Schmerz - Lisa Gardner - E-Book

Schmerz E-Book

Lisa Gardner

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Beschreibung

Ich war drei, als meine Schwester entdeckte, was das Besondere an mir ist. Aufgrund einer genetischen Störung bin ich außerstande, Schmerz zu empfinden. Meine Schwester Shana ist eine verurteilte Mörderin, die tötet, seit sie vierzehn ist. Unser Vater ist Harry Day, der legendäre Serienmörder, der ganz Amerika in Atem hielt. Er ist nun schon seit vierzig Jahren tot, aber dieser «Rosen-Killer» weiß Dinge über ihn, die er eigentlich nicht wissen dürfte. Meine Schwester sagt, sie ist die Einzige, die ihn stoppen kann. Auf dem Bett eine tote Frau. Auf dem Nachttisch Champagner und eine langstielige rote Rose. Als Detective D.D. Warren den Tatort inspizieren will, geht plötzlich das Licht aus. Dielenböden knarren, fremder Atem an ihrem Ohr … Später heißt es, aus ihrer Pistole seien drei Schüsse abgefeuert worden. D.D. selbst ist schwer verletzt. Sechs Wochen später schlägt der «Rosen-Killer» wieder zu. Ohne eine Spur zu hinterlassen. D.D. Warren versucht verzweifelt, sich an Details jener Nacht zu erinnern, doch es gelingt ihr nicht. Dafür erinnert sich der Mörder umso besser … «Ein außergewöhnlicher Roman!» (Booklist) «Lisa Gardner hat einen neuen Bestseller verfasst.» (Kirkus Review) «Lisa Gardners neuer Roman übertrifft alles!» (Publishers Weekly)

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Lisa Gardner

Schmerz

Thriller

Aus dem Englischen von Michael Windgassen

Ihr Verlagsname

Über dieses Buch

Ich war drei, als meine Schwester entdeckte, was das Besondere an mir ist. Aufgrund einer genetischen Störung bin ich außerstande, Schmerz zu empfinden.

Meine Schwester Shana ist eine verurteilte Mörderin, die tötet, seit sie vierzehn ist.

Unser Vater ist Harry Day, der legendäre Serienmörder, der ganz Amerika in Atem hielt. Er ist nun schon seit vierzig Jahren tot, aber dieser «Rosen-Killer» weiß Dinge über ihn, die er eigentlich nicht wissen dürfte. Meine Schwester sagt, sie ist die Einzige, die ihn stoppen kann.

 

Auf dem Bett eine tote Frau. Auf dem Nachttisch Champagner und eine langstielige rote Rose.

Als Detective D.D. Warren den Tatort inspizieren will, geht plötzlich das Licht aus. Dielenböden knarren, fremder Atem an ihrem Ohr … Später heißt es, aus ihrer Pistole seien drei Schüsse abgefeuert worden. D.D. selbst ist schwer verletzt.

Sechs Wochen später schlägt der «Rosen-Killer» wieder zu. Ohne eine Spur zu hinterlassen. D.D. Warren versucht verzweifelt, sich an Details jener Nacht zu erinnern, doch es gelingt ihr nicht. Dafür erinnert sich der Mörder umso besser …

 

«Ein außergewöhnlicher Roman!»

Booklist

 

«Lisa Gardner hat einen neuen Bestseller verfasst.»

Kirkus Review

 

«Lisa Gardners neuer Roman übertrifft alles!»

Publishers Weekly

Über Lisa Gardner

Lisa Gardner gehört zu den erfolgreichsten amerikanischen Thrillerautoren der Gegenwart. Sie lebt mit ihrer Familie und zwei Hunden in New England.

 

«Lisa Gardner ist eine Ausnahmeautorin!»

Karin Slaughter

 

Weitere Veröffentlichungen:

Ohne jede Spur

Die Frucht des Bösen

Wer stirbt, entscheidest du

Der Tag, an dem du stirbst

Du darfst nicht lieben

Blut ist dicker als Wasser

 

Inhaltsübersicht

Prolog1. Kapitel2. Kapitel3. Kapitel4. Kapitel5. Kapitel6. Kapitel7. Kapitel8. Kapitel9. Kapitel10. Kapitel11. Kapitel12. Kapitel13. Kapitel14. Kapitel15. Kapitel16. Kapitel17. Kapitel18. Kapitel19. Kapitel20. Kapitel21. Kapitel22. Kapitel23. Kapitel24. Kapitel25. Kapitel26. Kapitel27. Kapitel28. Kapitel29. Kapitel30. Kapitel31. Kapitel32. Kapitel33. Kapitel34. Kapitel35. Kapitel36. Kapitel37. Kapitel38. Kapitel39. Kapitel40. Kapitel41. KapitelEpilogDanksagungen

Prolog

Rock-a-bye, Baby in der Baumkrone …

Die Leiche war weg, nicht aber der Gestank. Wie Detective D.D. Warren vom Bostoner Morddezernat aus Erfahrung wusste, konnte sich der Geruch von Blut an einem solchen Tatort wochenlang halten, wenn nicht gar Monate. Die Kriminaltechniker hatten das Bettzeug entfernt, aber Blut hatte sein eigenes Leben. Es sickerte in die Wände. Rann unter die Fußleisten. Tropfte durch die Spalten der Dielenbretter. Der Körper von Christine Ryan, achtundzwanzig Jahre, hatte ungefähr 4,7 Liter Blut durch die Adern gepumpt. Das meiste davon war in die Matratze gelaufen, die in der Mitte des düsteren grauen Raums lag.

Wenn der Wind weht, schaukelt die Wiege …

Der Anruf kam um kurz nach neun. Ihre Freundin Midge Roberts hatte sich Sorgen gemacht, weil Christine nicht die Tür geöffnet und nicht auf ihre SMS geantwortet hatte. Christine war zuverlässig gewesen. Immer zeitig aufgestanden, nie mit einem hübschen Barkeeper durchgebrannt oder krank im Bett geblieben, ohne die Freundin zu informieren, die sie wochentags stets pünktlich um halb acht abholte, um gemeinsam mit ihr zur Arbeit in einer Wirtschaftsprüfungsfirma zu fahren.

Midge erkundigte sich bei Freunden. Niemand hatte Christine nach dem gestrigen Abendessen mehr gesehen. Von einer schlimmen Ahnung getrieben, rief Midge den Hausmeister, der sich schließlich bereiterklärte, die Tür zu öffnen.

Und sich dann noch im Flur erbrach.

Midge war nicht mit nach oben gekommen. Sie stand im Eingangsbereich der schmalen Doppelhaushälfte und wusste sofort Bescheid. Sie wusste es einfach, was sie auch D.D.s Teamkollegen Phil sagte, als er am Tatort erschien. Womöglich hatte sie schon von weitem den unverkennbaren Blutgeruch wahrgenommen.

Rock-a-bye, Baby …

Als D.D. den Tatort betreten hatte, waren ihr sofort krasse Kontraste ins Auge gesprungen. Das junge Opfer lag, alle viere von sich gestreckt, auf der Matratze. Das hübsche Gesicht wirkte fast friedlich, umkränzt von schulterlangem braunem Haar, das sich über ein leuchtend weißes Kissen ergoss.

Wenn da nicht, vom Hals abwärts …

Dünne, gewundene Hautstreifen, vom Körper abgeschält. D.D. hatte von solchen Verletzungen schon gehört, sie aber bis zu diesem Zeitpunkt – um elf Uhr an diesem Vormittag – noch nie mit eigenen Augen gesehen. Eine junge Frau, zerfetzt auf ihrem Bett. Auf dem Nachttisch eine Champagnerflasche, eine einzelne rote Rose quer platziert auf dem blutigen Unterleib …

Aus dem Ruder gelaufenes Rendezvous, hatte Phil vermutet. Oder der letzte Racheakt eines sitzengelassenen Liebhabers. Christine hatte letzte Nacht mit irgendeinem Kerl Schluss gemacht, woraufhin der zurückgekommen war, um ein für alle Mal klarzustellen, wer das Sagen hatte.

D.D. glaubte nicht daran. Ja, da waren Handschellen, aber nicht an den Handgelenken des Opfers. Ja, da war eine geöffnete Champagnerflasche, aber daraus war nichts in die bereitgestellten Gläser gefüllt worden. Und schließlich die Rose, aber kein Papier, in das ein Florist sie eingewickelt hätte.

Die ganze Szene kam ihr so … gestellt vor. Sie sah nicht aus wie ein Verbrechen aus Leidenschaft, sondern wie das Ergebnis einer sorgfältigen Inszenierung, die über Monate, wenn nicht sogar über Jahre oder gar ein ganzes Leben lang durchgeplant worden war.

D.D. glaubte, nicht nur einen Tatort vor sich zu sehen, sondern die Bühne der tiefsten, dunkelsten Phantasien eines Mörders.

Sie stand zwar erst am Anfang der Ermittlungen, fürchtete aber bereits, dass dies nicht der einzige rituelle Mord bleiben würde.

Wenn der Wind weht …

D.D.s Team, die Kollegen von der Kriminaltechnik, der Rechtsmedizin und anderen Abteilungen arbeiteten nicht weniger als sechs Stunden am Tatort. Sie sicherten Spuren und diskutierten bis nach Sonnenuntergang miteinander. Die Stimmung war immer noch hoch gespannt, als es anschließend in die Abendbrotpause ging. Als Leiterin der Ermittlungen schickte D.D. schließlich alle nach Hause mit dem Auftrag, sich auszuruhen, um Kraft zu tanken. Morgen war ein weiterer Tag. Sie würden sämtliche Datenbanken durchkämmen, nach ähnlichen Tötungsdelikten suchen und Profile des Opfers sowie des Täters erstellen. Es gab viel zu tun, zahllose Fragen zu klären. Aber jetzt war erst einmal Feierabend.

Alle folgten ihrer Aufforderung, ausgenommen sie selbst.

Es war fast zehn Uhr. Sie sollte nach Hause gehen. Ihrem Mann einen Kuss geben. Nach dem dreijährigen Sohn sehen, der um diese Zeit schon längst im Bett lag. Es wäre viel besser, sich selbst ein wenig Schlaf zu gönnen, als an einem dunklen Tatort herumzuhängen, im Kopf das Lieblingsschlaflied ihres Sohnes.

Aber sie konnte nicht anders. Irgendein Instinkt – eine Ahnung? – hatte sie in das allzu stille Stadthaus zurückgetrieben. Fast den ganzen Tag lang hatten sie und ihre Kollegen in jeden Winkel geschaut und festgehalten, was sie sahen. Jetzt war sie allein, bei ausgeschaltetem Licht inmitten eines nach Blut stinkenden Raums, und hoffte darauf, etwas spüren zu können.

Rock-a-bye, Baby …

Christine Ryan war bereits tot gewesen, als der Killer zum ersten Schnitt angesetzt hatte. Darauf ließ der völlig entspannte Ausdruck im bleichen Gesicht des Opfers schließen. Sie war relativ leicht gestorben. Aber wahrscheinlich schon bald nach dem letzten Herzschlag hatte sich der Killer mit dem Messer an der jungen Frau zu schaffen gemacht.

Es war ihm wohl nicht darum gegangen, sein Opfer leiden zu sehen, sondern …

Wollte er ein Zeichen setzen? Hatte er lediglich ein Ritual vollziehen wollen? War er zwanghaft auf Haut fixiert? Vielleicht hatte er sich schon als Kind an kleinen Tieren vergriffen, und weil seine Phantasien nicht zur Ruhe kommen wollten …

Der Rechtsmediziner würde feststellen müssen, ob der Täter zögerlich oder entschlossen gehandelt hatte, vorausgesetzt, der Zustand der Leiche ließ entsprechende Tests überhaupt noch zu.

Jedenfalls verspürte D.D. wieder einmal eine quälende Unruhe, ausgelöst weniger durch das, was sie sah, sondern vielmehr von der Frage, worauf der Killer die Ermittler hatte aufmerksam machen wollen.

Welchen Sinn hätte eine Inszenierung, wenn nicht den, das Publikum zu manipulieren und seinen Blick gezielt zu lenken?

Deshalb war sie gekommen, deshalb stand sie nun im Dunkeln, unbeeindruckt von dem, was bei Licht zu sehen gewesen wäre, denn die Frage, die zuerst gestellt werden musste, lautete: Wozu diente die Inszenierung?

Ein Geräusch. Im Hintergrund. Machte da jemand vorsichtig die Haustür auf? Knarrte da die erste Treppenstufe? Eines der Dielenbretter im Flur?

Ein Geräusch. Es kam näher, und plötzlich bemerkte D.D. Warren, was ihr schon vor einer Viertelstunde hätte auffallen sollen. Jacks Lieblingslied, der Kinderreim, den sie lautlos vor sich hingesummt hatte – er entsprang nicht nur ihrem Kopf.

Auch jemand anders sang ihn. Ganz leise. Außerhalb des Schlafzimmers. Irgendwo in der Wohnung der Toten.

Rock-a-bye, Baby in der Baumkrone …

D.D. fuhr mit der Hand an das Holster, löste die Schnalle und zog ihre SIG Sauer. Sie wirbelte herum, ließ sich in die Hocke fallen und riss die Augen auf. Zu erkennen war nichts, kein Schatten, keine Bewegung, geschweige denn eine menschliche Gestalt.

Dann aber knarrte tatsächlich ein Dielenbrett irgendwo in der Wohnung.

Wenn der Wind weht, schaukelt das Nest …

Schnell schlich sie aus dem Schlafzimmer in den dunklen, engen Flur, die Pistole im Anschlag. Durch die unverhängten Fenster fiel der schwache Abglanz von Lichtern aus den benachbarten Wohnungen. Graue Schatten, mehr oder weniger hell, huschten über den Hartholzboden.

D.D. kannte sich im Haus aus. Sie war schon durch diesen Flur gegangen, über Pfützen aus Erbrochenem gestiegen und hatte sich jedes sachdienliche Detail gemerkt.

Sie erreichte den oberen Treppenabsatz, sah sich nach allen Seiten um und spähte nach unten in den tiefschwarzen Eingangsbereich. Das Summen war verstummt. Die Stille wirkte noch unheimlicher.

Dann ertönte aus der Dunkelheit, in singendem Tonfall: «Rock-a-bye, Baby in der Baumkrone …»

D.D. hielt den Atem an. Ihr Blick zuckte hin und her auf der Suche nach der Quelle, dem Urheber des langsamen, spöttischen Gesangs. «Wenn der Wind weht, schaukelt das Nest …»

Und plötzlich überkam sie eine Einsicht, die ihr das Blut in den Adern gefrieren ließ. Wozu die Inszenierung? Weil du ein Publikum brauchst. Insbesondere eine bestimmte Person, zum Beispiel eine schwer arbeitende Ermittlerin, die dumm genug ist, mutterseelenallein und spät am Abend an einen Tatort zurückzukehren.

Erst jetzt holte sie ihr Handy aus der Tasche.

Unmittelbar hinter ihr war ein neues Geräusch zu hören.

Sie wirbelte herum, die Augen weit aufgerissen.

Aus dem Schatten flog eine Gestalt auf sie zu.

«Wenn der Ast bricht, fällt das Nest …»

Instinktiv wich D.D. zurück. Sie hatte nur vergessen, dass sie auf dem oberen Treppenabsatz stand. Ihr linker Fuß trat ins Leere.

Nein! Das Handy glitt ihr aus der Hand. Sie hob die Pistole und versuchte, sich nach vorn zu werfen, um ihr Gleichgewicht zurückzugewinnen.

Der Schatten langte nach ihr. Sie stürzte.

Hinab, hinab.

Im letzten Moment drückte D.D. ab. Dreimal, obwohl sie wusste, dass es keinen Zweck hatte.

Ihr Kopf prallte auf dem Boden auf. Es krachte. Schmerz durchfuhr sie. Und aus dem Dunkeln kam die letzte Zeile geflüstert:

«Und das Baby, das Nest und alles stürzt ab …»

1. Kapitel

Ich war drei, als meine ältere Schwester entdeckte, was das Besondere an mir ist. Unsere Pflegemutter ertappte sie mit der Schere in der Hand. Ich stand neben ihr und hatte gehorsam meine bloßen Arme ausgestreckt, von deren Handgelenken Blut auf den olivgrünen Teppich tropfte.

Meine sechsjährige Schwester sagte: «Sieh doch, es macht ihr nichts aus.» Sie ratschte mir mit dem Scherenblatt über den Unterarm. Blut quoll aus der Schnittwunde.

Die Frau schrie und fiel in Ohnmacht.

Verwundert blickte ich auf sie hinab.

Meine Schwester verließ uns daraufhin. Mich brachte man ins Krankenhaus. Über Wochen nahmen die Ärzte Untersuchungen an mir vor, die eigentlich schmerzhafter hätten sein müssen als die scharfkantigen Aufmerksamkeiten meiner Schwester, aber wie sich herausstellte, war genau das der springende Punkt: Aufgrund einer extrem seltenen Mutation meines SCN9A-Gens empfinde ich keinen Schmerz. Druck spüre ich durchaus. Wenn sich das glatte, frisch geschärfte Scherenblatt auf die Haut legt, zum Beispiel.

Aber davon, dass die Haut aufreißt und Blut hervortritt, merke ich nichts.

Ich bin schmerzfrei. Immer gewesen. Und so wird es immer sein.

 

Nachdem Shana mir mit der Schere die Arme aufgeschnitten hatte, sahen wir uns zwanzig Jahre lang nicht mehr. Sie verbrachte die meiste Zeit in diversen Institutionen und machte sich einen Namen als eine der jüngsten Patientinnen in Massachusetts, die mit Neuroleptika ruhiggestellt werden musste. Mit elf unternahm sie ihren ersten Mordversuch, der zweite folgte, als sie vierzehn war. Unser ganz besonderes Familienerbe.

Doch während sie ein weiteres Opfer des Systems wurde, mauserte ich mich zum Musterexemplar.

Nach der Diagnose meinten die Ärzte, dass die Unterbringung in einer Pflegefamilie meinen Bedürfnissen nicht gerecht werde. Schließlich wusste man von Kleinkindern mit diesem genetischen Defekt, dass sie sich, wenn sie Zähne bekamen, die Zunge abbissen. Und es gab welche, die die Hände auf glühende Kochplatten legten und sich Verbrennungen dritten Grades zuzogen, ganz zu schweigen von Sieben-, Acht- oder Neunjährigen, die tagelang mit gebrochenen Fußgelenken herumliefen oder plötzlich umkippten, weil der entzündete Blinddarm geplatzt war und sie selbst davon nichts mitbekommen hatten.

Schmerzempfinden ist sehr sinnvoll. Es warnt vor Gefahren, lehrt Risiken einzuschätzen und zwingt zu angemessenen Verhaltensweisen. Wer keine Schmerzen kennt, könnte es für eine tolle Idee halten, vom Dach zu springen. Oder in siedendes Öl zu greifen, um an die erste frittierte Pommes zu gelangen. Oder sich mit einer Kneifzange die Fingernägel herauszurupfen. Die meisten Kinder mit angeborener Schmerzunempfindlichkeit berichten, dass sie sich von Impulsen leiten lassen. Für sie stellt sich nicht die Frage «Warum?», sondern: «Warum nicht?»

Manche erklären mit einem leisen Anklang von Sehnsucht in der Stimme, dass sie immer ausprobieren wollten, ob es nicht doch weh tut. Denn nicht zu spüren, was so viele andere empfinden, kann so bedeutungsvoll werden wie der Heilige Gral. Zur einzigen Antriebskraft. Zur unwiderstehlichen Obsession. Zum lustvollen Verlangen, auch endlich einmal Schmerzen zu fühlen.

Entsprechend hoch ist die Sterblichkeit bei den Kindern, die unter einer Empfindungsstörung leiden. Nur wenige erleben das Erwachsenenalter. Die meisten brauchen Betreuung rund um die Uhr. In meinem Fall lief es darauf hinaus, dass ein älterer Genforscher, der ohne Frau und Kinder war, seine Beziehungen spielen ließ und mich in sein Haus holte, wo ich seine geliebte Adoptivtochter und bevorzugtes Studienobjekt wurde.

Mein Vater war ein guter Mann. Er engagierte die besten Pflegekräfte für mich und half mir an den Wochenenden, mit meinem Problem besser zu leben.

Wenn man keine Schmerzen empfindet, muss man beizeiten andere Wege zur Früherkennung von Gefahren einschlagen. Ich hatte schon als kleines Kind gelernt, kochendes Wasser zu meiden. So auch glühende Kochplatten. Ich verließ mich auf meinen Tastsinn und legte scharfe Gegenstände sofort wieder aus der Hand. Scheren waren nichts für mich. Das Gleiche galt für harte Möbelkanten. Oder Kätzchen oder Welpen oder alle Tiere mit spitzen Krallen. Ich ging nur langsam. Kein Springen, kein Rutschen, kein Hüpfen, kein Tanzen.

Draußen trug ich stets einen Helm und Protektoren für die Gelenke. War ich wieder zu Hause, legte ich mein Rüstzeug ab, um meinen Körper auf Blessuren hin untersuchen zu lassen. Nicht zuletzt auch die Füße, denn ich hatte mir einmal im Garten sämtliche Bänder gerissen. Ein anderes Mal – ich war fünf Jahre alt – kam ich von Wespen zerstochen zurück. Ich hatte ein Wespennest entdeckt und in meiner Naivität geglaubt, die Tierchen wollten mit mir tanzen.

Nach und nach lernte ich, mit meinem Körper umzugehen. Täglich maß ich meine Temperatur, um zu prüfen, ob ich Fieber hatte, was auf eine Infektion hingedeutet hätte. Vor dem Zubettgehen stellte ich mich nackt vor den großen Spiegel und suchte jeden Quadratzentimeter meiner Haut nach Blutergüssen oder Wunden ab, vergewisserte mich, dass meine Gelenke nicht geschwollen waren. Ich schaute mir in die Augen – Rötungen sind ein schlechtes Zeichen – und in die Ohren: Blut im Gehörgang deutet auf ein geplatztes Trommelfell oder eine Kopfverletzung hin. Schließlich nahm ich mir auch die Nase vor, Rachen, Zähne, Zunge und Gaumen.

Mein Körper ist ein Gefäß, eine nützliche Sache, die inspiziert und pfleglich behandelt sein will. Ich muss besondere Sorgfalt aufwenden, weil die Funktion meiner Reizleiter zwischen den schmerzempfindlichen Nervenenden und dem Gehirn eingeschränkt ist und mein Körper sich deshalb nicht um sich selbst kümmern kann. Wer meine Krankheit hat, kann seinen Empfindungen nicht trauen. Umso mehr muss ich mich auf meinen Seh-, Gehör-, Tast- und Geschmackssinn verlassen.

Mein Vater schärfte mir immer wieder ein: Bezwinge den Körper mit der Kraft deines Geistes. Nichts leichter als das.

Als ich es bis ins vierzehnte Lebensjahr ohne Schlaganfall und Selbstverstümmelung geschafft hatte, ging mein Vater in seinen Forschungen einen Schritt weiter. Von den weltweit rund hundert Kindern, die Jahr für Jahr mit meinem Gendefekt geboren wurden, durften sich ungefähr vierzig Hoffnungen darauf machen, das Erwachsenenalter zu erreichen. Die wissenschaftliche Erforschung dieser Fälle deckte weitere Schwächen auf, die ein Leben ohne Schmerzempfinden mit sich brachte. Zum Beispiel berichteten viele Probanden von der Schwierigkeit, Empathie für andere zu fühlen, von einer zurückgebliebenen emotionalen Entwicklung und eingeschränkten sozialen Fähigkeiten.

Mein Adoptivvater drängte auf eine vollständige psychologische Begutachtung meiner Person. Konnte ich die Schmerzen anderer nachvollziehen? Anzeichen von Leid in einem fremden Gesicht erkennen? Angemessen auf die Nöte meiner Mitmenschen reagieren?

Wirst du, die du nie wegen einer Blase am Fuß geweint hast, Tränen vergießen, wenn sich die beste Freundin mit sechzehn Jahren von dir abwendet und dich als Missgeburt beschimpft? Wenn du trotz kaputter Knie meilenweit gehen kannst, wird dir dann schwer ums Herz, wenn dich im Alter von dreiundzwanzig Jahren deine leibliche Schwester endlich wiederfindet und auf ihrem Brief der Absender einer Strafvollzugsanstalt steht?

Wenn du nie auch nur eine Sekunde echter Qual erlitten hast, wirst du dann wirklich verstehen können, was dein Adoptivvater meint, wenn er seine letzten Atemzüge macht, sich an deiner Hand festklammert und haucht:

«Adeline. Das. Ist. Schmerz.»

Als ich bei seiner Beerdigung ganz allein an seinem Grab stand, glaubte ich zu verstehen.

Aber als seine Tochter wusste ich auch, dass man sich nie wirklich sicher sein kann. Und so tat ich, was er mir beigebracht hatte. Ich studierte Medizin am besten Institut des Landes und forschte.

Ich machte den Schmerz zu meinem Beruf.

Eine aus mehr als einem Grund sehr nützliche Spezialisierung.

 

Meine Schwester wartete bereits auf mich, als ich im Massachusetts Correctional Institute ankam. Ich checkte ein, verstaute meine Handtasche in einem Schließfach und passierte die Sicherheitsschleuse. Chris und Bob, zwei ältere Strafvollzugsbeamte, grüßten mich mit Namen. Wie an jedem ersten Montag im Monat fuhr Bob mit seinem Scanner über mein medizinisches Notfallarmband. Danach führte mich Maria, eine weitere Anstaltsmitarbeiterin, in das Besuchszimmer, wo meine Schwester saß, die gefesselten Hände in den Schoß gelegt.

Officer Maria nickte mir auffordernd zu, und ich betrat das Zimmer. Der ungefähr drei mal drei Meter große Raum war mit zwei orangefarbenen Kunststoffstühlen und einem Tisch mit Resopalplatte ausgestattet. Shana saß auf dem sogenannten heißen Stuhl: vor dem Kopf des Tisches mit dem Rücken zur Wand, den Blick auf das kleine Fenster zum Korridor gerichtet.

Ich ließ mir Zeit damit, den anderen Stuhl zurechtzurücken, und nahm ihr gegenüber Platz, das Fenster, an dem alles vorbeidefilierte, im Rücken. Eine Minute verstrich wortlos. Zwei Minuten.

Meine Schwester sprach als Erste. «Zieh dein Jackett aus.» Sie war offenbar schon gereizt. Irgendjemand hatte sie bereits vor meinem Besuch geärgert, und ich würde vermutlich dafür büßen müssen.

«Warum?» Im Unterschied zu ihr stimmte ich einen ruhigen Ton an.

«Du solltest nicht Schwarz tragen. Wie oft habe ich dir das nicht schon gesagt? Schwarz macht dich blass.»

Das musste ich mir von einer Frau in einem orangen Gefängnisoverall sagen lassen, deren schulterlanges Haar in fettigen Strähnen herabhing. Meine Schwester mochte einmal hübsch gewesen sein, aber die vielen Jahre widriger Lebensumstände unter Neonbeleuchtung hatten ihre Spuren hinterlassen. Dazu kam noch der harte Blick.

Ich zog meinen Blazer von Ann Taylor aus und hängte ihn über die Stuhllehne. Darunter trug ich ein graues Strickoberteil mit langen Ärmeln. Meine Schwester starrte auf meine bedeckten Arme. Bohrte ihre braunen Augen in meine und beschnupperte meine Aura.

«Ich rieche kein Blut», stellte sie fest.

«Das könntest du auch weniger enttäuscht sagen.»

«Also bitte, ja? Ich starre dreiundzwanzig Stunden am Tag auf graue Wände. Du hättest mir doch wenigstens eine Papierschnittwunde mitbringen können.»

Meine Schwester behauptete, riechen zu können, was ich nicht spürte: Schmerz. Rein wissenschaftlich betrachtet, war das natürlich nicht glaubhaft; für mich sprach daraus lediglich das Überlegenheitsgefühl meiner Schwester. Und doch war es schon dreimal vorgekommen, dass ich innerhalb weniger Stunden nach Besuchen bei ihr Verletzungen an mir feststellte, vor denen sie mich gewarnt hatte.

«Du solltest Fuchsienrot tragen», fuhr Shana fort. «Du bist frei. Also nimm dir doch auch ein paar Freiheiten heraus, Adeline. Du könntest mir ein paar echte Geschichten erzählen. Von deinem Job, den Patienten und der Schmerzpraxis habe ich genug gehört. Erzähl mir was von muskelgestählten Typen, die dir einen fuchsienroten BH von der mageren Brust reißen. Vielleicht hätte ich dann sogar Gefallen an deinen monatlichen Besuchen. Kannst du überhaupt Sex haben?»

Ich antwortete nicht. Sie hatte mir diese Frage schon oft gestellt.

«Ah, ich weiß, du hast nur Sinn für das Nette, nicht für das Schlimme. SM kommt für meine kleine Schwester nicht in Frage. Wie schade!»

Shana artikulierte fast tonlos. Sie meinte es nicht persönlich. Sie attackierte unwillkürlich, und daran konnten weder Haft, Medikamente noch schwesterliche Fürsorge etwas ändern. Shana war Täterin von Natur aus, unseres Vaters Tochter. Der Mord an einem Jungen, begangen im Alter von nur vierzehn Jahren, hatte sie hinter Gitter gebracht. Und dort würde sie bleiben müssen, weil sie auch noch eine Knastschwester und zwei Schließer getötet hatte.

Konnte man einen solchen Menschen tatsächlich lieben? Professionell gesehen war sie ein faszinierendes Objekt für das Studium einer antisozialen Persönlichkeitsstörung. Narzisstisch bis ins Mark, völlig empathielos und höchst manipulativ. Persönlich gesehen war sie für mich die einzige Familie, die ich hatte.

«Wie ich höre, nimmst du jetzt an einem Malkurs teil», sagte ich. «Superintendent McKinnon meint, deine ersten Gemälde zeigen, dass du ein Auge fürs Detail hast.»

Shana zuckte mit den Achseln. Für Komplimente hatte sie nichts übrig.

Wieder schnüffelte sie in der Luft. «Kein Parfüm, aber in Berufskluft. Du wirst heute also arbeiten. Du fährst von hier direkt in die Praxis. Duftest du dich im Auto ein? Ich hoffe, es wird das Eau de Knast überdecken.»

«Ich dachte, wir wollten nicht über meine Arbeit reden.»

«Worüber sollten wir sonst reden? Es gibt doch kein anderes Thema.»

«Das Wetter.»

«Scheiß drauf. Nur weil heute Montag ist, muss ich nicht eine Stunde lang für dein Mitleidsprojekt herhalten.»

Ich sagte nichts.

«Ich bin es leid, Adeline. Dich. Mich. Diese monatlichen Treffen, in denen du mir deine geschmacklose Garderobe vorführst und ich mich nicht wehren kann. Hast du nicht genug Patienten, um mich in Frieden zu lassen? Also, verzieh dich! Mach dich vom Acker! Ich meine es ernst.»

Es klopfte an der Tür. Officer Maria, die durch die bruchsichere Fensterscheibe alles sehen konnte, wollte wahrscheinlich schlichtend eingreifen. Ich ignorierte sie und ließ meine Schwester nicht aus den Augen.

Ich war ihre Beschimpfungen gewöhnt und nahm keinen Anstoß daran. Shanas bevorzugte Stimmungslage war Wut; sie diente ihr zum Angriff und zur Verteidigung gleichermaßen. Außerdem hatte sie Grund genug, mich zu hassen, und das nicht nur wegen meines seltenen Gendefekts oder weil ich mit meinem Adoptivvater das große Los gezogen hatte. Sie hasste mich vor allem, weil ich als Zweitgeborene von unserer Mutter im Kleiderschrank versteckt worden war, in dem es für sie keinen Platz mehr gegeben hatte.

Shana verfluchte mich. Aus ihren Augen sprachen dumpfe Wut und tiefe Verzweiflung, und ich fragte mich wieder einmal, was wohl am Morgen passiert sein mochte, das meine Schwester in diese Stimmung versetzt hatte.

«Was kümmert’s dich eigentlich?», fragte ich unvermittelt.

«Was?»

«Dass ich zum Beispiel nicht Fuchsienrot trage? Oder was ich anziehe? Was kümmert’s dich, ob mich andere attraktiv finden oder nicht?»

Shana runzelte die Stirn. Mit diesen Fragen hatte sie offenbar nicht gerechnet. «Du bist echt zurückgeblieben», erwiderte sie schließlich.

«Was Netteres habe ich von dir schon lange nicht gehört», antwortete ich.

Shana verdrehte die Augen, grinste dann aber widerwillig. Die Spannung zwischen uns löste sich. Wir konnten beide tief durchatmen.

Shana hatte zwar eine große Klappe, aber von der Gefängnisdirektorin wusste ich, dass sie meine monatlichen Besuche herbeisehnte. So sehr, dass ihr in extremen Phasen gestörten Verhaltens nur mit dem Entzug der Besuchserlaubnis erfolgreich gedroht werden konnte. Also setzten wir unser monatliches Tänzchen fort, das wir seit nunmehr fast zehn Jahren aufführten.

Eine engere Verbindung konnte es mit einer geborenen Psychopathin wohl kaum geben.

«Wie hast du geschlafen?», fragte ich.

«Wie ein Baby.»

«Irgendein interessantes Buch gelesen?»

«O ja. Shakespeares gesammelte Werke. Man kann nie wissen, ob einem jambische Pentameter nicht mal gelegen kommen können.»

«Et tu, Brute?»

Wieder ein flüchtiges Lächeln. Shana entspannte sich noch mehr. Und so verbrachten wir eine weitere halbe Stunde mit einer witzigen, aber letztlich witzlosen Unterhaltung wie an jedem ersten Montag im Monat. Bis Officer Maria an die Scheibe klopfte und unsere Zeit um war. Ich stand auf. Meine Schwester, die nicht wegkonnte, zog es vor, sitzen zu bleiben.

«Fuchsienrot», empfahl sie mir noch einmal, als ich mein schwarzes Jackett von der Stuhllehne nahm.

«Vielleicht solltest du selbst mal deinem Rat folgen», sagte ich, «und ein bisschen Farbe in deine Kunstwerke bringen.»

«Den Psychologen zuliebe, damit sie noch was zu rätseln haben?» Sie grinste. «Ich glaube, darauf kann ich verzichten.»

«Träumst du auch in Schwarz-Weiß?»

«Du nicht?»

«Ich weiß gar nicht, ob ich überhaupt träume.»

«Vielleicht ist das eine Sonderzulage deines Syndroms. Ich träume viel. Meist in Blutrot. Einmal bin ich derjenige mit dem Messer in der Hand, ein anderes Mal unser guter alter Dad.»

Sie starrte mich an. Ihre Augen waren plötzlich wie erloschen, wie die eines Hais, womit sie mich aber nicht ködern konnte.

«Du solltest Tagebuch führen über deine Träume», schlug ich ihr vor.

«Was glaubst du, was ich mit meiner Kunst bezwecke?»

«Eine Explosion tiefsitzender Gewalt?»

Sie lachte, was ich als Aufforderung verstand, den Raum zu verlassen.

«Alles in Ordnung mit ihr?», fragte ich Officer Maria, die mich zum Ausgang begleitete. Montags war normalerweise keine Besuchszeit. Entsprechend ruhig waren die Flure.

«Schwer zu sagen. Übrigens», erinnerte sie mich, «Ihre Schwester feiert demnächst ihren dreißigsten Jahrestag.»

Ich starrte die Schließerin an.

«Shanas erstes Opfer», erklärte Officer Maria. «Donnie Johnson, der zwölfjährige Nachbarsjunge. Nächste Woche ist’s genau dreißig Jahre her, dass Shana ihn getötet hat. Es hat sich ein Reporter gemeldet und sie um ein Interview gebeten.»

Ich blinzelte mit den Augen. Irgendwie schaffte ich es, das Gesagte nicht zu verstehen. Als Therapeutin und selbstbeherrschte Frau würde ich mir später Rechenschaft darüber ablegen müssen. Wollte ich Schmerzen vermeiden? Ein Moment ironischer Selbstreflexion.

«Aber sie weigert sich, auf Fragen zu antworten», fuhr Maria fort. «Mir soll’s recht sein. Ich meine, der Junge hat keine Chance mehr, etwas zu sagen. Warum sollte seine Mörderin reden?»

«Halten Sie mich bitte auf dem Laufenden.»

«Kein Problem.»

Hinter der Schleuse holte ich meine Handtasche aus dem Schließfach, checkte aus und steuerte auf meinen Wagen zu, der auf dem Parkplatz mehrere hundert Schritte jenseits des großen Gebäudekomplexes aus Ziegeln und Stacheldraht lag, in dem meine Schwester ihr festes Zuhause hatte.

Auf dem Beifahrersitz lag der fuchsienrote Pullover, den ich auf der Hinfahrt getragen, dann aber, noch im Wagen, gegen das graue Oberteil getauscht hatte. Nach den Regeln für Besucher hatte ich auch meinen Schmuck abgelegt, um unauffällig auszusehen, wie es sich in dieser Einrichtung gehörte.

Den neuen Pullover hatte ich mir erst vor zwei Wochen gekauft, und ich schwöre, es war das einzige fuchsienrote Kleidungsstück, das ich besaß.

Ich schaute zum Gefängnis zurück. Natürlich waren überall Fenster. Auch in der kleinen Einzelzelle meiner Schwester gab es einen Lichtschlitz in der Wand. Aber trotz der Entfernung, unsichtbar hinter den getönten Scheiben meines SUV geschützt und obwohl ich den Kopf einzog …

Meine Schwester blieb mir in vielerlei Hinsicht ein Rätsel. Aber das war wahrscheinlich auch umgekehrt der Fall.

Ich legte den Gang ein und steuerte meinen Acura zurück in die Bostoner Innenstadt, wo mich ein Nachmittag voller Termine erwartete, ein Patient nach dem anderen, der Hilfe suchte, unter anderem jemand neues: eine Polizistin, die sich vor kurzem im Dienst verletzt hatte.

Ich mochte meine Arbeit. Ich freute mich immer wieder auf die Herausforderung, wenn ich einen Patienten begrüßte und ihn dann, passend für eine Frau mit meinem Syndrom, aufforderte: «Beschreiben Sie mir bitte Ihre Schmerzen.»

2. Kapitel

Tief im Innern wusste D.D. um ihr großes Glück. Ihr Kopf aber hatte es noch nicht begriffen.

Sie wachte später auf. Nach zehn, was sie verwirrte. Bis vor kurzem hätte sie es nicht für möglich gehalten, an einem Montagmorgen so lange schlafen zu können. Allein die Lust auf schwarzen Kaffee weckte sie sonst viel früher auf. Und schließlich gehörte es sich, pünktlich am Arbeitsplatz zu erscheinen, jedenfalls nicht später als die Kollegen, um nach Möglichkeit als Erste Ermittlungen in einem neuen Mordfall aufzunehmen.

Sie mochte schwarzen Kaffee, ihre Kollegen und interessante Fälle.

Was sie nicht mochte, waren ruhelose Nächte mit kurzen Schlafphasen und verstörenden Träumen, in denen Schatten zu singen anfingen, Arme und Beine bekamen und Jagd auf einen machten.

Und wenn sie dann stürzte. Immer und immer wieder. In ihren Albträumen stürzte Sergeant Detective D.D. Warren jedes Mal in ihr Verderben. Denn tief in ihrem Innern wusste sie um ihr großes Glück. Ihr Kopf aber hatte es noch nicht begriffen.

Das Babyphon lag neben ihr auf dem Nachttisch. Eingeschaltet, aber ohne Laut zu geben. Alex hatte Jack wahrscheinlich schon zur Kindertagesstätte gebracht und war dann zur Arbeit zur Polizeiakademie gefahren, während sie, D.D. …

D.D. versuchte, das Bett zu verlassen.

Sie regte sich vorsichtig. Jede Bewegung des linken Arms und der Schulter tat höllisch weh. Darum hatte sie während der vergangenen Wochen die Kunst perfektioniert, sich möglichst schmerzfrei auf die rechte Seite zu wälzen. In dieser stabilen Seitenlage konnte sie die Füße über den Bettrand schwingen, um anschließend den Oberkörper aufzurichten. Hatte sie es bis in die Sitzposition geschafft, verbrachte sie die nächsten Minuten damit, ihr angestrengtes Luftholen auf ein gleichmäßiges Atmen zu reduzieren.

Denn was nun anstand, tat wirklich und wahrhaftig weh, zumal sie sich im Verlauf der letzten sechs Wochen nicht etwa gegen Schmerzen abgehärtet hatte. Im Gegenteil, sie war wehleidiger geworden.

Verkrampfte Muskulatur. Entzündete Bänder. Überreizte Nerven. Und – Krönung der Leiden – eine Abrissfraktur. Aus dem linken Oberarmknochen war ihr ein Stück herausgebrochen. In wenigen Sekunden hatte D.D. an ihrem vierundvierzigjährigen Körper so viel Schaden genommen, dass sie sich nun wie Tin Man bewegte, den Kopf nicht neigen, den linken Arm nicht heben und den Rumpf nicht drehen konnte. Chirurgisch sei da nichts zu machen, hatte man ihr gesagt. Nur Zeit, Tapferkeit und Physiotherapie würden helfen. Daran hielt sie sich. Zweimal in der Woche. Darüber hinaus tägliches Heimtraining, das sie jedes Mal zum Schreien brachte.

Daran, in absehbarer Zeit wieder eine Waffe halten zu können, war gar nicht zu denken. Vorläufig konnte D.D. nicht einmal ihr eigenes Kind in den Arm nehmen.

Tief durchatmen. Bis drei zählen. Dann stand sie. Sie war etwas zu abrupt aufgestanden, so schnell, dass sie kaum das Gleichgewicht halten konnte. Instinktiv reagierte sie mit einer Schulterbewegung hier, einer Nackendrehung dort und knirschte mit den Zähnen, ballte die rechte Hand und stieß das schlimmste, widerwärtigste Wort aus, das einer Bostoner Polizistin in den Sinn kommen konnte, die in ihrer zwanzigjährigen Dienstzeit Flüche gelernt hatte, die einem alten Trucker die Schamröte ins Gesicht treiben würden. Und dennoch, trotz der verbalen Entladung, hätte sie sich fast vor Schmerzen übergeben.

Immerhin stand sie jetzt. Schweißgebadet. Ein wenig schwankend. Aber aufrecht.

Und nicht zum ersten Mal fragte sie sich, was um alles in der Welt sie zu dieser Nachtzeit am Tatort zu suchen gehabt hatte. Sechs Wochen später konnte sie sich immer noch an nichts erinnern. Sie hatte die bislang schlimmsten Verletzungen ihres Lebens erlitten, ihre Karriere aufs Spiel gesetzt, ihre Familie in eine Krise gestürzt – für nichts und wieder nichts.

Vor sechs Wochen hatte sie sich wie gewöhnlich zum Dienst gemeldet. Seither war ihr das Leben ein Rätsel.

Es dauerte weitere dreißig Minuten, bis sie sich die Zähne geputzt und die Haare gekämmt hatte. Duschen konnte sie nur mit Alex’ Hilfe. Er war sehr fürsorglich. Sagte, er würde alles für sie tun, solange sie nackt sei. Seine dunkelblauen Augen aber blieben wachsam. Als wäre sie aus Glas und müsste äußerst vorsichtig behandelt werden.

Am ersten Tag nach ihrem Krankenhausaufenthalt hatte sie ihn auf ihre Blutergüsse am Rücken starren sehen, und er war sichtlich …

Verstört. Entsetzt. Erschüttert.

Sie hatte nichts gesagt. Dann hatte er ihr das Shampoo aus den kurzen blonden Locken gespült. Als er ihr später in der Nacht ein bisschen nähergekommen war, hatte sie vor Schmerzen unwillkürlich mit einem zischenden Laut nach Luft geschnappt, woraufhin seine Hand zurückzuckte, als wäre er geschlagen worden. Und so war es seitdem.

Er half ihr bei alltäglichen Verrichtungen, während sie sich langsam, aber sicher in einen Schatten zu verwandeln glaubte, ein zweites Kind, um das sich ihr unglaublich geduldiger Mann auch noch kümmern musste.

Tief im Innern wusste sie, dass sie Glück gehabt hatte. Ihr Kopf aber hatte es noch nicht begriffen.

Zeit, sich anzuziehen. Sie konnte den linken Arm nicht weit genug bewegen, um in ein Shirt zu schlüpfen. Stattdessen legte sie sich eins von Alex’ riesigen Flanellhemden über die Schulter und tauchte mit der rechten Hand in den Ärmel ein. Der linke blieb leer, den dazu passenden Arm hielt sie angewinkelt unter der Brust. Zum Frühstücken sollte es reichen, dass sie das Hemd nur an zwei Stellen zuknöpfte.

Zu gehen fiel ihr etwas leichter, solange sie den Oberkörper aufrecht hielt und die Zähne zusammenbiss. Die rechte Hand am Geländer, schlich sie vorsichtig die Treppe hinunter. Aus ihrer jüngsten Konfrontation mit Stufen waren letztere als Sieger hervorgegangen, weshalb sie ihnen nicht mehr richtig traute.

Rock-a-bye, Baby in der Baumkrone …

Prima. Ein neuer Morgen, und schon spukte ihr wieder der alte unheimliche Kinderreim durch den Kopf.

Als sie das Wohnzimmer erreichte, hörte D.D. Stimmen aus der Küche. Zwei Männer, die miteinander tuschelten. Alex und ihr Schwiegervater vielleicht bei einer Tasse Kaffee? Vor sechs Monaten waren Alex’ Eltern nach Boston gezogen, um mehr Zeit mit ihrem Enkelsohn verbringen zu können. Mehr als einverstanden damit, dass ihre eigenen Eltern in Florida wohnten, hatte D.D. anfangs Bedenken gehegt. Aber Bob und Edith, Alex’ Eltern, erwiesen sich als ebenso entspannt wie ihr Sohn. Der kleine Jack war ganz verrückt nach ihnen, und in Anbetracht ihrer und Alex’ Dienstzeiten hatten Großeltern, die per Kurzwahl zu erreichen waren, durchaus etwas Gutes. Natürlich wäre es ihr lieber gewesen, ausschließlich als berufstätige Mutter entlastet zu werden und nicht auch noch als Invalidin, die sich nicht einmal allein anziehen konnte. Aber das waren nur Details.

«Morgen.»

Alex blickte auf. Es war nicht sein Vater, der mit ihm an dem runden Küchentisch saß, sondern ihr Teamkollege Phil, der etwas länger brauchte, um seinen Blick auf sie zu richten. Alex hatte bereits eine höflich-gefasste Miene aufgesetzt. Er war offenbar schon seit Stunden wach, hatte geduscht, sich rasiert und den Dreijährigen versorgt. Und er trug, wie immer, wenn er zur Arbeit ging, ein marineblaues Hemd und eine beigefarbene Anzughose. Das Hemd ließ seine dunkelblauen Augen und die grau melierten schwarzen Haare zur Geltung kommen. Ein hübscher Kerl, dachte sie nicht zum ersten Mal. Gutaussehend, intelligent, ein liebevoller Vater und einfühlsam seiner Frau gegenüber.

Auf der anderen Seite des Tisches saß Phil, ihr ältester Partner: schüttere braune Haare, seit Ewigkeiten mit Betsy, seinem Schwarm aus der Schulzeit, verheiratet, und Vater von vier Kindern, der einmal behauptet hatte, zur Bostoner Polizei gegangen zu sein, um dem Chaos zu Hause zu entkommen.

Ihr Argwohn war geweckt.

«Tasse Kaffee?», fragte Phil munter. Er vermied es, ihr in die Augen zu sehen, rutschte auf seinem Stuhl zurück und stand auf, um die Kanne zu holen.

«Ihr spielt nicht Golf miteinander», sagte D.D.

Alex’ Mundwinkel deuteten ein Lächeln an.

«Was?», fragte Phil, anscheinend voll konzentriert darauf, Kaffee in einen übergroßen Becher zu gießen.

«Ich wüsste auch nicht, dass ihr zusammen pokert oder dieselben besten Freunde hättet. Das Einzige, was euch miteinander verbindet, bin ich.»

Vorsichtig stellte Phil die Kanne zurück, hob den gefüllten Becher und wandte sich ihr betont aufmerksam zu.

D.D. rückte sich einen Stuhl zurecht und ächzte, als sie etwas zu forsch darauf Platz nahm.

Alex lächelte nicht mehr. Er streckte den Arm nach ihr aus und berührte sanft ihre rechte Hand.

«Hast du schlafen können?», fragte er.

«Klar. Und wie. War nie so ausgeruht. Wenn ich wieder mal eine Auszeit nötig habe, stürze ich mich eine Treppe hinunter.»

D.D. behielt Phil im Blick. Er war das schwache Glied. Wenn jemand klein beigeben und erklären würde, was hier vor sich ging, dann er.

«FDIT?», spekulierte sie, an Phil gewandt, der immer noch den Becher in beiden Händen hielt.

FDIT stand für Firearms Discharge Investigation Team. Immer wenn eine Dienstwaffe abgefeuert wurde, zum Beispiel an einem düsteren Tatort auf ein nichtidentifiziertes Ziel, trat dieses Team auf den Plan, um den Vorfall zu untersuchen und festzustellen, ob sich der Kollege oder die Kollegin angemessen verhalten hatte oder nicht.

Als D.D. im Krankenhaus wieder zu Bewusstsein gelangt war, hatte das FDIT-Team bereits ihre Waffe sichergestellt. Ihre Zukunft als Polizistin hing nun von dessen Bericht ab, den es der internen Revision vorzulegen hatte.

Ihre Kollegen meinten, sie brauche sich keine Sorgen zu machen. Ihre Waffe habe sich wahrscheinlich bei dem Treppensturz entladen. Normalerweise aber rutschte eine SIG Sauer nicht ohne weiteres aus einem gesicherten Schulterholster. Mehr als unwahrscheinlich war es auch, dass bei einem Salto rückwärts der rechte Zeigefinger an den Abzug geriet und gleich drei Schüsse fielen.

D.D. hatte absichtlich abgedrückt. Das stand für sie außer Frage.

Aber auf was oder wen und aus welchem Grund? Darauf hatten ihre Kollegen am Tatort keinerlei Hinweise entdecken können. Nur drei Kugeln in der Wand und sie, D.D., bewusstlos am Boden der Diele von Christine Ryans Wohnung liegend. Ein Geschoss hatte sich bis in die Wohnung nebenan gebohrt, zum Glück zwar niemanden verletzt, wohl aber den Nachbarn aufgebracht, der es unmöglich fand, dass eine Polizistin einfach drauflosballerte …

Berichte an die interne Revision führten nicht nur aus, was im Einzelnen geschehen war, sondern enthielten auch eine Einschätzung darüber, wie das Geschehene in der Öffentlichkeit aufgenommen werden würde.

D.D. steckte in der Bredouille, und das wusste sie. Dass es noch keinen Ärger gegeben hatte, verdankte sie dem Ausmaß ihrer Verletzungen und ihrem Krankenhausaufenthalt. Mit einer Entscheidung hatte es ihr Dienstherr nicht eilig, und auch der behandelnde Arzt meinte, dass es noch dauern könne, bis sie wieder einsatzfähig sei.

«Kein Wort», sagte Phil.

«Oh.»

«Bedeutet wahrscheinlich nur Gutes», fuhr er fort. «Wenn es konkrete Anhaltspunkte für Fehlverhalten gäbe, würde die Aufsicht nicht lange zögern. Keine Nachrichten sind gute Nachrichten.»

D.D. musterte ihren langjährigen Partner und fragte sich, ob das, was er sagte, mit seiner Mimik übereinstimmte.

«Was macht die Schulter?», wollte er wissen.

«Frag mich das in drei Monaten.»

«Das ist noch lange hin.»

«Es dauert, trotz Physiotherapie. Ich muss mich wohl oder übel in Geduld üben.»

Phil grinste in sich hinein. Er kannte D.D. gut genug, um zu wissen, dass es mit ihrer Geduld nicht weit her war.

«Genau», stimmte sie ihm zu.

«Schmerzen?»

«Kann man sagen.»

«Hat man dir nichts dagegen gegeben?»

«Doch, jede Menge. Aber warum Schmerzen betäuben, wenn man sie mit anderen teilen kann?»

Phil nickte freundlich. Alex streichelte ihre rechte Hand.

«Ich gehe heute zu einem neuen Arzt», erklärte sie und versuchte ein einseitiges Schulterzucken. «Genauer gesagt eine Ärztin, spezialisiert auf mentale Techniken der Schmerzbewältigung. Wie man mit Willenskraft Einfluss auf den Körper nimmt – so was in der Art. Wer weiß, vielleicht lerne ich ja dazu.»

«Gut.» Phil stellte endlich den Becher auf den Tisch, wo sie ihn mit der gesunden Hand erreichen konnte. Mission erfüllt. Anscheinend wusste er nicht mehr, was er jetzt noch tun konnte.

«Wenn kein Verfahren gegen mich läuft, warum bist du dann gekommen?», fragte D.D. ruhig.

Phil schien immer noch den Augenkontakt mit ihr zu meiden, und Alex machte sich erneut daran, ihre Hand zu streicheln. Sie schloss die Augen und sprach aus, was sie längst ahnte.

«Es hat einen weiteren Mord gegeben.»

«Ja.»

«Und du willst meiner Erinnerung auf die Sprünge helfen.» Was einen anderen Gedanken nach sich zog: «Du bist nicht als mein Partner gekommen, stimmt’s, Phil? Wir sprechen nicht von Cop zu Cop. Du bist hier, um mich als Zeugin zu vernehmen.»

Er schwieg. Alex fuhr ihr sanft mit dem Handballen über die Knöchel.

Sie starrte auf ihren Kaffeebecher.

«Warum auch nicht?», flüsterte sie. «Ich verstehe. Und ich werde natürlich so gut wie möglich helfen.»

Detective D.D. Warren a.D., dachte sie. Und versuchte sich einzureden, dass sie tief im Innern um ihr großes Glück wusste. Ihr Kopf aber hatte es noch nicht begriffen.

3. Kapitel

Am Montagmittag um eins sah ich meine neue Patientin zum ersten Mal und wusste sofort, dass Sergeant Detective D.D. Warren von Natur aus skeptisch war.

Es überraschte mich nicht. Ich arbeitete schon lange genug in der Schmerztherapie und hatte schon viele Ersthelfer von Polizei und Rettungsdiensten behandelt. Vertreter von Berufen, in denen einem alles abverlangt wurde, körperlich wie psychisch. Leute, die auflebten, wenn es hoch herging, die das Sagen hatten, am Drücker saßen und Einsätze leiteten.

Kurzum, Leute, denen es nicht gefiel, an der Seitenlinie zu hocken, während eine Therapeutin im Tausend-Dollar-Kostüm davon redete, dass der erste Schritt zur Schmerzbewältigung eine Kontaktaufnahme mit dem inneren Selbst sein müsse. Dass man mit sich selbst pfleglich umgehen müsse.

«Ernsthaft?», fragte mich Detective D.D. Warren. Sie saß kerzengerade auf einem einfachen Holzstuhl, nachdem sie es abgelehnt hatte, sich auf dem bequemeren Sofa auszustrecken. Auch ohne ihre Krankenakte studiert zu haben, sah ich sofort, dass sie unter akuten Schmerzen im Nacken- und Schulterbereich litt. Es war daran zu erkennen, wie sie sich hielt und den ganzen Körper drehte, wenn es auch gereicht hätte, den Kopf zu wenden. Ganz zu schweigen von der Art, wie sie den linken Arm an den Körper presste.

Wahrscheinlich wurde die blonde Polizistin nur selten als Frau mit weichen Gesichtszügen beschrieben. Aber mit ihren schwarz geränderten Augen, den aufeinandergepressten Lippen und der angespannten Wangenmuskulatur wirkte sie geradezu harsch und deutlich älter als vierundvierzig Jahre.

«Meine Art der Behandlung fußt auf dem Modell der systemischen Therapie mit der inneren Familie, kurz IFS», erklärte ich ruhig.

Sie kniff die Brauen zusammen und sagte kein Wort.

«Die IFS-Methode geht unter anderem davon aus, dass sich das Bewusstsein in verschiedene Teile aufgliedern lässt. Der erste und wichtigste Teil ist das Selbst; es gebietet über alle anderen Teile. Je deutlicher dieses Selbst abgehoben über den anderen Teilen des Systems steht, desto besser lässt sich der eigene Schmerz verstehen und kontrollieren.»

«Ich bin eine Treppe runtergefallen», sagte D.D. geradeheraus. «Mein Selbst kommt jetzt ein bisschen zu spät.»

«Eine andere Frage: Haben Sie Schmerzen?»

«Momentan?»

«Ja.»

«Allerdings. Laut ärztlichem Befund habe ich mir Bänderrisse zugezogen und ein Stück Knochen aus dem linken Arm gebrochen. Das tut weh.»

«Auf einer Skala von eins bis zehn – eins für leichtes Unwohlsein, zehn für den schlimmsten Schmerz, den Sie sich vorstellen können – wo würden Sie …»

«Sechs», antwortete die Polizistin spontan und spitzte die Lippen.

«Also etwas über dem Durchschnitt.»

«Ich will nach oben hin noch etwas Luft lassen. Wenn ich heute Abend dusche, wird es eine Sieben sein, im Bett dann, beim Versuch einzuschlafen, eine Acht, weil ich mich immer wieder auf die linke Seite drehe. Und wenn ich dann morgen früh wieder aufzustehen versuche, kommt locker eine Neun zustande.»

«Was wäre für Sie zehn?»

«Keine Ahnung», antwortete sie gereizt. «Folterqualen sind relativ neu für mich, aber die Physiotherapie wird meinen Erfahrungshorizont wohl noch erweitern.»

Ich lächelte. «Viele meiner Patienten würden Ihnen zustimmen.»

«Von dieser Schmerzskala habe ich schon gehört», sagte D.D. «Russ Ilg, mein persönlicher Quälgeist, ist sie mit mir durchgegangen. Nicht Punkt für Punkt, sondern als gesamtes Spektrum. Er fragt, wo sehen Sie sich auf diesem Spektrum im Augenblick, an diesem Nachmittag, in dieser Woche? Statt einfach nur Schmerzen zu haben, kann man den vollen Regenbogen physischer Qualen erfahren. So oder ähnlich.»

«Lässt er Sie Ihr Schmerzlevel einschätzen, während er mit Ihnen arbeitet?»

«Ja. Er hebt meinen linken Arm. Ich schreie. Er sagt, ich soll durch den Mund atmen. Daraufhin schreie ich noch ein bisschen mehr. Er fragt, ob ich die Acht schon erreicht habe. Ich sage Nein, woraufhin er meinen Arm noch einen Zentimeter höher hebt.» D.D. schaute mich nicht mehr an. Sie blickte über meine rechte Schulter hinweg auf einen Punkt an der Wand, während ihr rechtes Bein zu wippen anfing.

Ich warf einen Blick in ihre Krankenakte. Die Abrissfraktur am linken Schultergelenk war ein äußerst seltener Befund und machte eine sehr schmerzhafte Behandlung unumgänglich – Physiotherapie. Es gab eine Menge extrem qualvoller Übungen, die dafür sorgen sollten, dass eine verletzte Schulter beweglich blieb.

Aus der Akte ging hervor, dass D.D. zweimal in der Woche zur Physiotherapie ging. Aller Wahrscheinlichkeit nach endeten solche Sitzungen jedes Mal mit Tränen.

Ich fragte mich, wie sich das für eine Frau anfühlen musste, die daran gewöhnt war, Kontrolle auszuüben.

«Sie nehmen sich also die Zeit, den Grad Ihrer Schmerzen einzuschätzen», hielt ich fest.

Sie machte eine Bewegung, die als Kopfnicken zu deuten war. Oder auch nicht.

«Wie oft?»

«Sooft mich Russ dazu auffordert.»

«Also während der Physiotherapie?»

«Ja.»

«Und wenn Sie zu Hause sind? Sagen wir, Sie wachen mitten in der Nacht auf und haben Schmerzen. Was dann?»

Sie schwieg.

Ich ließ ihr Zeit.

«Ich sage mir: Schlaf wieder ein», antwortete sie schließlich.

«Und das funktioniert?»

Wieder diese Bewegung, ein Nicken, das kein Nicken war.

«Möchten Sie wirklich hier sein?», fragte ich unvermittelt.

Sie schien erstaunt. «Wie meinen Sie das?»

«Ist es Ihnen recht, hier in meiner Praxis zu sein und sich mit mir zu unterhalten?»

Sie schaute mir in die Augen. Ihr Ausdruck wirkte rebellisch. Es überraschte mich nicht. Manche Patienten verinnerlichten ihren Schmerz. Andere veräußerlichten ihn. Zu welcher Gruppe D.D. Warren gehörte, lag auf der Hand.

«Nein», antwortete sie unverhohlen.

«Warum sind Sie dann gekommen?»

«Weil ich wieder arbeiten möchte. Ich liebe meinen Job.» Sie schlug nun einen Tonfall an, der weniger aggressiv klang, eher defensiv.

«Sie arbeiten in einem Mordkommissariat, nicht wahr?»

«Ja.»

«Und das gefällt Ihnen?»

«Ich liebe meinen Job.»

«Verstehe. Wegen der Verletzung nicht arbeiten zu können, macht Ihnen zu schaffen.»

«Ich bin krankgeschrieben», entgegnete die Polizistin forsch. «Ganz einfach: Man ist verletzt und bleibt zu Hause. Dann erholt man sich wieder und kehrt an seinen Arbeitsplatz zurück. Aber wie jede gute Behörde macht unser Dezernat es gern kompliziert. Meine Schulter ist vielleicht bald wieder gesund, aber was ist mit meinem Kopf? Werde ich wieder die coole, besonnene Polizistin von früher sein? Körperlich bin ich wahrscheinlich bald fit. Aber auch einsatzfähig, wenn ich immer Angst um meine linke Seite habe? Mein Chef sähe es wohl lieber, wenn mein Kopf zu Hause bliebe. Ich kann’s nachvollziehen, aber …»

«Sie sind also hier, um Ihrem Vorgesetzten einen Gefallen zu tun.»

«Sagen wir so: Der stellvertretende Superintendent des Mordkommissariats hat mir Ihre Visitenkarte zugesteckt, was ich als dezente Aufforderung verstanden habe.»

«Und was wollen Sie nun tun?», fragte ich interessiert und beugte mich vor. «Wenn Sie andere glauben machen wollen, dass Sie die Schmerztherapie ernst nehmen, müssten Sie schon mehr als nur eine Sitzung mit mir in Kauf nehmen. Sechs Sitzungen wären vielleicht ein bisschen viel, aber ich würde vorschlagen, wir treffen uns mindestens dreimal. Danach könnten wir neu planen.»

Zum ersten Mal zeigte sich die Polizistin beeindruckt. «Aller guten Dinge sind drei.»

«Na schön, dann machen wir es so. Aber Sie sollten unsere Sitzungen wirklich ernst nehmen. Darauf bestehe ich. Sie müssen nicht alles glauben, was ich sage, ich wäre schon zufrieden, wenn Sie wenigstens zuhören. Und Ihre Hausaufgaben machen.»

«Hausaufgaben?»

«Selbstverständlich. Ihre erste Aufgabe besteht darin, Ihren Schmerz zu benennen.»

«Wie bitte?» Die Polizistin schenkte mir endlich ihre volle Aufmerksamkeit, vielleicht, weil sie mich für übergeschnappt hielt.

«Geben Sie Ihrem Schmerz einen Namen. Wenn Sie das nächste Mal mitten in der Nacht aufwachen, sollten Sie ihn ansprechen, sich mit ihm unterhalten und darauf achten, was er sagt.»

«Zum Beispiel ‹Gib mir Percocet›?»

Ich lächelte. «Apropos, nehmen Sie irgendwelche Schmerzmittel?»

«Nein.»

«Warum nicht?»

Sie versuchte wieder ein Schulterzucken. «Heißt es nicht: Sag Nein zu Drogen? Zwischen legalen und illegalen Medikamenten verläuft ein schmaler Grat, in dessen Nähe ich gar nicht erst kommen möchte.»

«Haben Sie Angst vor Drogen?»

«Wäre die unberechtigt?»

«Manche haben Angst vor Nebenwirkungen und Abhängigkeit. Diese Furcht ist durchaus berechtigt. Ich habe nur gefragt.»

«Ich mag keine Medikamente. So einfach ist das. Nichts für mich.»

«Weil Sie sich für außergewöhnlich belastbar halten?»

«Sie wollen mich in eine Schublade stecken.»

«Und Sie weichen meiner Frage aus.»

«Stimmt es, dass Sie keine Schmerzen empfinden?»

Lächelnd rutschte ich auf meinem Stuhl zurück und schaute auf die Uhr. «Zweiundzwanzig Minuten», sagte ich.

Meine Patientin war nicht von gestern. Sie warf einen Blick auf die Wanduhr, die neben meinem Schreibtisch hing, und runzelte die Stirn.

«Sie sind Polizistin», fuhr ich fort. «Sie haben sich bestimmt über mich erkundigt. Da selbst der Boston Herald, ganz zu schweigen von vielen wissenschaftlichen Publikationen, meinen Fall faszinierend fand, werden Sie davon gelesen haben. Es war darum nur eine Frage der Zeit, dass Sie dieses Thema anschneiden würden, um ablenken zu können. Angriff ist die beste Verteidigung, nicht wahr?» Ich hielt meine Stimme gedämpft. «Fürs Protokoll: Ich empfinde keinen physischen Schmerz. Umso besser kann ich mich auf Ihren konzentrieren. Und Sie haben meine Frage immer noch nicht beantwortet. Halten Sie sich für außergewöhnlich belastbar?»

«Durchaus», murmelte sie.

«So belastbar, dass Sie sich von Ihrem Rücken und Ihrer Schulter nicht ausbremsen lassen wollen?»

«Ich kann mir nicht mal allein die Haare waschen.»

Ich wartete.

«Ich kann meinen Sohn nicht auf den Arm nehmen. Meinen dreijährigen Sohn. Als er mich gestern Abend umarmen wollte, bin ich ihm ausgewichen, weil ich wusste, dass es mir weh tun würde.»

Ich wartete.

«Die Ärzte sagen, es wird schon wieder. Tun Sie dies, nehmen Sie das. Aber ich kann nicht schlafen, kann mich nicht bewegen und es nicht einmal genießen, faul im Bett zu liegen. Ich hasse mein verdammtes Bett. Mich hinzulegen und wieder aufzustehen schmerzt wie verrückt. Ich bin alt, kaputt und so gut wie arbeitslos.»

Dann: «Mist verdammter, verfluchte Scheiße!»

«Melvin», sagte ich.

«Was?» D.D. starrte mich an, ein halbwildes Funkeln in den Augen. Ich hatte in meiner Praxis schon viele Patienten mit diesem Ausdruck gesehen, dem Ausdruck eines Tieres unter Qualen.

«Melvin», wiederholte ich ruhig. «Ich finde, Sie sollten Ihren Schmerz Melvin nennen. Verdammter Scheißkerl Melvin. Schreien Sie ihn an, wenn er Sie schikaniert. Verfluchen Sie ihn. Warum nicht? Vielleicht erleichtert Sie das. Vielleicht machen Sie die Erfahrung, dass Ihr Selbst die Oberhand gewinnt, wenn es Melvin in seine Schranken verweist. Und das wollen Sie doch, wenn ich nicht irre, oder? Sich stark fühlen?»

«Melvin», sagte D.D.

«War nur ein Vorschlag. Sie können ihm natürlich auch einen Namen geben, der Ihnen besser gefällt.»

«Was berechnen Sie noch einmal für eine Stunde?»

«Nun, ich bin Ärztin, führe einen entsprechenden Titel im Namen, und und und …»

«Melvin. Gütiger Himmel, mein Schmerz heißt Melvin.»

«Nach dem Modell der inneren Familie unterscheiden wir vier Unterpersönlichkeiten oder Teile. Im Zentrum steht Ihr Selbst als das natürliche Oberhaupt. Dann wäre da der Bereich, in dem unter anderem Schmerzen und Traumata ihren Platz haben. Wir sprechen in dem Zusammenhang von den Verbannten, solange diese Schmerzen oder Traumata vom Patienten noch nicht verarbeitet wurden. Unglücklicherweise aber wollen diese Verbannten ihre Geschichte erzählen und sich ausleben, sei es durch Wutausbrüche, Raserei, Trauer oder Scham, und das so lange, bis sie sich endlich Gehör verschafft haben.

Wenn sich die Verbannten ausleben, kommt die nächste Gruppe ins Spiel, die Feuerwehr. Zu den klassischen Techniken dieser Akteure zählen Drogen- und Alkoholmissbrauch, Fressorgien oder andere kurzfristige Maßnahmen zur Linderung anhaltender Schmerzen. Schließlich wären da noch die Manager. Sie versuchen in ihrem Bereich ebenfalls, die Verbannten in Schach zu halten, und zwar durch rigorose Kontrolle. Urteil, Selbstkritik, Ehrgeiz – all das geht von ihnen aus. Der verbannte Schmerz oder das Trauma verursacht emotionalen Stress, der die Feuerwehr zu selbstzerstörerischen Akten verführt, während die Manager mit repressiven Maßnahmen reagieren. Ein Teufelskreis ist in Gang gesetzt, weil das Selbst die Führung abgegeben hat.»

«Ich bin eine Treppe runtergefallen», wiederholte D.D.

«Ja.»

«Was soll das mit Verbannten, Feuerwehrleuten und Managern zu tun haben? Oder mit meinem wahren Selbst?»

«Der Sturz war traumatisch. Er hat nicht nur Schmerzen verursacht, sondern auch Furcht geweckt, Gefühle von Ohnmacht und Hilflosigkeit.»

Die Polizistin hob die Schultern an und wimmerte leise.

«Diese Gefühle zählen mit zu den Verbannten», fuhr ich fort. «Sie schreien, um gehört zu werden. Die Feuerwehr antwortet darauf mit zwanghaftem Trinken oder Medikamentenmissbrauch –»

«Ich nehme keine Pillen.»

«Oder aber die Manager drängen sich in den Vordergrund», erklärte ich. «Sie versuchen, Kontrolle auszuüben, und urteilen über Ihre Reaktion auf den Schmerz. Tatsächlich fordern sie, dass Sie ihn ertragen und belastbarer sind.»

D.D.s Augen weiteten sich ein wenig. Sie starrte mich eine volle Minute lang an. Dann schlossen sich die Lider wieder etwas.

«Die Verbannten müssen gehört werden», murmelte sie. «Deshalb wollen Sie, dass ich mit meinem Schmerz rede.»

«Mit Melvin. Grundsätzlich ist es leichter, mit jemandem zu sprechen, der einen Namen hat.»

«Und was hat Melvin zu sagen? Hey, ich bin verletzt. Ich bin hilflos. Ich hasse Treppen. Ich sage okay, und meine Schmerzen verschwinden?»

«Nein, aber Sie können dann vielleicht besser mit Ihren Schmerzen umgehen. Das gesamte System kommt ein bisschen zur Ruhe, während Ihr Selbst wieder die Oberhand gewinnt. Nebenbei bemerkt, es gibt zahlreiche Studien zu körperlichen Schmerzen. Eines der interessantesten Ergebnisse lautet: Jeder Mensch kennt Schmerzen, aber nicht alle werden davon belästigt. Mit anderen Worten: Es kommt auf die innere Einstellung an.»

«Ich glaube», sagte D.D. langsam, «das ist der größte Blödsinn, den ich je gehört habe.»

«Trotzdem sind Sie hier. Die erste Sitzung ist gleich zu Ende, zwei weitere stehen noch aus.»

D.D. ließ wieder die Schultern herabhängen und stand auf. «Scheiß Melvin», murmelte sie. Dann: «Irgendwie gefällt’s mir, ihn zu beschimpfen.»

«Detective», fragte ich, als sie zur Tür ging, «welches Ziel möchten Sie sich für die nächsten beiden Sitzungen stecken? Was wünschen Sie sich am meisten?»

«Dass ich mich wieder erinnere», antwortete sie spontan.

«Woran?»

«An den Sturz.» Sie schaute mich fragend an. «Sie unterliegen der ärztlichen Schweigepflicht, oder?»

«Natürlich.»

«Meine Verletzung – ich bin an einem Tatort die Treppe runtergefallen. Und habe Schüsse aus meiner Dienstwaffe abgefeuert. Das weiß ich noch. Vergessen habe ich, warum ich dort war und worauf ich geschossen habe.»

«Interessant. Haben Sie sich eine Gehirnerschütterung zugezogen?»

«Wahrscheinlich. Darauf führen die Ärzte meinen Gedächtnisverlust zurück.»

«Was ist das Letzte, an das Sie sich erinnern können?»

Sie ließ so lange mit der Antwort auf sich warten, dass ich glaubte, sie hätte meine Frage nicht gehört. Doch dann: «An den Geruch von Blut», flüsterte sie. «Dass ich den Boden unter meinen Füßen verloren habe. Wenn der Ast bricht, fällt das Nest.»

«Detective Warren?»

«Ja.»

«Wenn Sie in der kommenden Nacht mit Melvin geschimpft haben, möchte ich, dass Sie ihm eine Frage stellen. Fragen Sie ihn, warum er sich nicht erinnern will.»

«Ernsthaft?»

«Ja. Sagen Sie ihm dann, es sei alles in Ordnung. Sie kämen nun mit allem zurecht.»

«Mit der Erinnerung an das, was passiert ist?»

«Ja. Aber seien Sie vorsichtig, Detective Warren. Melvin könnte gute Gründe dafür haben, dass er wünscht, sie vergäßen.»

4. Kapitel

«Mein Schmerz heißt Melvin.»

«Besser als Wilson», bemerkte Alex Wilson, D.D.s Ehemann. «Oder Horgan.» So hieß der stellvertretende Superintendent des Mordkommissariats, D.D.s Boss.

«Ihr zwei seid vielleicht Nervensägen, aber Melvin ist ein richtiges Arschloch.»

D.D. ging auf ihren Mann zu, der bereits auf der Eingangsveranda des bescheidenen Stadthauses aus roten Backsteinen stand. Es dämmerte. Die Sonne ging unter, und ein Wind frischte auf, der schon einen vorwinterlichen Biss hatte. Sie hatte den Wagen drei Straßenecken weiter abgestellt. Eine Anwohnerin, die von der Arbeit kam. Oder eine verletzte Polizistin beim Spaziergang, zufällig in der Nachbarschaft eines Tatorts.

Sie sollte nicht hier sein. Dazu hatte sie auch kein Recht.

Trotzdem, nach ihrem Arzttermin war dies, wie sie fand, genau der richtige Ort für sie. Sie hatte sich vorsichtig ans Steuer gesetzt und mit der rechten Hand an dem von Alex dankenswerterweise angebrachten Strick die Fahrertür zugezogen, was schwer genug war.

Sie hatte also jede Menge Zeit gehabt, sich eines anderen zu besinnen.

Nun aber, da sie auf das Backsteinhaus zuging, überkam sie ein starkes Déjà-vu. Den Ablauf kannte sie gut: Es wäre besser gewesen, nach Hause zu gehen, aber stattdessen steuerte sie auf einen Tatort zu.

Klar. Dieses Muster wiederholte sich zeit ihres Erwachsenenlebens.

Heute aber wartete nun ihr Mann vor dem Haus der getöteten Frau, und er schien nicht überrascht, dass D.D. sich näherte.

«Wie war’s bei der Ärztin?», fragte er und hob das gelbe Absperrband für sie an.

«Ich soll mit meinem Schmerz reden. Wie findest du das?»

«Kann dein Schmerz sprechen?»

«Angeblich.»

«Interessant», sagte er.

«Bullshit», erwiderte sie.

Sie blieb vor ihm stehen. Alex’ Blick war so ruhig wie immer, seine Mimik unergründlich. Sie spürte, wie ihr Herz unregelmäßig zu schlagen anfing und ihr Atem flacher wurde. Der Schmerz, sagte sie sich. Der Heilungsprozess nahm so viel Energie in Anspruch, dass ihr die drei verfluchten Verandastufen die letzten Kraftreserven raubten.

«Hat man dich hierherbestellt?», fragte sie schließlich. «Wollen sie deine Expertise?»

Alex unterrichtete Tatortanalyse an der Polizeiakademie. Darüber hinaus fungierte er manchmal als Berater. Um die Praxis nicht aus den Augen zu verlieren, nahm er gelegentlich auch an Einsätzen teil. Bei einer solchen Gelegenheit hatten sie sich kennengelernt, vor vielen Jahren, im Zuge von Ermittlungen. Der Tatort damals war ebenfalls ein Stadthaus gewesen, der Fall aber gänzlich anders gelagert: Ein Mann hatte seine ganze Familie umgebracht und dann seine Waffe gegen sich selbst gerichtet.

D.D. erinnerte sich, einer Blutspur gefolgt zu sein, während Alex anhand weniger Indizien den Tathergang rekonstruiert hatte. Der Frau war mit einem Schlag von hinten das Rückgrat zerschmettert worden, den Sohn, einen sportlichen Teenager, hatte ein einziger Messerstich zwischen die Rippen niedergestreckt, und die beiden jüngeren Kinder waren im Schlafzimmer überrascht worden; das eine hatte es nicht mehr bis zur Tür geschafft, das andere – und bedauerlichere der beiden – wohl.

«Ich wusste, dass du kommen würdest», sagte Alex.

«Wirst du mich jetzt wegschicken, zurück nach Hause, wo ich hingehöre?»

Ihr Mann grinste, streckte den Arm aus und strich ihr eine blonde Locke hinters Ohr. «Eher könnte ich wohl dem Wind befehlen, nicht mehr zu blasen. Komm mit, D.D. Es scheint, die Bostoner Polizei braucht ein bisschen Unterstützung in diesem Fall. Wo du nun schon mal hier bist, könnten wir ja zusammen eine Tour durchs Haus machen.»

«Deshalb habe ich meinen Schmerz nicht nach dir benannt», bemerkte sie aufrichtig.

Alex blickte wieder ernst drein. «Bedank dich nicht zu früh bei mir.»

Als sie ihm in die dunkle Eingangsdiele folgte, schlug ihr ein Geruch entgegen, der das nächste Déjà-vu auslöste. Es war wie damals, als sie Christine Ryans Wohnung betreten, denselben Gestank eingeatmet und sofort gewusst hatte, dass sie sich am Ort eines besonders grausamen Verbrechens befand. Und tatsächlich war kurz darauf ihr Blick auf die junge Frau am Boden gefallen, deren Haut sich in langen, verschlungenen Streifen neben ihrem Körper aufhäufte.

Alex musterte seine Frau. Nicht den Boden, die Wände oder die nach oben führende Treppe, also all die vorrangigen Elemente einer kriminalistischen Analyse. Er musterte sie. Und mehr als alles andere zwang sie dieser Blick, sich zusammenzureißen.

Sie holte tief Luft – durch den Mund diesmal – und setzte ihr Pokerface auf.

Alex zeigte auf einen Abfalleimer vor der Wand. Er war gefüllt mit den Plastikpantoffeln und Haarnetzen der Kriminaltechniker, die nur dann zum Einsatz kamen, wenn die Spurenlage am Tatort unübersichtlich und prekär war.

Hier sah das Protokoll also anders aus als im ersten Fall. Dort war das Blut des Opfers fast ausnahmslos in die Matratze gesickert. Hier …

D.D. streifte blaue Überzieher über ihre flachen Stiefel. Sie waren groß und elastisch und ließen sich problemlos mit einer Hand anziehen. Das Haarnetz überzuziehen erwies sich als größere Herausforderung, zumal ihre eigensinnigen Locken nicht alle darunter verschwinden wollten. Alex musste helfen, sie zu bändigen. Sie hielt still, als er mit den Fingern am Haaransatz entlangfuhr und ihr über die Wange hauchte. Abgesehen von seiner Hilfe beim Duschen waren sie sich schon seit Wochen nicht mehr so nahegekommen.

«Sieh mal», sagte er und deutete auf die Wand neben der Treppe.

Sie folgte seiner Handbewegung und sah über der ersten Stufe einen dunklen Fleck auf der hellen Wand. Verschmiertes Blut.