Wer stirbt, entscheidest du - Lisa Gardner - E-Book
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Wer stirbt, entscheidest du E-Book

Lisa Gardner

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Beschreibung

Wen liebst du am meisten? Brian Darby ist tot. Erschossen. Von seiner Frau Tessa. Notwehr offenbar: Die Polizistin weist schwere körperliche Verletzungen auf. Und ihre Tochter ist verschwunden. Während die Fahndung nach der Kleinen läuft, kommen FBI-Ermittlerin D.D. Warren immer mehr Zweifel. Bei ihrer Recherche stößt sie auf einen seltsamen Zufall: Tessa hatte Jahre zuvor den Bruder einer Freundin erschossen. Angeblich in Notwehr. Ist die junge Frau eine kaltblütige Mörderin? Oder eine Marionette in einem perfiden Spiel? «Niemand ist im Spannungsgenre so zu Hause wie Lisa Gardner. ‹Wer stirbt, entscheidest du› ist vermutlich ihr bestes Buch überhaupt.» (Lee Child) «Lisa Gardner ist eine exzeptionelle Autorin!» (Karin Slaughter) «Ein Familiendrama, das einen bewegt. Ich habe es verschlungen.» (Tess Gerritsen)

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Lisa Gardner

Wer stirbt, entscheidest du

Thriller

Aus dem Englischen von Michael Windgassen

Ihr Verlagsname

Über dieses Buch

Wen liebst du am meisten?

Brian Darby ist tot. Erschossen. Von seiner Frau Tessa. Notwehr offenbar: Die Polizistin weist schwere körperliche Verletzungen auf. Und ihre Tochter ist verschwunden.

Während die Fahndung nach der Kleinen läuft, kommen FBI-Ermittlerin D.D. Warren immer mehr Zweifel. Bei ihrer Recherche stößt sie auf einen seltsamen Zufall: Tessa hatte Jahre zuvor den Bruder einer Freundin erschossen. Angeblich in Notwehr.

Ist die junge Frau eine kaltblütige Mörderin? Oder eine Marionette in einem perfiden Spiel?

 

 

«Niemand ist im Spannungsgenre so zu Hause wie Lisa Gardner. ‹Wer stirbt, entscheidest du› ist vermutlich ihr bestes Buch überhaupt.» (Lee Child)

 

«Lisa Gardner ist eine exzeptionelle Autorin!» (Karin Slaughter)

 

«Ein Familiendrama, das einen bewegt. Ich habe es verschlungen.» (Tess Gerritsen)

Über Lisa Gardner

Lisa Gardner gehört zu den erfolgreichsten amerikanischen Thrillerautoren der Gegenwart. Sie lebt mit ihrer Familie und zwei Hunden in New England.

 

Lisa Gardner bei Rowohlt:

Ohne jede Spur

Die Frucht des Bösen

Wer stirbt, entscheidest du

Der Tag, an dem du stirbst

Du darfst nicht lieben

Blut ist dicker als Wasser

Der siebte Monat (Rowohlt E-Book Only)

Schmerz

Inhaltsübersicht

Prolog1. Kapitel2. Kapitel3. Kapitel4. Kapitel5. Kapitel6. Kapitel7. Kapitel8. Kapitel9. Kapitel10. Kapitel11. Kapitel12. Kapitel13. Kapitel14. Kapitel15. Kapitel16. Kapitel17. Kapitel18. Kapitel19. Kapitel20. Kapitel21. Kapitel22. Kapitel23. Kapitel24. Kapitel25. Kapitel26. Kapitel27. Kapitel28. Kapitel29. Kapitel30. Kapitel31. Kapitel32. Kapitel33. Kapitel34. Kapitel35. Kapitel36. Kapitel37. Kapitel38. Kapitel39. Kapitel40. Kapitel41. Kapitel42. Kapitel43. Kapitel44. Kapitel45. KapitelAnmerkungen und Danksagungen

Prolog

Wen liebst du?

Auf diese Frage sollte jeder antworten können. Sie definiert ein Leben, schafft eine Zukunft und führt durch den Tag, fast von Minute zu Minute. Sie ist schlicht, elegant und umfassend.

Wen liebst du?

Er stellte diese Frage, und ich fühlte die Antwort am Gewicht meines Dienstkoppels, in der bedrückenden Enge meiner schusssicheren Weste und unter dem Schweißband des tief in die Stirn gezogenen Trooper-Hutes. Ich griff langsam nach unten und streifte mit den Fingern meine Sig Sauer, die im Holster an meiner Hüfte hing.

«Wen liebst du?», rief er wieder, lauter jetzt.

Meine Hand glitt an der Dienstwaffe vorbei und fand den schwarzen ledernen Koppelverschluss. Das Klettband ratschte, als ich den ersten Riemen löste, dann den zweiten, dritten, vierten. Ich öffnete die Metallschnalle, und der neun Kilo haltende Gürtel rutschte mir mitsamt meiner Waffe, dem Taser und dem Teleskopschlagstock von der Hüfte.

«Bitte nicht», flüsterte ich in einem letzten Appell an die Vernunft.

Er lächelte nur. «Zu wenig, zu spät.»

«Wo ist Sophie? Was hast du getan?»

«Dein Gürtel. Auf den Tisch. Sofort.»

«Nein.»

«PISTOLE. Auf den Tisch. SOFORT!»

Ich stand mitten in der Küche und stellte die Füße weiter auseinander, um sicherer stehen zu können. Das Dienstkoppel hing von meiner linken Hand herab. Vier Jahre meines Lebens bin ich auf Massachusetts Highways Patrouille gefahren, darauf eingeschworen, für Sicherheit und Ordnung zu sorgen. Ich hatte eine gründliche Ausbildung und Erfahrung auf meiner Seite.

Es wäre mir ein Leichtes gewesen, die Waffe zu ziehen und zu schießen.

Die geholsterte Sig Sauer hing jedoch in einem ungünstigen Winkel; ich hätte wertvolle Sekunden verloren. Er behielt mich im Auge, gefasst darauf, dass ich mich plötzlich bewegte. Für einen Fehler würde ich teuer bezahlen.

Wen liebst du?

Er hatte recht. Darauf kam es letztlich an. Wen hast du geliebt, und wie viel hast du für die, die du liebst, riskiert?

«Die Waffe!», brüllte er. «Sofort, verdammt noch mal!»

Ich dachte an meine sechsjährige Tochter, den Duft ihrer Haare, daran, wie es sich anfühlte, wenn sie mir ihre dünnen Arme um den Hals schlang, an den Klang ihrer Stimme, wenn ich sie abends zu Bett brachte. «Ich liebe dich, Mommy», sagte sie immer.

Vorsichtig griff er nach meinem Koppel, nach der Waffe im Holster.

Eine letzte Chance …

Ich blickte meinem Ehemann in die Augen. Einen Wimpernschlag lang.

Wen liebst du?

Ich traf meine Entscheidung. Ich legte den Gürtel auf den Küchentisch.

Er nahm meine Sig Sauer und drückte ab.

1. Kapitel

Sergeant Detective D.D. Warren war stolz auf ihre Fähigkeiten als Ermittlerin. Seit über zwölf Jahren im Dienst der Bostoner Polizei wusste sie, dass an einem Tatort mehr zu tun war, als genau hinzusehen und ein paar Gespräche zu führen. Die Arbeit verlangte ein Eintauchen mit allen Sinnen. Sie fühlte förmlich das Loch in der Rigipsplatte, das von einem heißen Projektil Kaliber .22 stammte. Sie lauschte an den dünnen Wänden, um festzustellen, ob Geräusche dahinter auszumachen waren, denn wenn ja, würden die Nachbarn gehört haben, was sich hier auf dieser Seite abgespielt hatte.

D.D. registrierte immer, wie ein Körper gefallen war, ob nach vorn, nach hinten oder zur Seite. Sie schmeckte die Luft, um den Geruch von Schießpulver aufzuspüren, der auch noch zwanzig bis dreißig Minuten nach dem letzten Schuss wahrnehmbar war. Mehr als einmal hatte sie den Todeszeitpunkt am Geruch des Blutes ermitteln können, das anfangs wie frisches Fleisch roch und dann, von Stunde zu Stunde, eine schwere, erdigere Note annahm.

An diesem Sonntagmorgen aber hatte sie mit so was nichts am Hut. Sie lümmelte sich in einer grauen Trainingshose und dem übergroßen roten Flanellhemd von Alex an seinem Küchentisch, hielt einen getöpferten Kaffeebecher in beiden Händen und zählte die Sekunden.

Sie war bei dreizehn, als Alex es endlich bis zur Haustür geschafft hatte. Dort blieb er stehen und wickelte sich einen dunkelblauen Schal um den Hals.

Sie zählte weiter.

Er war jetzt fertig mit dem Schal, zog eine schwarze Mütze auf und streifte gefütterte Lederhandschuhe über. Draußen herrschten immer noch Minusgrade. Zwanzig Zentimeter Neuschnee waren gefallen und fünfzehn weitere bis zum Wochenende vorausgesagt. In Neuengland bedeutete März nicht gleich Frühling.

Alex unterrichtete an der Polizeiakademie unter anderem Tatortanalyse. Heute hatte er einen vollen Stundenplan, morgen einen freien Tag. Wie sie. Weil das nicht allzu häufig vorkam, wollten sie gemeinsam etwas unternehmen; was, hatten sie noch nicht entschieden. Vielleicht Eislaufen in den Boston Commons. Oder ein Besuch im Isabelle Stewart Gardner Museum. Oder auch nur Faulenzen vor der Glotze, mit alten Filmen und einer großen Schale Popcorn in Reichweite.

D.D. klammerte sich an ihren Becher. Okay, vielleicht lieber kein Popcorn.

Sie zählte achtzehn, neunzehn, zwanzig –

Alex hatte die Handschuhe übergezogen, griff nach seiner abgewetzten schwarzen Ledertasche und kam zu ihr.

«Verzehr dich nicht zu sehr nach mir», sagte er.

Er gab ihr einen Kuss auf die Stirn. D.D. schloss die Augen und zählte im Stillen von zwanzig rückwärts.

«Ich werde dir jeden Tag Liebesbriefe schreiben, mit kleinen Herzchen auf den i», erwiderte sie.

«In dein Highschool-Heft?»

«Genau.»

Alex machte sich auf den Weg zur Tür. D.D. war bei vierzehn. Der Becher zitterte, was Alex aber nicht zu bemerken schien. Sie holte tief Luft und fasste sich. Dreizehn, zwölf, elf …

Sie und Alex waren ein bisschen über sechs Monate zusammen. Inzwischen nannte sie auf seiner winzigen Ranch eine ganze Schublade ihr eigen, während er in ihrer Eigentumswohnung in North End nur einen kleinen Winkel im Wandschrank beanspruchte. Wenn er unterrichtete, wohnte sie hier bei ihm. Wenn sie arbeitete, war es bequemer für beide in Boston. Einen geregelten Zeitablauf gab es nicht, denn das hätte weitere Planungen nach sich gezogen und eine Beziehung weiter gefestigt, die sie zunächst einmal möglichst offen halten wollten.

Sie waren gern zusammen. Alex respektierte ihren verrückten Dienstplan als Detective der Mordkommission. Sie respektierte seine Kochkünste als Italoamerikaner in dritter Generation. Sie freuten sich auf gemeinsame Nächte, konnten aber auch solche gut aushalten, in denen jeder für sich war. Beide legten Wert auf Unabhängigkeit. D.D. war gerade vierzig geworden, er hatte diese Marke schon vor ein paar Jahren überschritten. Den Zeiten, in denen Verliebte ausschließlich den anderen im Kopf hatten, waren sie jedenfalls entwachsen. Alex war schon einmal verheiratet gewesen. D.D. wusste es einfach besser.

Sie lebte, um zu arbeiten, was andere ungesund fanden. Aber das war ihr egal. Sie fuhr nicht schlecht damit.

Neun, acht, sieben …

Alex öffnete die Haustür und straffte die Schultern, um sich dem bitterkalten Morgen zu stellen. Ein eisiger Luftzug fuhr durch den kleinen Flur und streifte ihre Wangen. Fröstelnd hielt sie den Becher noch fester umklammert.

«Ich liebe dich», sagte Alex und trat über die Schwelle.

«Ich dich auch.»

Er zog die Tür hinter sich zu. D.D. schaffte es in letzter Sekunde ins Bad, um sich zu übergeben.

 

Zehn Minuten später war sie immer noch im Badezimmer, lang ausgestreckt auf dem Boden. Die Kacheln stammten aus den Siebzigern, kleine beige-braune und herbstgoldene Quadrate, deren Anblick sie wieder würgen ließ. Trotzdem begann sie die Dinger zu zählen wie bei einer Meditationsübung. Und tatsächlich, es wirkte. Irgendwann begannen sich ihre erhitzten Wangen abzukühlen, und der verkrampfte Magen beruhigte sich wieder.

Ihr Handy klingelte. Sie warf einen Blick darauf, nicht sonderlich interessiert unter den gegebenen Umständen. Als sie aber den Anrufer im Display erkannte, hatte sie Erbarmen.

«Was ist?», fragte sie. So grüßte sie immer ihren Ex-Lover und seit kurzem verheirateten Kollegen bei der State Police von Massachusetts Bobby Dodge.

«Ich habe nicht viel Zeit. Hör zu.»

«Ich bin nicht an Deck», erwiderte sie automatisch. «Neue Fälle gehen an Jim Dunwell. Belästige den.» Sie krauste die Stirn. Bobby würde sie nicht wegen eines neuen Falls anrufen. Als Stadtpolizistin nahm sie ihre Befehle von der Bostoner Zentrale entgegen, nicht von einem Detective der State Police.

Bobby redete weiter, als hätte sie nichts gesagt: «Bei uns ist gerade die Kacke am Dampfen, und ich fürchte, es ist unsere eigene Scheiße. Also hör mir gefälligst zu. Nebenan flattern Stars and Stripes, und vor der Tür lauert die Presse. Schleich dich von hinten ran. Und halt die Augen auf. Ich habe den Überblick verloren. Glaub mir, D.D., in dieser Sache dürfen wir uns nicht den kleinsten Fehler erlauben.»

D.D.’s Stirnrunzeln vertieften sich. «Wie bitte? Ich habe nicht den geringsten Schimmer, wovon du sprichst, und abgesehen davon, habe ich heute frei.»

«Jetzt nicht mehr. Deine Abteilung will in dem Fall eine Frau an vorderster Front sehen, und der Staat verlangt einen seiner eigenen Leute, möglichst einen ehemaligen Trooper. Der Befehl kommt von ganz oben.»

Sie hörte ein neues Geräusch; es kam aus dem Schlafzimmer. Ihr Pager piepte. Mist. Das schien Bobbys Gefasel zu bestätigen. Sie mühte sich vom Boden auf. Ihre Beine zitterten, und sie fürchtete, sich wieder übergeben zu müssen. Der erste Schritt verlangte ihre ganze Willenskraft, der Rest ging einfacher. Sie tappte ins Schlafzimmer. Es war nicht das erste Mal, dass sie auf einen freien Tag verzichten musste.

«Was muss ich wissen?», fragte sie, mit festerer Stimme jetzt und das Handy zwischen Ohr und Schulter geklemmt.

«Dass Schnee liegt», antwortete Bobby. «Auf Boden, Bäumen, Fensterbrettern … und unsere Cops trampeln alles platt.»

«Schaff sie weg. Der Tatort gehört mir. Sie sollen alle verschwinden.»

Sie fand ihren Pager auf dem Nachttischchen. Jawohl, der Ruf kam von der Einsatzzentrale. Sie machte sich daran, die Trainingshose abzustreifen.

«Sie sind draußen vorm Haus. Keine Sorge, selbst unsere Bosse wissen, dass sie an einem Mordschauplatz aufpassen müssen. Aber bis vorhin wusste niemand, dass das Mädchen verschwunden ist. Zur Straße hin ist das Haus abgeriegelt, aber nach hinten raus ist alles offen. Und da wird alles plattgetrampelt. Wie gesagt, ich habe den Überblick verloren. Beeil dich.»

D.D. hatte die Trainingshose ausgezogen und knöpfte Alex’ Flanellhemd auf.

«Das Opfer?»

«Zweiundvierzigjährige Person, weiß, männlich, tot.»

«Und wer wird vermisst?»

«Sechsjährige Person, weiß, weiblich.»

«Verdächtige?»

Bobby ließ mit der Antwort lange auf sich warten, sehr lange.

«Mach dich endlich auf den Weg», sagte er. «Wir arbeiten zusammen. Unser Fall. Unsere Kopfschmerzen. Und wir brauchen Ergebnisse – lieber jetzt als gleich.»

Er unterbrach die Verbindung. D.D. warf das Handy aufs Bett und zog ihr weißes Diensthemd an.

Okay. Mord und eine vermisste Person. Die State Police war am Tatort, der im Zuständigkeitsbereich der Bostoner Zentrale lag. Was hatte die State Police dort zu suchen –

Plötzlich ging ihr ein Licht auf.

«Scheiße.»

Der Brechreiz war verschwunden. Trotzdem kam ihr die Galle hoch.

Sie schnappte sich den Pager, ihre Ausweise und die Winterjacke. Und dann, mit Bobbys Worten im Ohr, nahm sie Kurs auf ihren Tatort.

2. Kapitel

Wen liebst du?

Ich lernte Brian am 4. Juli bei einem Picknick kennen. In Shanes Garten. Es war eine jener Partys, die mich normalerweise wenig interessierten, aber es gab diesmal einen Grund, weshalb ich die Einladung annahm. Ich selbst hatte zwar nichts davon, aber vielleicht Sophie.

Die Party war nicht übermäßig groß, vielleicht dreißig Gäste, Kollegen und Familien aus Shanes Nachbarschaft. Sogar der Lieutenant Colonel ließ sich blicken, worauf Shane durchaus stolz sein konnte. Die meisten waren jedoch von niederem Rang. Ich sah vier Jungs von der Polizeikaserne beim Grill stehen; sie tranken ein Bier nach dem anderen und gingen Shane auf den Wecker, der eine weitere Ladung Bratwürstchen auf dem Rost verteilte. An den beiden Klapptischen davor waren lachende Ehefrauen damit beschäftigt, Margaritas zu mixen und auf diverse Kinder aufzupassen.

Andere Gäste hielten sich im Haus auf, um Nudelsalate vorzubereiten und die letzten Minuten des Spiels nicht zu verpassen. Alles plapperte durcheinander, und jeder nahm einen Happen hiervon und einen Schluck davon. Ein typisches Samstagnachmittagsgelage im Sonnenschein.

Ich stand im Schatten einer alten Eiche. Wie Sophie es sich gewünscht hatte, trug ich ein orangefarbenes Kleid und meine schicken Flipflops mit Goldglitzer. Ich hatte wieder einmal die Füße ein Stück auseinandergestellt und lehnte, die Ellbogen an die Seite gedrückt, mit dem Rücken am Baumstamm. Man kann eine Frau vom Dienst freistellen, aber nicht den Dienst von der Frau.

Ich hätte mich unter die Partygesellschaft mischen sollen, wusste aber nicht, wo anfangen. Mich zu den Damen setzen, von denen ich keine kannte, oder mich zu den Jungs stellen, wo ich mich wohler fühlen würde? Zu den Hausfrauen und Müttern passte ich nicht. Ich durfte aber auch nicht den Eindruck erwecken, im Kreis der Ehemänner Spaß zu haben, denn dann hätten die Frauen zu lachen aufgehört und mir böse Blicke zugeworfen.

Also blieb ich auf Abstand, hielt meine Bierflasche in der Hand, ohne daraus zu trinken, und wartete auf den Moment, an dem ich mich höflich würde zurückziehen können.

Meist hatte ich meine Tochter im Auge.

Sie tollte in rund hundert Metern Entfernung mit anderen Kindern auf der Wiese herum und kicherte ausgelassen. Ihr pinkfarbenes Sommerkleidchen war schon voller grüner Grasflecken und ihr Mund verschmiert vom Schokoladenkuchen. Sie purzelte den kleinen Abhang hinunter, nahm, unten angekommen, ein kleines Mädchen an die Hand und rannte mit ihm so schnell, wie es dreijährige Beine zuließen, wieder nach oben.

Sophie schloss Freundschaften von jetzt auf gleich. Sie war mir äußerlich sehr ähnlich, ansonsten aber eine ganz eigenständige Person. Kontaktfreudig, mutig, abenteuerlustig. Wenn es nach ihr ginge, wäre sie ständig mit anderen zusammen. Charme war möglicherweise ein dominantes Gen, das sie von ihrem Vater geerbt hatte. Von mir konnte sie ihn jedenfalls nicht haben.

Zusammen mit den anderen Kindern erreichte sie wieder die kleine Anhöhe unter strahlend blauem Himmel. Sophie warf sich als Erste ins Gras. Ihre kurzen dunklen Haare bildeten einen hübschen Kontrast zum gelben Löwenzahn. Mit fliegenden Armen und Beinen kullerte sie wieder den Abhang hinunter und kreischte vor Vergnügen. Schwindelnd stand sie auf und sah, dass ich sie beobachtete.

«Ich liebe dich, Mommy!», rief sie und rannte wieder den Hügel hinauf.

Ich blickte ihr nach und wünschte wieder einmal, nicht all das zu wissen, was eine Frau wie ich wissen musste.

 

«Hallo.»

Ein Mann hatte sich aus der Menge gelöst und kam auf mich zu. Ende dreißig, knapp eins achtzig, kurz geschnittene blonde Haare, muskulöse Schultern. Allem Anschein nach auch ein Cop, den ich aber nicht kannte.

Er streckte mir die Hand entgegen. Etwas verspätet bot ich ihm meine.

«Brian», sagte er. «Brian Darby.» Er deutete mit dem Kopf in Richtung Haus. «Ich wohne ein Stück weiter die Straße runter. Und Sie?»

«Tessa. Tessa Leoni. Ich kenne Shane aus der Kaserne.»

Ich wartete auf den unvermeidlichen Kommentar eines Mannes, der auf eine Polizistin trifft. Ein Cop? Dann muss ich mich ja gut benehmen. Oder: Oooh, wo haben Sie Ihre Waffe?

Brian aber nickte nur. Er hielt eine Flasche Bud Light in der Linken und hatte die andere Hand in die Tasche seiner hellbraunen Shorts gesteckt. Dazu trug er ein blaues Oberhemd mit einem goldenen Emblem auf der Brusttasche, das ich aber aus meinem Blickwinkel nicht identifizieren konnte.

«Ich muss was beichten», sagte er.

Ich machte mich auf das Schlimmste gefasst.

«Shane hat mir schon verraten, wer Sie sind. Um ehrlich zu sein, habe ich mich nach Ihnen erkundigt. Hübsche Frau, so im Abseits. Hat mich neugierig gemacht.»

«Und was haben Sie von Shane erfahren?»

«Dass Sie nicht meine Kragenweite sind. Auf den Köder musste ich anspringen.»

«Shane ist ein Idiot», entgegnete ich.

«Meistens, ja. Sie trinken ja gar nicht.»

Ich blickte auf die Flasche, scheinbar überrascht, sie zu sehen.

«Ich kombiniere», fuhr Brian locker fort. «Sie haben ein Bier in der Hand, trinken aber nicht. Vielleicht hätten Sie lieber eine Margarita? Ich könnte Ihnen ein Glas holen. Allerdings –» Er warf einen Blick auf die Frauen, die schon beim dritten Glas waren und entsprechend lachten. «Ich traue mich nicht so recht.»

«Schon gut.» Ich rührte mich und schüttelte die Arme aus. «Ich trinke eigentlich nicht.»

«Im Dienst?»

«Heute nicht.»

«Ich bin kein Cop und maße mir auch kein Urteil an. Aber ich kenne Shane jetzt seit gut fünf Jahren und weiß ein bisschen was. Ein Trooper ist mehr als jemand, der Patrouille fährt und Knöllchen verteilt. Habe ich recht, Shane?», brüllte er quer durch den Garten. Shane, der noch am Grill stand, hob die rechte Hand und zeigte seinem Nachbarn den ausgestreckten Mittelfinger.

«Shane ist eine Memme», sagte ich ebenso laut.

Auch ich bekam den Mittelfinger zu sehen. Einige Typen lachten.

«Seit wann arbeiten Sie mit ihm zusammen?», fragte Brian.

«Seit einem Jahr. Ich bin noch Neuling.»

«Wirklich? Was hat Sie bewogen, Cop zu werden?»

Ich zuckte gelangweilt mit den Achseln. Es war eine dieser Fragen, die alle stellten und auf die ich keine Antwort wusste. «Mir fiel nichts Besseres ein.»

«Ich bin bei der Handelsmarine», erklärte Brian ungefragt. «Öltanker. Wir sind ein paar Monate unterwegs, ein paar zu Hause und wieder weg. Mit Privatleben ist nicht viel, aber mir gefällt der Job. Ist nie langweilig.»

«Handelsmarine? Was machen Sie genau? Die Kähne vor Piraten schützen oder so was?»

«Nein. Wir fahren von Puget Sound hoch nach Alaska und zurück. Auf der Strecke trifft man relativ selten auf somalische Piraten. Außerdem bin ich Bordingenieur. Ich sorge dafür, dass es weitergeht, und beschäftige mich mit Kabelbäumen, Getrieben und Turbinen. Waffen machen mir Angst.»

«Lege auch keinen gesteigerten Wert drauf.»

«Komisch, so was von einer Polizistin zu hören.»

«Nicht wirklich.»

Ich schaute wieder unwillkürlich nach Sophie, um zu sehen, ob alles klar war. Er folgte meinem Blick. «Shane sagt, Sie hätten eine dreijährige Tochter. Sie ist Ihnen ja wie aus dem Gesicht geschnitten. Dass Sie aus Versehen ein falsches Kind mit nach Hause nehmen, ist wohl kaum möglich.»

«Sie wissen von Shane, dass ich ein Kind habe, und sind trotzdem auf den Köder angesprungen?»

Er zuckte mit den Achseln. «Kids sind klasse. Ich selbst habe zwar keine, was aber nicht heißt, dass ich irgendwas gegen Kinder hätte. Macht der Vater sich auch nützlich?», fragte er scheinbar beiläufig.

«Nein.»

Eine süffisante Bemerkung blieb aus. Stattdessen machte er einen nachdenklichen Eindruck. «Ist bestimmt nicht leicht, als Vollzeit-Cop ein Kind aufzuziehen.»

«Es geht.»

«Daran habe ich keinen Zweifel. Ich habe schon in jungen Jahren meinen Vater verloren. Meine Mutter war mit fünf Kindern auf sich allein gestellt. Sie hat’s geschafft, und das bewundere ich im Nachhinein sehr.»

«Was ist mit Ihrem Vater passiert?»

«Herzinfarkt. Und was ist mit ihrem Vater?», fragte er und schaute rüber zu Sophie, die jetzt mit den anderen Kindern Fangen zu spielen schien.

«Hatte ein besseres Angebot.»

«Männer haben sie nicht alle», murmelte er, wobei er so ernst klang, dass ich lachen musste. Er wurde rot. «Habe ich erwähnt, dass ich vier Schwestern habe? Sie sind wohl die Ursache dafür, dass mir solche Kommentare rausrutschen. Nicht zu vergessen meine Mutter, vor der ich doppelt Respekt habe, erstens, weil sie als allein erziehende Mutter zurechtgekommen ist, und zweitens, weil sie vier Töchter ertragen hat. Ich habe sie nie etwas Stärkeres als Kräutertee trinken sehen.»

«Scheint ja ein regelrechter Fels in der Brandung gewesen zu sein, Ihre Mutter», sagte ich.

«Sind Sie auch von der Kräuterteefraktion? Ich frage, weil Sie Ihr Bier nicht anrühren.»

«Ich bevorzuge eher Kaffee.»

«Ist auch die Droge meiner Wahl.» Er schaute mir in die Augen. «Vielleicht könnte ich Ihnen demnächst einen Becher spendieren. Irgendwo in Ihrer Nachbarschaft oder in meiner. Sie entscheiden.»

Ich musterte Brian Darby ein weiteres Mal. Warme braune Augen, ein freundliches Lächeln und kräftig gebaute Schultern.

«Ja», hörte ich mich sagen. «Fänd ich gut.»

 

Glauben Sie an Liebe auf den ersten Blick? Ich nicht. Ich bin zu vorsichtig, um für solchen Unsinn empfänglich zu sein. Oder vielleicht weiß ich es auch einfach besser.

Ich verabredete mich mit Brian auf eine Tasse Kaffee. Ich erfuhr, dass er, wenn er nicht beruflich unterwegs war, viel Freizeit hatte, was weitere Verabredungen umso einfacher machte. Nach der Frühschicht und bevor ich um fünf Sophie von der Kindertagesstätte abholen musste, gingen wir häufig spazieren. Wenn es mein Dienstplan erlaubte, schauten wir uns abends manchmal ein Spiel der Red Sox an. Und ehe ich michs versah, begleitete er mich und Sophie zu einem Picknickausflug.

Sophie verliebte sich sofort in ihn. Innerhalb von Sekunden kletterte sie auf seinen Rücken und verlangte Hü-hott. Brian gehorchte und galoppierte mit der Kleinen, die sich kreischend an seinen Haaren festhielt und «Schneller, schneller!» brüllte, durch den Park. Als er sich schließlich erschöpft auf die Picknickdecke fallen ließ, tippelte sie los, um Löwenzahn zu pflücken. Ich dachte, der Strauß sei für mich, aber sie reichte ihn nicht mir, sondern Brian.

Er nahm ihn entgegen, zögernd zunächst, strahlte aber dann übers ganze Gesicht, als ihm klar wurde, dass sie allein ihn damit beschenkte.

Danach war es kein Problem mehr, die Wochenenden in seinem Haus mit Garten zu verbringen anstatt in meinem kleinen Zweizimmerapartment. Abends kochten wir gemeinsam, während Sophie mit seinem Hund spielte, einem in die Jahre gekommenen Schäferhund namens Duke. Brian kaufte ein Planschbecken für die Veranda und hängte eine Schaukel in die Eiche.

Als ich einmal das Wochenende über arbeiten musste, füllte er meinen Kühlschrank auf, damit Sophie und ich durch die nächste Woche kamen. Nachdem ich einmal eines Nachmittags einen Verkehrsunfall mit drei toten Kindern hatte aufnehmen müssen, las er die Gute-Nacht-Geschichte für Sophie, während ich im Schlafzimmer Löcher in die Luft starrte und versuchte, die Bilder aus dem Kopf zu kriegen.

Später schmiegte ich mich auf dem Sofa an ihn, während er mir von seinen vier Schwestern erzählte, unter anderem die Episode, wie sie ihn im Schlaf geschminkt hatten. Er war daraufhin zwei Stunden lang mit glitzernd blauem Lidschatten und knallroten Lippen auf seinem Fahrrad um den Block geradelt, ehe ihm in einem Fenster sein Spiegelbild auffiel. Ich lachte. Dann weinte ich. Dann drückte er mich an sich, und wir sagten beide kein Wort mehr.

Der Sommer ging vorbei. Es wurde Herbst, und er musste wieder in See stechen. Für acht Wochen. Thanksgiving würde er wieder zurück sein, versprach er. Ein guter Freund kümmerte sich um Duke. Aber wenn wir wollten …

Er gab mir seinen Schlüssel. Wir könnten es uns jederzeit in seinem Haus gemütlich machen und auch nach eigenen Wünschen gestalten, wenn wir wollten. Das kleine Schlafzimmer für Sophie vielleicht pink streichen. Ein paar Bilder an die Wand hängen. Quietschenten fürs Badezimmer besorgen. Egal was, wir sollten uns bloß wohl fühlen.

Ich gab ihm einen Kuss auf die Wange, er küsste mir die Handfläche.

Er solle sich um uns keine Sorgen machen, wir kämen gut klar miteinander. Bis in acht Wochen.

Sophie weinte und weinte.

Es seien nur zwei Monate, versuchte ich ihr beizubringen. Alles halb so schlimm. Er wäre ja bald wieder zurück.

Ohne Brian gestaltete sich unser Alltag um einiges trister und immer gleich: aufstehen um eins, gegen fünf Sophie von der Kindertagesstätte abholen, sie bis zum Schlafengehen um neun beschäftigen und auf Mrs. Ennis warten, die gegen zehn kam, sodass ich meine Schicht von elf bis sieben antreten konnte. Der Alltag einer alleinstehenden berufstätigen Mom, die sich abmüht, um mit dem Geld zurechtzukommen, von Termin zu Termin hetzt, ihre Vorgesetzten bei Laune zu halten und gleichzeitig den Bedürfnissen ihrer Tochter gerecht zu werden versucht.

Du schaffst es, redete ich mir ein. Ich war zäh. Schwangerschaft und Geburt hatte ich allein durchgestanden, fünfundzwanzig lange, einsame Wochen im Internat der Polizeiakademie ausgehalten und dabei Sophie mit jedem Atemzug schmerzlich vermisst, aber trotzdem an meinem Vorsatz festgehalten, Polizistin zu werden, weil mir das als die beste Möglichkeit erschien, für die Zukunft meiner Tochter sorgen zu können. Freitagabends durfte ich zu Sophie nach Hause zurückkehren, musste sie aber montagmorgens immer weinend in der Obhut von Mrs. Ennis zurücklassen. Woche für Woche, bis ich den Druck kaum mehr aushalten konnte. Aber ich schaffte es. Für Sophie gab ich alles.

Trotzdem schaute ich nun häufiger in meinem Posteingang nach, denn immer wenn Brian in irgendeinem Hafen vor Anker lag, schickte er uns eine Nachricht, manchmal mit einem lustigen Foto, zum Beispiel von einem Elch, mitten auf einer Landstraße in Alaska. In der sechsten Woche wurde mir bewusst, dass ich an Tagen, wenn eine Nachricht von ihm kam, glücklich war, aber gereizt und unzufrieden, wenn nicht. Sophie ging es ähnlich. Jeden Abend saßen wir vor dem Computer, zwei Mädchen, die von ihrem Mann zu hören hofften.

Dann endlich rief er an. Sein Schiff lag in Ferndale, Washington. Übermorgen würde er freigestellt werden und den Nachtflug nach Boston nehmen. Ob wir Lust hätten, mit ihm zu Abend zu essen?

Sophie entschied sich für ihr dunkelblaues Lieblingskleid. Ich trug das orangefarbene Sommerkleid von der Party am 4. Juli, darüber eine Strickjacke, um mich gegen die Novemberkälte zu wappnen.

Sophie hielt am Fenster ungeduldig Ausschau und entdeckte ihn als Erste. Sie kreischte vor Freude und rannte so schnell die Treppe hinunter, dass ich Angst hatte, sie könnte stürzen. Vor dem Eingang warf sie sich Brian in die Arme. Er hob sie hoch und wirbelte sie durch die Luft. Sie lachte und lachte und lachte.

Ich näherte mich leise, ließ mir Zeit, ein letztes Mal die Haare zu richten, und knöpfte die Strickjacke zu. Mit dem Rücken zur Straße schloss ich die Haustür.

Dann drehte ich mich um und schaute ihn an, aus drei Schritt Entfernung. Ich sog seinen Anblick geradezu auf.

Brian blieb stehen. Er hielt mein Kind noch im Arm und betrachtete mich ebenfalls.

Wir berührten uns nicht, sagten auch kein Wort. Das war nicht nötig.

Später, als wir nach dem Restaurantbesuch bei ihm zu Hause waren und Sophie im Bett lag, ging ich in sein Schlafzimmer und ließ mir von ihm die Strickjacke und das Sommerkleid ausziehen. Ich legte meine Hände auf seine nackte Brust und schmeckte Salz auf der Haut am Hals.

«Die acht Wochen waren mir zu lang», murmelte er. «Ich will dich hier bei mir haben, Tessa. Herrje, wenn ich zurückkomme, will ich wissen, dass du hier bist, immer.»

Ich legte seine Hände auf meine Brüste, und ich reckte mich ihm entgegen.

«Heirate mich», flüsterte er. «Es ist mir ernst, Tessa. Ich will dich zur Frau. Und ich will Sophie zur Tochter. Ihr sollt hier bei mir und Duke leben, wir als eine Familie.»

Ich schmeckte wieder seine Haut, fuhr mit den Händen über seinen Körper und presste mich in voller Länge an ihn. Die Berührung ließ mich zittern. Ihn zu spüren und zu schmecken war mir aber nicht genug. Ich brauchte ihn über mir und in mir, überall, jetzt und sofort.

Ich warf ihn aufs Bett und schlang meine Beine um seine Hüfte. Er drang in mich ein, und ich stöhnte, oder vielleicht stöhnte auch er. Egal. Er war da, wo ich ihn brauchte.

Im letzten Moment fasste ich sein Gesicht mit beiden Händen, damit ich ihm in die Augen schauen konnte, wenn die erste Welle über uns zusammenbrach.

«Heirate mich», wiederholte er. «Ich werde dir ein guter Mann sein, Tessa. Ich werde für dich und Sophie sorgen.»

Er bewegte sich in mir, und ich sagte: «Ja.»

3. Kapitel

Brian Darby starb in seiner Küche. An drei Schüssen in den Oberkörper. D.D.’s erster Gedanke war, dass Trooper Leoni ihr Schießtraining zu ernst genommen haben könnte, weil die Trefferanordnung geradezu schulbuchmäßig war. Rekruten der Polizeiakademie lernten: nie auf den Kopf zielen und nicht nur verwunden; die beste Angriffsfläche bietet der Torso, und wer seine Waffe benutzt, sollte um sein eigenes Leben oder das anderer Angst haben, denn er schießt, um zu töten.

Leoni hatte ihren Job getan. Stellte sich nur die Frage: Was hatte eine Beamtin der State Police dazu gebracht, ihren Ehemann zu töten? Und wo war das Kind?

Trooper Leoni befand sich zurzeit im Wintergarten und wurde von einem Notarzt behandelt. Sie hatte eine hässliche Wunde auf der Stirn davongetragen und ein noch hässlicheres blaues Auge. Ihr Vertreter von der Gewerkschaft war schon zur Stelle, ein Anwalt unterwegs.

Ein Dutzend anderer State Trooper stand steifbeinig draußen auf dem Gehweg, um den Kollegen aus Boston am Tatort nicht auf die Füße zu treten. Hinter ihnen drängte sich eine aufgeregte Pressemeute.

Vor der Grundschule nebenan parkte ein weißer Transporter, in dem mehrere hohe Tiere der Bostoner Polizei und der State Police beieinandersaßen. Der Staatsanwalt von Suffolk County spielte wahrscheinlich den Schiedsrichter und erinnerte den Chef der Massachusetts State Police daran, dass das Land von den Ermittlungen in diesem Fall ausgeschlossen werden müsse, da eine seiner Beamtinnen involviert war, und der Beauftragte der Bostoner Polizei bekam aller Voraussicht nach zu hören, dass die Forderung des Landes nach enger Zusammenarbeit absolut verständlich sei.

Obwohl dieser Hickhack um Zuständigkeiten sie komplett in Anspruch zu nehmen schien, hatten die Chefs es irgendwann immerhin geschafft, einen Befehl zur Fahndung nach Sophie Leoni zu erlassen – braune Haare, blaue Augen, circa eins zwanzig groß und gut zwanzig Kilo schwer; zwei fehlende Schneidezähne. Wahrscheinlich trug sie einen pinkfarbenen, langärmeligen Schlafanzug, gemustert mit gelben Pferden. Zuletzt war sie gegen halb elf in der Nacht zuvor gesehen worden, als Trooper Leoni angeblich noch einmal nach ihr geschaut hatte, ehe sie zur Nachtschicht aufgebrochen war.

D.D. hatte eine Menge Fragen an die Frau, kam aber nicht an sie heran. Trooper Leoni stünde unter Schock, meinte ihr Gewerkschaftsvertreter. Sie werde gerade ärztlich versorgt, ganz davon abgesehen, dass zunächst einmal für Rechtsbeistand gesorgt werden müsse. Dem Notarzt gegenüber habe sie bereits eine erste Aussage gemacht. Alle weiteren Fragen müssten warten, bis ein Anwalt zur Stelle sei.

Trooper Leoni hatte eine Menge am Hals, dachte D.D. Müsste sie nicht selbst darauf drängen, mit den Bostoner Kollegen zusammenzuarbeiten, damit ihr Kind gefunden wurde?

D.D. hielt sich erst einmal zurück. Vorläufig nahmen andere Dinge ihre Aufmerksamkeit in Anspruch. Am Tatort ging es hoch her. Detectives verschiedener Abteilungen der Bostoner Zentrale schwärmten umeinander und sicherten Spuren, während uniformierte Beamte die Nachbarschaft abklapperten, und weil Trooper Leoni mit ihrer Dienstwaffe, einer Sig Sauer, auf ihren Mann geschossen hatte, waren auch Ballistikexperten hinzugezogen worden. Es wimmelte von Kollegen.

Bobby hatte recht mit seiner Einschätzung, auch wenn sie unfein formuliert war. Das Gelände war der reinste Ameisenhaufen.

Und sie steckte mittendrin.

D.D. war vor einer halben Stunde eingetroffen. Um nicht an der belebten Washington Street einen Parkplatz suchen zu müssen, hatte sie ihren Wagen in einer ruhigen Seitenstraße sechs Häuserblocks weit entfernt abgestellt. Allston-Brighton war einer der am dichtesten bewohnten Bezirke Bostons, vollgestopft mit Studenten und Angehörigen diverser Hochschulen. Eine ziemlich teure Gegend, was zunächst seltsam erschien, da Studenten und Akademiker nicht gerade dafür bekannt waren, wohlhabend zu sein. Aber D.D. wusste, wie das lief. Die Vermieter hatten die alten, dreigeschossigen Wohnhäuser einfach in winzige Apartments zergliedert, die nicht selten für ganze Familien herhalten mussten. Und um den wachsenden Bedarf zu decken, machten in der Umgebung immer mehr 24-Stunden-Läden und Waschsalons auf.

Es war der Stadtdschungel, wie ihn sich D.D. vorstellte. Ohne schmiedeeiserne Balustraden oder dekoratives Ziegelwerk wie in Back Bay oder Beacon Hill. Hier zahlte man Unsummen für das Privileg, ein Wohnklo in einem schlichten Funktionsbau mieten zu dürfen. Die Parkplatzsuche dauerte oft Stunden. Man rieb sich schon auf dem Weg zur Arbeit auf und kam völlig kaputt nach Hause zurück, um ein Fertiggericht in die Mikrowelle zu schieben, im Stehen zu essen und anschließend auf den kleinsten Futon der Welt zu fallen.

Kein schlechter Wohnort für einen State Trooper. Der Mass Pike, die Hauptschlagader des Bundesstaates, war schnell erreicht, so auch die I-93 und I-128, die in östlicher beziehungsweise westlicher Richtung davon abzweigten. Leoni konnte als Trooper somit die drei wichtigsten Jagdgründe der Verkehrspolizei innerhalb weniger Minuten erreichen. Praktisch.

Das Haus, in dem sie wohnte, war für hiesige Verhältnisse recht ansehnlich, ein Einfamilienhaus, dem sich auf der einen Seite eine Reihe dreigeschossiger Apartmentblocks anschlossen, auf der anderen Seite ein weit ausladender Grundschulkomplex. Zum Glück war die Schule samstags geschlossen. So hatte das Großaufgebot an Polizei deren Parkplatz ganz für sich und keine Scherereien mit aufgebrachten Eltern.

Ein ruhiger Tag in der Nachbarschaft. Zumindest war er bislang ruhig gewesen.

Das zweigeschossige Haus von Trooper Leoni lag an einem Hang. Es hatte ein als Doppelgarage genutztes Souterrain und ein Satteldach mit weiß gestrichener Gaube. Eine aus Beton gegossene Treppe führte von der Straße hinauf zur Eingangstür. Der Garten ringsum war der größte, den D.D. im Stadtzentrum Bostons je gesehen hatte.

Ein hübsches Familienheim. Genug Platz, um ein Kind aufzuziehen, der Hund hatte Auslauf auf dem Rasen, und am Baum hing eine Schaukel. Auch jetzt im Winter konnte sich D.D. lebhaft Gartenpartys, spielende Kinder und geruhsame Feierabende im Liegestuhl auf der rückwärtigen Veranda vorstellen.

Wohnverhältnisse wie geschaffen für ein glückliches Leben. Was also war schiefgegangen?

Vielleicht lag die Antwort auf diese Frage im Garten. Er war so groß wie ungeschützt inmitten einer dicht besiedelten Umgebung.

Wer schnell zum Parkplatz der Schule wollte, fand hier eine Abkürzung. Auch von den anderen Apartmenthäusern oder der kleinen Seitengasse hinterm Haus war das Grundstück leicht zugänglich, wovon sich D.D. hatte überzeugen können. Natürlich kam man auch problemlos über die Treppe vom Haus in den Garten, wie die Kollegen der Massachusetts State Police bewiesen hatten. Von vorn, von hinten, von rechts und von links boten sich diverse Zu- und Ausgänge.

Entsprechend zahlreich waren die in der dicken Schneedecke zurückgebliebenen Fußabdrücke. D.D. mummelte sich tiefer in ihren Wintermantel ein und ließ ihren Ärger in frostigen Dampfwölkchen verpuffen. Verdammte Idioten.

Bobby Dodge erschien auf der hinteren Veranda. Beim Blick auf die verpfuschte Spurenlage runzelte er die Stirn. Er schien dasselbe zu denken wie D.D. Als er sie bemerkte, zog er seine Schirmmütze tiefer in die Stirn und verließ die Veranda Richtung Garten.

«Deine Trooper haben alles plattgetrampelt», rief ihm D.D. zu. «Das nehme ich persönlich.»

Er zuckte mit den Achseln, steckte die Hände in die Taschen seines schwarzen Wollmantels und kam auf sie zu. Bobby bewegte sich auffallend ökonomisch, was er wohl seiner Ausbildung als Scharfschütze verdankte, von dem nicht selten verlangt wurde, dass er sich stundenlang nicht rührte. Wie die meisten Scharfschützen war er relativ klein und drahtig gebaut, was gut zu seinen glattgehobelten Gesichtszügen passte. Niemand würde ihn als gutaussehend beschreiben, aber viele Frauen fanden ihn unwiderstehlich.

Zu diesen Frauen hatte auch D.D. früher einmal gehört. Aber nach einer kurzen Bettgeschichte waren sie übereingekommen, dass sie sich als Freunde besser vertrugen. Dann, vor zwei Jahren, hatte er Annabelle Granger geheiratet, wovon D.D. alles andere als begeistert gewesen war. Die Geburt der Tochter hatte ihr einen ziemlichen Stich versetzt.

Aber jetzt hatte sie Alex. Es ging wieder aufwärts. Na bitte.

Bobby blieb vor ihr stehen. «Trooper schützen Leben», meinte er. «Detectives sichern Beweise.»

«Deine Trooper haben meinen Tatort zertrampelt, und das nehme ich euch übel.»

Bobby schmunzelte. «Du hast mir auch gefehlt, D.D.»

«Wie geht’s Annabelle?»

«Danke, gut.»

«Und der Kleinen?»

«Carina krabbelt schon. Kaum zu glauben.»

D.D. fragte sich, was daran schwer zu glauben war. Kinder wurden schließlich größer.

«Und Alex?», fragte Bobby.

«Gut, gut.» Sie winkte mit der behandschuhten Hand ab. Genug Smalltalk. «Was, glaubst du, ist hier passiert?»

Wieder zuckte Bobby mit den Achseln. Er ließ sich mit der Antwort Zeit. Während viele andere Ermittler den Schauplatz eines Verbrechens umkrempelten, zog Bobby es vor, ihn zu studieren. Neigten viele Ermittler zur Geschwätzigkeit, machte Bobby nur den Mund auf, wenn er wirklich etwas zu sagen hatte.

D.D. respektierte ihn sehr, ließ ihn das aber nicht wissen.

«Auf den ersten Blick sieht’s so aus, als hätte es eine handfeste Auseinandersetzung unter Eheleuten gegeben», sagte er schließlich. «Der Mann griff mit einer Bierflasche an, Trooper Leoni verteidigte sich mit ihrer Dienstwaffe.»

«Gab es in der Nachbarschaft früher schon Beschwerden über Lärm?», fragte D.D.

Bobby schüttelte den Kopf. Sie nickte. Dass keine derartigen Meldungen vorlagen, hatte nichts zu bedeuten. Cops ließen sich nicht gern helfen, vor allem nicht von anderen Cops. Wenn es zu Übergriffen gekommen war, hatte Trooper Leoni diese wahrscheinlich stumm ertragen.

«Kennst du sie?», fragte D.D.

«Nein. Als sie vor vier Jahren anfing, Streife zu fahren, bin ich befördert worden.»

«Und was sagt man über sie?»

«Jung, zuverlässig. Hat früher in der Framingham-Kaserne gewohnt und ist dann hierhergezogen. Arbeitet nachts und muss sich dann um ihr Kind kümmern. Hat also wenig Kontakt mit Kollegen.»

«Hat sie immer nur die Friedhofsschicht?»

Er zog eine Braue hoch und schien amüsiert. «Beim Streifendienst schieben alle Anfänger mindestens ein Jahr Nachtdienst, bevor sie Anspruch auf eine andere Schicht anmelden dürfen. Und auch danach bleiben die bequemeren Zeiten den Altgedienten vorbehalten. Leoni ist erst seit vier Jahren dabei. Ich schätze, sie hätte frühestens in einem Jahr wieder Tageslicht gesehen.»

«Und ich dachte, der Ermittlungsdienst wäre bescheuert.»

«Die Bostoner Cops sind ein Haufen Heulsusen», meinte Bobby.

«Immerhin wissen wir, dass man sich an einem Tatort gefälligst in Acht nehmen soll und nicht überall herumlatscht.»

Er verzog das Gesicht. Beide schauten sich im zertrampelten Garten um.

«Wie lange waren sie verheiratet?», fragte D.D.

«Drei Jahre.»

«Sie war zum Zeitpunkt der Eheschließung also schon bei der Polizei und hatte ein Kind.»

Es war keine Frage, also antwortete Bobby auch nicht.

«Er dürfte gewusst haben, auf was er sich einlässt», fuhr D.D. fort. «Eine Frau, die nachts unterwegs ist. Und ein kleines Mädchen, das morgens und abends versorgt werden muss.»

«Und ein Mann, der dafür nicht immer Zeit hat.»

«Was soll das heißen?»

«Er arbeitete bei der Handelsmarine.» Bobby zog einen Notizblock aus der Tasche und las, was er gekritzelt hatte. «Sechzig Tage im Einsatz, sechzig zu Hause. Trooper Leoni hatte in der Kaserne entsprechende Andeutungen gemacht.»

D.D. kniff die Brauen zusammen. «Der Zeitplan des Mannes ist also noch verrückter als der der Frau. Interessant. War er kräftig gebaut?» D.D. hatte die Leiche nur flüchtig gesehen und sich abgewendet, weil ihr übel geworden war.

«Stämmiger Typ. Knapp eins achtzig, neunzig bis hundert Kilo», berichtete Bobby. «Alles Muskeln, kein Fett. Ich vermute, er ist pumpen gegangen.»

«Also jemand, der was einstecken kann.»

«Anders als Trooper Leoni, die nur gut eins sechzig groß ist und etwas mehr als fünfzig Kilo auf die Waage bringt. Ihr Mann war kräftemäßig klar im Vorteil.»

D.D. nickte. Ein Trooper war natürlich im Zweikampf ausgebildet, doch eine kleine Frau hatte gegen einen größeren Mann immer schlechtere Karten. Außerdem praktizierten weibliche Polizeibeamte zu Hause in der Regel nicht, was sie im Dienst gelernt hatten. Das Veilchen von Trooper Leoni war nicht das erste, das D.D. an einer Kollegin gesehen hatte.

«Die Sache passierte gleich nach ihrer Rückkehr vom Dienst», erklärte Bobby. «Sie hatte noch ihre Uniform an.»

D.D. zog eine Braue in die Stirn und ließ die Information auf sich wirken. «Trug sie etwa auch noch ihre Weste?»

«Unter ihrer Bluse, wie gewöhnlich.»

«Mitsamt Dienstkoppel?»

«Sie hat die Sig Sauer direkt aus dem Holster gezogen.»

«O Mann.» D.D. schüttelte den Kopf. «So ein Scheiß.»

Die Uniform und das Dienstkoppel ließen alles in einem anderen Licht erscheinen. Zum einen hatte Trooper Leoni zur Tatzeit ihre Weste getragen. Selbst einem Zweizentnermann dürfte es schwergefallen sein, ihr mit diesem Schutz etwas anzuhaben. Zum anderen gehörten zum Dienstkoppel nicht nur die Waffe, sondern auch jede Menge Zeug, das zur Verteidigung dienen kann. Zum Beispiel der Teleskopknüppel, der Taser, das Pfefferspray oder auch die Handschellen.

Jeder Polizist verfügte über die Fähigkeit, bedrohliche Situationen als solche blitzschnell einzuschätzen und mit angemessenen Mitteln darauf zu reagieren. Wenn man angeschrien wurde, zog man nicht gleich die Waffe, auch dann nicht, wenn es zu Handgreiflichkeiten kam.

Trooper Leoni aber hatte ihre Waffe gezogen.

D.D. verstand allmählich, warum der Gewerkschaftsvertreter auf einen Rechtsbeistand für sie drängte und darauf bestand, dass Leoni der Polizei gegenüber jede Aussage verweigerte.

D.D. seufzte und massierte sich die Stirn. «Ich kapiere das nicht. Haben wir es hier mit einem Ehemann zu tun, der einmal zu viel zugeschlagen hat, woraufhin seine Frau durchdreht? Würde erklären, warum die Leiche in der Küche liegt und sie vom Notarzt behandelt wird. Aber was ist mit dem Kind? Wo ist das Mädchen?»

«Vielleicht fing der Streit schon in der Nacht an. Der Stiefvater lässt die Fäuste fliegen, und das Kind nimmt Reißaus.»

Sie blickten auf den Schnee, in dem kleine Fußabdrücke nicht mehr zu erkennen gewesen wären, wenn es sie denn gegeben hätte.

«Sind die hiesigen Krankenhäuser verständigt?», fragte D.D. «Hören sich Kollegen in der Nachbarschaft um?»

«Natürlich. Die Fahndung ist eingeleitet. Für wie blöd hältst du uns?»

Sie starrte demonstrativ auf den Schnee. Bobby hielt sich zurück.

«Was ist mit dem leiblichen Vater?», fragte D.D. «Wenn Brian Darby der Stiefvater war, wo ist dann Sophies leiblicher Vater, und was hat er zu sagen?»

«Den gibt es nicht», antwortete Bobby.

«Ich schätze, das ist biologisch unmöglich.»

«Auf der Geburtsurkunde ist jedenfalls kein Vater eingetragen. Außerdem war in der Kaserne nie davon die Rede, und es gibt auch keinen Mann, der sich jedes zweite Wochenende hätte blicken lassen.» Bobby zuckte mit den Achseln. «Leiblicher Vater, Fehlanzeige.»

D.D. runzelte die Stirn. «Weil Tessa Leoni ihn nicht mehr in ihrem Leben haben wollte? Oder war das seine Entscheidung? Kann es vielleicht sein, dass sich das Beziehungsgleichgewicht in unserer Kleinfamilie plötzlich verändert hat?»

Wieder zuckte Bobby mit den Achseln.

D.D. ließ sich weitere Möglichkeiten durch den Kopf gehen. Ein leiblicher Vater reklamierte das Sorgerecht. Ein gestresstes Paar, das zwei Berufe und ein kleines Kind unter einen Hut zu bringen versuchte. In Fall A hätte der leibliche Vater womöglich sein Kind entführt. In Fall B wäre nicht auszuschließen, dass das Kind vom Stiefvater oder von der leiblichen Mutter getötet worden war.

«Glaubst du, das Mädchen könnte tot sein?», fragte Bobby.

«Wenn ich das wüsste.» D.D. mochte gar nicht an die Kleine denken. Eine Frau, die ihren Mann erschießt, schön und gut. Aber ein vermisstes Kind war noch mal eine ganz andere Sache.

«Jedenfalls kann es nicht auf die Schnelle verscharrt worden sein», dachte D.D. laut. «Nicht im gefrorenen Boden. Wenn das Mädchen also tot wäre, müsste es irgendwo im Haus versteckt sein. Garage? Dachboden? Belüftungsschächte? Alte Kühltruhen?»

Bobby schüttelte den Kopf.

D.D. hatte bislang nur einen Blick in die Küche und den Wintergarten geworfen, konnte aber davon ausgehen, dass die zahllosen Kollegen, die gegenwärtig das Haus auf den Kopf stellten, sämtliche hundert Quadratmeter Bodendielen aufgedeckt hatten.

«Ich glaube nicht, dass der leibliche Vater in die Sache verwickelt ist», meinte Bobby. «Wenn er wieder aufgekreuzt wäre, hätten wir das als Erstes von Tessa Leoni zu hören bekommen. Wenden Sie sich an meinen beschissenen Ex, der mir meine Tochter wegnehmen will. Sie hat nichts in der Art gesagt –»

«Weil ihr der Gewerkschaftsvertreter eingeschärft hat, den Mund zu halten.»

«Er will nicht, dass sie sich selbst belastet. Aber jemand anderes zu belasten wäre doch prima.»

Da ist was dran, dachte D.D. «Gut, vergessen wir den leiblichen Vater für einen Moment. Es scheint jedenfalls, der Haussegen hing schief. Leonis Gesicht nach zu urteilen hat Brian Darby sie nicht zum ersten Mal geschlagen. Vielleicht hat er auch seine Stieftochter misshandelt. Ein paar Schläge zu viel, Trooper Leoni kommt nach Hause, findet die Leiche, und beide geraten in Panik. Der Stiefvater hat etwas Schreckliches getan, woran Trooper Leoni nicht ganz unschuldig ist, weil sie zu lange tatenlos zugesehen hat. Gemeinsam schaffen sie die Leiche fort. Sie kehren nach Hause zurück, fangen an zu streiten, und Tessa dreht durch.»

«Trooper Tessa hilft, die Leiche zu beseitigen, und knallt anschließend ihren Mann ab?» Bobby brauchte nicht zu sagen, dass er das für absurd hielt.

D.D. schaute ihm ins Gesicht. «Möglich ist alles. Das müsstest gerade du am besten wissen.»

Er schwieg, hielt aber ihrem Blick stand.

«Ich möchte mir Leonis Streifenwagen ansehen», sagte D.D.

«Den nimmt sich schon einer von unseren Leuten vor.»

«Und seinen Wagen?»

«Ein GMC Denali, Baujahr 07. Darum kümmert sich einer deiner Leute.»

D.D. zog eine Braue in die Stirn. «Hübsches Auto. Macht man bei der Handelsmarine so viel Geld?»

«Er war Ingenieur. Ingenieure machen immer viel Geld. Und ich glaube nicht, dass sich Leoni an ihrem eigenen Kind vergriffen hat», sagte Bobby.

«Nein?»

«Ich habe mit Kollegen gesprochen, die mit ihr zusammengearbeitet haben. Sie konnten nur Gutes berichten. Liebevolle Mom, sehr fürsorglich mit der Tochter und so weiter und so weiter.»

«Ach ja? Wussten sie auch, dass ihr Mann sie als Boxsack missbraucht?»

Bobby sagte nichts, was auch eine Antwort war. Er kehrte der Szene den Rücken. «Sie könnte auch entführt worden sein», sagte er schließlich.

«Frei zugängliches Grundstück, mitten in einem dicht bewohnten Stadtteil.» D.D. zuckte mit den Achseln. «Wäre nur ein sechsjähriges Mädchen verschwunden, würde ich mir alle einschlägig bekannten Kinderschänder vorknöpfen. Aber wie stehen die Chancen, dass sich ein Fremder ins Haus schleicht, während die Eltern gerade Zoff haben?»

«Möglich ist alles», zitierte Bobby, klang aber ebenso wenig überzeugt wie sie.

D.D. ließ den Blick über die plattgetrampelte Schneedecke wandern, auf der es womöglich einmal Spuren gegeben hatte, die ihnen weitergeholfen hätten. Sie seufzte.

«Die Meldung kam als Hilferuf einer Kollegin», murmelte Bobby. «Darauf haben die Trooper reagiert. Keiner hat mit einem Tötungsdelikt gerechnet.»

«Von wem kam der Anruf?»

«Von ihr, schätze ich –»

«Trooper Leoni.»

«Vermutlich. Vielleicht hat sie einen Kollegen in der Kaserne angerufen, der dann die Kavallerie zusammengetrommelt hat. Irgendjemand wird wohl auch die Einsatzleitung verständigt haben. Jedenfalls rückte auch der Chef mit an. Und als Lieutenant Colonel Hamilton hier eintraf –»

«Stellte er fest, dass jede Hilfe zu spät kam», beendete D.D. den Satz.

«Vernünftigerweise hat Hamilton sofort die zuständigen Bostoner Kollegen verständigt.»

«Und warum lässt er auch seine eigenen Detectives kommen?»

«Eigeninteresse. Was weiß ich?»

«Ich will eine Mitschrift der Anrufe haben.»

«Als Verbindungsmann der State Police könnte ich dir den Gefallen tun.»

«Apropos, damit das klar ist: Du bist der Verbindungsmann, ich leite die Ermittlungen. Mit anderen Worten, ich habe das Sagen. Du führst aus.»

«War es jemals anders?»

«Da fragst du noch? Also, erster Auftrag für dich. Finde das Mädchen.»

«Wenn das nur so einfach wäre …»

«Gut. Zweiter Auftrag. Sorg dafür, dass ich mit Trooper Leoni reden kann.»

«Ich tue mein Bestes, aber versprechen kann ich nichts.»

«Ach, ich dachte, du bist der Verbindungsmann der State Police. Mit dir wird sie doch sprechen.»

«Ihr Gewerkschaftsvertreter rät ihr, den Mund zu halten. Und wenn ihr Anwalt erst mal da ist, wird er ihr dasselbe raten. Willkommen vor der blauen Wand aus Uniformen.»

«Trage ich nicht selbst eine?»

Bobby musterte ihr schweres Einsatzjackett mit dem Kürzel BPD für Boston Police Departments. «Nicht in der Welt von Trooper Leoni.»

4. Kapitel

Ich fuhr zum ersten Mal alleine Streife und war gerade an die zwei Stunden unterwegs, als mich ein Ruf wegen Lärmbelästigung erreichte, mein Debüt in solchen Sachen. In der Meldung hieß es, die Bewohner von Apartment 25B würden so laut miteinander streiten, dass die Nachbarn nicht schlafen konnten und die Cops gerufen hatten.

Oberflächlich betrachtet, nichts Aufregendes. Ein Trooper soll für Ruhe sorgen. Wahrscheinlich würde am nächsten Morgen eine Tüte Hundescheiße vor der Tür des Nachbarn liegen.

Aber in der Polizeiakademie war uns eingeschärft worden: Jede Meldung ist ernst zu nehmen. Aufmerksam, auf alles vorbereitet sein und auf Nummer sicher gehen.

Meine dunkelblaue Uniform war nass geschwitzt, als ich das Apartment 25B erreichte.

Junge Trooper arbeiten die ersten zwölf Wochen unter der Aufsicht eines älteren Kollegen. Danach patrouillieren sie allein. Ohne Partner, der einem den Rücken freihält. Wir müssen uns auf die Einsatzleitung verlassen und bei den Kollegen melden, sobald wir einen Streifenwagen besteigen oder verlassen, wenn wir kurz Pause machen, um eine Tasse Kaffee zu trinken oder um zu pinkeln. Die Einsatzleitung ist unsere Lebensversicherung. Wenn Gefahr droht, schickt sie die Kavallerie, unsere Kollegen, zur Rettung.

Theoretisch alles wunderbar, aber als ich um ein Uhr nachts aus meinem Wagen stieg und auf ein mir unbekanntes Haus zuging, um einen Streit zwischen Leuten zu schlichten, die ich nicht kannte, kamen mir Bedenken. Denn obwohl es an die tausendsiebenhundert State Trooper gibt, sind immer nur rund sechshundert im Einsatz. Und diese sechshundert sind über ganz Massachusetts verteilt. Mit anderen Worten, wenn was schiefgeht, kann man nicht selten lange darauf warten, dass ein Kollege zu Hilfe kommt.

In den meisten Fällen ist die Lage, die man checken soll, unbekannt. Deshalb hat man uns in der Akademie darauf eingeschworen, immer Vorsicht walten zu lassen. Gefahr lauert überall. Misstrauen ist immer angebracht. Alle Verdächtigen lügen.

So läuft der Hase. Und wir von der Polizei laufen hinterher.

Ich stieg drei Stufen hinauf zu einer winzigen Veranda und hielt kurz inne, um tief Luft zu holen. Haltung annehmen. Ich war dreiundzwanzig Jahre alt, durchschnittlich groß und unvorteilhaft hübsch. Es war zu befürchten, dass mir jemand öffnete, der älter, größer und skrupelloser war als ich. Trotzdem musste ich mich behaupten. Füße auseinander stellen, Schultern straffen, Kinn hoch. Und nie erkennen lassen, dass man schwitzt.

Ich stellte mich neben die Tür, klopfte an und steckte schnell meine Daumen hinter den Bund meiner dunkelblauen Hose, damit man nicht sehen konnte, dass meine Hände zitterten.

Streit war keiner zu hören. Nicht einmal Schritte. Die Lichter aber brannten. Die Bewohner von 25B schliefen nicht.

Ich klopfte wieder. Energischer diesmal.

Nichts regte sich.

Ich fummelte am Einsatzkoppel und ließ mir meine Möglichkeiten durch den Kopf gehen. Ich hatte einen Einsatzbefehl entgegengenommen und würde einen Bericht vorlegen müssen, musste also Kontakt aufnehmen. Ich riss mich zusammen und klopfte ein drittes Mal an. Mit der Faust. Die billige Tür bebte. Ich war Trooper, verdammt noch mal, jemand, der sich nicht abwimmeln ließ.

Endlich waren Schritte zu hören.

Dreißig Sekunden später ging leise die Tür auf.

Die Bewohnerin von Apartment 25B schaute mich nicht an. Sie starrte auf den Boden. Ihr Gesicht war blutverschmiert.

 

In dieser Nacht – und in vielen darauffolgenden Nächten – lernte ich, wie in Sachen häuslicher Unfrieden zu verfahren ist.

Zuerst schaut man sich rasch am Tatort um, gefasst auf potenzielle Gefahren, die es sofort in den Griff zu bekommen gilt.

Wer ist sonst noch in der Wohnung? Darf ich mich mal im Haus umsehen? Ist das Ihre Waffe, Trooper? Haben Sie noch andere Waffen hier im Haus? Ich muss Sie auch um Ihr Dienstkoppel bitten. Langsam ablegen … Danke. Ich nehme den Gürtel jetzt an mich. Gehen Sie bitte in den Wintergarten. Nehmen Sie doch Platz und bewegen Sie sich nicht vom Fleck. Bin gleich wieder bei Ihnen.

Ist der Tatort gesichert, untersucht man die Tatbeteiligte, wenn sie verletzt ist. Unterstellt wird zu diesem Zeitpunkt nichts, weder Täter- noch Opferschaft. Vor einem steht lediglich eine verletzte Person, die entsprechend behandelt werden muss.

Weibliche Person hat aufgeplatzte Lippen, ein blaues Auge, Druckstellen am Hals und eine blutende Platzwunde rechts oben an der Stirn.

Viele Frauen, die geschlagen werden, behaupten, es sei nichts. Sie bräuchten keinen Krankenwagen. Sie wollten jetzt bitte allein gelassen werden und kämen ohne Hilfe zurecht.

Ein gut ausgebildeter Polizist ignoriert solche Aussagen. Die Hinweise auf eine Straftat sprechen für sich und setzen das Räderwerk der Justiz in Gang. Mag sein, dass die verletzte Frau Opfer einer Gewalttat ist und trotzdem auf eine Anzeige verzichtet. Aber vielleicht ist sie Täter und hat sich die Verletzungen zugezogen, als sie über die noch unbekannte Person hergefallen ist, das heißt, sie wäre zur Rechenschaft zu ziehen. Ihre Verletzungen und alles, was sie sagt, müssten dokumentiert werden, denn es könnte ja sein, dass die noch unbekannte Person rechtliche Schritte einleitet. Unterstellt wird immer noch nichts. Der Trooper informiert die Einsatzleitung, fordert Verstärkung an und lässt einen Notarzt kommen.

Kollegen in Uniform treffen ein. Sanitäter. Sirenen heulen, und Streifenwagen rasen durch den engen Trichter der Innenstadt, während neugierige Nachbarn vor dem Haus zusammenlaufen.

Bald geht der Trubel los. Umso wichtiger ist es für die erste Einsatzkraft vor Ort, dass sie alles festhält. Sie muss dokumentieren, dokumentieren und nochmals dokumentieren. Sie sieht sich jetzt am Tatort gründlicher um und macht erste Fotos.

Männliche Leiche, Ende dreißig, schätzungsweise eins achtzig, um die hundert Kilo. Drei Einschusswunden im Brustbereich. Circa einen halben Meter links neben dem Küchentisch auf dem Rücken liegend.

Zwei umgekippte Holzstühle. Darunter grüne Glasscherben. Eine zerbrochene grüne Flasche mit Heineken-Etikett liegt fünfzehn Zentimeter links vom Küchentisch am Boden.

Eine Sig-Sauer-Halbautomatik auf rundem Holztisch, Durchmesser circa ein Meter. Sichergestellt. Magazin entnommen, Schusskammer geleert, eingetütet, beschriftet.

Uniformierte Kollegen werden mir assistieren, Nachbarn befragen und das Grundstück sichern. Um die Verletzte, die im Wintergarten Platz genommen hat, kümmert sich ein Notarzt.

Eine Ärztin fühlt meinen Puls, strahlt mir mit einer Taschenlampe in die Augen und tastet den Kopf nach eventuellen Knochenbrüchen ab. Sie bittet mich, die Haare zurückzustreichen, damit sie meine Stirn behandeln kann. Mit einer Pinzette entfernt sie einen grünen Glassplitter aus der Wunde, der, wie sich später zeigen wird, von der Bierflasche stammt.

«Wie fühlen Sie sich, Ma’am?»

«Der Kopf tut weh.»

«Erinnern Sie sich, ohnmächtig geworden zu sein?»

«Der Kopf tut weh.»

«Ist Ihnen übel?»

«Ja.» Der Magen rebelliert. Ich versuche, an mich zu halten, die Schmerzen zu ertragen, will nicht wahrhaben, was geschehen ist …

Die Ärztin bemerkt die wachsende Beule am Hinterkopf.

«Was ist da passiert, Ma’am?»

«Was meinen Sie?»

«Sie haben da eine Schwellung. Kann es doch sein, dass Sie das Bewusstsein verloren haben? Sind Sie gestürzt?»

Ich schaue die Ärztin an. «Wen liebst du?», flüstere ich.

Sie antwortet nicht.

Als Nächstes kommt es zu einer ersten Vernehmung. Ein guter Trooper wird notieren, was die vernommene Person sagt und wie sie es sagt. Menschen unter Schock reden oft wirr und ohne Zusammenhang. Manche Opfer zeigen dissoziative Symptome. Sie sprechen emotionslos und abgehackt über ein Ereignis, das für sie schon gar nicht mehr stattgefunden hat. Es gibt aber auch die eingefleischten Lügner, die nur so tun, als plapperten sie dissoziativ drauflos.

Jeder Lügner treibt es früher oder später zu weit. Nennt das eine oder andere Detail zu viel. Wirkt ein bisschen zu beherrscht. Ein erfahrener Ermittler lässt ihn auffliegen.

«Können Sie uns sagen, was passiert ist, Trooper Leoni?» Ein Detective der Bostoner Polizei unternimmt einen ersten Versuch. Er ist schon älter, grau an den Schläfen. Klingt freundlich, macht auf kollegial.

Ich will nicht antworten. Ich muss antworten. Lieber einem hiesigen Detective als dem Vertreter der übergeordneten Stelle, der später am Zug sein wird. Mein Schädel dröhnt, die Schläfen pochen, meine Wangen glühen.

Ich muss mich übergeben, kämpfe aber gegen den Würgereiz an.

«Mein Mann …», flüstere ich. Mein Blick richtet sich unwillkürlich zu Boden. Ein Fehler, wie ich weiß. Ich schaue meinem Gegenüber wieder ins Gesicht. «Manchmal … wenn ich spät arbeite. Mein Mann war wütend und hat die Beherrschung verloren.» Pause. Meine Stimme wird kräftiger, artikulierter. «Er hat mich geschlagen.»

«Wohin hat er geschlagen, Officer?»

«Ins Gesicht. Aufs Auge.» Ich drücke mit den Fingern auf die Stellen, was den Schmerz ein wenig nimmt. Im Geiste sehe ich, wie er mich bedroht. Ich kauere am Boden, völlig verängstigt.

«Ich bin gestürzt», sage ich. «Mein Mann griff nach einem Stuhl.»

Stille. Der Detective wartet darauf, dass ich fortfahre. Dass ich lüge oder die Wahrheit sage.

«Ich habe nicht zurückgeschlagen», flüstere ich. Mir reicht’s. Ich weiß, wie diese Geschichte ausgeht. Wir alle wissen es. «Ich dachte mir, wenn ich mich nicht wehre, beruhigt er sich wieder und hört auf», murmele ich mechanisch. «Wenn doch, wird alles nur noch schlimmer.»

«Wo waren Sie, Trooper Leoni, als Ihr Mann zum Stuhl griff?»

«Auf dem Boden.»

«Wo im Haus?»

«In der Küche.»

«Was haben Sie getan, als Ihr Mann zum Stuhl griff?»

«Nichts.»

«Und was hat er getan?»

«Ihn geworfen.»

«Wonach?»

«Auf mich.»

«Sind Sie getroffen worden?»

«Ich … ich weiß nicht mehr.»

«Was ist dann passiert, Trooper Leoni?» Der Detective beugt sich herab und mustert mich von nahem. Er macht einen besorgten Eindruck. Stimmt mit meinem Augenkontakt irgendetwas nicht? Ist meine Story zu detailliert? Nicht detailliert genug?

All I want for Christmas is my two front teeth, my two front teeth, my two front teeth.

Mein Leben rauscht mir durch den Kopf. Es fehlt nicht viel, und ich fange zu kichern an. Ich tu’s nicht.

Ich liebe dich, Mommy. Ich liebe dich.

«Ich habe den Stuhl zurückgeschmissen», sage ich.

«Sie haben mit dem Stuhl nach ihm geworfen?»

«Er wurde … noch wütender. Also muss ich irgendwas getan haben, was ihn noch wütender gemacht hat.»

«Trugen Sie zu diesem Zeitpunkt noch Ihre Uniform, Trooper Leoni?»

Ich schaue ihm in die Augen. «Ja.»

«Mitsamt dem Koppel und der Weste?»

«Ja.»

«Haben Sie irgendwas aus dem Koppel gezogen, um sich zu verteidigen?»

Ich schaue ihm immer noch in die Augen. «Nein.»

Der Detective beäugt mich neugierig. «Was passierte dann, Trooper Leoni?»

«Er griff zur Bierflasche. Schlug auf mich ein. Ich … ich wehrte mich. Er taumelte zurück und stieß gegen den Tisch. Ich stürzte. Wieder vor die Wand. Mit dem Rücken. Ich wollte nur noch weg.»

Stille.

«Trooper Leoni?»

«Er hat die Flasche zerbrochen», murmele ich. «Ich musste mich irgendwie in Sicherheit bringen. Kam aber nicht mehr auf die Beine. Ich hockte am Boden. Vor der Wand. Und sah ihn auf mich zukommen.»

«Trooper Leoni?»

«Ich hatte Todesangst», flüstere ich. «Da griff ich zu meiner Waffe. Und als er über mich herfiel … ich hatte Todesangst.»

«Trooper Leoni, was ist passiert?»

«Ich habe auf meinen Mann geschossen.»

«Trooper Leoni –»

Ich begegne seinem Blick ein letztes Mal. «Dann bin ich los, um nach meiner Tochter zu suchen.»

5. Kapitel

Als D.D. und Bobby den Garten verließen und wieder vor dem Haus standen, holten gerade Sanitäter eine Trage aus dem Krankenwagen. Daneben sah D.D. einen uniformierten Kollegen der Bostoner Zentrale hinter dem Absperrband. Sie ging auf ihn zu.

«Hey, Officer Fiske. Haben Sie alle eingetragen, die ins Haus gegangen sind?» Sie deutete auf den Ordner, den er in der Hand hielt.

«Natürlich. Insgesamt sind’s zweiundvierzig.»

«Nicht zu fassen. Fährt denn auch noch jemand Streife?»

«Wohl eher nicht», bemerkte Officer Fiske, ein junger Mann mit ernster Miene. Täuschte sich D.D., oder wurden die Kollegen tatsächlich von Jahr zu Jahr jünger und ernster?

«Nun, damit habe ich ein Problem, Officer Fiske. Während Sie hier Namen sammeln, geht es in dem Haus zu wie in einem Taubenschlag. Das stinkt mir.»

Officer Fiske schaute leicht betreten drein.

«Haben Sie einen Partner?», fuhr D.D. fort. «Funken Sie ihn her. Er soll hinterm Haus Stellung beziehen und aufschreiben, wer rein- und rausgeht. Name, Dienstrang, Ausweisnummer. Und geben Sie allen Bescheid: Jeder State Trooper, der sich hier blicken lässt, hat sich bis zum Abend in der Bostoner Zentrale zu melden und einen Schuhabdruck zu hinterlassen. Wer dieser Aufforderung nicht nachkommt, wird an den Schreibtisch versetzt. Er hier –», sie deutete mit dem Daumen auf Bobby, der neben ihr stand und die Augen verdrehte, «fungiert als Verbindungsmann der State Police und kann bestätigen, was ich Ihnen gerade gesagt habe.»

«D.D. …», begann Bobby.

«Sie haben meinen Tatort zertrampelt. So was vergesse ich nicht. Nie.»

Bobby hielt die Klappe, was sie ihm hoch anrechnete.

Nachdem das geregelt war, wandte sie sich den Sanitätern zu, die mit der Trage auf die steilen Eingangsstufen zugingen.

«Augenblick mal», rief sie ihnen nach.

Die beiden, ein Mann und eine Frau, blieben stehen.