon aus, dass es sich um ein Mädchen zwischen neun und dreizehn Jahren handelt», sagte Kevin. «Brauchen Sie noch weitere Informationen?»

Frechette schaute Kevin schief an und sah dann zu Annie hinunter, die vor lauter Vorfreude herumtänzelte. «He, Mädel, brauchst du eine Beschreibung? Willst du den Namen der Kleinen rufen? Oder nach einem rosa Mantel suchen, farbenblind wie du bist?»

Kevin errötete.

«Auf Hintergrundinfos können wir verzichten, Detective. Alles, was wir brauchen, ist Annies Nase. Vertrauen Sie mir. Falls dort draußen ein Kind ist, wird Annie es aufstöbern.»

Nach kurzer Diskussion einigten sie sich auf eine Strategie. Wyatt wusste, dass die meisten Hundeführer eigene Vorstellungen hatten, wie man den Job erledigte. Da es sich um einen relativ begrenzten Suchabschnitt handelte und die Fährte vom Geruch der zahllosen Beamten, die hier herumschwirrten, verwischt war, wollte Frechette die Suche wie eine Verfolgungsjagd angehen. Er würde Annie zuerst zum mutmaßlich letzten Aufenthaltsort des Mädchens – also dem Audi – bringen und hoffen, dass sie eine Fährte aufnahm. Diese Arbeitsweise passte zwar eher zu einem Bluthund als zu einem Labrador, gestand Frechette, aber er vertraute fest auf die Fähigkeiten seiner Hündin. Sein Tier war ausgebildet, motiviert und würde das vermisste Kind finden.

Ein kleiner gelber Labradorwelpe, dachte Wyatt. Mit roter Schleife um den Hals. Hier, Sophie. Der ist für dich.

Vermutlich würde Sophie den Welpen annehmen und ihn weiterhin mit ihrem abwesenden Blick anstarren.

Wyatt steckte in Schwierigkeiten; das hatte er schon vor einem halben Jahr begriffen. Er hatte sich nicht nur in Tessa Leoni verliebt, eine bemerkenswerte Frau, sondern auch in ihr Kind. Wenn man zwanzig ist, geht es vor allem darum, dass die Eltern einen mögen. Mit vierzig hofft man schwer, dass die Kinder einen akzeptieren. In dieser Hinsicht erwies sich die neunjährige Sophie als harte Nuss.

Nicht, dass sie ihn hasste. Das hoffte er jedenfalls.

Sie kletterten wieder in die Schlucht hinunter.

Es fiel Wyatt schwer, den Trupp zurückzupfeifen und dem Hund den Vorrang zu geben. Aber die Faustregel besagte, dass ein Hund mehr wert war als 150 Freiwillige, also setzte er all seine Hoffnungen auf Annie. Um der Hündin ihren Job zu erleichtern, mussten alle störenden Gerüche ferngehalten werden. Ein paar Beamte der staatlichen und lokalen Behörden kamen ihnen schon beim Abstieg entgegen. Barbara und Peter vom Fish and Wildlife Service blieben kurz stehen, um Annies Schnauze zu streicheln.

Die Suchenden wirkten allesamt ziemlich erschöpft, aber keinesfalls entmutigt. Die Aktion hatte nicht lange genug gedauert, um als gescheitert eingestuft zu werden, aber nach vier Stunden schwand langsam der Optimismus. Wie weit kam ein kleines Kind am frühen Morgen? Und wieso bewegten die Rufe das Mädchen nicht zur Umkehr? Die Suche war doch deutlich vertrackter als zuerst angenommen. Alle Beteiligten besaßen genug Berufserfahrung, um das zu begreifen.

Sie gelangten zu dem zerstörten Audi. Frechette stieß einen leisen Pfiff aus, während er ihn begutachtete.

«Verdammt. Was für ein Aufprall. Sieht aus, als wäre die Karre über eine Klippe gesegelt.»

Annie, die ebenfalls das Wrack beäugte, winselte leise. Jetzt lief sie nicht mehr aufgeregt hin und her, sondern schaute eindringlich ihren Führer an. Sie kapiert es, dachte Wyatt. Mit dem unbestechlichen Gespür ihrer Spezies begriff sie, dass es nun losging.

Frechette befahl der Hündin, sich nicht zu rühren. Wieder winselte sie, tat jedoch, was man von ihr verlangte. Der Hundeführer ging das Areal ab, inspizierte Glasscherben, Blutspuren, verbogene Metallteile. Er sorgte für die Sicherheit seines Hundes, das war sein Job, und verschaffte sich aus Sorge um sein Tier einen Überblick.

Anschließend lief Frechette um den Wagen herum und spähte durch das hintere Seitenfenster. «Denken Sie, die Kleine hat hier gesessen?»

«Davon gehen wir aus», antwortete Kevin.

«Ordentlich», meinte Frechette.

Wyatt runzelte die Stirn. «Worauf wollen Sie hinaus?»

«Ich meine, die meisten von uns lassen viel Zeug im Auto liegen. Um diese Jahreszeit eine extra Jacke, Snacks, Wasserflaschen, keine Ahnung. Vergessene Post, Hundeleinen, irgendwelchen Kram. In meinem Auto jedenfalls finden Sie so was. Ich wette, in Ihrem auch.»

Wyatt musste ihm beipflichten. Er trat näher. Bei der ersten Inspektion hatte er sich ganz auf den Schaden konzentriert. Jetzt betrachtete er das Wrack mit Frechettes Augen. Im hinteren Teil des Fahrzeugs lagen mehrere Glassplitter auf dem Boden, die entweder von der zerbrochenen Whiskyflasche stammten oder die von der Fahrerin auf dem Weg zum Kofferraum nach hinten getragen worden waren. Aber keine Spur von dem normalen alltäglichen Durcheinander. Nichts. Weder auf der Rückbank noch im Laderaum.

Offenbar war die Fahrerin der festen Überzeugung gewesen, auf der Fahrt nichts weiter als eine Flasche Glenlivet zu brauchen.

«Ist das ein Problem?», fragte Wyatt den Hundeführer.

«Überhaupt nicht. Ganz im Gegenteil. Ich hatte schon befürchtet, dass alles von Glasscherben übersät ist und Annie sich die Pfoten verletzt. Wir können sie in den Laderaum und auf die Rückbank springen lassen, bevor sie sich an die Arbeit macht. He, Annie!»

Die Hündin saß gehorsam etwas abseits und winselte.

«Lust zu arbeiten?»

Sie kläffte einmal enthusiastisch.

«Na gut, Schätzchen. Lass uns loslegen. Komm, Annie. Komm!»

Wie ein gelbes Geschoss rannte die Hündin zu ihm, blieb vor ihm stehen und wartete auf den nächsten Befehl.

«Rauf!»

Sie sprang in den Laderaum. Dann stand sie auf dem Beifahrersitz, fixierte Frechettes Gesicht mit ihren braunen Augen und rührte sich nicht.

«Okay, Annie», rief Frechette in die offene Ladeluke. «Die Sache ist folgende: Ein Mädchen wird vermisst, und du musst sie aufspüren. Aufspüren, verstanden?»

Die verbalen Ausführungen kamen Wyatt eigenartig vor, aber was wusste er schon? Annies gespitzte Ohren und ihre Körperhaltung legten jedenfalls nahe, dass sie ihren Führer verstand.

«Such!»

Annie senkte den Kopf, beschnupperte den Sitz, den Türgriff, das Fenster, die Zähne leicht gefletscht, als würde sie die Fährte nicht nur riechen, sondern auch schmecken.

«Such, Annie. Such.»

Winselnd schnüffelte die Hündin die Rückbank kreuz und quer ab. Nun war sie zweifellos auf der Jagd und konzentrierte sich hundertprozentig auf die Fährte.

Danach verließ sie den Fußraum hinter dem Beifahrersitz und kroch hinter den Fahrersitz. Lautes Schnuppern, gefolgt von einem leisen Winseln. Sie schnüffelte gründlich an den beiden Hintertüren, hoch und runter, von links nach rechts, bis sie vorsichtig eine Pfote vom Sitz nahm und sie auf den mit Glasscherben übersäten Boden setzte.

Zum Glück gibt es Hundeschuhe, dachte Wyatt. Anderenfalls hätte er diesem Schauspiel nicht beiwohnen können.

Mittlerweile klang Annies Winseln ängstlich, verzweifelt. Wieder sprang sie auf die Sitze, bewegte sich hin und her, vor und zurück, um schließlich anmutig in den Laderaum zu springen und sich in aller Ruhe diesem Bereich zu widmen.

Manche Hunde legen sich hin, sobald sie eine Fährte aufgenommen haben. Andere bellen. Mit den Nuancen kannte Wyatt sich nicht aus. Nach seiner Einschätzung war sie unglücklich, weil sie noch nichts gefunden hatte.

Wimmernd und offensichtlich frustriert schaute sie zu Frechette hoch.

«Such!», wiederholte er.

Mit gesenktem Kopf machte sie sich von neuem an die Arbeit, sprang vom Laderaum auf die Rückbank. Sie nahm sich den mittleren Sitzplatz vor, schnüffelte, hielt inne, schnüffelte noch mal.

Dann widmete sie sich langsam und bedächtig der von Glasscherben übersäten Mittelkonsole. Ihre Bewegungen deuteten darauf hin, dass sie sich mit Glas auskannte. Oder zumindest genug Erfahrung damit hatte, um vorsichtig zu sein. Sie schnupperte an den Scherben und dann …

Kläffte sie.

Annie kehrte in die Mitte der Rückbank zurück. Bellte. Sprang über die Lehne in den Kofferraum. Bellte noch mal, hob den Schwanz und hechtete mit Blick auf Frechette zur hinteren Stoßstange.

Frechette verstand die Botschaft. «Nimm die Fährte auf, Annie. Such!»

Etwas zu enthusiastisch sprang sie aus dem Wagen und musste dann kehrtmachen, um die Fährte wiederzufinden. In wenigen Minuten hatte sie die Spur aufgenommen, rannte mit gesenktem Kopf unangestrengt kreuz und quer, von Busch zu Busch, und schließlich den Abhang hoch. Die Männer folgten ihr.

Diesmal fielen Wyatt Dinge auf, die ihm zuvor entgangen waren: ein Busch mit einem abgeknickten Zweig, eine lange dunkle Haarsträhne zwischen zwei Blättern. Dem Zweig nach zu urteilen, war hier jemand erst vor kurzem vorbeigekommen.

Beim Aufspüren einer Fährte geht man nicht stur geradeaus. Sie fielen ein paar Meter zurück, ließen Annie genug Freiraum zum Arbeiten. Die Hündin preschte vor, machte kehrt, stürmte nach links, schlug einen rechten Haken. Ein älteres, erfahreneres Tier bewegte sich vermutlich langsamer, während Annie sich voll und ganz ins Zeug legte. Sie würde nicht aufgeben, bevor sie einen Treffer gelandet hatte.

Die Fährte führte im Zickzack den Abhang hinauf, als wäre die Person, der sie folgten, blind und ahnungslos durch die Dunkelheit gestolpert.

Weitere Spuren: ein Felsbrocken, der sich gelöst hatte, niedergetretene Grashalme, ein zerfetztes Stück Stoff. Wyatt merkte sich die Fundorte. Sie mussten diese Strecke später kartographieren, die Fundorte eintragen und die Beweise für die Analyse sichern.

Sie gelangten zu einem großen Felsen, der seitlich von einer rötlich braunen Flüssigkeit überzogen war. Geronnenes Blut, das der Starkregen nicht weggespült hatte, schlussfolgerte Wyatt. Sie warteten, während Annie den unteren Teil des Felsbrockens aufgeregt winselnd beschnupperte. Gut möglich, dass das Mädchen verletzt war. Dass es vor der Mutter zu sich gekommen und losgezogen war, um Hilfe zu holen.

Ein einsames Kind, mitten in der Nacht an der Straße …

Die Unterhaltung versiegte. Annie lief weiter. Schweigend folgten ihr die drei Männer. Oben auf dem Hügelkamm begann Annie zu bellen, rannte auf die Straße, zuerst geradeaus, dann nach rechts und links, danach zurück und schließlich wie von Sinnen in einem Kreis mit einem Durchmesser von etwa sieben Metern. Ungestüm jagte sie drei Meter nach unten in die Schlucht und machte wieder kehrt.

«Such!», befahl Frechette mit einem skeptischen Blick auf sein Tier. «Habe Ihnen ja gesagt, dass sie jung ist», murmelte er halb entschuldigend, halb erklärend.

Annie würdigte ihn keines Blickes mehr. Zunehmend enttäuscht lief sie im Kreis.

Kurz darauf machte die Hündin Platz, starrte Frechette an, kläffte zweimal, senkte den Kopf und legte sich hin. Keine Spur mehr von ihrem freundlichen, eifrigen Naturell. Stattdessen mied sie die Blicke der Männer.

«Was hat das zu bedeuten?», fragte Wyatt.

«Sie ist fertig. Sie hat die Fährte verloren und ist deshalb schlecht gelaunt. Sie muss sich ausruhen. Geben Sie uns eine halbe Stunde.»

Wyatt nickte dem Hundeführer zu. Der ging zu seinem Tier, um es zu beruhigen.

«Hunde verkraften Misserfolge schlecht», meinte Kevin.

«Geht mir auch so.» Wyatt trat an den Rand des Abgrunds und nahm den gewundenen Pfad in Augenschein, den sie gerade hochgekommen waren. War jemand – das vermisste Kind – so weit gekommen und hatte dann …

«Sir.»

Wyatt drehte sich zu Officer Todd Reynes um, der plötzlich neben ihm stand. «Todd», begrüßte er ihn. «Wie ich hörte, waren Sie als Erster hier. Vielen Dank, dass Sie gleich die Suche angeleiert haben.»

«Keine Ursache, Sir. Das ist der Spürhund, nicht wahr?»

«Annie. Sie hat ihre Sache gut gemacht und die Fährte bis hierher verfolgt. Aber jetzt ist sie ein bisschen gefrustet, wie Sie unschwer sehen können.»

«Hat sie die Fährte verloren?»

«Sieht ganz so aus.»

«Ich denke, ich weiß, warum.»

Wyatt zog eine Augenbraue hoch. «Nur zu, Officer», sagte er.

«Sehen Sie das Schild dort?»

Wyatt drehte sich zur Straße um. Fünf Meter weiter stand ein gelbes Straßenschild, auf dem vor einer scharfen Kurve gewarnt wurde.

«Als ich hier eintraf, habe ich das Warnschild bemerkt, weil der Mann, der uns verständigt hatte, daneben wartete. Und ungefähr dort …», Reynes deutete auf Annie, die immer noch am Boden lag und ihren Führer aufmüpfig anstarrte, «… stand der Krankenwagen.»

Wyatt streckte sich. «Wollen Sie sagen …»

«Dort haben die Sanitäter die Fahrerin auf die Trage gelegt.»

Der Groschen fiel. Wyatt schloss die Augen. Die Fährte, die die Hündin aufgeschnappt hatte, stammte von der Fahrerin und nicht von dem Mädchen.

«Ist immer knifflig», murmelte er. «Ich meine, man kann dem Hund sagen, dass er die Fährte aufnehmen soll, aber man kann ihm nicht sagen, welche.»

Er ging zu Frechette hinüber, um ihn aufzuklären. Frechette wiederholte, dass Annie sich ausruhen musste, bevor sie in zwanzig bis dreißig Minuten einen weiteren Versuch unternehmen konnten.

Gesagt, getan. Zwei weitere Versuche endeten mit demselben Ergebnis.

Annie fand eine Fährte vom Wagen bis zur Straße hoch. Sie führten sie um das Wrack herum, brachten sie zu dem reißenden Strom.

Annie wurde zusehends mürrischer und aufgebrachter. Sie hatte ihren Job gemacht.

Eine Fährte. Eine Spur. Eine Person, die sich mitten auf der Straße in Luft aufgelöst hatte.

So lautete Annies Bericht und sie wich nicht davon ab.

«Houston», erklärte Wyatt um kurz nach zehn, «wir haben ein Problem.»

Kapitel 5

Wovon träumt man, wenn man klein ist? Träumte man davon, Astronaut, Ballerina oder vielleicht sogar ein Superheld in rotem Cape zu werden, der von hohen Gebäuden springt? Womöglich wollte man Anwältin werden wie die Mutter oder Feuerwehrmann wie der Vater. Gut möglich, dass man sich mit keinem Familienmitglied identifizierte und nur endlich abhauen und nie wieder zurückschauen wollte.

Aber geträumt hat man.

Alle träumen. Kleine Jungen, kleine Mädchen, ob sie im Ghetto leben oder auf einem gepflegten Grundstück mit Springbrunnen und weißem Lattenzaun. Jeder möchte etwas werden, etwas tun.

Ich muss doch auch träumen, denke ich, kann mich jedoch beim besten Willen nicht daran erinnern.

Die Ärztin steht neben der Tür und unterhält sich mit dem, der behauptet, mein Mann zu sein. Sie stecken die Köpfe zusammen und sprechen leise – wie Liebende, denke ich, aber wieso ich diesen Eindruck habe, kann ich nicht sagen.

«Schlief sie vor dem Unfall besser?», fragt die Ärztin.

«Nein, höchstens ein paar Stunden pro Nacht.»

«Kopfschmerzen?»

«Immer noch schlimm. Sie verliert kein Wort mehr darüber, liegt auf dem Sofa mit einem Eisbeutel auf der Stirn.»

«Stimmung?»

Der Mann lacht sarkastisch. «An einem guten Tag ist sie nur deprimiert. An einem schlechten am Boden zerstört.»

Die Ärztin nickt. Auf ihrem Namensschild steht Dr. Sare Celik. Sie ist schön, hat einen dunklen Teint und feine Gesichtszüge. Wieder frage ich mich, in was für einem Verhältnis sie zu meinem Mann steht. «Beim sogenannten postkommotionellen Syndrom, das nach einer Gehirnerschütterung auftreten kann, kommt es häufig zu emotionaler Labilität», erklärt sie. «Für die Angehörigen ist das am schlimmsten. Wie steht es um ihr Erinnerungsvermögen? Hat sich das Kurzzeitgedächtnis gebessert?»

«Als sie wieder zu Bewusstsein kam, behauptete sie, mich überhaupt nicht zu kennen.»

Überrascht zieht Dr. Celik eine Augenbraue hoch und blättert die Akte durch, die sie in der Hand hält. «Ich habe natürlich gleich nach der Einlieferung ein Kopf-CT und eine Kernspintomographie veranlasst, keinerlei Auffälligkeiten. Aber da sie bereits mehrere Schädel-Hirn-Traumata hatte, möchte ich, dass die Untersuchungen innerhalb von vierundzwanzig Stunden wiederholt werden. Wie hat sie auf die Situation reagiert? Verstört, wütend, geweint?»

«Keine Reaktion. Es war so, als … Sie hat zwar behauptet, nicht zu wissen, dass ich ihr Mann bin, aber überrascht wirkte sie auch nicht.»

«Sie hat vor dem Unfall getrunken.»

Mein Mann errötete, als wäre all das hier seine Schuld. «Ich dachte, ich hätte alle Flaschen aus dem Haus verbannt», murmelt er.

«Bitte, denken Sie daran: Alkohol beeinträchtigt die Genesung des Gehirns stark. Bei Patienten in ihrem Zustand stört jeglicher Konsum den Heilungsprozess.»

«Ich weiß.»

«Ist das der erste Vorfall dieser Art?»

Er zögert, und selbst ich weiß, dass dem nicht so ist.

Dr. Celik mustert ihn mit ernster Miene. «Es gibt einen engen Zusammenhang zwischen Gehirnverletzungen und Alkoholmissbrauch, vor allem bei Patienten, die schon vorher getrunken haben. Und da Ihre Frau innerhalb von wenigen Monaten nicht eine, sondern gleich drei Gehirnerschütterungen hatte, ist sie sehr anfällig. Schon ein Glas Wein zeigt sofort eine starke Wirkung und birgt längerfristig das Risiko, abhängig zu werden.»

«Ich weiß.»

«Dieser neuerliche Unfall wird sie garantiert zurückwerfen. Es ist nicht ungewöhnlich, dass mehrere Hirnverletzungen innerhalb eines kurzen Zeitraums einen exponentiellen Effekt haben. Und der Gedächtnisschwund ist auch nicht weiter erstaunlich. Man muss damit rechnen, dass sie unter starken Kopfschmerzen, schwerer Erschöpfung und Konzentrationsschwierigkeiten leiden wird. Des Weiteren kann es vorkommen, dass sie extrem sensibel auf Licht, Gerüche, Geräusche reagiert. Oder sie hat das Gefühl, unter Wasser zu sein und alles verschwommen zu sehen. Selbstverständlich können solche Episoden die Angstgefühle verstärken und zu schlimmen Stimmungsschwankungen führen.»

«Super», sagt der Mann in grimmigem Tonfall.

«Ich würde versuchen, für Ruhe zu sorgen. Eine Routine etablieren und mich sklavisch daran halten.»

«Sicher. Dass sie nicht weiß, wer ich bin, wird sie bestimmt nicht daran hindern zu tun, was ich sage.»

Die Ärztin ignoriert seinen Einwand. «Sie müssen damit rechnen, dass sie schnell ermüdet. Ich würde sie nicht lange vor einem Bildschirm sitzen lassen. Ihr Gehirn muss sich ausruhen. Oh, und Autofahren ist strengstens untersagt.»

«Also … Ruhe in vertrauter Umgebung und um zehn ins Bett.»

Die Ärztin runzelt streng die Stirn, woraufhin der Mann/mein Mann sich mit der Hand durch die zerzausten Haare fährt.

Ich erinnere mich vage an etwas, zu einer anderen Zeit an einem anderen Ort.

Bitte, Nicky, lass uns nicht streiten. Nicht schon wieder.

Mir wird klar, dass ich diesen Mann einmal geliebt habe. Nur so lässt sich erklären, wie traurig mich seine Gegenwart jetzt macht.

Dr. Celik spricht über meine Bedürfnisse und die Pflege, die ich brauchen werde. Augenscheinlich ist sie mit meinem Fall vertraut. Mehrere Schädel-Hirn-Traumata, hat sie gesagt. Ich habe den Eindruck, ich sollte wissen, was das bedeutet, aber die Buchstaben geraten in meinem Kopf durcheinander, verkehren sich, verändern die Reihenfolge wie in einer Buchstabensuppe. Ich gebe auf. Mein Kopf tut weh, und ich spüre in den Schläfen, dass ein weiterer Migräneanfall bevorsteht.

Ich denke an Vero, die fliegen lernt.

Ich hatte einen Traum. Ich kann ihn fast benennen, wie ein Wort, das einem auf der Zunge liegt. Vor langer Zeit träumte ich in einem winzigen Apartment, das nach abgestandenem Zigarettenrauch, fettigem Essen und Hoffnungslosigkeit roch, von grünem Gras. Ich malte mir weite Felder und Orte aus, wo man sich frei bewegen konnte. Ich wünschte mir die Sonne auf meinem Gesicht.

Ich verspürte eine große Sehnsucht und begriff erst Jahre später, wonach.

Ich sehnte mich nach jemandem, der mich liebte.

O Vero, es tut mir unendlich leid.