Ohne jede Spur - Lisa Gardner - E-Book
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Ohne jede Spur E-Book

Lisa Gardner

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Beschreibung

Eine junge Frau verschwindet mitten in der Nacht – ohne jede Spur. Hübsch, blond, liebevolle Ehefrau und Mutter, Lehrerin, beliebt bei ihren Schülern. Als Detective Sergeant Warren das Haus in der idyllischen Vorstadtsiedlung Bostons betritt, scheint der Fall klar: Intakte Schlösser, keine Spuren eines Kampfes oder Einbruchs – Sandra Jones hat ihre Familie verlassen. Die Medien stürzen sich auf den Fall. Und schon bald sieht alles anders aus: Der Ehemann benimmt sich höchst verdächtig, die Tochter hütet ein Geheimnis, Nachbarn und Bekannte verstricken sich in Widersprüche. Und auch Sandra Jones' Fassade bröckelt … «Ein atemberaubender Thriller voller einfallsreicher Wendungen und mit einem schockierenden Ende.» Publisher's Weekly «Bestsellerautorin Lisa Gardner übertrifft sich hier selbst!» Jill M. Smith, RT Book Reviews

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Lisa Gardner

Ohne jede Spur

Thriller

Aus dem Englischen von Michael Windgassen

Ihr Verlagsname

Über dieses Buch

Eine junge Frau verschwindet mitten in der Nacht – ohne jede Spur. Hübsch, blond, liebevolle Ehefrau und Mutter, Lehrerin, beliebt bei ihren Schülern.

Als Detective Sergeant Warren das Haus in der idyllischen Vorstadtsiedlung Bostons betritt, scheint der Fall klar: Intakte Schlösser, keine Spuren eines Kampfes oder Einbruchs – Sandra Jones hat ihre Familie verlassen.

Die Medien stürzen sich auf den Fall. Und schon bald sieht alles anders aus: Der Ehemann benimmt sich höchst verdächtig, die Tochter hütet ein Geheimnis, Nachbarn und Bekannte verstricken sich in Widersprüche. Und auch Sandra Jones’ Fassade bröckelt …

 

«Ein atemberaubender Thriller voller einfallsreicher Wendungen und mit einem schockierenden Ende.»

Publisher’s Weekly

 

«Bestsellerautorin Lisa Gardner übertrifft sich hier selbst!»

Jill M. Smith, RT Book Reviews

Über Lisa Gardner

Lisa Gardner gehört zu den erfolgreichsten amerikanischen Thrillerautoren der Gegenwart. Sie lebt mit ihrer Familie und zwei Hunden in New England.

 

Lisa Gardner bei Rowohlt:

Ohne jede Spur

Die Frucht des Bösen

Wer stirbt, entscheidest du

Der Tag, an dem du stirbst

Du darfst nicht lieben

Blut ist dicker als Wasser

Der siebte Monat (Rowohlt E-Book Only)

Schmerz

Inhaltsübersicht

1. Kapitel2. Kapitel3. Kapitel4. Kapitel5. Kapitel6. Kapitel7. Kapitel8. Kapitel9. Kapitel10. Kapitel11. Kapitel12. Kapitel13. Kapitel14. Kapitel15. Kapitel16. Kapitel17. Kapitel18. Kapitel19. Kapitel20. Kapitel21. Kapitel22. Kapitel23. Kapitel24. Kapitel25. Kapitel26. Kapitel27. Kapitel28. Kapitel29. Kapitel30. Kapitel31. Kapitel32. Kapitel33. Kapitel34. Kapitel35. Kapitel36. Kapitel37. Kapitel[Leseprobe: Lisa Gardner, Schmerz]Prolog1. Kapitel2. Kapitel3. Kapitel

1. Kapitel

Ich habe mich schon immer gefragt, was in Leuten vor sich geht, die nur noch wenige Stunden zu leben haben. Spüren sie, dass etwas Grauenvolles passieren wird? Wünschen sie sich ihre Liebsten in der Nähe? Oder geschieht da einfach nur etwas, was wie vieles andere auch unausweichlich ist? Die Mutter von vier Kindern, die ihre Kleinen zu Bett bringt, in Gedanken bereits bei der Fahrgemeinschaft am nächsten Tag und der Wäsche, die noch zu machen ist – nimmt sie das Ende womöglich wahr wie ein unheimliches Knarren der Dielen im Flur? Oder die Sechzehnjährige, die davon träumt, am Samstag mit ihrem Freund shoppen zu gehen, dann aber die Augen aufschlägt und feststellt, dass sie nicht allein in ihrem Zimmer ist. Oder der Vater, der plötzlich aufwacht und denkt: Leck mich doch, kurz bevor ihn der Hammer zwischen die Augen trifft.

In den letzten sechs Stunden meiner Welt, so wie ich sie kannte, gebe ich Ree zu essen. Käsemakkaroni, dazu die Reste vom Putenbraten. Ich schneide einen Apfel in Spalten. Sie isst das feste weiße Fruchtfleisch und lässt die rote Schale zurück. Ich erkläre ihr, dass unter der Schale die meisten Vitamine sitzen. Ree ist vier, aber sie führt sich auf, als wäre sie vierzehn, verdreht die Augen. Wir haben darüber gestritten, was sie anzieht – sie möchte kurze Röcke, ihr Vater und ich wollen, dass sie längere trägt, sie verlangt einen Bikini, wir bestehen auf einem Einteiler. Schätze, es ist nur noch eine Frage von Wochen, bis sie um den Autoschlüssel bittet.

Danach will Ree auf dem Dachboden auf «Schatzsuche» gehen. Ich sage, es sei Zeit zu baden. Richtiger: zu duschen. Wir steigen immer zusammen in die alte Wanne oben im Badezimmer. Das machen wir so, seit sie zur Welt gekommen ist. Ree seift ihre beiden Barbies und die Quietscheente ein. Ich seife Ree ein. Am Ende duften wir beide nach Lavendel, und das ganze Badezimmer mit seinen schwarz-weißen Fliesen steht unter Dampf.

Ich mag unser Ritual im Anschluss an das Bad. Wir hüllen uns in große Handtücher und hüpfen durch den kühlen Flur in Jasons und mein Schlafzimmer, wo wir uns auf dem großen Bett ausstrecken, Seite an Seite wohlig eingemummelt. Nur die Zehen schauen heraus und berühren einander. Unser dicker gelbroter Kater Mr Smith springt aufs Bett, stiert uns aus seinen großen goldenen Augen an und zuckt mit dem Schwanz.

«Was hat dir heute am besten gefallen?», frage ich meine Tochter.

Ree rümpft die Nase. «Ich weiß nicht mehr.»

Mr Smith findet am Kopfende ein gemütliches Fleckchen und fängt an, sich zu putzen. Er ahnt, was jetzt kommt.

«Für mich war’s das Schönste, von der Schule nach Hause zu kommen und mit einer Umarmung begrüßt zu werden.» Ich bin Lehrerin. Es ist Mittwoch. Mittwochs bin ich gegen vier zu Hause, Jason geht um fünf. Ree kennt es nicht anders: Daddy ist tagsüber für sie da, Mommy am Abend und in der Nacht. Wir wollen nicht, dass sich Fremde um unser Kind kümmern.

«Kann ich mir einen Film angucken?», fragt Ree. Wenn wir sie ließen, würde sie nur noch vor dem Fernseher sitzen.

«Nein», antworte ich daher. «Erzähl mir lieber, was ihr heute in der Vorschule gemacht habt.»

«Nur einen kurzen Film», bettelt sie und schlägt auch gleich vor: «Veggie Tales!»

«Nein», wiederhole ich und kitzle sie unterm Kinn. Es ist fast acht, und ich weiß, sie ist müde und bockig. So kurz vor dem Schlafengehen möchte ich nicht, dass es zum Streit kommt. «So, und jetzt erzähl mir mal, wie’s in der Schule war. Was gab’s zu essen?»

Sie löst sich aus meinen Armen und kitzelt mich unterm Kinn. «Möhren.»

«Ach, ja?» Ich kitzle sie hinterm Ohr. «Wer hat sie mitgebracht?»

«Heidi.»

Sie versucht sich an meinen Achseln. Ich halte sie davon ab. «Hattet ihr Kunst oder Musik?»

«Musik.»

«Wurde gesungen oder ein Instrument gespielt?»

«Gitarre!»

Sie hat sich aus dem Handtuch geschält und knufft und kitzelt mich, wo immer sie mit ihren kleinen Fingern schnell genug hinlangen kann. Es ist das letzte Aufbäumen vor dem Zusammenbruch am Ende des Tages. Ich wehre sie ab, wälze mich lachend zur Seite und lande mit einem Plumps auf dem Holzboden, was sie noch mehr zum Kichern bringt. Mr Smith hat keinen Sinn für unser allabendliches Spielchen und verlässt das Zimmer.

Ich hole ein langes T-Shirt für mich und ein Nachthemdchen für sie. Gemeinsam putzen wir uns die Zähne vor dem ovalen Spiegel. Ree gefällt es, wenn wir gleichzeitig ausspucken. Zwei Geschichten, ein Lied und eine halbe Folge Veggie Tales später stecke ich sie schließlich ins Bett. Sie schlingt ihre Arme um Lil’ Bunny, und Mr Smith rollt sich neben ihren Füßen ein.

Halb neun. Unser kleines Haus gehört jetzt mir. Ich setze mich an den Küchentresen. Trinke Tee, korrigiere Klassenarbeiten, kehre dem Computer den Rücken, damit ich nicht in Versuchung gerate. Die Katzenuhr – ein Weihnachtsgeschenk von Jason an Ree – miaut zur vollen Stunde. Der Laut hallt durchs Haus und lässt es leerer wirken, als es in Wirklichkeit ist.

Ich habe kalte Füße. Es ist März und tagsüber noch kalt. Ich sollte Socken anziehen, bin aber zu faul aufzustehen.

Viertel nach neun. Ich mache meine Runde, verriegele die Hintertür und vergewissere mich, dass alle Fenster geschlossen sind. Als Letztes überprüfe ich die beiden Sicherheitsschlösser der stählernen Eingangstür. Wir leben in South Boston, in einer bescheidenen Siedlung, bewohnt von Vertretern der Mittelschicht, mit von Bäumen gesäumten Straßen und familienfreundlichen Parkanlagen. Jede Menge Kinder, jede Menge weißlackierte Gartenzäune.

Türen und Fenster sind einbruchsicher verstärkt. Wir, Jason und ich, haben unsere Gründe.

Schließlich stehe ich dann doch vor dem Computer. Ich sage mir, es ist Zeit, ins Bett zu gehen. Nur ja nicht an das Ding setzen. Aber ich werde es wohl doch tun. Eine Minute nur. Nachsehen, ob ich neue E-Mails habe. Warum auch nicht?

Im letzten Moment bringe ich ein Maß an Willenskraft auf, von dem ich gar nichts geahnt hatte, und schalte den Computer aus. Auch das gehört zu unseren Hausregeln: Vor dem Zubettgehen muss der Computer ausgeschaltet werden.

Wissen Sie: Ein Computer ist ein Portal, durch das man in Ihr Haus gelangen kann. Selbst wenn Sie das noch nicht wussten, werden Sie es irgendwann noch merken.

Zehn Uhr. Ich lasse in der Küche das Licht für Jason an. Er hat nicht angerufen, scheint also viel zu tun zu haben. Ist wohl in Ordnung so, sage ich mir. Er muss halt viel arbeiten. Für uns bleibt immer weniger Zeit. Kommt in den besten Familien vor, vor allem in denen mit kleineren Kindern.

Ich denke an unseren Urlaub zurück, den wir im Februar hatten, die kleine Auszeit, die je nach Standpunkt des Betrachters entweder das Beste oder das Schlechteste war, was uns passieren konnte. Ich will verstehen. Mir ein Bild machen von meinem Mann, von mir selbst. Es gibt Dinge, die, wenn einmal geschehen, nicht rückgängig zu machen sind, Worte, die, sobald sie ausgesprochen wurden, nicht zurückgenommen werden können.

Von alldem, was ich in den letzten Wochen verbockt habe, kann ich leider nichts wiedergutmachen, auch wenn ich es noch so sehr versuche, und das bedrückt mich mehr und mehr. Früher einmal habe ich tatsächlich noch geglaubt, Liebe allein könnte über all das hinwegtäuschen. Jetzt weiß ich es besser.

Ich gehe die Treppe hinauf und will ein letztes Mal nach Ree sehen. Vorsichtig stecke ich den Kopf zur Tür hinein. Mr Smiths goldene Augen leuchten mir entgegen. Er bleibt liegen, und ich kann’s ihm nicht verdenken. Es ist eine herzige Szene: Ree unter einer pink und grün geblümten Bettdecke zur Kugel zusammengerollt, den Daumen im Mund und mit Zotteln dunkler Locken, die unter der Decke hervorquellen. Sie sieht klein aus, wie das Baby, das ich – ich könnte es schwören – erst gestern bekommen habe. Inzwischen aber sind irgendwie schon vier Jahre vergangen, sie zieht sich selbst an, kann alleine essen und erklärt uns all ihre Ansichten über das Leben.

Ich glaube, ich liebe sie.

Ich glaube, Liebe ist kein adäquater Begriff für das, was ich in mir fühle.

Leise schließe ich die Tür, schleiche in mein Schlafzimmer und schlüpfe unter die blau-grüne Steppdecke – ein Hochzeitsgeschenk.

Die Tür steht einen Spaltbreit offen für den Fall, dass Ree unruhig wird. Für Jason habe ich das Licht im Flur angelassen.

Das Abendritual ist abgeschlossen, alles ist so, wie es sein soll.

Ich lege mich, das Kissen zwischen den Knien und die Hände unterm Ohr, auf die Seite, starre auf alles und nichts und glaube, müde zu sein. Mir geht all das durch den Kopf, was schiefgelaufen ist, ich wünschte, Jason wäre hier, bin aber gleichzeitig dankbar, dass er es nicht ist. Ich muss mir etwas einfallen lassen – bin aber ratlos.

Ich liebe mein Kind. Ich liebe meinen Mann.

Ich bin ein Idiot.

Und ich erinnere mich an etwas, an das ich seit Monaten nicht gedacht habe. Die Erinnerung ist so flüchtig wie ein Duft: Rosenblätter vor meinem Schlafzimmerfenster, zertreten, welk und halb verdorrt in der Hitze Georgias. Mamas Stimme hallt durch den dunklen Flur: «Ich weiß was, was du nicht weißt …»

«Pst, pst», flüstere ich jetzt. Ich fahre mir mit der Hand über den Bauch und finde, dass ich zu viele Gedanken auf Dinge verschwende, die ich seit Jahren zu vergessen versuche.

«Pst, pst, pst», flüstere ich wieder.

Und dann ist etwas unten vor der Treppe zu hören …

 

In den letzten Momenten, ehe die Welt, wie ich sie kannte, endete, würde ich Ihnen gerne erzählen können, dass ich draußen im Dunkeln eine Eule rufen hörte. Oder dass ich eine schwarze Katze über den Zaun habe springen sehen. Oder dass ich gespürt habe, wie sich mir die Nackenhaare sträubten.

Ich wünschte, ich könnte Ihnen sagen, dass ich die Gefahr erkannt und wie von Sinnen gekämpft habe. Denn gerade ich sollte doch wissen, wie schnell sich Liebe in Hass verkehrt, Begehren in Besessenheit. Gerade ich hätte es kommen sehen müssen.

Aber ich habe es nicht.

Und als – Gott steh mir bei – sein Gesicht aus dem Schatten vor meiner Tür auftauchte, ging mir spontan durch den Kopf, dass er immer noch so gut aussieht wie damals, als wir uns das erste Mal begegnet sind, und dass ich wieder einmal Lust verspürte, mit dem Finger sein Kinn nachzuzeichnen und ihm mit der Hand ins Haar zu greifen …

Als ich dann bemerkte, was er in der Hand hielt, dachte ich: Jetzt bloß nicht schreien. Ich musste meine Tochter schützen, meinen kostbaren Liebling, der nebenan im Bett lag und schlief.

Er betrat den Raum, hob beide Hände.

Ich schwöre, ich gab keinen Laut von mir.

2. Kapitel

Sergeant Detective D.D. Warren war verrückt auf All-you-can-eat-Buffets. Es ging ihr dabei weniger um Spachtelmassen wie Pasta oder darum, besonders viel vom Braten zu ergattern. Nein, mit den Jahren hatte sie sich eine sehr viel feiner abgestimmte Strategie angeeignet: Phase eins, die Salatbar. Nicht, dass sie ein Fan von Eisbergsalat gewesen wäre. Weil sie jedoch als alleinstehender Workaholic Ende dreißig im eigenen Kühlschrank eher Essen vorfand, dessen Haltbarkeitsdatum abgelaufen war, und auch nicht an Skorbut erkranken wollte – was sie mit ihren Essgewohnheiten durchaus riskierte –, bestand der erste Gang also in der Regel aus frischem Grünzeug.

Phase zwei: dünngeschnittenes Fleisch. Truthahn war okay, Schinken mit Honigkruste schon eine klare Steigerung, Roastbeef eindeutig die Krönung. Sie mochte es kirschrot in der Mitte und vor Blut triefend. Wenn ihr Fleisch, von der Gabel aufgespießt, nicht zuckte, hatte jemand in der Küche ein Verbrechen begangen.

Sie aß es allerdings trotzdem. Allzu viel durfte man von All-you-can-eat-Buffets eben nicht erwarten.

Also ein bisschen Salat, danach ein paar dünngeschnittene Scheiben Roastbeef. Ignorante Trottel hätten sich daraufhin unweigerlich für Kartoffeln als Fleischbegleiter entschieden. Ausgeschlossen! Als Sättigungsbeilage eigneten sich viel eher mit Cracker-Bröseln panierte Petersfischfilets, vielleicht drei oder vier Jakobsmuscheln und natürlich eisgekühlte Shrimps. Aber auch sautiertes Gemüse käme in Frage, etwa eine kleine Portion von der Brechbohnen-Kasserolle mit knusprig gebratenen Zwiebeln obendrauf. Perfekt.

Das Dessert war natürlich ebenfalls eine sehr wichtige Etappe im Selbstbedienungsprocedere. Käsekuchen fiel in dieselbe Kategorie wie Kartoffeln und Pasta – Anfängerfehler, Finger weg! Besser war es, mit einer Cremespeise oder einem Früchtecocktail zu beginnen. Und für einen Wackelpudding blieb dann immer noch Platz. Oder auch für eine Mousse au Chocolat. Und eine Crème brulée. Mit Stachelbeeren garniert – der Hammer.

Ja, sie würde sich für Crème brulée entscheiden.

Schade nur, dass es erst sieben Uhr in der Frühe war und das einzig Essbare in ihrem Loft im North End ein Päckchen Mehl.

D.D. wälzte sich in ihrem Bett auf die Seite, spürte den Magen grummeln und versuchte sich einzureden, dass nur dieser Teil von ihr Hunger hatte.

Draußen hinter den Fenstern war der Morgen grau. Wieder so ein kalter, ungemütlicher Märztag. Normalerweise wäre sie schon auf den Beinen und auf dem Weg ins Präsidium, aber sie hatte gestern einen Fall abgeschlossen, mit dem sie intensive zwei Monate beschäftigt gewesen war: die Exekution eines aufstrebenden Drogendealers, abgeknallt aus einem vorbeifahrenden Auto. Bei der Schießerei hatte es auch eine Mutter erwischt, die zufällig mit zwei kleinen Kindern in der Nähe gewesen war – und das nur drei Straßenecken von der Bostoner Polizeidirektion in Roxbury entfernt, was bei aller Tragik einer Beleidigung gleichkam.

Die Presse stand kopf. Anwohner hatten Mahnwachen organisiert und für mehr Sicherheit auf den Straßen protestiert.

Prompt war auf Veranlassung des Polizeipräsidenten eine Taskforce eingerichtet worden, angeführt – wie hätte es anders sein können? – von D.D., denn eine hübsche Blondine würde von der Presse natürlich nicht annähernd so hart rangenommen werden wie ein Kollege im ausgebeulten Anzug.

D.D. hatte nichts dagegen gehabt. Wieso auch, dafür lebte sie schließlich. Blitzlichtgewitter, eine hysterische Öffentlichkeit und rotgesichtige Politiker. Nur zu. Sie steckte die Medienschelte weg, zog sich dann hinter verschlossene Türen zurück und trommelte ihr Team zusammen. Glaubte da tatsächlich irgend so ein Spinner, während ihrer Dienstzeit eine ganze Familie abknallen zu können? Von wegen.

Sie hatten eine Liste der üblichen Verdächtigen angelegt und gehörig Druck gemacht. Sechs Wochen später war es so weit. Sie stürmten eine verlassene Lagerhalle in Hafennähe und zerrten ihren Mann aus seinem dunklen Versteck ins grelle Sonnenlicht. Bei laufenden Kameras.

Sie und ihr Team waren für vierundzwanzig Stunden Helden. Aber der nächste Vogel würde nicht lange auf sich warten lassen, und dann ging alles wieder von vorn los, das war der Lauf der Welt. Scheißen, wischen, abspülen. Und wieder scheißen.

Sie seufzte, warf sich von einer Seite auf die andere, fuhr mit der Hand über ihre besonders fadendichten Laken und seufzte wieder. Sie musste endlich aufstehen. Duschen. Wertvolle Zeit vergeuden, um Wäsche zu waschen und das Chaos in den Griff zu bekommen, das sich auf unerklärliche Weise ihrer Wohnung bemächtigt hatte.

Wieder dachte sie an das Buffet. Und an Sex, an heißen, wilden, aufreibenden Sex. Sie wollte mit den Händen einen steinharten Arsch packen. Sie wollte, dass sich Arme wie Stahlbänder um ihre Hüften schlangen. Sie wollte Bartstoppeln zwischen den Schenkeln scheuern spüren, während ihre Fingernägel diese kühlen weißen Laken in Fetzen rissen.

Verdammt nochmal. Sie warf die Decke zurück und verließ, nur mit T-Shirt und Höschen bekleidet, frustriert das Schlafzimmer.

Sie würde in ihrer Wohnung aufräumen. Eine Runde joggen. Ein Dutzend Doughnuts essen.

Sie schaffte es in die Küche, kramte die Dose Espressobohnen aus dem Kühlschrank, fand die Kaffeemühle und machte sich an die Arbeit.

Sie war jetzt achtunddreißig – um Himmels willen –, eine engagierte Ermittlerin, die fast immer nur arbeitete, weshalb sie sich manchmal ein bisschen einsam vorkam, so ganz ohne einen strammen Gatten oder kleine Hosenscheißer auf allen vieren. Aber jetzt war es zu spät, um sich anders zu entscheiden.

Sie schüttete den frisch gemahlenen Espresso in den winzigen Goldtrichter und drückte den Schalter. Die Maschine fing zu fauchen an. Der Duft beruhigte sie ein wenig. Sie machte sich daran, Milch aufzuschäumen.

Das Loft in North End hatte sie vor drei Monaten gekauft. Es war eigentlich viel zu chic für einen Cop und für sie nur dank des implodierenden Wohnungsmarktes von Boston erschwinglich gewesen. Spekulanten hatten gebaut, aber der Markt zog nicht mit. Plötzlich bot sich auch einfachen Arbeitern wie D.D. die Chance auf ein gutes Leben. Die Wohnung gefiel ihr. Offen, luftig, minimalistisch. Und wenn sie denn einmal zu Hause war, fand sie, dass es doch ganz schön wäre, häufiger zu Hause zu sein. Nicht wirklich, nur in Gedanken.

Mit der fertig zubereiteten Latte macchiato trat sie an die Fensterfront über der geschäftigen Seitenstraße. Immer noch unruhig, wie aufgedreht. Sie mochte den Ausblick auf die Straße voller Menschen, die es eilig hatten. Jede Menge individuelle Geschichten mit kleinen Dringlichkeiten. Niemand konnte sie sehen, geschweige denn auf irgendeine Gefälligkeit anhauen. Na bitte, sie hatte dienstfrei, und doch ging das Leben weiter. Keine schlechte Lektion für eine Frau wie sie.

Sie blies in den Berg aus Milchschaum, nippte an der Tasse und spürte, wie sich die innere Spannung noch ein bisschen mehr entknotete.

Sie hätte nicht zu dieser Hochzeit gehen sollen. Punkt. Eine Frau ihres Alters sollte alle Hochzeiten und Babypräsentationen boykottieren.

Verfluchter Bobby Dodge. Am Jawort hatte er sich tatsächlich fast verschluckt. Und Anabelle – unanständig reizend in ihrem schulterfreien weißen Brautkleid – hatte tatsächlich geweint. Und dann tappte Bella, die Hündin, mit zwei goldenen Bändern, zu einer Riesenschleife um das Halsband gewickelt, durch den Mittelgang nach vorn.

Wie zum Teufel sollte man da nicht ein bisschen emotional reagieren? Vor allem wenn Musik gespielt wurde und alle auf Etta James’ «At Last» zu tanzen anfingen – bis auf einen selbst, weil man vor lauter Arbeit nicht rechtzeitig einen Tanzpartner gefunden hatte.

D.D. trank mehr von ihrer Latte, stierte hinab auf das geschäftige kleine Treiben und grämte sich.

Bobby Dodge war verheiratet. Er hatte jemand Besseres gefunden als sie, und damit war der Fall erledigt. Er war verheiratet, und sie …

Verdammt, sie wollte flachgelegt werden.

 

D.D. hatte sich gerade ihre Laufschuhe zugebunden, als das Handy klingelte. Sie schaute auf das Display, krauste die Stirn und hielt den Apparat ans Ohr.

«Sergeant Warren», meldete sie sich, kurz angebunden.

«Guten Morgen, Sergeant. Hier Detective Brian Miller, Revier C-6. Tut mir leid, wenn ich störe.»

D.D. zuckte mit den Achseln und wartete. Weil aber der Detective nicht sofort nachlegte, fragte sie: «Wie kann ich Ihnen helfen, Detective Miller?»

«Tja, da wäre etwas …» Es wurde wieder still in der Leitung, und wieder wartete D.D.

Das Revier C-6 war die für den Süden der Stadt zuständige Dienststelle des Bostoner Police Departments. Als Sergeant des Morddezernats hatte D.D. kaum mit Detectives vom C-6 zu tun. South Boston war kein besonders heißes Pflaster. Diebstahl, Einbruch, Raub, so etwas gab es, ja. Aber nur selten Mord und Totschlag.

«Um fünf Uhr heute Morgen ist ein Anruf bei uns eingegangen», erklärte Miller schließlich. «Von einem Ehemann, der angab, nach Hause gekommen zu sein und festgestellt zu haben, dass seine Frau weg ist.»

D.D. setzte sich auf den Stuhl und hob eine Braue. «Er ist um fünf nach Hause gekommen?»

«Um fünf hat er angerufen. Sein Name ist Jason Jones. Sagt Ihnen das was?»

«Sollte es?»

«Er arbeitet als Reporter für den Boston Daily. Deckt den Lokalbereich für South Boston ab und schreibt längere Artikel über das, was im Stadtrat oder in Ausschüssen passiert. Anscheinend arbeitet er hauptsächlich nachts. Am Mittwoch ging’s um die städtische Wasserversorgung. Dann wurde er zu einem Hausbrand gerufen. Wie auch immer, gegen zwei in der Nacht hat er das Büro verlassen und ist nach Hause zurückgekehrt. Seine vierjährige Tochter fand er schlafend in ihrem Zimmer vor, aber seine Frau war verschwunden.»

«Verstanden.»

«Die Kollegen, die als erste vor Ort waren, haben sich routinemäßig umgesehen», fuhr Miller fort. «Das Auto der Vermissten steht vor dem Haus, ihre Handtasche und die Hausschlüssel liegen auf dem Küchentresen. Keinerlei Spuren gewaltsamen Eindringens, aber oben im Schlafzimmer ist eine Nachttischlampe zerbrochen, und eine blau-grüne Steppdecke scheint zu fehlen.»

«Okay.»

«Dem ersten Anschein nach hat eine Mom ihr Kind alleingelassen. Die Kollegen vor Ort haben Meldung erstattet. Und meinen Boss informiert. Wir haben daraufhin die ganze Nachbarschaft abgegrast, in sämtlichen Geschäften nachgefragt, Freunde und Verwandte aufgesucht und so weiter und so fort. Um es kurz zu machen, es hat sich bislang kein einziger Hinweis ergeben.»

«Ist keine Leiche aufgetaucht?»

«Nein, Ma’am.»

«Blutspritzer? Fußabdrücke, kollaterale Schäden?»

«Nur die kaputte Nachttischlampe.»

«Ist das ganze Haus durchsucht worden? Speicher, Keller, Zwischenböden?»

«Wir bemühen uns.»

«Was soll das heißen?»

«Der Ehemann ist … nicht besonders kooperativ.»

«Blödsinn.» Und plötzlich hatte D.D. eine Antwort auf die Frage, warum ein Bezirkspolizist wegen einer vermissten Frau eine Mitarbeiterin des Morddezernats anrief. Und warum diese Mitarbeiterin nun ihr Jogging streichen konnte. «Diese Mrs Jones ist nicht zufällig jung, weiß und gut aussehend?»

«Dreiundzwanzig Jahre alt, blond und Lehrerin. Mit einem Lächeln, das jeden Fernseher aufleuchten lässt.»

«Bitte sagen Sie jetzt nicht, dass Sie all das auch über Funk durchgegeben haben.»

«Warum habe ich wohl Ihr Handy angewählt?»

«Wie lautet die Adresse? Geben Sie mir zehn Minuten, Detective Miller. Bin gleich zur Stelle.»

 

D.D. ließ die Laufschuhe im Wohnzimmer zurück, die Turnhose im Flur und das Sporthemd im Schlafzimmer. Jeans, ein weißes, vorn zugeknöpftes Top, ein Paar Lederstiefel, und sie war fertig für draußen. Sie klippte den Pager an den Gürtel, hängte sich ihre Ausweise um den Hals und steckte das Handy in die Gesäßtasche.

Eine letzte kurze Pause vor der Garderobe, wo sie ihre Lieblingsjacke aus karamellfarbenem Leder vom Bügel nahm.

Und schon war Sergeant Warren unterwegs zur Arbeit, die sie liebte.

 

South Boston hat selbst für Bostoner Maßstäbe eine lange, bunte Geschichte. Mit dem Bankenviertel auf der einen und dem blauen Meer auf der anderen Seite ist dieser Stadtteil so was wie ein malerisches Fischernest mit allen Annehmlichkeiten großstädtischen Lebens. Ursprünglich stammten die Anwohner eher vom unteren Ende der gesellschaftlichen Skala. Einwanderer, hauptsächlich aus Irland, hausten in verlausten Mietskasernen – bis zu dreißig Personen in einem Raum –, schliefen auf Stroh und teilten sich einen Eimer als Latrine. Das Leben war hart, von Krankheit und Seuchen geplagt, und die Armut war jedermanns ständiger Begleiter.

Schnellvorlauf um hundertfünfzig Jahre: «Southie» war nunmehr weniger Wohngegend als ein Way of Life. Der brachte Whitey Bulger hervor, einen der berüchtigtsten Gangsterbosse Bostons, der während der Siebziger in der sozialen Randlage seine persönliche Spielwiese gefunden hatte, die eine Hälfte der Anwohnerschaft an die Nadel brachte und die andere in seinen Dienst stellte. Mit dem Viertel ging es aber dennoch weiter, Nachbarn kümmerten sich umeinander, und aus jeder Generation taffer Überlebenskünstler gingen neue taffe Überlebenskünstler hervor. Außenseiter blickten da nicht durch, aber das war den Southies nur recht so.

Unglücklicherweise ging dieser Stadtteilcharakter verloren. Als eines Jahres ein Großereignis am Hafen stattfand, kamen Heerscharen von Yuppies in die vergessene Gegend aus ärmlichen Wohnblocks und pockennarbigen Straßen und entdeckten das Meerpanorama, die vielen Grünflächen und guten katholischen Schulen. Zehn Minuten von der Stadtmitte Bostons entfernt gab es hier eine Gegend, in der sich samstags morgens eigentlich nur eine Frage stellte: ob man nach rechts in den Park oder nach links zum Strand gehen sollte.

Unnötig zu erwähnen, dass diese Leute bald ihre Immobilienmakler fanden, und ehe man sich’s versah, entstanden millionenteure Eigentumsapartments am Wasser, während die alten dreistöckigen Wohnhäuser Preise erzielten, die einen schwindelig machten.

Die Gemeinde in South Boston veränderte sich grundlegend – sowohl was die ökonomischen Verhältnisse betraf, als auch die ethnische Zusammensetzung. Gleich blieben die großen Parks und baumgesäumten Straßen. Zu den irischen Pubs kamen schicke Cafés hinzu. Und zu den kinderreichen Familien mischten sich aufstrebende Singles. Ein angenehmes Wohnviertel, wenn man sich denn hier früh genug eingekauft hatte.

D.D. ließ sich von ihrem GPS zu der Adresse lotsen, die ihr Detective Miller genannt hatte, und stand schließlich in Ufernähe vor einem hübschen kleinen Haus, braun und cremefarben gestrichen, mit einem winzigen Rasen davor und überragt von einem noch kahlen Ahornbaum. Zwei Gedanken drängten sich ihr gleichzeitig auf. Ein Landhaus in Boston? Und: Tüchtig, dieser Detective Miller! Seit der Meldung waren fünfeinhalb Stunden vergangen, aber nichts deutete hier auf ein Verbrechen hin, keine gelben Bänder, die den Tatort abgrenzten, keine Streifenwagen und, besser noch: keine Presse. Haus und Straße lagen ruhig da. Die sprichwörtliche Ruhe vor dem Sturm.

D.D. fuhr dreimal um den Block, bevor sie schließlich ein paar Straßen weiter unten parkte. Wie Miller wollte auch sie Aufsehen vermeiden.

Die Fäuste in den Taschen und mit eingezogenen Schultern, um sich vor der Kälte zu schützen, ging sie zu Fuß zurück und sah den Kollegen im Vorgarten auf sie warten. Er war kleiner als erwartet, hatte schütteres braunes Haar und einen Siebziger-Jahre-Schnauzbart. Seinem Erscheinungsbild nach war er bestens geeignet, verdeckt zu ermitteln, ganz unauffällig. Niemand würde ihn zur Kenntnis nehmen, geschweige denn bemerken, dass er herumschnüffelte. Außerdem hatte er die bleiche Hautfarbe eines Mannes, der die meiste Zeit unter Neonleuchten zubrachte. Ein typischer Bürohengst, dachte D.D., musste aber sogleich ihr Urteil revidieren.

Miller kam über den Rasen auf sie zu und schloss sich ihr an. Im Gleichschritt schlenderten beide weiter. Polizeiarbeit hatte manchmal auch ein bisschen was von Schauspielerei. Heute mimten sie ein Paar beim Morgenspaziergang. Millers zerknitterter brauner Anzug war für einen solchen Anlass vielleicht ein wenig zu vornehm, D.D. hingegen sah in der engen Hose und ihrer Lederjacke einfach umwerfend aus.

«Sandra Jones arbeitet in der Mittelschule», begann Miller. Er sprach leise und gehetzt. «Gemeinschaftskunde, sechste Klasse. Zwei Kollegen sind noch vor Ort und stellen Fragen, aber es scheint, dass niemand etwas von ihr gehört hat, seit sie gestern gegen halb vier die Schule verließ. Wir haben in der näheren Umgebung sämtliche Geschäfte und Kneipen abgeklappert. Nichts. Die Spüle ist voller Geschirr, auf dem Küchentisch liegen ihre Handtasche und ein Stapel korrigierter Klassenarbeiten. Laut Auskunft des Ehemanns macht sich Sandra immer erst dann an ihre Arbeit, wenn sie ihre Tochter um acht ins Bett gebracht hat. Wir gehen davon aus, dass sie mit ihrer Tochter mindestens bis halb neun, neun zu Hause war. Auf ihrem Handy sind nach sechs keine ein- oder ausgehenden Anrufe aufgelistet. Ob übers Festnetz telefoniert wurde, wird gerade überprüft.»

«Gibt es Großeltern, Tanten, Onkel, Cousins?», fragte D.D. Die Sonne hatte sich endlich durch die graue Wolkendecke gebrannt, doch es blieb kalt, und der Wind, der vom Meer herbeiwehte, drang ihr durch die Lederjacke.

«Nein, nur ihr Vater. Lebt in Georgia, die beiden haben sich allerdings ziemlich entfremdet. Der Ehemann wollte nichts Näheres dazu sagen. Nur dass diese alte Geschichte für ihr Verschwinden ohne Belang sei.»

«Nett, dass der Gatte uns das Denken abnimmt. Haben Sie sich mit dem Vater in Verbindung gesetzt?»

«Ich hätte es getan, wenn ich wüsste, wie er heißt.»

«Hat der Ehemann den Namen nicht genannt?» D.D. war verblüfft.

Miller schüttelte den Kopf. Auch er hatte die Hände in den Hosentaschen vergraben und atmete dünne Dampfwölkchen aus. «Sie werden ihn noch kennenlernen. Machen Sie sich auf was gefasst. Haben Sie schon mal diese TV-Serie gesehen, die im Krankenhaus spielt?»

«Emergency Room?»

«Nein. Kommt mehr Sex drin vor.»

«Grey’s Anatomy?»

«Genau die. Wie war noch gleich der Name dieses Arztes? McDuff, McDevon …»

«McDreamy?»

«Stimmt. Mr Jones könnte ein Zwillingsbruder sein. Der gleiche Dreitagebart und dieses Gefransel auf dem Kopf. Ich kann’s mir schon lebhaft vorstellen, wenn der auf den Titelseiten erscheint, wird er mehr Fanpost bekommen als Scott Peterson. Schätze, uns bleiben noch rund zwanzig Stunden. Entweder Sandra Jones ist bis dahin gefunden, oder wir sind am Arsch.»

D.D. seufzte. Die beiden hatten das Ufer erreicht und bogen nach rechts. «Männer sind nicht zurechnungsfähig», murmelte sie ungeduldig. «Mittlerweile kommt im Wochenrhythmus irgendein gutaussehender, vom Leben verwöhnter Typ daher und versucht seine Eheprobleme zu lösen, indem er seine Frau umbringt und behauptet, sie sei verschwunden. Und sofort stürzt sich die Presse darauf –»

«Wir haben eine Wette laufen. Fünf zu eins auf Nancy Grace, vier zu eins auf Greta Van Susteren.»

D.D. warf ihrem Kollegen einen schiefen Blick zu. «Woche für Woche das gleiche Spiel. Die Polizei stellt eine Sondereinheit auf die Beine, Freiwillige durchkämmen die Wälder, die Küstenwache siebt den Hafen durch, und was dann?»

Miller schaute sie fragend an.

«Die Leiche der Frau wird gefunden, und der Ehemann landet zwanzig Jahre bis lebenslänglich im Knast. Sollte man nicht meinen, dass inzwischen mindestens einer dieser Typen begriffen hat, dass es besser ist, eine altmodische Scheidung durchzuziehen?»

Miller hatte dazu nichts zu sagen.

D.D. seufzte wieder und fuhr sich mit der Hand durchs Haar. «Na schön, was sagt Ihr Bauch? Glauben Sie, die Frau ist tot?»

«Wahrscheinlich», antwortete Miller geradeheraus. «Zerbrochene Lampe, fehlende Steppdecke. Vermutlich ist darin die Leiche eingewickelt und weggeschafft worden. Und weil solche Decken schön saugfähig sind, haben wir kein Blut gefunden.»

«Glauben Sie, der Ehemann war’s?»

Miller zog ein zusammengefaltetes gelbes Blatt Papier aus der Innentasche seines braunen Sportjacketts und reichte es ihr. «Das wird Ihnen gefallen. Der Ehemann war zwar, wie gesagt, nicht gerade kooperativ, hat uns aber erklärt, wo und wie er den gestrigen Abend zugebracht hat, und darüber hinaus auch gleich Namen und Telefonnummern von Personen genannt, die dies bezeugen können.»

«Donnerwetter, das nenne ich umsichtig.» D.D. faltete das Blatt auseinander und überflog die Liste der Namen. An erster Stelle stand Larry Wade, Brandschutzmeister, dann James McConnagal, Massachusetts State Police. Es folgten drei weitere Namen von Kollegen der Bostoner Polizei. D.D. traute ihren Augen nicht. Vor Wut fingen ihre Hände zu zittern an. «Was ist dieser Typ nochmal von Beruf?»

«Reporter. Bei der Boston Daily. Letzte Nacht ist ein Haus abgebrannt. Er behauptet, da gewesen zu sein, um zu berichten, zusammen mit all diesen ehrenwerten Herren.»

«Na wunderbar. Haben Sie schon bei einem von denen nachgefragt?»

«Nein, ich weiß doch ohnehin, was sie sagen werden.»

«Dass sie ihn gesehen, aber nicht weiter auf ihn geachtet haben», führte D.D. aus. «Da stand ja schließlich ein Haus in Flammen, und alle waren fleißig im Einsatz. Vielleicht hat er diese Leute um ein Statement gebeten, um sich ein Alibi zu verschaffen, und ist dann unbemerkt verschwunden …»

«Mag sein. Ein besseres Alibi gibt’s kaum. Es wird von einem halben Dutzend unserer eigenen Leute bestätigt. Sie haben ihn gesehen. Ob er auch die ganze Zeit über vor Ort war, steht auf einem anderen Blatt. Und was heißt das?» Miller fuchtelte mit dem ausgestreckten Zeigefinger herum. «Lassen Sie sich von Mr Jones nicht an der Nase herumführen. Er sieht nicht nur gut aus, sondern scheint auch was auf dem Kasten zu haben. Unfair, wie Vorzüge verteilt sind.»

D.D. reichte ihm das Blatt Papier zurück. «Berät er sich mit einem Anwalt?» Sie hatten die Straßenecke erreicht und machten in stummem Einverständnis kehrt. Der Wind blies jetzt von vorn und schleuderte ihnen die scharfe Feuchtigkeit vom Meer ins Gesicht.

«Noch nicht. Er weigert sich schlichtweg, auf unsere Fragen zu antworten.»

«Haben Sie ihn vorgeladen?»

«Ja, aber er verlangt einen richterlichen Beschluss.»

D.D. zog die Augenbrauen zusammen. Dieser McDreamy war in der Tat nicht auf den Kopf gefallen. Zumindest wusste er um seine Rechte besser Bescheid als der Durchschnitt. Interessant. Sie senkte den Kopf und wandte ihr Gesicht vom Wind ab. «Keine Spuren gewaltsamen Eindringens?»

«Nein. Und was halten Sie davon: Sowohl Eingangs- als auch Hintertür sind aus Stahl.»

«Tatsächlich?»

«Ja. Mit Doppelzylinder. Oh, und fast alle Fenster sind zusätzlich mit Sperrbügeln abgesichert.»

«Wie bitte? Und was sagt Mr Jones dazu?»

«Auch auf diese Frage hat er nicht geantwortet.»

«Gibt es eine Alarmanlage? Videoüberwachung vielleicht?»

«Zweimal nein. Auch keine Nanny Cam. Ich habe mich erkundigt.»

Sie näherten sich jetzt dem Haus, jenem hübschen Fünfziger-Jahre-Landhaus, das wie Fort Knox befestigt zu sein schien.

«Stahltüren», murmelte D.D. «Keine Videoüberwachung. Da fragt man sich, was das soll. Schutz vor Einbrechern oder Ausbrechern?»

«Glauben Sie, die Frau wurde missbraucht?»

«Soll vorkommen. Sie sagten, da sei noch ein Kind.»

«Ein Mädchen von vier Jahren. Clarissa Jane Jones, genannt Ree.»

«Schon mit ihr gesprochen?»

Miller zögerte. «Sie hat die ganze Zeit über auf dem Schoß ihres Vaters gesessen und wirkte ziemlich verschüchtert. Er hätte mit Sicherheit nicht zugelassen, dass ich allein mit ihr rede, also hab ich’s gar nicht erst versucht. Nachzubohren lohnt sich erst, wenn wir ein paar Informationen mehr haben.»

D.D. nickte. Kinder zu befragen war heikel. Manche Kollegen verstanden sich darauf, andere nicht, und zu letzteren zählte offenbar auch Miller. Wohl unter anderem auch deshalb gehörte D.D. einer höheren Besoldungsgruppe an.

«Steht Jones unter Aufsicht?», fragte sie. Die beiden stiegen ein paar Stufen hinauf und gelangten vor eine grüne Fußmatte, auf der in blauen Lettern und von gelben Blumen umkränzt das Wort Willkommen stand. Die hat wahrscheinlich das kleine Mädchen ausgesucht, dachte D.D.

«Vater und Tochter sind im Wohnzimmer, zusammen mit einem Kollegen, der auf sie aufpasst. Mehr ist momentan nicht drin.»

«Momentan», wiederholte sie, immer noch den Blick auf die Fußmatte gerichtet. «Sie haben das ganze Haus durchsucht?»

«Zu neunzig Prozent.»

«Auch die Autos?»

«Ja.»

«Außengebäude?»

«Ja.»

«Geschäfte, Nachbarn, Freunde, Verwandte, Kollegen – überall umgehört?»

«Wir sind dabei.»

«Und von Sandra Jones immer noch keine Spur.»

Miller warf einen Blick auf seine Armbanduhr. «Wir suchen seit ungefähr sechs Stunden, bislang vergeblich.»

«Aber im Schlafzimmer deutet einiges auf ein Verbrechen hin. Wir haben in der vierjährigen Tochter eine potenzielle Zeugin und in Sandras Ehemann, dem Journalisten, einen potenziellen Täter. Ist das so richtig zusammengefasst?»

«In etwa.» Miller deutete auf die Eingangstür und verriet einen ersten Hinweis auf Ungeduld. «In welcher Reihenfolge wollen Sie vorgehen? Haus, Ehemann oder Kind?»

D.D. legte die Hand auf den Türknauf. Ihr Bauchgefühl hatte eine Antwort. Trotzdem wollte sie sich die Frage nochmal durch den Kopf gehen lassen. Die ersten Stunden nach Eingang einer Meldung, die offenließ, ob ein Verbrechen vorlag oder nicht, waren entscheidend für jede Ermittlung. Es gab womöglich Verdachtsmomente, aber keine klaren Indizien, auffällige Personen vielleicht, aber keine Hauptverdächtigen. Also kein Ende, an dem man den Fall zu fassen bekam.

D.D. seufzte. Ihr war klar, dass sie so bald nicht würde nach Hause zurückkehren können, und in diesem Wissen traf sie ihre Wahl.

3. Kapitel

Ich erkenne Cops auf den ersten Blick. So ist das mit den besonderen Talenten. Andere können beim Pokern enorm gut bluffen – ich bin gut im Erkennen von Cops.

Der erste in Zivil fiel mir beim Frühstück auf. Ich hatte mir gerade eine Schale Rice Crispies zurechtgemacht und lehnte an dem stumpfen Resopaltresen, um zu essen. Mit Blick durch das winzige Fenster über der Spüle sah ich ihn, hübsch eingerahmt von Gardinenspitze: männliches Subjekt, weiß, circa eins fünfundsiebzig, dunkle Haare, dunkle Augen. Er ging auf der anderen Straßenseite Richtung Süden, trug schlichte Chinos, ein Sportsakko, das nach Tweed aussah, und ein blaues Oberhemd. Die dunkelbraunen Schuhe waren auf Hochglanz poliert und hatten dicke schwarze Gummisohlen. In der rechten Hand hielt er ein kleines Notizbuch mit Spiralrücken.

Ein Cop.

Ich nahm einen Löffel Crispies, kaute, schluckte und nahm wieder einen Löffel.

Der zweite Typ tauchte ungefähr anderthalb Minuten später auf. Größer – an die eins fünfundachtzig, mit kurzgeschnittenem blondem Haar und feistem Kinn von der Sorte, auf die weniger stabile Typen wie ich unwillkürlich draufhauen wollen. Er trug eine ähnliche Hose, ein ähnliches Sportjackett und ein weißes Oberhemd. Kollege Nummer zwei arbeitete sich auf meiner Straßenseite entlang.

Dreißig Sekunden später klopfte er an meine Tür.

Ich kaute, schluckte und nahm einen neuen Löffel.

Um sechs Uhr fünf geht mein Wecker, jeden Morgen von Montag bis Freitag. Ich stehe auf, dusche, rasiere mich, steige in eine alte Jeans und ziehe ein altes T-Shirt über. Ich gehöre zu denen, die keine Shorts, sondern enge Unterhosen tragen. Außerdem bevorzuge ich kniehohe weiße Fußballersocken mit dunkelblauen Bündchen am Saum. So ist es immer gewesen und wird es immer sein.

Sechs fünfunddreißig: Ich bin fertig mit den Rice Crispies, spüle Schale und Löffel und lege sie zum Trocknen auf das verschossene grüne Geschirrtuch, das neben der Spüle aus Edelstahl ausgebreitet liegt. Sechs fünfzig: Ich gehe zur Arbeit in die Kfz-Werkstatt, wo ich einen ölverschmierten blauen Overall anziehe und unter ein Auto krieche. Ich bin handwerklich geschickt und finde darum überall Arbeit. Aber mein Platz ist unter einem Auto. Mit Kunden will ich nichts zu tun haben, so etwas liegt mir einfach nicht.

Ich arbeite bis sechs und habe mittags eine Stunde Pause. Ein langer Tag mit Überstunden, aber nur so komme ich auf meinen Schnitt, und, wie gesagt, ich bin geschickt mit den Händen und rede nicht viel, weshalb ich mit meinen Bossen in der Regel gut auskomme. Nach der Arbeit gehe ich nach Hause. Zum Abendessen mache ich mir meistens Ravioli warm. Dazu eine Folge Seinfeld. Gegen zehn dann ab ins Bett.

Aus gehe ich nie. Ich besuche keine Bars und sehe mir auch keine Filme mit Freunden im Kino an. Ich esse, schlafe und arbeite. Für mich ist jeder neue Tag genau so wie der davor. Ein Leben ist das wohl nicht. Eher ein Existieren.

Die Psychos haben einen Begriff dafür: als-ob-normal.

Wie man anders leben könnte, weiß ich nicht.

Ich nehme einen weiteren Löffel Crispies, kaue, schlucke und wiederhole das Ganze.

Es klopft wieder an der Tür.

Das Licht ist ausgeschaltet. Meine Vermieterin, Mrs H., ist in Florida bei ihren Enkeln, und nur für mich allein hat es keinen Sinn, Strom zu verschwenden.

Ich stelle die Schale mit dem Rest aufgeweichter Crispies ab. In diesem Moment gibt der Cop auf. Ich wechsele auf die andere Seite der Küche und sehe ihn, vorsichtig durchs Fenster spähend, zum Nachbarn gehen und an dessen Tür klopfen.

Routineermittlung. Die Cops klappern die Straße ab. Und sie kamen von Norden. Offenbar ist dort, vielleicht auf dieser Straße, etwas passiert.

Mir fällt etwas ein, woran ich eigentlich gar nicht erinnert werden will, was ich aber trotzdem im Hinterkopf habe, seit dieser Alarm losging und ich ins Badezimmer gegangen bin, um auf mein Spiegelbild über dem Waschbecken zu stieren. Dieses Geräusch, das zu hören war, als ich letzte Nacht den Fernseher ausmachte. Was ich womöglich weiß, ohne es wissen zu wollen, was mir aber jetzt nicht mehr aus dem Kopf geht.

Mir ist der Appetit vergangen. Ich setze mich auf den Küchenstuhl.

Achtzehn Minuten vor sieben. Normal tun ist heute wohl nicht drin.

Heute wird es richtig abgehen.

Mir fällt es schwer zu atmen. Mein Herz rast, meine Hände schwitzen. Und mir geht so vieles gleichzeitig durch den Kopf, dass ich ganz schwindlig werde und jemanden stöhnen höre, was mich durcheinanderbringt, bis mir auffällt, dass ich es selbst bin, der stöhnt.

Ihr Lächeln, ihr süßes, süßes Lächeln. Wie sie zu mir aufblickt, als wäre ich drei Meter groß, als könnte ich die Weltkugel auf meiner Hand tragen.

Und dann laufen ihr Tränen übers Gesicht. «Nein, nein, nein. Bitte, Aidan, aufhören. Nein …»

Die Cops werden wiederkommen. Früher oder später. Zu zweit oder zu dritt, vielleicht mit einer Spezialeinheit, die das Haus stürmt. Allein dafür existieren Typen wie ich: Jede Gemeinde hat einen Schurken, und da hilft es auch nichts, normal zu tun.

Ich muss nachdenken. Einen Plan fassen. Die Kurve kratzen.

Aber wohin? Für wie lange? So viel Geld habe ich nicht …

Ich versuche, meinen Atem zu kontrollieren. Mich zu beruhigen. Mir einzureden, dass alles in Ordnung ist. Ich halte mich doch ans Programm. Kein Alkohol, keine Zigaretten, kein Internet. Ich besuche regelmäßig meine Treffen und bin sauber.

Normal leben, normal sein, richtig?

All das hilft nicht. Ich falle in alte Gewohnheiten zurück, muss das zur Kenntnis nehmen, wovon ich weiß, dass es wirklich zutrifft.

Ich kann verdammt gut lügen, insbesondere Polizisten gegenüber.

 

D.D. fing in der Küche mit ihrer Durchsuchung an. Wenn sie den Kopf nach links drehte und durch die Tür blickte, konnte sie den Mann sehen, der auf dem dunkelgrünen Sofa saß mit einer bunten afghanischen Decke im Rücken. Jason Jones rührte sich nicht, ebenso wenig wie das Kind mit Lockenkopf, das er an seine Brust drückte, seine Tochter Ree. Sie schien eingeschlafen zu sein.

D.D. achtete darauf, den Blick nicht allzu lange auf den beiden ruhen zu lassen. In dieser frühen Phase der Ermittlungen wollte sie sich nicht in den Vordergrund spielen. Millers Vermutung traf zu: Sie hatten es mit einem intelligenten Mann mit Kontakten zu tun, der seine Rechte kannte. Um ihm oder der vierjährigen mutmaßlichen Zeugin irgendwelche brauchbaren Hinweise zu entlocken, musste sie behutsam vorgehen.

Sie konzentrierte sich auf die Küche.

Die Küche hatte, wie das Haus insgesamt, den epochalen Charme der Fünfziger bewahrt, zeigte aber auch deutlich ihr Alter. Das schwarz-weiße, in Schachbrettmuster verlegte Linoleum war an vielen Stellen abgewetzt. Die Küchengeräte, von manchen vielleicht als retro bewundert, machten auf D.D. einen uralten Eindruck. Der Raum war sehr klein. Die geschwungene Arbeitsplatte in der Mitte, die auch als Esstheke diente, war gerade noch so groß, dass zwei mit rotem Vinyl bezogene Hocker davor Platz fanden. Vor dem Fenster stand ein kleiner Esstisch, der als solcher aber offenbar nicht verwendet wurde, da er von einem Computer belegt war.

Interessant, fand D.D. Eine dreiköpfige Familie, aber Sitzmöglichkeiten nur für zwei. Ob dieses Detail bereits etwas aussagte über die Dynamik innerhalb der Familie?

Die Küche schien gepflegt zu sein. Die Arbeitsflächen waren abgewischt, die Geräte standen in Reih und Glied vor dem schwarz-weißen Fliesenspiegel. Die Ordnung wirkte aber nicht pedantisch. In der Spüle befand sich noch schmutziges Geschirr, und im Abtropfgestell standen Teller und Tassen, die noch darauf warteten, in die Schränke eingeräumt zu werden. Über dem Herd hing eine alte Uhr mit Gabel und Löffel als Zeiger, während blassgelbe Vorhänge mit aufgedruckten Spiegeleiern den oberen Teil des Fensters zierten. Altmodisch, aber heimelig. Hier hatte sich jemand bei der Einrichtung viel Mühe gegeben.

D.D. sah ein rotkariertes Geschirrtuch an einem Haken hängen und beugte sich nach vorn, um daran zu schnuppern. Miller warf ihr einen irritierten Blick zu, doch sie zuckte nur mit den Achseln.

Zu Beginn ihrer beruflichen Laufbahn war sie mit einem Misshandlungsfall betraut worden; ein herrischer Ehemann mit Namen Pat Daley hatte seine Frau Joyce gezwungen, das Haus Tag für Tag mit militärischer Präzision sauber zu machen. D.D. erinnerte sich noch an den beißenden Gestank von Ammoniak, der ihr Tränen in die Augen getrieben hatte, als sie von Zimmer zu Zimmer gegangen und schließlich – wie hätte es anders sein können? – in einen Raum gelangt war, wo es nicht mehr nach Ammoniak stank, sondern ganz widerlich nach getrocknetem Blut. Die gute alte Joyce hatte anscheinend das Bett nicht sorgfältig genug bezogen und war von Pat daraufhin so übel zugerichtet worden, dass sie Blut pinkelte, und als sie glaubte, sterben zu müssen, hatte sie die Flinte aus dem Truck ihres Gatten geholt und es vorsorglich so eingerichtet, dass er ihr ins Jenseits folgte.

Joyce hatte den von den Faustschlägen ihres Mannes verursachten Nierenschaden überlebt. Nicht so Pat, dem von der Flinte ein Großteil des Gesichts weggerissen worden war.

Die Küche machte einen normalen Eindruck auf D.D. Nichts deutete auf einen zwanghaften Putz- oder Ordnungsfimmel hin. Hier hatte eine Hausfrau Abendessen gemacht, und die mit Ketchupresten bekleckerten Teller standen noch in der Spüle.

D.D. fasste nun die schwarze Ledertasche ins Auge, die auf dem Küchentresen lag. Wortlos bekam sie von Miller ein Paar Latexhandschuhe gereicht. Sie nickte dankbar und fing an, den Inhalt der Handtasche zu begutachten.

Als Erstes nahm sie sich das Handy von Sandra Jones vor. Da auch deren Ehemann ohne weiteres darauf hätte zugreifen können, zögerte sie nicht lange und schaute die gespeicherten SMS und Anruflisten durch. Dabei fiel ihr auf, dass für eine der Nummern der Name HOME eingetragen war. Eine Mom will wissen, was die Tochter zu Hause treibt, zweifelsohne. Die zweithäufigst gewählte Nummer war JASONMOB. Eine Ehefrau will wissen, was der Gatte treibt.

Ohne Passwort kam man nicht in die Mailbox. Egal. Miller würde sich mit dem Betreiber in Verbindung setzen und die Nachrichten wie auch alle anderen Einträge von deren Datenbank abrufen lassen. Für polizeiliche Ermittlungen eine prima Informationsquelle, über die sich auch in Erfahrung bringen ließ, mit wem und von wo aus Sandra zuletzt telefoniert hatte.

Außer dem Handy enthielt die Handtasche drei verschiedene Lippenstifte in gedeckten Pinktönen, zwei Kugelschreiber, eine Nagelfeile, einen Müsliriegel, ein schwarzes Haargummi, eine Lesebrille, ein Portemonnaie mit zweiundvierzig Dollar, einen gültigen, in Massachusetts ausgestellten Führerschein, zwei Kreditkarten, drei Kundenkarten und eine, mit der sie in einer Buchhandlung Rabatt in Anspruch nehmen konnte. Schließlich zog D.D. noch ein kleines Notizbuch mit Spiralrücken hervor. Es enthielt Einkaufslisten sowie Memos für Besorgungen und Termine. D.D. legte das Büchlein als wichtigsten Fund beiseite, was Miller mit nickendem Einverständnis quittierte.

Neben der Handtasche lag ein großer Schlüsselbund. D.D. hielt ihn fragend in die Höhe.

«Der Autoschlüssel gehört zu dem grauen Volvo-Kombi, der in der Einfahrt steht. Zwei Schlüssel sind fürs Haus. Mit den vier übrigen Schlüsseln wissen wir noch nichts anzufangen. Vermutlich passt zumindest einer ins Türschloss ihres Klassenzimmers. Ich setze einen Kollegen darauf an.»

«Haben Sie schon im Kofferraum des Kombis nachgesehen?»

Miller schien von ihrer Frage ein bisschen verletzt zu sein. «Natürlich, Ma’am. Aber da ist nichts von Interesse.»

D.D. verzichtete auf eine Entschuldigung. Sie legte die Schlüssel ab und widmete sich den Klassenarbeiten, die mit roter Tinte fein säuberlich korrigiert waren. Sandra Jones hatte ihren Schülern die Aufgabe gestellt, auf einer halben Seite die Frage zu beantworten: «Als Gründer meines eigenen Dorfes würde ich als oberstes Gebot von allen Bewohnern verlangen, dass sie … Warum?»

Manche Schüler hatten nur einen oder zwei Sätze zustande gebracht. Zweien war es gelungen, fast eine ganze Seite zu füllen. Sandra Jones hatte jede Arbeit mit ein, zwei Kommentaren versehen und mit einer umkringelten Ziffer in der rechten oberen Ecke benotet. Ihre Handschrift war sehr weiblich, und einige wenige Schüler hatten sich Smileys verdient. Ein Fälscher, befand D.D., hätte an ein solches Detail bestimmt nicht gedacht. Es war also davon auszugehen, dass Sandra Jones an diesem Küchentisch gesessen und die Arbeiten korrigiert hatte, was sie laut Auskunft ihres Ehemannes immer erst dann zu tun pflegte, wenn die kleine Ree im Bett lag.

Gegen neun am Abend würde Sandra Jones demnach noch gelebt haben. Dann …

D.D. richtete den Blick auf den Computer, ein relativ neues Gerät von Dell, das auf dem kleinen roten Tisch am Fenster stand. Sie seufzte.

«Eingeschaltet?», fragte sie hoffnungsvoll.

«Ich wollte mich nicht in Versuchung bringen», antwortete Miller.

Eine heikle Angelegenheit, denn die Geheimnisse des Computers waren nur mit ausdrücklicher Genehmigung des Ehemanns zu lüften. Vielleicht ließ sich mit ihm verhandeln.

D.D. wandte sich der engen Stiege im hinteren Teil der Küche zu.

«War die Spurensicherung auch oben?», fragte sie.

«Ja.»

«Wo steht deren Transporter?»

«Fünf Blocks entfernt, vor einer Kneipe. Ich komme mir vor wie ein Grünschnabel.»

«Schön. Haben die Kollegen die Treppe unter die Lupe genommen?»

«Als Erstes», versicherte Miller. Dann fügte er hinzu: «Hören Sie, Sergeant, wir sind hier seit sechs Uhr in der Früh, zwischenzeitlich mit nicht weniger als zehn Kollegen, die das ganze Haus auf den Kopf gestellt haben, den Keller, sämtliche Schlafzimmer, Kleiderschränke, den Garten. Das Einzige, das für uns von Belang sein könnte, ist eine zerbrochene Nachttischlampe und eine Steppdecke, die nicht mehr da ist, wo sie sein sollte, nämlich im Elternschlafzimmer. Ich habe die Jungs von der Spurensicherung nach oben geschickt, um zu tun, wofür sie bezahlt werden, und den Rest der Truppe ausschwärmen lassen, damit sie Sandra Jones zurückholen oder zumindest herausfinden, was mit ihr passiert ist. Wir machen unseren Dienst nach Vorschrift, aber das hat uns noch nicht weit gebracht.»

D.D. seufzte wieder, legte ihre Hand aufs Geländer und stieg über schokoladenbraune Stufen nach oben.

Dort war es so gemütlich wie unten. D.D. duckte sich unwillkürlich, weil zwei alte Leuchter fast bis auf Kopfhöhe von der Decke herabhingen. Der Flur war mit Parkett ausgelegt und ebenso dunkelbraun getönt wie die Stufen. In den Ecken hatte sich Schmutz gesammelt. Ein paar feine Haare wirbelten unter ihren Füßen auf. D.D. tippte auf ein Haustier, das allerdings bislang unerwähnt geblieben war.

Sie blieb stehen und blickte zurück auf zahllose Fußabdrücke im Staub. Nur gut, dass die Spurensicherung schon alles aufgenommen hatte, dachte sie. Unwillkürlich krauste sie die Stirn, als ihr im Anschluss daran ein beunruhigender Gedanke durch den Kopf ging.

Fast hätte sie ihn laut ausgesprochen, hielt sich aber zurück. Es war wohl besser, damit zu warten. Alles zu seiner Zeit.

Von Miller gefolgt, passierte sie ein vollgestopftes Badezimmer, das ähnlich wie die Küche im Stil der Fünfziger dekoriert war. Ihm gegenüber befand sich unter steil abfallender Dachschräge ein bescheidenes Schlafzimmer mit Einzelbett, auf dem eine pinkfarbene Bettdecke lag. Die Wände waren hellblau gestrichen und mit Wolken, Vögeln und Schmetterlingen verziert. Hier schlief offenbar die Tochter. D.D. verspürte einen Stich, als sie an die kleine Clarissa Jane Jones dachte, die in diesem hübschen Nest gelegen hatte und dann wohl von einem Trupp durchs Haus latschender Polizisten in dunklen Anzügen aufgeschreckt worden war.

D.D. hielt sich nicht lange im Kinderzimmer auf und ging weiter den Flur entlang in Richtung Elternschlafzimmer.

Vor dem Fenster standen zwei Kollegen der Spurensicherung. Sie hatten soeben das Rollo runtergelassen und damit begonnen, das Zimmer mit Blaulicht zu durchsuchen. D.D. und Miller blieben im Flur zurück, während eine der beiden Gestalten im weißen Overall die Wände und den Fußboden nach Spuren von Körperflüssigkeiten ableuchtete. Sobald ein Fleck zu sehen war, trat die zweite in Aktion und markierte die Stelle mit einem Schildchen. Der ganze Vorgang dauerte an die zehn Minuten. Das Bett ließen sie aus. Laken, Decken und Kopfkissen waren wahrscheinlich schon im Labor.

Die eine Gestalt ließ schließlich das Rollo wieder hochschnappen, schaltete die intakt gebliebene Nachttischlampe an und grüßte D.D. mit einem heiteren «Hiya, Sergeant».

«Wie läuft’s, Marge?»

«Gut, wie immer.»

D.D. trat vor, um ihre Hand zu schütteln, dann auch die des Kollegen Nick Crawford. Sie kannten einander seit langem und hatten schon viel zu viel Zeit an Orten wie diesem und unter ähnlichen Umständen zugebracht.

«Was gefunden?», fragte D.D.

Marge zuckte mit den Achseln. «Vielleicht. Muss natürlich noch analysiert werden. Was Besonderes scheint allerdings nicht dabei zu sein. Ich meine, in welchem Schlafzimmer gäb es nicht irgendwo Spuren von Körperflüssigkeiten?»

D.D. nickte. Wurde ein Raum auf Körperflüssigkeiten hin abgesucht, galt es in der Regel, vor allem auf zweierlei zu achten: erstens auf Spritzer oder Lachen, zweitens auf die eventuelle völlige Abwesenheit von Körperflüssigkeiten, die darauf schließen ließ, dass jemand Chemikalien eingesetzt und besonders gründlich geputzt hatte. Wie Marge schon sagte, in jedem Schlafzimmer waren Spuren zu finden.

«Was ist mit der zerbrochenen Lampe?», fragte D.D.

«Wir haben alle Scherben aufgesammelt», antwortete Nick. «Dem Anschein nach ist die Lampe entweder umgekippt und zu Boden gefallen oder als Waffe verwendet worden. Auf den ersten Blick lassen sich am Lampenfuß allerdings keine Blutspuren entdecken.»

D.D. nickte. «Und das Bettzeug?»

«Es fehlt eine blau-grüne Steppdecke. Alles andere scheint in Ordnung zu sein.»

«Habt ihr euch auch schon im Badezimmer umgesehen?», fragte D.D.

«Ja.»

«Zahnbürsten?»

«Als wir gekommen sind, waren zwei immer noch feucht. Die eine, ein rosafarbenes Barbie-Modell, gehört offenbar dem Mädchen. Die zweite ist eine elektrische Oral-B. Mr Jones gibt an, dass sie seiner Frau gehört.»

«Schlafanzüge?»

«Er trägt einen Pyjama, sie ein langes violettes T-Shirt mit dem Aufdruck eines Kükens mit Krone. Gefunden haben wir’s noch nicht.»

«Andere Kleider? Koffer?»

«Nach der ersten Bestandsaufnahme durch den Ehemann scheint nichts zu fehlen.»

«Schmuck?»

«Ihre Armbanduhr und der Ehering sind nicht mehr da. So auch die zwei goldenen Armreifen, die sie laut Ehemann nur selten ablegt. In dem Schmuckkästchen haben wir nur ein paar Ketten gefunden und zwei selbstgemachte Armbänder, offenbar ein Geschenk des Kindes. Der Ehemann meint, dass sie an Schmuck nicht mehr besitzt.»

D.D. wandte sich an Miller. «Auf dem Kreditkartenkonto hat sich wohl nichts bewegt, oder?»

Miller setzte wieder seine beleidigte Miene auf, die ihr Antwort genug war.

«Nach allem, was wir wissen», überlegte sie laut, «ist Sandra Jones gestern Nachmittag von der Schule nach Hause zurückgekehrt. Sie hat ihrer Tochter Essen gemacht, sie ins Bett gebracht und anschließend Klassenarbeiten korrigiert. Dann hat sie sich irgendwann die Zähne geputzt, das Nachthemd angezogen, und es scheint, dass sie ins Schlafzimmer gegangen ist, wo …»

«… die Lampe zu Bruch ging», ergänzte Marge schulterzuckend. «Vielleicht war schon jemand da und ist über sie hergefallen. Das würde erklären, warum keine Blutspritzer zu finden sind.»

«Vielleicht wurde sie erwürgt», meinte Miller.

«Untersucht die Kopfkissen», sagte D.D. «Es kann auch sein, dass sie im Schlaf erstickt wurde.»

«Erstickt, erwürgt. Still und leise, jedenfalls ohne Blutvergießen», pflichtete Nick bei.

«Dann wurde die Leiche in die Steppdecke gewickelt und aus dem Haus geschleift», schloss Miller.

D.D. schüttelte den Kopf. «Nein, es gibt keine Schleifspuren. Und an dieser Stelle wird’s kompliziert.»

«Was soll das heißen, keine Schleifspuren?», fragte Miller irritiert.

«Werfen Sie einen Blick in den Flur. Da sind ganz deutlich unsere Fußabdrücke zu erkennen, was kaum möglich wäre, wenn eine Leiche, mit einer Decke umwickelt, darüber hinweggezogen worden wäre. Dann hätten wir eine Schleifspur vom Schlafzimmer bis zur Treppe. Aber nichts dergleichen. Das heißt, die Leiche wurde nicht über den Boden gezogen.»

Miller krauste die Stirn. «Okay, dann wurde sie eben getragen.»

«Die Leiche einer erwachsenen Frau als Wrap? Durch einen so engen Flur?» D.D. zog die Brauen hoch. «Dazu bräuchte man schon Bärenkräfte. Und wie sollte die Biegung der Treppe zu schaffen sein, ohne irgendwo anzustoßen? Es müssten dort Spuren zu sehen sein.»

«Zwei Männer?», schlug Marge vor.

«Doppelt so viel Lärm, doppelt so hohes Risiko, erwischt zu werden.»

«Wie also stellen Sie sich den Ablauf vor?»

«Ich weiß nicht», antwortete D.D. «Aber es könnte doch auch sein, dass sie nicht hier in diesem Zimmer getötet worden ist. Vielleicht war sie unten, saß auf dem Sofa und schaute fern, als es an der Tür klingelte. Oder ihr Mann kam nach Hause zurück …» Sie dachte nach und ließ sich die verschiedenen Szenarien durch den Kopf gehen. «Er hat sie woanders umgebracht, ist zurückgekommen, um die Steppdecke zu holen, und hat dabei die Lampe vom Nachttisch gerissen.»

«Das hieße, wir hätten den eigentlichen Tatort noch nicht gefunden», murmelte Miller und legte die Stirn in Falten. Er glaubte, seine Hausaufgaben gemacht zu haben, und konnte sich nicht erklären, warum keine klareren Indizien entdeckt worden waren.

Alle vier sahen einander an.

«Ich tippe auf den Keller», sagte D.D. «Schlimme Dinge scheinen doch immer im Keller zu passieren. Wollen wir mal nachsehen?»

 

Sie gingen über die Treppe zurück ins Erdgeschoss und kamen an dem Zimmer vorbei, wo ein uniformierter Kollege in der offenen Tür stand und immer noch auf Jason Jones und seine schlafende Tochter achtgab. Jones blickte auf, als sie durch den Flur gingen, und D.D. sah für einen kurzen Moment seine braunen Augen auf sich gerichtet. Miller hatte schon die Kellertür geöffnet, hinter der tückische Holzstufen in ein muffiges Souterrain hinabführten, das von vier nackten Glühbirnen spärlich beleuchtet wurde. Vorsichtig stiegen sie nach unten. Denn es kam häufiger vor, als man dachte, dass Polizisten im Dienst Treppen hinunterstürzten und sich die Knochen brachen. Blamabel.

Unten angekommen, blickte D.D. in ein typisch schäbiges Kellerloch mit gemauertem Fundament und aufgesprungenem Estrich. Vor ihnen standen eine elfenbeinfarbene Waschmaschine samt Trockner, ein alter Beistelltisch mit einem Wäschekorb aus Plastik und einem Paket Waschmittel darauf. Des Weiteren: der allgegenwärtige Stapel ramponierter Gartenstühle, Umzugskartons und ausrangierte Babymöbel. Gleich neben der Treppe befand sich ein Kunststoffregal voll von dem, was in der Speisekammer offenbar keinen Platz mehr hatte. Cornflakes, Konservendosen, Cracker, Nudeln, Suppen, das Übliche halt.

Der Keller war staubig, aber aufgeräumt und mit einer Freifläche in der Mitte, die groß genug war, um mit dem veilchenblauen Dreirädchen, das neben den Stufen zur Gartentür parkte, darauf im Kreis zu radeln.

D.D. ging auf die Gartentür zu. In der rechten oberen Ecke hatte eine Spinne ihr Netz gebaut, und auf der dunklen Klinke lag eine dicke Staubschicht. Diese Tür war mit Sicherheit seit längerem nicht geöffnet worden. D.D. zweifelte an ihrer Vermutung. Warum jemanden im Keller töten und dann nach oben bugsieren? Warum die Leiche nicht in der Nacht durch die Gartentür nach draußen schaffen?

Nick und Marge leuchteten mit Taschenlampen den Boden ab, während Miller abwartend am Rand stand, die Hände in den Taschen vergraben. Er hatte sich hier bereits umgesehen und schien zuversichtlich, dass seine schon vor Stunden gezogenen Schlussfolgerungen bestätigt werden würden.

Es dauerte nicht lange, und D.D. war bereit, ihm recht zu geben. Der Keller erinnerte sie an die Küche; er war weder dreckig noch sauber. Genau richtig für eine dreiköpfige Familie.

Ohne sich irgendetwas davon zu versprechen, warf sie einen Blick in die Waschmaschine. Und plötzlich stockte ihr der Atem.

«Ach du Scheiße», sagte sie mit Blick durch den geöffneten Deckel des Topladers, in dem eine blau-grüne Steppdecke steckte.

Miller kam zu ihr, gefolgt von den Kollegen der Spurensicherung. «Ist das …? Ich glaub’s nicht. Den beiden Trotteln, die sich als Erste den Keller vorgenommen haben, werd ich was pfeifen.»

«Hey, ist das nicht die Steppdecke?», fragte Nick reichlich dämlich.

Marge hatte sich schon über die Maschine gebeugt und zog die Decke daraus hervor, sorgsam darauf bedacht, dass sie nicht auseinanderfiel und den Boden berührte.

«Hat er die etwa gewaschen?», dachte D.D. laut. «Der Gatte wäscht die Decke, hat aber keine Zeit, sie zu trocknen, weil er die Polizei anrufen muss? Oder wurde sie von der Frau gewaschen, und wir jagen seit ein paar Stunden einem Indiz hinterher, das gar keines ist?»

Vorsichtig breitete Marge die Decke aus, ließ Nick den Saum aufnehmen und hielt selbst die andere Seite gepackt. Die Decke hatte offenbar länger in der Waschmaschine gelegen: tiefe Falten, Waschmittelduft – frisch, sauber. Als die beiden sie aufschüttelten, rollte ein nasser violetter Ball daraus hervor und fiel klatschend zu Boden.

D.D. trug nach wie vor ihre Latexhandschuhe und ging in die Hocke. «Vermutlich Sandra Jones’ Nachthemd», sagte sie und faltete ein T-Shirt auseinander, auf dessen Vorderseite tatsächlich ein gekröntes Küken prangte.

Alle vier beteiligten sich an der Suche nach Spuren von Blut oder Rissen, die auf einen Kampf hingedeutet hätten. Nach irgendwelchen Hinweisen.

D.D. beschlich wieder das ungute Gefühl, etwas Auffälliges vor Augen zu haben und trotzdem nicht zur Kenntnis zu nehmen.

Wer nimmt sich die Zeit, eine Decke und ein Nachthemd zu waschen, lässt aber eine zerbrochene Lampe am Boden liegen? Welche Frau würde sich ohne Kind, Handtasche und Auto aus dem Staub machen?

Und mit was für einem Typ von Ehemann hatten sie zu tun, der, von der Arbeit zurückgekehrt, feststellt, dass seine Frau verschwunden ist, und erst drei Stunden später die Polizei benachrichtigt?

«Speicher, Zwischenböden?», fragte D.D. mit Blick auf Miller. Nick und Marge falteten die Decke fürs Labor zusammen. Falls kein Bleichmittel verwendet worden war, würden noch Spuren darauf zu erkennen sein. Sie nahmen D.D. das violette Nachthemd aus der Hand und steckten es in eine zweite Plastiktüte.

«Keine Zwischenböden. Der Speicher ist ziemlich klein, und außer Weihnachtsschmuck gibt er nicht viel her», berichtete Miller.

«Wandschränke, Gefriertruhen, Außengebäude, Feuerstellen im Garten?»

«Nichts, nichts, nichts.»

«Und dann hätten wir da noch den großen blauen Hafen.»

«Allerdings.»

D.D. seufzte schwer und versuchte es mit einer letzten Möglichkeit: «Das Fahrzeug des Gatten?»

«Ein Pick-up. Er hat uns einen Blick auf die Ladefläche gestattet, sich aber geweigert, die Türen zur Fahrerkabine zu öffnen.»

«Ganz schön auf der Hut, der Kerl.»