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Lisa Gardner

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Beschreibung

472 Tage lang lernte sie, wie viel ein Mensch ertragen kann: Flora Dane, College-Studentin, am helllichten Tag gekidnappt. Wie durch ein Wunder überlebte sie. Und entkam ihrem Peiniger. Sieben Jahre ist das nun her – doch vergessen kann Flora nicht. Die Wände ihres Zimmers sind voller Fotos: Mädchen, die weniger Glück hatten als sie. Mädchen, die jetzt tot sind. Flora schwört, sie niemals im Stich zu lassen. Und dann ist wieder eine junge Frau verschwunden. Kurz darauf wird Detective D.D. Warren an den Tatort eines grausigen Verbrechens gerufen: Ein Mann – verbrannt. Eine junge Frau – nackt und gefesselt. Flora Dane.

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Seitenzahl: 574

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Lisa Gardner

Die Überlebende

Thriller

Aus dem Englischen von Michael Windgassen

Ihr Verlagsname

Über dieses Buch

472 Tage lang lernte sie, wie viel ein Mensch ertragen kann:

Flora Dane, College-Studentin, am helllichten Tag gekidnappt. Wie durch ein Wunder überlebte sie. Und entkam ihrem Peiniger. Sieben Jahre ist das nun her – doch vergessen kann Flora nicht. Die Wände ihres Zimmers sind voller Fotos: Mädchen, die weniger Glück hatten als sie. Mädchen, die jetzt tot sind. Flora schwört, sie niemals im Stich zu lassen.

 

Und dann ist wieder eine junge Frau verschwunden. Kurz darauf wird Detective D.D. Warren an den Tatort eines grausigen Verbrechens gerufen: Ein Mann – verbrannt. Eine junge Frau – nackt und gefesselt. Flora Dane.

Über Lisa Gardner

Lisa Gardner gehört zu den erfolgreichsten amerikanischen Thrillerautoren der Gegenwart: Jeder ihrer Romane schaffte es in die Top Ten, die Rechte werden in 30 Länder lizenziert, bisher verkauften sich insgesamt über 22 Millionen Exemplare.

Die Autorin lebt mit ihrer Familie und zwei Hunden in New Hampshire.

Allen Überlebenden gewidmet

1. Kapitel

Was ich nicht wusste:

Wenn du in einer dunklen Holzkiste aufwachst, sagst du dir, unmöglich, das kann nicht sein. Natürlich stemmst du dich von unten gegen den Deckel. Klar, was sonst? Du schlägst mit den Fäusten an die Wände, trommelst mit den Hacken gegen das Fußende. Du stößt dir den Kopf, immer und immer wieder, obwohl es weh tut. Und du schreist. Du schreist und schreist und schreist. Rotz läuft dir aus der Nase. Tränen schießen dir in die Augen. Bis du dich an den eigenen Schreien verschluckst. Dann hörst du ganz seltsame, traurige, erbärmliche Geräusche, ahnst, was es mit der Kiste auf sich hat, dass du darin eingeschlossen bist, und dir wird plötzlich klar: Du bist es, die diese Geräusche macht.

Kiefernkisten bestehen nicht nur aus glatten Oberflächen. Es können zum Beispiel Luftlöcher mit rauem Rand darin vorkommen. Steckt man den Finger in ein solches Loch und stochert verzweifelt darin herum auf der Suche nach … was auch immer, fängt man sich womöglich einen Splitter ein. Den versuchst du dann mit den Zähnen aus dem Fleisch zu ziehen. Dann saugst du an dem verletzten Finger, leckst das Blut von der Kuppe und japst wieder wie ein Welpe vor dich hin.

Du bist allein in der Kiste. Es ist furchtbar. Überwältigend. Entsetzlich. Mit am schlimmsten ist, dass du nicht weißt, was du noch alles zu fürchten hast.

Du lernst die Kiste immer besser kennen, dieses Zuhause fern von daheim. Du rutschst mit den Schultern hin und her, um die Breite zu ermitteln. Mit den Händen tastest du die Länge ab. Du ziehst die Beine an und stellst fest, dass der Spielraum für die Knie fehlt. Du hast auch nicht genug Platz, um dich herumzudrehen. Die Kiste ist genauso groß wie du, wie für dich gemacht, dein ganz persönlicher Kiefernsarg, in dem du dir Steiß, Schulterblätter und Hinterkopf wund scheuerst.

Ein Gutes: Zeitungspapier ist auf dem Boden ausgelegt. Es fällt einem anfangs nicht auf, und wenn es auffällt, weiß man zuerst nicht, wozu es ausgelegt wurde. Bis sich zum ersten Mal die Blase entleert. Dann liegt man tagelang im eigenen Dreck. Wie ein Tier, denkst du.

Dein Mund trocknet aus, die Lippen platzen auf. Du rammst deine Finger in diese Luftlöcher und reißt dir die Haut an den rauen Rändern auf, nur um etwas zu schmecken, zu saugen und zu schlucken zu haben. Du lernst ganz neue Seiten an dir kennen. Völlige Hilflosigkeit. Deinen Uringestank. Das Salz deines Blutes.

Trotzdem hast du immer noch keine Ahnung.

Wenn du schließlich Schritte hörst, kannst du es kaum glauben. Du sagst dir: Du delirierst. Du träumst. Du bist ein nichtsnutziger Rest aus menschlicher Haut. Ein dummes, dummes Mädchen, das sich besser in Acht genommen hätte und selbst schuld daran ist, dass es jetzt in dieser Lage ist. Trotzdem ist draußen, auf der anderen Seite der Holzwand, nur wenige Zentimeter vom Ohr entfernt, ein metallisches Klicken zu hören …

Vielleicht fängst du wieder zu schreien an. Das heißt, du würdest vielleicht schreien, wenn du noch ein bisschen Spucke im Mund hättest.

Wenn du ihn siehst, den Mann, der dir dies antut, bist du erleichtert. Ja, geradezu glücklich. Du starrst auf seine dicken Backen, die Knopfaugen, den geöffneten Mund und die gelben Zähne und denkst, Gott sei Dank. Gott sei Dank, Gott sei Dank.

Er hilft dir aus der Kiste, ja, er hebt dich heraus, weil es deine Beine nicht mehr schaffen, deine Muskeln sind schlaff, und dein Kopf baumelt herab. Darüber musst du kichern. Was du nie für möglich gehalten hättest: Er baumelt tatsächlich. Köpfe können baumeln. Dein Kopf baumelt.

Herrje, was für ein Gestank! Knoblauch und Schweiß und dreckige Wäsche und fettige Haare. Bist du das? Stinkt er so? Du musst würgen. Was ihn zum Lachen bringt. Er hebt eine Wasserflasche in die Höhe und erklärt dir langsam und deutlich, was du tun musst, wenn du dir einen Schluck daraus verdienen willst. Er ist fett. Alt. Widerwärtig. Abstoßend. Der Zottelbart, die schmierigen Haare, die Ketchup-Flecken auf seinem billigen karierten Hemd.

Du bist doch eigentlich viel zu gut für ihn. Jung, frisch, wunderschön. Ein Mädchen, das sich auf einer Verbindungsparty aussuchen kann, wen es will. Du kannst dich gut bewegen. Oder konntest es zumindest.

Du rufst nach deiner Mutter. Du liegst als erbärmliches Häufchen vor seinen Füßen und bettelst ihn an, dich gehen zu lassen. Dann, schlussendlich, ultimativ und unter Aufbietung deiner letzten Kräfte, ziehst du dich aus. Du lässt ihn tun, was er ohnehin tun wird. Du schreist, aber aus deiner trockenen Kehle kommt kein Laut. Du erbrichst dich, aber dein Magen ist leer.

Du überlebst.

Und später, wenn er dir endlich die Wasserflasche gibt beziehungsweise über deinem Kopf ausschüttet, hebst du schamlos die Hände, um möglichst viele Tropfen aufzufangen. Du leckst sie vom Handteller. Saugst sie aus deinen fettigen, verklebten Haaren. Du wartest darauf, dass er abgelenkt ist, und machst dich dann über den Ketchup-Fleck auf seinem abgelegten Hemd her.

Zurück zur Kiste. Der Kiste schlechthin. Und hinein.

Der Deckel fällt zu. Die Verriegelung klickt. Der widerwärtige Mann entfernt sich. Lässt dich wieder allein zurück. Nackt. Geschunden. Blutend. Belastet mit Dingen, die du nie wissen wolltest.

«Mommy», flüsterst du.

Aber dieses Monster ist real. Und es gibt nichts, was Mom tun könnte, um dich zu retten.

 

Was ich sehr wohl weiß:

In einer Kiste, die die Ausmaße eines Sarges hat, gibt es nicht viel zu tun. Im Grunde gibt es nur eins, das man sich vorstellt und um das die Gedanken Minute um Minute, Stunde um schreckliche Stunde kreisen. Einen Brennpunkt, aus dem du Kraft schöpfen kannst. Du findest ihn, schießt dich darauf ein. Dann, wenn du mir auch nur ein bisschen ähnlich bist, lässt du nie mehr davon ab.

Rache.

Aber sei lieber vorsichtig in deinen Wünschen, besonders dann, wenn du ein dummes Mädchen bist, gefangen in einer Kiste mit den Ausmaßen eines Sarges.

2. Kapitel

Ihr erster Drink war ein Granatapfel-Martini. Natürlich für einen viel zu hohen Preis. Bostoner Bars waren teuer, und Granatapfel-Martinis waren besonders angesagt. Aber es war Freitagnacht. Wieder eine Woche überlebt, und einen fruchtigen, wenn auch überteuerten Cocktail hatte sie sich weiß Gott verdient.

Außerdem war sie in Stimmung, den obersten Knopf ihrer weißen, enganliegenden Bluse zu öffnen und ein paar Clips aus ihrem schulterlangen blonden Haar zu lösen. Sie war siebenundzwanzig, fit und hatte einen Po, der auffiel. Für den ersten Drink hatte sie zahlen müssen, aber wie es der Zufall wollte, wurde ihr der zweite ausgegeben.

Sie nippte daran. Eiskalt. Süß. Scharf. Sie wärmte den Tropfen auf der Zunge und ließ ihn dann durch die Kehle gleiten. Er war jeden Penny seiner vierzehn Dollar wert.

Für einen Moment schloss sie die Augen. Die Bar verschwand. Der klebrige Boden, das pulsierende Licht, die schrillen Klänge der Vorgruppe, die sich noch einspielte.

Sie war in einer Blase aus Ruhe. An einem Ort, der allein ihr gehörte.

Als sie die Augen wieder öffnete, sah sie ihn vor sich.

 

Er spendierte ihr einen zweiten Drink. Dann einen dritten, bot ihr sogar einen vierten an. Aber zu dem Zeitpunkt mischte sich der Gin bereits mit den Discolichtern auf eine Art, die keinen angenehmen Morgen danach versprach. Außerdem war sie nicht dumm. Mister Kennen-wir-uns-nicht-von-irgendwoher drängte ihr Martinis auf, hielt sich aber selbst an Bier.

Er sah ganz anständig aus, fand sie gegen Ende von Martini Nummer zwei. War muskulös, offenbar jemand, der im Fitnessstudio trainierte. Allerdings etwas langweilig, was seine Kleidung anging: beige Stoffhose, blau gestreiftes Hemd. Machte wohl auf Yuppie, doch dann sah sie, dass die Hose unten an den Rändern verschlissen und das Hemd verwaschen war. Als sie ihn fragte, wovon er lebe, grinste er – oh, ich mache dies und das – und zwinkerte charmant. Aber seine Augen blieben ausdruckslos, sogar sehr, und sie verspürte einen ersten Anflug von Unwohlsein.

Er erholte sich schnell. Ließ Martini Nummer drei kommen. Trug keine Armbanduhr, wie ihr auffiel, als er dem Barkeeper mit einem Zwanzigdollarschein winkte, was eher bescheiden wirkte, weil andere Gäste Hunderter zückten. Einen Ehering hatte er auch nicht. Ungebunden. Gut gebaut. Vielleicht hielt die Nacht noch etwas für sie bereit.

Sie lächelte, spürte aber selbst, dass sie nicht besonders glücklich dabei aussah. Irgendein Schatten ging über ihr Gesicht, diese Leere wieder, die Erkenntnis, dass all diese Stunden, Tage, Wochen später – dass sie sich immer noch allein fühlte. Immer allein fühlen würde. Selbst in einem überfüllten Raum.

Nur gut, dass er sich in diesem Augenblick nicht zu ihr umdrehte.

Er hatte es endlich geschafft, den Barkeeper auf sich aufmerksam zu machen – weißes Hemd, schwarze Krawatte und mit genau der Art von Brustmuskeln ausgestattet, die für ordentliche Trinkgelder sorgen –, und bestellte ihr einen weiteren Drink.

Einen vierten Martini konnte sie jetzt durchaus vertragen. Warum auch nicht? Er sorgte dafür, dass sie das eine oder andere über sich erzählte, augenzwinkernd und mit einem Grinsen, das zum Glanz ihrer Augen passte. Und als sein Blick an ihrer Bluse hängenblieb, genau da, wo sie vorhin fast einen weiteren Knopf geöffnet hätte, rührte sie sich nicht von der Stelle. Sie ließ ihn auf den sich als pinkfarbenen Schimmer andeutenden BH aus heißer Spitze starren. Sie ließ ihn ihre Brüste bewundern.

Warum nicht? Freitagnacht. Wochenende. Sie hatte es verdient.

 

Gegen Mitternacht wollte er die Bar verlassen. Sie überredete ihn zu bleiben. Die Band war überraschend gut. Es gefiel ihr, wie die Musik ihr Blut in Wallung brachte und den Puls beschleunigte. Er tat sich schwer auf der Tanzfläche, aber das zählte nicht. Sie tanzte für zwei.

Sie hatte die Zipfel ihrer weißen Bluse jetzt nach Daisy-Duke-Art unter den Brüsten zusammengeknotet. Der tiefsitzende schwarze Jeansrock zeichnete jede Kurve ab, wenn sie mit den hohen Lederstiefeln den Rhythmus mitstampfte. Er hatte bald keine Lust mehr zu tanzen, wiegte sich nur noch leicht im Takt und schaute ihr umso aufmerksamer zu. Ihre Arme flogen in die Luft, hoben ihre Brüste an. Ihre Hüften kreisten, und der flache Bauch glänzte schweißnass.

Er hatte, wie ihr auffiel, braune Augen. Dunkel. Flach. Wachsam. Räuberisch, fand sie. Aber anstatt davor zurückzuschrecken, fühlte sie sich nunmehr, zu dieser Uhrzeit, von einem frischen Adrenalinschwall aufgeputscht. Auch der gutaussehende Barkeeper starrte sie jetzt an. Sie tanzte für beide. Nach dem vierten Martini hatte sie einen süß-violetten Geschmack im Mund, und die Glieder fühlten sich wie flüssiges Eis an.

Sie hätte die ganze Nacht durchtanzen können. Den Tanzboden, die Bar, die ganze Stadt im Sturm erobern.

Mister Kennen-wir-uns-nicht-von-irgendwoher hatte aber offenbar anderes im Sinn. Ein Typ spendiert einem Mädchen keine überteuerten Drinks, nur um sie tanzen sehen zu dürfen.

Die Band packte ihre Instrumente ein. Dass die Musik ausblieb, versetzte ihr einen Stich. Kein treibender Bass mehr, der ihre Füße in Schwung brachte, der ihren Schmerz übertönte. Jetzt war nur noch sie da, Mister Kennen-wir-uns-nicht-von-irgendwoher und das Versprechen auf einen mordsmäßigen Kater.

Er schlug vor, an die frische Luft zu gehen. Sie wollte lachen. Ihm sagen, dass er keine Ahnung habe.

Stattdessen folgte sie ihm nach draußen in eine enge und von Zigarettenstummeln übersäte Seitenstraße. Er fragte sie, ob sie rauchen wolle. Sie lehnte ab. Er nahm ihre Hand. Dann drängte er sie vor einen blauen Müllcontainer und befummelte sofort ihre Brüste.

Seine Augen waren nicht länger flach. Sie wirkten wie geschmolzen. Das Raubtier war sich seiner Beute sicher.

«Zu dir oder zu mir?», wollte er wissen.

Sie konnte nicht anders und lachte.

Was alles erst wirklich schlimm machte.

 

Mister Kennen-wir-uns-nicht-von-irgendwoher wollte sich nicht auslachen lassen. Blitzschnell schlug er zu und traf sie mit der flachen Hand im Gesicht. Ihr Hinterkopf prallte gegen den Container. Sie hörte es krachen. Registrierte den Schmerz. Aber dank der vier Martinis fühlte sich das alles sehr fern an. Wie etwas, das jemand anderem widerfährt, für den der Abend dumm gelaufen ist.

«Willst du mich verarschen?», brüllte er, nur wenige Zentimeter von ihrem Gesicht entfernt und mit der Hand auf ihrer Brust.

Aus der Nähe roch sie seine Bierfahne und sah, dass seine Nase voller kleiner Äderchen war. Ein heimlicher Trinker. Hätte ihr früher auffallen sollen. Offenbar war er einer von denen, die sich aus Kostengründen schon vor dem Barbesuch volllaufen ließen. Es ging ihm also nicht um den Drink am Tresen, sondern darum, eine Frau abzuschleppen.

Mit anderen Worten, er war genau der Richtige für sie.

Sie hätte etwas sagen oder ihm mit dem Stiefelabsatz auf den Fuß treten sollen. Oder seinen kleinen Finger packen – nicht die ganze Hand, nur den kleinen Finger – und ausrenken.

Er würde schreien. Er würde von ihr ablassen.

Er würde ihr in die Augen schauen und einsehen, dass er einen Fehler gemacht hatte. Große Städte wie Boston waren voll von seinesgleichen.

Aber auch voller junger Frauen wie sie.

Sie hatte keine Chance gegen ihn.

Er brüllte. Sie lächelte. Vielleicht lachte sie sogar immer noch. Trotz des brummenden Schädels und des Geschmacks von salzigem Blut auf der Zunge. Und plötzlich hörte Mister Kennen-wir-uns-nicht-von-irgendwoher zu existieren auf.

Soeben noch da, war er jetzt verschwunden. Stattdessen sah sie sich plötzlich dem Barkeeper mit den erstaunlichen Muskeln gegenüber, der ziemlich besorgt dreinschaute.

«Alles okay?», fragte er. «Hat er Ihnen weh getan? Brauchen Sie Hilfe? Soll ich die Cops rufen?»

Er bot ihr seinen Arm an. Sie hakte sich unter und stieg über Mister Kennen-wir-uns-nicht-von-irgendwoher hinweg, der, alle viere von sich gestreckt und mit offenem Mund, am Boden lag.

«Er hätte Sie nicht so überfallen dürfen», meinte der Barkeeper ungerührt und entfernte sich mit ihr von den Gaffern, die inzwischen zusammengelaufen waren. Er führte sie tiefer in die Schatten jenseits der blinkenden Lichter der Bar hinein.

«Alles okay. Ich kümmere mich um Sie.»

Sie spürte, dass er ihren Arm fester an sich drückte als nötig. Und nicht losließ.

 

Sie versuchte es mit guten Worten, obwohl ihr klar war, dass es nicht viel bringen würde. Hey, Fremder, nicht so hastig. Geht doch wohl auch langsamer, oder? Hey, Sie tun mir weh. Aber es half nichts. Er hielt sie mit eisernem Griff am Oberarm gepackt und legte noch einen Schritt zu.

Er bewegte sich seltsam, hatte sie eng an sich gezogen, sodass sie aussahen wie ein Liebespaar, das in Eile war. Allerdings hielt er den Kopf gesenkt und zur Seite gewandt, offenbar in der Absicht, nicht erkannt zu werden.

Dann dämmerte es ihr. Seine Haltung, die Art, wie er ging. Sie hatte ihn schon einmal gesehen. Nicht sein Gesicht, aber die gekrümmten Schultern und der runde Nacken kamen ihr durchaus bekannt vor. Vor drei oder vier Monaten, im Hochsommer. In den Nachrichten war von einer Studentin die Rede gewesen, die abends ausgegangen und nicht nach Hause zurückgekehrt war. Wiederholt hatten die regionalen Sender eine von einer Sicherheitskamera aufgezeichnete Videoaufnahme ausgestrahlt, die die junge Frau in dem Moment zeigte, als sie von einer unbekannten Person männlichen Geschlechts weggezerrt worden war. Der Entführer hatte ebenfalls den Kopf zur Seite gedreht.

«Nein», hauchte sie.

Ihr Protest kümmerte ihn nicht. Sie waren an einer Kreuzung angelangt. Ohne zu zögern, zerrte er sie nach links, in eine dunkle, noch engere Gasse, in der es nach Urin, Müll und unaussprechlichen Abscheulichkeiten stank.

Sie war wieder vollkommen nüchtern und versuchte sich nach Kräften zu wehren, hatte aber mit ihren fünfzig Kilo gegen seine fünfundachtzig keine Chance. Er hatte seinen rechten Arm um ihre Taille geschlungen, presste sie an sich und eilte weiter.

«Stehen bleiben!», versuchte sie zu schreien.

Aber es kam kein Ton aus ihr heraus. Die Stimme blieb in der Kehle stecken. Sie bekam keine Luft mehr, und ihr Hals war wie zugeschnürt. Stattdessen war nur ein schwaches Wimmern zu hören, ein Laut, der ihr geradezu peinlich war, von dem sie aber aus Erfahrung wusste, dass er tatsächlich von ihr stammen musste.

«Ich habe Familie», keuchte sie schließlich.

Er reagierte nicht. Nächste Kreuzung, eine weitere Richtungsänderung. Ungesehen und im Eilschritt passierten sie hohe Ziegelmauern. Sie hatte keine Ahnung, wo sie war.

«Bitte … anhalten …», brachte sie würgend hervor. Sein Klammergriff quetschte ihr die Rippen. Sie glaubte, sich erbrechen zu müssen, legte es sogar darauf an in der Hoffnung, dass er aus Ekel von ihr ablassen würde.

Aber so viel Glück hatte sie nicht. Sie stieß nur einen Schluck violetter Flüssigkeit auf und spuckte aus. Der Schwall landete zum größten Teil vor ihren Füßen. Nur ein paar Tropfen trafen seine Hose. Er verzog das Gesicht und sprang reflexartig zur Seite, hatte sich aber sofort wieder gefasst und zerrte sie am Ellbogen weiter.

«Mir ist schlecht», jammerte sie und geriet ins Stolpern, womit sie ihn ein wenig abbremste.

«Kein Wunder nach den vielen Drinks.» Er klang verärgert.

«Sie verstehen nicht. Sie wissen nicht, wer ich bin.»

Er blieb kurz stehen, um seinen Griff an ihrem Arm zu erneuern. «Hättest nicht allein ausgehen sollen.»

«Aber ich bin immer allein.»

Er verstand sie wohl nicht. Oder scherte sich nicht drum. Er starrte sie mit ausdrucksloser Miene an. Dann, urplötzlich, schnellte sein Arm nach vorn, und er schlug sie mit der Faust aufs Auge.

Ihr Kopf flog zurück.

Die Wange explodierte. Tränen schossen ihr in die Augen.

Es kam ein Gedanke, flüchtig, schwach. Vielleicht war er der Schlüssel für alle Geheimnisse der Welt. Aber dann war er auch gleich wieder verschwunden.

Und so wie Mister Kennen-wir-uns-nicht-von-irgendwoher vorhin hörte sie zu existieren auf.

Freitagnacht. Ende einer langen Woche. Sie hatte es nicht anders verdient.

 

Er transportierte sie. Ob zu Fuß oder mit dem Auto, wusste sie nicht. Als sie aus der Ohnmacht erwachte, war sie jedenfalls in irgendeinem dunklen, feuchten Versteck. Der Boden unter ihren bloßen Füßen fühlte sich kalt an. Wie Estrich. Uneben und voller Risse. Ein Kellerloch, dachte sie, oder vielleicht eine Garage.

Ein bisschen konnte sie sehen. Aus drei kleinen Fenstern hoch oben an einer der Wände fiel genügend Licht. Kein Tageslicht, sondern ein gelblicher Schein. Wie von einer Straßenlaterne.

Dank dieser spärlichen Beleuchtung erkannte sie mehrere Dinge gleichzeitig: Ihre Hände waren vor ihr mit Kabelbindern gefesselt; sie war vollkommen nackt; und sie war, fürs Erste jedenfalls, allein.

Ihr Puls beschleunigte sich. Der Kopf schmerzte, auf ihrem ganzen Körper prickelte Gänsehaut, und alles deutete darauf hin, dass der Zustand relativer Sicherheit, in dem sie sich befand, nicht lange andauern sollte. Von einem Typen, der sein Date ausknockte und splitternackt auszog, war zu erwarten, dass er sich nicht diskret zurückhielt. Aller Wahrscheinlichkeit nach bereitete er sich just in diesem Moment auf den festlicheren Teil des Abends vor. Summte womöglich vor sich hin. Überlegte, was er alles mit seinem neuen Spielzeug anstellen mochte. Bestimmt kam er sich wie das größte, mieseste Arschloch der Stadt vor.

Sie lächelte jetzt. Wusste aber, dass es wieder kein glücklicher Ausdruck war, der sich auf ihrem Gesicht zeigte.

Erstens: Bestandsaufnahme. Keller oder Garage bedeuteten Lagerraum. Vielleicht fand sie etwas, das ihr weiterhalf.

Er war so dumm gewesen, nicht auch ihre Füße zu fesseln. Nicht so erfahren, wie er glaubte. Nicht so clever wie erhofft. Aber man sah eben nur das, was man sehen wollte. Sie hatte sich von seiner muskulösen Brust beeindrucken lassen. Für ihn war sie zweifellos das willfährige Blondchen. Sie mussten sich beide noch auf einige Überraschungen gefasst machen.

Unmittelbar vor ihr stand eine schwere Werkbank. Sie hob die gefesselten Hände, strich mit den Fingern über die hölzerne Oberfläche und ertastete einen Schraubstock an der Ecke. Schnell suchte sie nach anderen Werkzeugen. Aber so dumm war er nun doch nicht, dass er ihr auch nur ein kleines Erfolgserlebnis gegönnt hätte.

Keinerlei scharfe Gegenstände, Zange, Hammer. Sie durchsuchte den ganzen Raum und stolperte über einen Blecheimer. Zum Glück reagierte sie schnell und konnte verhindern, dass er scheppernd über den Boden rollte. Schließlich wollte sie ihn nicht früher als nötig wissen lassen, dass sie wieder bei Sinnen war. Zwar noch wacklig auf den Beinen, aber schon wieder einigermaßen konzentriert, setzte sie ihren Rundgang fort.

In dem Eimer steckte eine gefüllte Mülltüte. Sie ließ beides einstweilen außer Acht und ging die beiden letzten Wände ab. Dabei stieß sie auf mehrere leere Gasflaschen und zwei Kunststoffkanister. Den Gerüchen nach enthielt der eine einen Rest Scheibenwischerflüssigkeit, der andere ein Frostschutzmittel. Sie befand sich also höchstwahrscheinlich in einer Garage, die wohl, wie in Boston üblich, abseits vom Wohnhaus stand, um den Eigentümer in seiner Privatsphäre nicht zu stören.

Der Frage, warum ein Mann wie der Barkeeper ungestört sein wollte, ging sie nicht weiter nach. Ebenso wenig reichte ihre Neugier, um der Klebrigkeit in der äußersten Garagenecke auf den Grund zu gehen. Oder dem Geruch, den sie inzwischen kaum noch ignorieren konnte. Der zu dem Blutgeschmack auf ihrer Zunge passte.

Sie schüttelte den Kanister, in dem sie das Frostschutzmittel vermutete, und stellte ihn auf der Werkbank ab. Sein erster Fehler. Ihr erster Sieg.

Sie fand eine Schaufel, die an der Wand lehnte. Hoffnungsvoll hielt sie den Kabelbinder der gefesselten Hände an den Rand des Schaufelblatts und versuchte, ihn daran aufzuschneiden. Nach einer oder zwei Minuten war sie außer Atem, Schweißtropfen brannten im geschwollenen Auge. Aber der Festigkeit des Kabelbinders nach zu urteilen … Nichts. Entweder war der Schaufelrand zu stumpf oder der Kunststoff zu fest. Sie versuchte es noch einmal, zwang sich aber bald, ihre Kräfte zu schonen.

Kabelbinder waren zäh. Handschellen wären ihr lieber gewesen. Aber immerhin hatte er ihr den Gefallen getan, die Hände vorn zu fesseln, wo sie ihr noch ein wenig nützlich sein konnten, und die Schlinge nicht so fest zuzuziehen, dass sie das Gefühl in den Fingern verloren hätte.

Und wie ihre Arme konnte sie auch die Füße bewegen.

Sie konnte aber auch absolut reglos verharren und die Leere auf sich wirken lassen. Die Düsternis. Die fast tröstliche Stille.

Allein in einem überfüllten Raum, dachte sie und ließ den Körper schwingen, im Takt einer Musik, die nur sie hörte.

Dann wurde sie wieder ernst. Der Abfall. Es wurde Zeit.

Mit bloßen Händen durchwühlte sie den dünnen Müllbeutel, aus dem ihr üble Gerüche entgegenschlugen. Verdorbene Lebensmittelreste, fauler Fisch, etwas noch Ekligeres. Sie hielt die Luft an, spürte Tränen in ihre Augen steigen und schluckte Galle. Aber sie konnte es sich jetzt nicht leisten, zimperlich zu sein, und tastete weiter im feuchten Wust herum, den sie spüren, aber nicht sehen konnte. Papiertaschentücher. Nasse Haufen von Gott weiß was. Verpackungsmaterial aus Imbissbuden. Ob er dort für sich selbst einkaufte oder Verpflegung für seine Geiseln besorgte, musste sie noch herausfinden. Auf halbem Weg durch den Beutel fand sie etwas, das einen etwas angenehmeren Geruch verströmte. Vertrocknete Blütenblätter. Matschige Stiele. Blumen. Ein weggeworfener Strauß. Machte er seinen Spielgefährtinnen kleine Geschenke?

Wahrscheinlicher war, dachte sie, dass er damit ein ahnungsloses Opfer auf sich hatte aufmerksam machen wollen. Im nächsten Augenblick aber fiel ihr etwas ein: Wo es billige Blumensträuße gab …

Mit schnellen Bewegungen kramte sie entschlossen im fauligen Gemenge. An saurem Chop Suey und klebriger Entensoße vorbei. Räumte leere Kaffeebecher und noch mehr glitschige Blumenreste beiseite. Kunststoff, sie suchte nach etwas, das sich wie ein dünnes Plastikpäckchen anfühlte. Klein, rechteckig, mit einer scharfen Kante …

Bang.

Direkt hinter ihr war es plötzlich laut geworden. Das Geräusch einer Hand, eines Fußes, die mit einem metallenen Garagentor in Berührung kamen. Sie erstarrte. Nackt, wie sie war, zitternd. Die Arme bis zu den Ellbogen im Müll. Hörte wieder, dass er kam.

Denn er wollte, dass sie ihn kommen hörte. Er wollte, dass sie vor Angst zitterte, sich zu einem Ball zusammenrollte und das Schlimmste befürchtete. So einer war er.

Sie lächelte.

Und diesmal, da war sie sicher, zeigte sich auf ihrem Gesicht ein heiterer Ausdruck. In der rechten Hand hielt sie nämlich jetzt das dünne Päckchen Blumendünger, das den meisten Sträußen vom Floristen beigegeben wurde und wonach sie gesucht hatte.

Sie hatte ihn gewarnt. Dass er sie nicht kannte. Dass er sie nicht ernst genommen hatte, war sein erster und nunmehr sein letzter Fehler gewesen.

In ihrem Rücken ging langsam das Garagentor auf. Die Ausgleichsfedern dehnten sich unter den Hebelarmen.

Keine Zeit verlieren, hieß es jetzt. Nicht zaudern und es sich anders überlegen. Sie presste das Päckchen zwischen die Handflächen und griff nach dem Kanister mit dem Frostschutzmittelrest. Schnell lief sie über den aufgerissenen Estrichboden zur Wand unter den kleinen Lichtschächten, wo sie im Schatten stand.

Das Garagentor war zu einem Viertel geöffnet. Einem Drittel. Jetzt zur Hälfte.

Sie stellte den Kanister zwischen ihren Füßen ab und benutzte beide Hände, um den kindersicheren Schraubverschluss aufzudrehen. Der fiel klappernd zu Boden, doch das Quietschen des schweren Metalltors übertönte den Laut.

Es stand nun zwei Drittel weit offen. Drei Viertel. Weit genug für einen erwachsenen Mann, um aufrecht darunter hindurchzugehen.

Sie schob den Kanister zur Seite. Es kostete sie Überwindung, sich genügend Zeit zu lassen und das Päckchen zu schütteln, damit sich die darin enthaltenen Kristalle am unteren Ende versammelten. Nichts davon durfte verschwendet werden, wenn ihr Plan aufgehen sollte.

Er betrat die Garage.

Der Barkeeper mit der erstaunlich muskulösen Brust. Er hatte sein Hemd bereits ausgezogen. Das Mondlicht beschien seinen ausgesprochen schönen Körper.

Was sie plante, hätte Schuldgefühle in ihr auslösen müssen.

Aber sie empfand keine.

Sie trat in das schwache Licht, das durch die Fenster fiel. Nackt, wie sie war. An den Händen gefesselt.

Er grinste und hatte die Hand bereits am Bund seiner Jeans.

«Sie wissen nicht, wer ich bin», sagte sie klar und deutlich.

Er blieb stehen und beäugte sie rätselnd, als hätte sie ihm eine schwierige Rechenaufgabe gestellt.

Dann kam er näher.

Sie riss das Päckchen auf, sprang drei schnelle Schritte auf ihn zu und schleuderte ihm den Inhalt ins Gesicht.

Er wich zurück, hustete und blinzelte schreckhaft, vom Blumendünger in Augen, Nase und Mund getroffen.

«Was zum …»

Sie schnappte sich den aufgeschraubten Kanister, schwenkte ihn dreimal im Kreis und …

Einen Herzschlag lang blieb die Zeit stehen. Er betrachtete sie mit starrem Blick, und nun, endlich, sahen und erkannten sie einander. Nicht einen Barkeeper mit Waschbrettbauch. Nicht ein dummes Blondchen. Sondern ein dunkles Herz und eine verlorene Seele.

Sie spritzte ihm den Frostschutz ins Gesicht. Die Flüssigkeit reagierte mit dem Granulat aus Kaliumpermanganat, das auf der bloßen Haut klebte.

Wieder setzte die Zeit einen Herzschlag lang aus. Dann …

Ein erstes Rauchfähnchen stieg auf. Aus seinen Haaren. Von seinen Wangen. Den Augenwimpern. Der Mann schlug die Hände vors Gesicht.

Grundlagenchemie übernahm das Diktat. Die Haut des Barkeepers ging in Flammen auf.

Er schrie. Er rannte los. Schlug sich wie von Sinnen vor den Kopf. In seiner Panik tat er alles, außer sich hinzuwerfen und am Boden zu wälzen.

Sie stand reglos da, sagte kein Wort und beobachtete ihn nur, bis er zu einem schwelenden, rauchenden Etwas in sich zusammensackte. Andere Laute drangen jetzt an ihr Ohr. Rufe von Nachbarn, die wissen wollten, was da vor sich ging. Aus der Ferne tönten Sirenen. Offenbar war mindestens einer schlau genug gewesen, die 911 zu wählen.

Endlich setzte sich auch die junge Frau in Bewegung. Sie blickte auf den Leichnam ihres Kidnappers hinab, von dessen verkohlter Haut immer noch Rauch aufstieg.

Freitagnacht, dachte sie. Sie hatte nichts anderes verdient.

3. Kapitel

«Wer ist die Frau?»

«Keine Ahnung. Der Nachbar da drüben, Kyle Petrakis, behauptet, er habe sie über der Leiche stehen sehen. Nackt, mit gefesselten Händen und zerschlagenem Gesicht.»

«Mit gefesselten Händen soll sie das angestellt haben?» Sergeant Detective D.D. Warren ging in die Knie und musterte die verkohlten Überreste ihres … Opfers? Täters? Der Leichnam war wie ein Fötus eingerollt. Die geballten Hände berührten das Gesicht. Wie zu einem Schutzreflex, der aber, den Brandspuren an Kopf, Schultern und Gesicht nach zu urteilen, zu spät gekommen war.

«Chemisches Feuer», sagte der dritte Ermittler. «Man nehme Kaliumpermanganat, mische es mit Frostschutzmittel, und es macht puff.»

D.D. ignorierte ihn und wandte sich an Phil. «Was wissen wir?»

«Das Haus gehört Allen und Joyce Goulding», rasselte ihr Kollege herunter. «Älteres Ehepaar, zurzeit in Florida, wo es den Winter verbringt. Ihr jüngster Sohn hütet das Haus, Devon Goulding, achtundzwanzig Jahre alt, trainiert tagsüber als Bodybuilder und arbeitet abends in einer Bar.»

«Ist er das?», fragte D.D. und deutete auf die Leiche.

«Hmmm, warten wir ab, was seine Fingerabdrücke verraten.»

D.D. verzog das Gesicht und machte den Fehler, durch die Nase einzuatmen. «Wo ist unser Opfer, das sich als Femme fatale entpuppen könnte?»

«Im Streifenwagen. Will sich nicht untersuchen lassen und wartet auf einen Kollegen vom FBI, den sie telefonisch alarmiert hat.»

«Die Feds?» D.D. richtete sich wieder auf. «Soll das heißen, sie selbst hat die Feds zu unserer Party eingeladen? Wer zum Teufel ist diese Frau?»

Detective Nummer drei gab sich die Ehre. «Sie hat die Bostoner Dienststelle angerufen und nach Dr. Samuel Keynes verlangt. Die Nummer hatte sie offenbar im Kopf. Bleibst du bei deiner Bezeichnung ‹Party›?», fragte er im Plauderton. «Oder sollten wir von einem Barbecue sprechen?»

D.D. machte auf dem Absatz kehrt und verließ die Garage. In ihrer neuen, besseren Position mit Aufsichtsfunktion konnte sie sich das erlauben. Aber vielleicht verdankte sie diese Freiheit vor allem ihrer gegenwärtigen Einstufung als Sergeant Detective mit eingeschränkter Dienstpflicht.

Dass Detective Nummer drei ihre ehemalige Position als Teamleiterin übernommen hatte – D.D. konnte sie wegen ihrer Verletzung nicht mehr bekleiden –, war kein Grund, der fünfunddreißigjährigen Neuen aus dem Weg zu gehen. Nein, D.D. störte sich vor allem an ihrem Namen. Carol. Wie in Carol Manley. Klang nach Versicherungsfachfrau. Oder nach Familientaxifahrerin. Jedenfalls nicht nach einem Cop. Kein Detective, der ernst genommen werden wollte, nannte sich Carol.

Zugegeben, ein Sergeant Detective der Mordkommission, der ernst genommen werden wollte, war gut beraten, sich nicht an Namen zu stören. Vielleicht.

Vor einem Jahr hätte D.D. noch keine Probleme gehabt mit Frauen namens Carol. Oder sich um die Zukunft ihres dreiköpfigen Teams Sorgen gemacht. Oder um ihre eigene Position innerhalb der Mordkommission der Bostoner Polizei. Sie lebte und atmete ihre Ermittlungstätigkeit und war umso glücklicher, je mehr es zu tun gab. Bis zu jenem Abend, als sie spät in der Nacht und allein an einen Tatort zurückgekehrt und dort dem Killer in die Quere geraten war. Eine kurze Auseinandersetzung später war sie rücklings eine Treppe hinuntergestürzt, wobei sie sich eine Abrissfraktur am linken Arm zugezogen hatte. Ihre Dienstwaffe konnte sie vorerst nicht mehr heben. Auch nicht mehr ihr kleines Kind.

Sechs Monate lang hatte D.D. zu Hause herumgehangen. Wunden geleckt, sich Gedanken um die Zukunft gemacht und, ja, darüber fast den Verstand verloren. Langsam, aber stetig hatte sich die harte Reha-Arbeit unter der Leitung ihres Physiotherapeuten Russ dann aber doch bezahlt gemacht. Bis sie eines Tages wieder mit den Schultern zucken und eines späteren Tages wieder vorsichtig den linken Arm heben konnte.

Ganz bei Kräften war sie noch nicht. Auch nicht voll beweglich. Der beidhändige Weaver-Stand beim Schießtraining gelang ihr zum Beispiel noch nicht. Aber immerhin waren die Schmerzen erträglich, der Heilungsprozess schritt voran, und ihr allgemeiner Gesundheitszustand ließ nichts zu wünschen übrig. Sie durfte wieder arbeiten, wenn auch nur mit eingeschränkten Befugnissen, was konkret bedeutete, dass sie vor allem Aufsichtspflichten zu erfüllen hatte, ohne an den Ermittlungen direkt beteiligt zu sein. Sie versuchte, damit klarzukommen. Immerhin war sie wieder tätig, und Verbrechen aufklären konnte sie so oder so.

Natürlich setzte sie ihre Ergotherapie fort, dreimal wöchentlich, wobei sie statt ihrer Dienstwaffe eine Hantel stemmte und pantomimisch die Bewegungen einstudierte, die gefragt waren, wenn es galt, das Holster zu öffnen, die Waffe zu ziehen und abzufeuern, immer und immer wieder. Auch auf den Schießstand ging sie wieder, wo sie selbständig trainierte. Was weniger verlässlich war. Und nicht den Performancestandards der Abteilung entsprach. Aber irgendwo musste sie ja anfangen.

Anderenfalls hätten es Phil und Neil, die beiden besten Detectives der Stadt, auf unabsehbare Zeit mit einer Anfängerin zu tun.

Die Garage der Gouldings, für nur ein Auto ausgelegt, stand etwas zurückgesetzt und abseits vom Wohnhaus. D.D. überquerte den kleinen Hof und steuerte auf die Straße zu. Der Morgen graute trist und kühl. Polizeifahrzeuge säumten die Straße auf beiden Seiten, dazwischen Krankentransporter und mehrere große, beeindruckende Übertragungswagen irgendwelcher Rundfunksender.

Die Kollegen hatten ganze Arbeit geleistet und den Tatort großräumig abgesperrt, nicht nur die Garage, sondern auch das grau gestrichene, zweigeschossige Haus im Kolonialstil. Ringsum spannte sich das gelbe Absperrband der Polizei, das ihr, D.D., den Job um einiges erleichterte. Blieben die Nachbarn auch artig außen vor? Überprüfen. Hielten die Reporter den Mindestabstand zum nächsten Polizeibeamten von fünfzig Metern ein? Überprüfen. Und dann zur Aufklärung …

D.D. entdeckte die Frau auf der Rückbank des dritten Streifenwagens. Sie starrte vor sich hin und zitterte merklich unter der blauen Polizeidecke, die man ihr über die Schultern gelegt hatte. Neben ihr saß eine Kollegin im Rang eines District Detective. Die rechte Autotür stand offen, als erwartete man jemanden. Beide Frauen schwiegen.

«Margaret», sprach D.D. die Kollegin an und fand eine Erklärung dafür, warum die Tür offen stand. Am Tatort war eine zerrissene Mülltüte sichergestellt worden. Die Frau hatte offenbar darin herumgewühlt, denn sie stank nach vergammeltem Fleisch und saurer Milch und hatte Gesicht und Haare verschmiert.

«D.D.», antwortete die Kollegin mit stoischer Gelassenheit. «Hab schon gehört, dass Sie wieder im Dienst sind. Gratuliere.»

«Danke.» D.D. musterte die Frau. Die mutmaßliche Täterin. Das mutmaßliche Opfer. Mitte bis Ende zwanzig, schätzte D.D. Schulterlange blonde Haare, fein geschnittene Gesichtszüge, attraktiv, wenn man von den Prellungen, den Blutflecken und den schleimigen Abfallresten absah, die sie verunstalteten. Die junge Frau achtete nicht auf sie und starrte unverwandt auf die Rückenlehne des Fahrersitzes.

Schocktrauma, diagnostizierte D.D. Darunter litten nicht zuletzt häufig auch Vertreter der eigenen Zunft. Sie kannte diesen Gesichtsausdruck nur zu gut.

Sie bückte sich, bis sie auf Augenhöhe mit der Frau war. «Ich bin Sergeant Detective D.D. Warren», stellte sie sich vor. «Und wer sind Sie?»

Endlich wandte sich die junge Frau ihr zu. Starrte sie an. Schien nach irgendetwas in ihrem Gesicht zu suchen. Und setzte dann ihr Studium der Rückenlehne fort.

D.D. hakte nach. «Sieht ganz schön wüst aus in der Garage. Da hat es ein chemisches Feuer gegeben, wurde mir gesagt. Aus irgendeinem Gemisch mit einem Frostschutzmittel. Damit haben Sie einen Mann bei lebendigem Leib in Flammen aufgehen lassen. Lernt man so was bei den Pfadfindern?»

Nichts.

«Lassen Sie mich raten. Auf den ersten Blick machte Devon einen ganz netten Eindruck. Gut aussehend, fleißig. Sie wollten der Liebe eine Chance geben.»

«Devon?» Die Frau sprach endlich, starrte aber immer noch vor sich hin. Die Stimme klang heiser. Als hätte sie zu viel geraucht. Oder zu laut geschrien.

«Der Name des Opfers. Devon Goulding. Waren Sie noch nicht dazu gekommen, sich einander vorzustellen?»

Kühle blaue Augen. Grau, korrigierte sich D.D., als die junge Frau ihren Blick auf sie richtete.

«Ich kannte ihn nicht», sagte sie. «Wir sind uns nie vorher begegnet.»

«Und doch sind wir jetzt hier.»

«Er ist ein Barkeeper», gab sie von sich, als bedeutete das irgendetwas. Das tat es auch nach kurzer Überlegung.

«Sie sind gestern Abend ausgegangen. Waren in der Bar, in der Devon gearbeitet hat. Dort haben Sie sich kennengelernt.»

«Nein», entgegnete die junge Frau. «Ich war da mit jemand anderem. Der Barkeeper ist … uns nach draußen gefolgt.» Wieder richtete sie ihren Blick auf D.D. «Er hat’s schon einmal getan», erklärte sie sachlich. «Im August. Dieses Mädchen, das verschwunden ist, Stacey Summers. Wie er mich gepackt, mit sich gezerrt und dabei das Gesicht abgewandt hat … Genauso, wie es auf dem Überwachungsvideo zu sehen war. An Ihrer Stelle würde ich sein Haus gründlich durchsuchen.»

Stacey Summers, eine Studentin am Bostoner College, galt seit August als verschollen. Sie war jung, hübsch, blond und hatte ein strahlendes Lächeln. Allein ihr Porträt sorgte für Schlagzeilen landesweit. Drei Monate später hatte die Polizei leider immer noch nichts vorzuweisen, außer dem körnigen Video aus einer Überwachungskamera, das zeigte, wie sie von einem großen Kerl aus einer Bar abgeschleppt wurde. Das war alles. Es gab keine Zeugen. Keine Verdächtigen. Keine Spuren. Eines von vielen unaufgeklärten Verbrechen, wie es schien.

«Kennen Sie Stacey Summers?», fragte D.D.

Die junge Frau schüttelte den Kopf.

«Kennen Sie jemanden aus ihrer Familie, eine Kommilitonin oder jemanden, der ihr in dieser Bar begegnet ist?»

«Nein.»

«Sind Sie ein Cop?»

«Nein.»

«Vom FBI?»

Wieder ein Kopfschütteln.

«Aber Sie sind an dem Fall Stacey Summers interessiert …»

«Ich lese Zeitung.»

«Natürlich.» D.D. legte den Kopf schief und dachte über ihr Gegenüber nach. «Sie kennen einen Agenten beim FBI», riet sie. «Freund der Familie? Nachbar? Und Sie haben die Telefonnummer der hiesigen Dienststelle im Kopf.»

«Er ist kein Freund.»

«Sondern? Wer ist er?»

Ein schwaches Lächeln. «Ich weiß nicht. Das müssten Sie ihn selbst fragen.»

«Wie ist Ihr Name?» D.D. richtete sich auf. Die linke Schulter machte ihr wieder zu schaffen. Ganz zu schweigen von diesem Gespräch, das ihre Geduld strapazierte.

«Er wusste nicht, wie ich heiße», sagte die junge Frau. «Der Barkeeper, dieser Devon. Wer ich bin, war ihm egal. Ich bin allein in die Bar gegangen. Für ihn war das offenbar eine Einladung, mich zu entführen.»

«Sie waren allein in der Bar?»

«Anfangs, ja. Den ersten Drink habe ich mir selbst bestellt. Im Allgemeinen funktioniert das so.»

«Wie viele Drinks hatten Sie?»

«Warum? Weil ich, wenn ich betrunken war, nichts Besseres verdient habe?»

«Nein, weil Sie, wenn Sie betrunken waren, für uns keine zuverlässige Zeugin sind.»

«Ich war die meiste Zeit mit einem Typen auf der Tanzfläche. Andere können das verifizieren.»

D.D. runzelte die Stirn. Die Antworten der Frau gefielen ihr nicht. War sie naiv oder vom Fach? «Name des Tanzpartners?»

«Mister Kennen-wir-uns-nicht-von-irgendwoher», murmelte sie.

Die Kollegin neben ihr verdrehte die Augen. D.D. war offenbar nicht die Erste, die ihr diese Fragen stellte beziehungsweise solche Antworten bekam.

«Kann er Ihre Aussagen verifizieren?», fragte D.D. mit ironischer Betonung des letzten Wortes.

«Wenn er denn wieder bei Besinnung ist.»

«Honey –»

«Durchsuchen Sie die Garage. In der hinteren linken Ecke ist der Boden blutverschmiert. Das habe ich gerochen, als ich den Müll auf der Suche nach einer Waffe durchwühlt habe.»

«Und dabei ist Ihnen Kaliumpermanganat in die Hände gefallen?»

«Ja, er hat einen Blumenstrauß weggeworfen, wahrscheinlich nachdem er damit ein anderes Opfer zu sich gelockt hat. Ich war nicht das erste. Glauben Sie mir. Er war sehr zuversichtlich und gut vorbereitet. Wenn er in diesem Haus da hinten wohnt, stellen Sie es auf den Kopf. Wahrscheinlich hat er Trophäen gesammelt. Typen wie er erinnern sich gern an ihre Eroberungen.»

D.D. studierte die Frau eingehend. In ihren Jahren bei der Mordkommission hatte sie manches hysterische Verbrechensopfer befragt, mit Personen zu tun gehabt, die unter Schock standen. In Sachen Schwerkriminalität gab es keine emotionale Norm. Ein solches Opfer wie diese Frau aber war ihr noch nie untergekommen.

«Wussten Sie, was Devon –»

«Der Barkeeper.»

«– der Barkeeper mit diesen anderen Frauen angestellt hat? Von einem Freund vielleicht? Oder aus eigener schrecklicher Erfahrung? Oder aus Gerüchten, was der Freundin einer Freundin zugestoßen ist?»

«Nein.»

«Aber Sie hatten einen Verdacht, oder?», hakte D.D. in scharfem Tonfall nach. «Sie glauben, dass er dieses verschwundene Mädchen auf dem Gewissen hat. Und dann haben Sie beschlossen, die Sache selbst in die Hand zu nehmen, sich zur Heldin aufzuspielen und selbst Schlagzeilen zu machen?»

«Ich habe diesen Barkeeper gestern Abend zum ersten Mal gesehen. Gegangen bin ich mit einem anderen Loser.» Die junge Frau zuckte mit den Schultern und starrte wieder auf die Rückenlehne. «Der Abend war voller Überraschungen. Selbst mir kann so was passieren.»

«Wer sind Sie?»

Wieder dieses Lächeln, das kein wirkliches Lächeln war, sondern etwas Verstörendes hatte. «Ich kannte den Barkeeper nicht. Von Stacey Summers habe ich in der Zeitung gelesen, wer hat das nicht? Aber ich wäre nie auf den Gedanken gekommen … Oder sagen wir so: Ich habe nicht damit gerechnet, dass mich ein übertrainierter Barkeeper niederschlägt und in seine Garage verfrachtet, um seinen Spaß mit mir zu treiben. Aber als es dazu gekommen ist … Ich kann mich wehren. Ich kenne mich aus in Selbstverteidigung. Und ich habe Mittel genutzt, die mir in die Hände gefallen sind –»

«Sie haben seinen Müll durchsucht.»

«Hätten Sie das nicht getan?»

Die junge Frau starrte D.D. an. Diesmal war es Letztere, die wegschaute.

«Er hat den Krieg begonnen», erklärte die junge Frau. «Ich habe ihn nur beendet.»

«Und dann das FBI alarmiert.»

D.D. beschlich plötzlich ein ungutes Gefühl. Sie musterte das Opfer, eine Frau Mitte zwanzig, allem Anschein nach vertraut mit Polizeiarbeit und Selbstverteidigung. «Dieser Agent – ist er Ihr Vater?»

Endlich nahm die junge Frau sie ernst.

«Schlimmer.»

4. Kapitel

Anfangs habe ich nur geheult. Aus dem Heulen wurde mit der Zeit ein unsinniges Summen. Ich produzierte Geräusche der Geräusche wegen, denn allein in einer dunklen Holzkiste zu liegen ist kaum auszuhalten. Reizentzug. Damit foltert man abgebrühte Attentäter und radikalisierte Terroristen. Denn es funktioniert.

Die Schmerzen waren das Schlimmste. Der harte Holzboden drückte unerbittlich auf meinen Hinterkopf, den Steiß und meine Fersen. Ich hatte das Gefühl, als brenne meine Haut. Mein ganzes Nervensystem geriet in Aufruhr. Aber ich konnte rein gar nichts dagegen tun. Nicht einmal eine neue Position einnehmen. Mich nicht winden oder drehen, um einzelne Stellen zu entlasten. Wie festgedübelt lag ich auf harten Kiefernbohlen, Minute um Minute um Minute.

Ich glaube, manchmal, besonders zu Anfang, war ich gar nicht bei Sinnen.

Aber wir Menschen sind interessante Wesen, unsere Anpassungsfähigkeit ist wahrhaft beeindruckend. Unsere Wut in der Auflehnung gegen das eigene Leiden. Das quälende Bedürfnis, einen Ausweg zu finden, etwas zu tun, irgendetwas, um unserem Schicksal eine glückliche Wendung zu geben.

Die erste Verbesserung meiner Lebensumstände gelang mir per Zufall. In meiner Wut auf die schmerzende Druckstelle am Schädel hob ich den Kopf und schlug mit der Stirn gegen den Holzdeckel. Vielleicht hoffte ich darauf, mich selbst auszuknocken.

Aber ich sorgte damit nur für einen scharfen Stich in der rechten Schläfe, der mich immerhin für eine Weile den Schmerz am Hinterkopf vergessen ließ. Was zu weiteren Entdeckungen führte. Schmerzt der Rücken? Stoß dir das Knie. Quält dich dein Knie? Stoß dir eine Zehe. Quält dich eine Zehe, sorg dafür, dass dir ein Finger weh tut.

Schmerzen sind eine Sinfonie, tonale Phrasen von wechselnder Intensität und aus vielen, vielen Noten. Ich lernte sie zu spielen und war damit nicht länger ein hilfloses Opfer in einem Ozean voller Leid, sondern ein genial verrückter Kapellmeister, der die Musik des eigenen Lebens dirigierte.

Allein, gefangen in einer sargähnlichen Kiste, suchte ich nach jeder noch so kleinen Unannehmlichkeit, um sie zu meistern.

Dies führte zu Bauchmuskelübungen, indem ich die Beine anhob, Schulterzuckungen und extrem abgekürzten Bizepscurls.

Er kam. Er öffnete das Schloss. Er entfernte den Deckel. Er hob mich aus den Tiefen der Kiste und weidete sich an seiner gottgleichen Macht. Anschließend gewährte er mir einen Schluck zu trinken, vielleicht sogar einen Happen zu essen, den er mir hinwarf wie einem Hund den sprichwörtlichen Knochen. Er blieb, um mir zuzusehen, und lachte, wenn ich gierig den vertrockneten Hähnchenflügel zermalmte.

Dann ging’s zurück in die Kiste. Er verschwand. Und ich gehörte wieder ganz mir selbst.

Allein im Dunkeln.

Kapellmeisterin meiner Schmerzen.

Ich heulte. Ich verfluchte Gott. Ich flehte, dass jemand, irgendjemand, kam, um mich zu retten.

Aber das war nur anfangs so.

Langsam, aber sicher, zuerst nur zaghaft, doch dann mit zunehmender Entschlossenheit, fasste ich einen Plan.

So oder so, ich würde mich befreien. Ich würde alles tun, um zu überleben.

Und dann …

Kehrte ich heim.

5. Kapitel

D.D. fand Neil in einem der Schlafzimmer im Obergeschoss. Das jüngste Mitglied des dreiköpfigen Teams hatte rote Haare und ein knabenhaftes Gesicht. Die meisten Tatverdächtigen hielten ihn für einen jungen Rekruten, was D.D. und Phil oft ausnutzten.

Neuerdings trat Neil sehr viel selbstsicherer auf. Im Lauf der vergangenen zwei Jahre hatten D.D. und Phil ihm immer wieder dazu geraten, Haltung zu zeigen und Verantwortung zu übernehmen. Es war darüber häufig zu Streitereien gekommen, zumal sich Neil tagelang nicht blickenließ und in der Rechtsmedizin die Autopsie von Verbrechensopfern beaufsichtigte. D.D. bildete sich gern ein, einen positiven Einfluss auf ihn zu haben. Da sie aber inzwischen außen vor war und Phil als Chefermittler fungierte, hoffte D.D., dass sich Neil über Carol aufschwingen würde. Das war schließlich das Mindeste, das er für sie, D.D., tun konnte.

Neil blickte auf, als sie das Zimmer betrat. Er kniete neben einem zerwühlten Doppelbett auf dem Boden und hielt einen Schuhkarton in der Hand. D.D. trat hinzu und rümpfte die Nase. Es stank nach ungewaschenen Laken, billigem Eau de Cologne und Sportsocken. Wie in einer Junggesellenwohnung eben.

«Hat Devon Goulding hier geschlafen?», fragte sie.

«Sieht so aus.»

«War wohl ein bisschen zurückgeblieben, der junge Mann», murmelte sie.

Neil zog die Brauen zusammen. «Können nicht alle wie Alex sein», erwiderte er.

Alex war D.D.s Ehemann. Ein Spezialist für Tatortrekonstruktion und Dozent an der Polizeiakademie. Eines der kultivierten Mitglieder der Spezies, fand D.D., jemand mit verfeinertem Geschmack, was Kleidung, Ernährung und natürlich seine Frau anging. Außerdem sah er ziemlich gut aus, selbst und gerade dann, wenn der vierjährige Sohn ihm beim Frühstück angeleckte Cheerios auf die Backe schmierte. Alex fand tatsächlich Gefallen daran, die Wäsche zu machen. Devon Goulding dagegen …

«Irgendwas gefunden?», fragte D.D. und deutete auf den Schuhkarton. «Wenn ich mir eine Antwort wünschen dürfte: eine Opfertrophäensammlung vielleicht. Laut unserer Femme fatale, die Mr. Goulding vor gestern Abend angeblich nie gesehen hat, war er einschlägig unterwegs und könnte auch für das Verschwinden dieser Collegestudentin verantwortlich gewesen sein, das im August Schlagzeilen gemacht hat.»

Neil blinzelte. «Meinst du den Fall Stacey Summers?»

«Genau dieser Name wurde mir genannt.»

«Von der Frau, die, obwohl ihr die Hände gefesselt waren, Devon Goulding in seiner Garage niedergebrannt hat?»

«Genau der.»

«Wer ist sie?»

«Jemand, der interessanterweise durchaus gesprächig ist, was Devons vermeintliche Straftaten angeht, von sich selbst aber nichts preisgibt. Jedenfalls ist sie überzeugt davon, dass er ein Serientäter war, und darum hat sie mir auch den Rat gegeben, nach Trophäen zu suchen.»

«Irgendwie kommt sie mir bekannt vor», sagte Neil. «Aber ich weiß nicht, woher. Aber als ich sie eben sah, dachte ich sofort: Die kenne ich von irgendwoher.»

«Quantico?», versuchte ihm D.D. auf die Sprünge zu helfen, denn er hatte dort vor kurzem an einem Fortbildungsseminar teilgenommen. Und damit wäre vielleicht auch erklärt, warum die Frau in Sachen Strafverfolgung bewandert war.

Aber Neil schüttelte den Kopf. «Eher nicht. Allerdings …»

«Hast du jemals von diesem chemischen Feuertrick gehört?», fragte sie. Neil war das naturwissenschaftlich am besten ausgebildete Mitglied ihres Teams. Ehemaligen Teams.

«Ja. Rezepte dafür findest du im Internet unter der Rubrik ‹Brandstiftung leicht gemacht›. Aber ob mir so etwas eingefallen wäre, an Händen gefesselt und eingesperrt in einer Garage … Ich weiß nicht.»

«Deutet auf fortgeschrittene Selbstverteidigungsfähigkeiten hin.»

«Noch was –» Neil stand auf. «Dieser Anschlag hätte Goulding eigentlich nicht töten müssen. Außer Gefecht setzen, verunstalten, traumatisieren, ja. Aber eine lokale Verbrennung bei relativ geringer Hitzeentwicklung … Ich staune immer wieder, was ein menschlicher Organismus aushalten kann. Ich habe Verkehrsopfer gesehen, die aus brennenden Autowracks gezogen wurden, und ein Drittel ihrer Haut war verbrannt. Die richtige Behandlung und viel Ruhe – selbst solche Patienten können es schaffen.»

D.D. fröstelte es. Sie war einmal zur Befragung eines Brandopfers in eine Spezialklinik geschickt worden. Man hatte dem Ärmsten buchstäblich die Haut vom Rücken schrubben müssen. Den Schreien nach zu urteilen, die er ausstieß, vermutete sie, dass er nicht mehr lange zu leben haben würde. Doch die Ärzte meinten, er käme durch. Es gebe nur leider nicht genügend Morphium, um ihm die Schmerzen zu nehmen, erklärte die Krankenschwester und schrubbte weiter.

«Es könnte allerdings auch sein, dass Devon am Rauch erstickt ist», fuhr Neil fort. «Vielleicht ist die Luftröhre so sehr angeschwollen, dass er keine Luft mehr bekam. Nach den Angaben der Zeugin scheint er aber plötzlich gestorben zu sein. Deshalb tippe ich auf Schock und Herzstillstand.»

«Okay», sagte D.D. Sie konnte mit diesen Informationen nichts anfangen, aber Neil hatte als Sanitäter gearbeitet, bevor er zur Polizei wechselte. Er sah häufig Dinge, die ihr und Phil nicht auffielen.

«Der Tote war allem Anschein nach sehr durchtrainiert. Ein Bodybuilder, vermute ich.»

«Das hast du sehen können?», staunte D.D. in Erinnerung an die verkohlte Leiche.

«Du etwa nicht?»

«Sei’s drum.»

«Dieser Umstand führt zu weiteren Überlegungen. Bodybuilder sind bekannt dafür, dass sie mit anabolen Steroiden experimentieren, was jede Menge Nebenwirkungen haben kann, nicht zuletzt Bluthochdruck und ein vergrößertes Herz.»

«Und verkümmerte Hoden», ergänzte D.D. «Bluthochdruck ist mir neu, aber in puncto verkümmerte Hoden bin ich mir ziemlich sicher.»

Neil verdrehte die Augen. «Ob auch Goulding darunter gelitten hat, können wir in der Rechtsmedizin prüfen lassen. Was hier drin ist, gibt uns vielleicht beiden recht.» Er schüttelte den Schuhkarton. D.D. hörte ein verräterisches Klirren von Gläsern. «Devon Goulding hat tatsächlich mit Steroiden nachgeholfen. Auch wenn er das Zeug noch nicht lange genommen hat, könnte es sein Herz beeinträchtigt haben und mitverantwortlich gewesen sein für seinen Tod.»

«Könnte er auch einen Wutausbruch gehabt haben, das, was in der Bodybuilderszene ‹Roid Rage› genannt wird?», fragte D.D. «Ich dachte zwar immer, dabei würden diese Typen aus der Haut fahren, aber vielleicht entführt der eine oder andere auch mal eine Frau.»

«Keine Ahnung», antwortete Neil schulterzuckend. «Theoretisch führt die Einnahme von Steroiden längerfristig zum Verlust der Libido, was die Frage aufwirft, ob er tatsächlich eine Frau kidnappen wollte.»

«Vielleicht gab es für ihn eine perversere Art der Ersatzbefriedigung. Ein Aufgeilen an Gewalt.»

Neil hob erneut die Schultern. «Könnte sein. Jedenfalls können wir mit Sicherheit davon ausgehen, dass Devon Goulding Steroide zu sich genommen hat. Hoffen wir, dass wir auch eine Antwort auf die Frage finden, ob er sich letzte Nacht zum ersten Mal oder auch schon früher an einer Frau vergriffen hat.» Er legte den Karton auf das Bett, trat vor die Kommode und machte sich daran, die Schubladen zu durchsuchen.

D.D. ließ ihn machen. Schließlich war ihre Dienstpflicht eingeschränkt. Mochte Neil das ganze Haus auf den Kopf stellen. Sie ging zum Bett und inspizierte den Inhalt des Schuhkartons. Neben etlichen kleinen Glasgefäßen mit bunten Etiketten fand sie darin eine Vielzahl von Pillen – Ergänzungsmittel, Hormone und Gott weiß was – in Tüten ohne Kennzeichnung. Ob dieses Zeug Goulding gewalttätig gemacht hatte? Die einsame Überlebenskünstlerin hatte behauptet, ihn nicht gekannt zu haben und mit einem anderen Mann in der Bar gewesen zu sein, der dann von Goulding aus dem Weg geräumt worden sei. Die Geschichte klang durchaus plausibel, hatte aber für D.D. zu viele impulsive Anteile. Serientäter belauerten ihre Opfer in der Regel, planten eine Entführung von langer Hand. Aber eine Frau vor einer Bar einfach mit Gewalt abzuschleppen –

«Hey», riss Neil sie aus ihren Gedanken. Er hatte die Schubladen durchsucht, kauerte auf allen vieren am Boden und tastete mit der Hand unter dem Schreibtisch herum.

«Hast du da was?»

«Vielleicht.»

Er musste mehrmals hinlangen, aber dann holte er eine gelbe Versandtasche zum Vorschein, die mit Klebestreifen unter der Schreibtischschublade fixiert worden war. Er schüttelte sie, und D.D. sah, dass sich mehrere rechtwinklige kleine Gegenstände darin bewegten.

Neil trug den Umschlag zum Bett. Die Lasche war nicht verklebt, aber mit Klammern verschlossen. Er löste sie und schüttete den Umschlag über dem Bett aus.

D.D. zählte zwei kreditkartenähnliche Gegenstände. Aber es waren keine Kreditkarten.

«Führerscheine», sagte Neil. «Der eine ausgestellt auf Kristy Kilker, der andere auf Natalie Draga.»

«Nicht Stacey Summers?»

«Nein.» Neil hob eine der Karten in die Höhe, auf der ein blutiger Fingerabdruck zu erkennen war. «Schätze, dass unsere brandgefährliche Pfadfinderin letztlich doch einer großen Sache auf der Spur ist.»

 

Sie durchsuchten auch den Rest des Zimmers. D.D. nahm sich zuerst das Bett vor, Neil machte sich noch einmal an der Kommode zu schaffen. Sie arbeiteten methodisch und effizient, als eingespielte Kollegen, die sie waren. Später würden die Kriminaltechniker mit Fingerabdruckpulver, Luminol und Spezialleuchten kommen. Sie würden Fingerabdrücke nehmen, Spuren von Körperflüssigkeiten sicherstellen und hoffentlich auch Haare und Fasern finden.

D.D. und Neil suchten einstweilen nach handfesteren Beweisstücken. Damenbekleidung, Schmuck, Dingen, die mit anderen Opfern in Verbindung gebracht werden konnten. Gehaltszettel oder Kneipenrechnungen, die Aufschluss über Gouldings Jagdgründe gaben. Oder, warum nicht, ein Killertagebuch. Ob man Glück hat oder nicht, weiß schließlich keiner im Voraus.

D.D. versuchte, die Matratze anzuheben, und bat Neil um Hilfe. Ihre Schulter schmerzte wieder, und der linke Arm war noch zu schwach. Neil kam wortlos herbei. Zusammen hievten sie die Matratze vom Bett. Dann kehrte er in seine Ecke zurück, und sie setzte ihre Suche fort.

Sie war dankbar dafür, dass ihr Partner … ihr früherer Partner … schwieg. Dass er den Schweiß auf ihrer Stirn oder ihre Kurzatmigkeit unkommentiert ließ. Supervisoren hatten an einem Tatort eigentlich nichts verloren, erinnerte sie sich. Berichte anfordern und überprüfen, ja. Aber die eigentliche Arbeit … Nein, sie sollte in ihrem Büro in der Zentrale sitzen, wo der Umstand, dass sie noch keine Dienstwaffe tragen konnte, weder sie noch andere in Gefahr brachte.

Quadratzentimeter für Quadratzentimeter durchsuchte D.D. das Bett und den Federrahmen. Später würde sie sich unter Alex’ kritischen Blicken mit Eiskompressen behandeln müssen. Aber so war sie nun einmal. Er kannte sie. Neil kannte sie. Sie war einfach entschlossen, das Boston Police Department zum Narren zu halten.

«Ich hab was.» Sie hatte etwas ertastet. Einen festen Gegenstand, der sich in der rechten oberen Ecke des Federrahmens unter dem Matratzenschoner abzeichnete. Mit ihrer Latexhand griff sie unter den Schoner, und tatsächlich: In der äußersten Sprungfeder klemmte …

«Eine Dose. Augenblick. Ich hab sie gleich. Na bitte!»

Vorsichtig barg D.D. ein kleines Blechkästchen. Ihr linker Arm zitterte vor Anstrengung. Noch mehr Gewichte stemmen, dachte sie, noch mehr Physio, noch mehr Arbeit, um sich nicht so schwach zu fühlen, um vor anderen nicht so schwach dazustehen.

Zum Glück sagte Neil wieder nichts. Er nahm ihr nur das Kästchen aus der zitternden Hand und ging damit zum Schreibtisch, wo mehr Licht war.

Das Kästchen war nichts Besonderes. Dunkelblaugrau. Vielleicht zwölf Zentimeter im Quadrat und vier Zentimeter hoch. Geeignet für kleine Kostbarkeiten, Souvenirs, persönliche Erinnerungsstücke oder dergleichen.

«Fotos», bemerkte Neil.

«Was?» D.D. trat näher und sah, wie ihr Kollege etliche Fotos unter der eingeschalteten Schreibtischlampe aufdeckte.

«Eine schwarzhaarige Frau. Immer und immer wieder.» Neil legte die Bilder nebeneinander. Jedes zweite zeigte dieselbe Person. Beim Spaziergang im Park, am Tisch mit einer Tasse Kaffee, lesend, lachend mit jemandem, der nicht mit im Bild war. Die Frau schien Anfang dreißig zu sein und war auf eine düster-laszive Weise wunderschön. «Eine Ex-Freundin vielleicht?»

«Zwischen Sprungfedern versteckt in einer Metalldose?» D.D. schüttelte den Kopf. «Glaube ich nicht. Erkennst du in den Fotos irgendjemanden wieder? Stacey Summers? Nein, die war ja klein und blond, während diese Frau …»

«Stacey Summers ist es nicht», pflichtete ihr Neil bei. «Kommt unser Feuerteufel vielleicht in Frage? Als ich sie vorhin sah, war sie voller Müll. Auf die Haarfarbe habe ich nicht geachtet.»

«Sie ist ebenfalls blond und hat hellblaue Augen. Die Frau auf den Fotos sieht völlig anders aus.»

«D.D.», sagte Neil leise. Er hatte auch die letzten Fotos aufgedeckt. Beide wurden still. Es war dieselbe Frau. Aber sie lachte oder lächelte nicht mehr. Ihre dunklen Augen wirkten riesig, das bleiche Gesicht angeschlagen. Sie starrte direkt in die Kamera, und ihr Ausdruck …

Jetzt war es Neils Hand, die zitterte, und D.D., die kein Wort darüber verlor.

Neil wandte sich von den Fotos ab und richtete sein Augenmerk wieder auf die beiden Führerscheine, die er unter der Schreibtischschublade gefunden hatte.

«Natalie Draga», sagte er. Er legte den Ausweis zum Vergleich neben eines der Fotos. Beide nickten verhalten. «Einunddreißig, gemeldet in Chelsea.»

«Und keine Fotos des zweiten Opfers?»

«Nein, nur von Natalie.»

«Lässt auf eine persönliche Beziehung schließen», murmelte D.D. «Sie hat ihm was bedeutet. Darum all die Fotos.»

«Eine von fern Angebetete», schlug Neil vor.

«Vielleicht sogar eine Freundin. Eine Beziehung, die nicht hielt. Vielleicht hat sie ihn verlassen, und das hat er ihr übel genommen.»

«Und das zweite Opfer, Kristy? Nicht zu vergessen die Frau unten im Streifenwagen.» Sie hatten alle Fotos gesichtet, in dem Kästchen waren keine mehr.

«Vielleicht hat er Gefallen daran gefunden», spekulierte D.D. laut. «Die erste Tat war eine persönliche Abrechnung. Danach ging es ihm um etwas anderes.»

«Auf keinem Foto ist zu erkennen, wo es aufgenommen wurde», sagte Neil. «Die Ausschnitte sind so klein, dass man nur wenig vom Hintergrund sieht.»

«Unsere Überlebenskünstlerin behauptet, Blutspuren in der Garage gefunden zu haben.»

«Ich habe auch so was gerochen», erwiderte Neil.

«Sorg dafür, dass die Kollegen von der Technik Proben nehmen. Und schick ein paar Uniformierte zu der Bar, in der Devon Goulding gearbeitet hat. Mit Fotos aller drei Opfer. Ich bin gespannt, ob sein Jagdrevier gleich vor der Haustür lag. Sie sollen auch ein Foto von Stacey Summers mitnehmen. Vielleicht war sie ja häufiger in der Bar zu Gast.»

«Das letzte Mal ist sie in einer anderen Kneipe gesehen worden, im Birches an der Lexington.»

«Ich weiß. Aber wenn sie auch in Gouldings Bar war … Wie groß ist die Wahrscheinlichkeit, dass ein bedauernswertes Mädchen mehr als einem Psychopathen über den Weg läuft?»

D.D. richtete sich auf und schnappte nach Luft, als sie mit der Schulter eine falsche Bewegung machte. Auch der Rücken tat ihr wieder weh.

«Du solltest nach Hause gehen», sagte Neil. «Unser Job ist es, zu ermitteln, deiner besteht darin, uns zu sagen, was wir verbessern müssen.»

Aber D.D. hörte nicht zu. Sie dachte nach. Über die Garage von Devon Goulding, sein letztes Opfer, das ihn in seinem eigenen Spiel geschlagen hatte und jetzt auf der Rückbank eines Streifenwagens saß. Eine blonde Frau mit Verbindungen zum FBI und dem Wissen, wie sich aus wenigen chemischen Komponenten ein Feuer entzünden ließ. Eine Frau, die Neil schon einmal gesehen zu haben glaubte.

Auch sie, D.D., spürte, wie sich etwas längst Verschüttetes in ihr rührte.

Hinter ihr klopfte es. Carol Manley, die Neue, steckte den Kopf zur Tür herein.

«D.D., der Agent vom FBI, den unser Opfer angerufen hat, ist hier.»

6. Kapitel

Es war einmal … Früher hätte ich Ihnen alles über mich sagen können.

Ich hätte mit Bestimmtheit sagen können, dass ich Florence Dane heiße. Meine Mom, die sich für ihre Kinder Großes erhoffte, nannte mich nach Florence Nightingale, meinen älteren Bruder nach Charles Darwin.

Ich hätte gesagt, dass der für mich schönste Ort auf Erden die Farm meiner Mutter in Maine sei. Berge von Blaubeeren im Sommer, tonnenweise Kartoffeln im Herbst. Ich wuchs auf mit dem herrlichen Duft von frisch umgegrabenem Mutterboden. Mit dem Gefühl von Erde zwischen den Fingerkuppen. Dem zufriedenen Seufzen meiner Mutter am Ende eines Tages, wenn sie betrachtete, was sie alles geschafft hatte.

Zu unseren Nachbarn zählten mehrere Füchse sowie Bären und Elche. Meine Mutter hatte nichts dagegen, dass sie gelegentlich über unsere Äcker streiften, legte aber großen Wert darauf, wilde Tiere nicht zu füttern. Meine Mutter war in einer Kommune groß geworden und legte großen Wert darauf, dass wir Teil der Natur waren, sie aber nicht verändern sollten. Sie hatte viele Theorien über das Leben, von denen nicht alle für meinen Bruder und mich nachvollziehbar waren.

Ich persönlich mochte die Füchse am meisten. Ich saß oft stundenlang vor ihrem Bau in der Hoffnung, einen Blick auf die Welpen erhaschen zu können. Füchse sind sehr verspielt und kamen mir immer vor wie eine Kreuzung zwischen Kätzchen und Hündchen. Es macht ihnen Spaß, Golfbälle zu jagen oder kleines Spielzeug in die Luft zu werfen. Ich lernte im wahrsten Sinne des Wortes kindgerecht, an der frischen Luft und mit der Sonne im Gesicht, indem ich mal dies, mal das ausprobierte. Ich brachte den Füchsen einen alten Gummiball, eine mit Katzenminze ausgestopfte Maus, sogar eine kleine Gummiente. Die Fuchseltern beschnupperten meine Geschenke zögernd, doch der Nachwuchs kam aus der Höhle gesprungen und machte sich sofort darüber her. Manchmal hinterlegte ich ihnen eine oder zwei Möhren. Oder Reste von Hot Dogs, wenn meine Mutter einmal besonders viel zu tun hatte und nicht aufpasste.

Als mich meine Mutter dabei erwischte, wie ich Käsestückchen vor dem Fuchsbau auslegte, verteidigte ich mich damit, gute Nachbarschaft pflegen zu wollen. Sie meinte jedoch: