Du darfst nicht lieben - Lisa Gardner - E-Book

Du darfst nicht lieben E-Book

Lisa Gardner

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Beschreibung

Wo sind all die Mädchen geblieben … FBI-Agentin Kimberly Quincy ist im fünften Monat schwanger. Eigentlich müsste sie sich schonen, doch das liegt Kimberley gar nicht. Da erreicht sie der Hilferuf einer jungen Frau, Delilah. Überall in Boston verschwinden Prostituierte, zuletzt Delilahs Freundin Ginny. Verdächtig ist ein Freier, die Frauen nennen ihn den «Spinnenmann». Die Ermittlungen führen in eine Sackgasse: Es scheint, als habe der Täter den Schlüssel zum perfekten Mord gefunden. Keine Leichen, keine Beweise! Doch Kimberly weigert sich aufzugeben. Währenddessen spinnt jemand sein tödliches Netz. Und wartet … «Eine faszinierende Autorin!» (Karen Slaughter)

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Lisa Gardner

Du darfst nicht lieben

Thriller

Aus dem Englischen von Michael Windgassen

Ihr Verlagsname

Über dieses Buch

Wo sind all die Mädchen geblieben …

 

FBI-Agentin Kimberly Quincy ist im fünften Monat schwanger. Eigentlich müsste sie sich schonen, doch das liegt Kimberley gar nicht. Da erreicht sie der Hilferuf einer jungen Frau, Delilah. Überall in Boston

verschwinden Prostituierte, zuletzt Delilahs Freundin Ginny. Verdächtig ist ein Freier, die Frauen nennen ihn den «Spinnenmann».

Die Ermittlungen führen in eine Sackgasse: Es scheint, als habe der Täter den Schlüssel zum perfekten Mord gefunden. Keine Leichen, keine Beweise! Doch Kimberly weigert sich aufzugeben.

Über Lisa Gardner

Lisa Gardner ist eine der erfolgreichsten amerikanischen Thrillerautoren der Gegenwart – ihre Bücher verkauften sich weltweit über 16 Millionen Mal. Die Autorin lebt mit ihrer Familie und zwei Hunden in New England.

 

Weitere Veröffentlichungen:

Ohne jede Spur

Die Frucht des Bösen

Inhaltsübersicht

PrologKapitel 1Kapitel 2Kapitel 3Kapitel 4Kapitel 5Kapitel 6Kapitel 7Kapitel 8Kapitel 9Kapitel 10Kapitel 11Kapitel 12Kapitel 13Kapitel 14Kapitel 15Kapitel 16Kapitel 17Kapitel 18Kapitel 19Kapitel 20Kapitel 21Kapitel 22Kapitel 23Kapitel 24Kapitel 25Kapitel 26Kapitel 27Kapitel 28Kapitel 29Kapitel 30Kapitel 31Kapitel 32Kapitel 33Kapitel 34Kapitel 35Kapitel 36Kapitel 37Kapitel 38Kapitel 39Kapitel 40Kapitel 41Kapitel 42Kapitel 43EpilogDanksagung

Prolog

«Zu den gefährlichsten Spinnen in den USA zählen die Braunen Witwen und die Loxosceles.»

Herbert W. und Lorna R. Levi: Spiders and Their Kin

Er stöhnte und krallte seine Finger in ihre Haare. Sie drückte mit den Lippen fester zu. Er stemmte ihr die Hüfte entgegen und faselte das dumme Zeug, das junge Männer in solchen Momenten gern von sich geben.

«O ja, Wahnsinn. Hör nicht auf. Du bist so schön. O Gott, o Gott. Du bist der absolute Hammer! Oh, Ginny, Ginny, Ginny. Süße Ginny …»

Sie fragte sich, ob er sich selbst hören konnte, ob er wusste, was er da von sich gab. Dass er sie mit Heiligen gleichsetzte. Dass er ihr sagte, sie sei phantastisch, schön, eine dunkle Georgia-Rose. Dass ihm einmal sogar herausgerutscht war, dass er sie liebe.

In solchen Momenten sagte ein Kerl alles Mögliche.

Der Schaltknüppel drückte ihr in die Hüfte und fing an weh zu tun. Mit der rechten Hand zog sie ihm die Jeans ein Stück weiter herunter. Der Typ gab jetzt gurgelnde Geräusche von sich, die so klangen, als läge er in den letzten Zügen.

«Oh Mann, Ginny. Schöne, schöne Ginny. Süße … Verdammt, Baby … Du machst mich fertig! Du bringst mich um!»

Um Himmels willen, dachte sie, mach doch endlich. Sie presste ihre Lippen fester zusammen, übte mit der Hand noch ein bisschen mehr Druck aus …

Tommy war ein keuchender, glücklicher Junge.

Und die kleine Ginny durfte sich auf eine Belohnung freuen.

Sie rückte von ihm ab und drehte den Kopf ein wenig zur Seite, damit er nicht sah, wie sie sich mit dem Handrücken den Mund abwischte. Der Jim Beam, den sie im Fußraum vom Beifahrersitz abgestellt hatten, war umgekippt. Sie hob sie auf, nahm einen Schluck und reichte Tommy die Flasche.

Der Kapitän der Highschool-Footballmannschaft hatte immer noch die Hose auf Halbmast hängen und sah aus, als könne er das alles noch nicht ganz fassen.

«Mensch, Ginny, jetzt willst du mich wohl tatsächlich umbringen.»

Sie lachte und nahm selbst noch einen Schluck. Ihre Augen brannten. Sie redete sich ein, dass es einzig und allein am Whiskey lag.

Tommy nestelte an seinen Sachen. Er zog die weiße Unterhose hoch, die Jeans und schnallte den Gürtel wieder zu. Das tat er wie selbstverständlich, nichts verriet die Befangenheit, die Mädchen in solchen Momenten meist verspüren. Aus diesem Grund war es Ginny lieber, einem Kerl schnell einen zu blasen, statt auf der Rückbank das volle Programm durchzuziehen. Das dauerte länger und war komplizierter. Bei Blowjobs behielt man die Kontrolle.

Tommy wollte jetzt doch auch von dem Fusel. Sie reichte ihm die Flasche und beobachtete seinen Adamsapfel, der beim Schlucken über dem Kragen seiner College-Jacke auf und ab ging. Er fuhr sich mit der Hand über den Mund und gab ihr die Flasche zurück.

«Sex und Whiskey. Wie will man das noch toppen?», sagte er grinsend.

«Nicht schlecht für einen Dienstagabend», meinte sie.

Er streckte den Arm aus, schob die Hand unter ihr Hemd und umfasste ihre Brust. Seine Finger fanden die linke Brustwarze und kniffen experimentierfreudig zu.

«Wie wär’s …?»

Sie stieß ihn zurück. «Geht jetzt nicht. Ich muss nach Hause. Meine Mutter hat mir damit gedroht, mich auszusperren, wenn ich noch einmal zu spät komme.»

«Deine Mutter? Ausgerechnet …»

Ginny ging auf seine Anspielung nicht ein. «Außerdem wartet bestimmt schon deine Clique auf dich. Und müsstest du nicht noch kurz bei Darlene vorbeischauen? Sie wird bestimmt nicht einschlafen können, ohne ihren Loverboy noch mal gesehen zu haben.»

Ihr stichelnder Einwurf klang zum Ende hin scharf. Zu wissen, welchen Platz man in der Welt einnahm, bedeutete nicht, darüber auch glücklich zu sein.

Tommy war still geworden. Er streckte die Hand aus und streichelte ihr mit seinem Daumen über die Wange. Es war eine seltsame, fast zärtliche Geste.

«Ich hab da was für dich», sagte er plötzlich, zog seine Hand zurück und griff in die Hosentasche.

Ginny runzelte die Stirn. Natürlich hatte er etwas für sie. So lief der Hase. Die kleine Schlampe holt dem reichen, hübschen Quarterback einen runter und bekommt glitzernde Geschenke dafür. Schließlich hatten alle Jungs Bock, aber nicht alle Jungs bekamen von ihren zugeknöpften Freundinnen, was sie brauchten.

Tommy starrte sie an. Als Ginny etwas verspätet hinschaute und bemerkte, dass er seinen Absolventenring in der Hand hielt, erschrak sie regelrecht.

«Was soll das?», platzte es aus ihr heraus.

Tommy zuckte zusammen, hatte sich aber schnell wieder gefangen. «Jetzt bist du baff, was?»

«Darlene wird dir mit einem Löffel das Herz ausschaben, wenn sie das Ding an meinem Finger sieht.»

«Darlene kann mich mal.»

«Seit wann das denn?»

«Hab Samstagabend Schluss gemacht.»

Ginny starrte ihn an. «Was hat dich denn da geritten?»

Tommys Miene verdüsterte sich. Er hatte mit dieser Reaktion nicht gerechnet und musste sich wieder zusammenreißen. «Ginny, Herzchen, ich fürchte, das wirst du nicht verstehen …»

«Und ob ich verstehe. Darlene ist wunderschön. Sie hat schicke Klamotten, einen reichen Daddy und einen Lippenstift, der so teuer ist, dass sie ihn nicht am Schwanz ihres Freundes verschmieren möchte.»

«Das ist nicht sehr nett gesagt», entgegnete Tommy gereizt.

«Ach ja? Ist es nicht so, dass die kostbare kleine Darlene nicht schlucken will? Und dass du dir jetzt womöglich einbildest, in die kleine Miss Drecksgöre verknallt zu sein?»

«Sag so was nicht …»

«Was soll ich nicht sagen? Die Wahrheit? Ich weiß, wer ich bin. Der einzige Spinner hier in dieser Karre bist du. Ich wollte ein Goldkettchen. Du hast es mir versprochen.»

«Darum geht’s also. Um die Kette.»

«Na klar.»

Er musterte sie aufmerksam und ließ die Kaumuskeln spielen. «Weißt du, Trace hat mich vor dir gewarnt. Er sagt, du wärst eine Schlange, ein mieses Stück. Aber ich habe ihm widersprochen und dich in Schutz genommen. Du bist nicht wie deine Mutter, Ginny. Du bist … was Besonderes. Zumindest» – er straffte seine Schultern – «für mich.»

«Du hast sie doch nicht mehr alle!» Sie hatte genug von ihm gehört, stieß die Tür auf und sprang hinaus. Wie sie hörte, versuchte er, auf der anderen Seite auszusteigen, vielleicht, um sie aufzuhalten, bevor sie eine Dummheit machte.

Der Wagen stand auf einem Fuhrweg im Wald, fernab von den nächsten Häusern. Der Boden unter ihren Füßen war hart und uneben. Einen Moment lang dachte sie daran, einfach abzuhauen durch den langen blauen Tunnel zwischen den hohen Sumpfkiefern. Wegzurennen.

Sie war jung und sportlich. Mädchen wie sie machten so schnell nicht schlapp. Und sie hatte weiß Gott Übung im Davonlaufen.

«Ginny, sprich mit mir.»

Tommy stand hinter ihr, hielt aber Abstand. Himmel hilf, dachte sie, der Junge hatte womöglich an einem Poesiekurs teilgenommen. Vielleicht hörte er seit Neustem Songs von Sarah McLachlan oder ähnlichen Mist. Zurzeit schienen alle besonders tiefschürfend sein zu wollen.

Sie holte tief Luft, legte den Kopf in den Nacken und schaute zu den Sternen auf. Wenn dir das Leben eine Zitrone gibt, dachte sie, mach Limonade draus. Am liebsten hätte sie laut aufgelacht, aber vielleicht war ihr auch zum Weinen zumute. Also tat sie, was sie am besten konnte. Sie ballte ihre Hände zu Fäusten. Was immer auch andere sagen mochten, fest stand, eine junge Frau wie sie konnte es sich nicht leisten, billig zu sein.

«Also gut, Tommy», sagte sie. «Um ganz ehrlich zu sein, du hast mich überrascht.»

«Na ja. Im Grunde war ich selbst nicht darauf gefasst.»

«Ist dir klar, was passiert, wenn ich diesen Ring trage? In der Schule wird man sich das Maul zerreißen.»

«Sei’s drum.»

«In vier Monaten machst du deinen Abschluss. Sei vernünftig, Tommy. Du kannst diesen Scheiß jetzt nicht gebrauchen.»

«Ginny –»

Sie legte ihm ihren Zeigefinger auf die Lippen. «Ich nehme den Ring an, Tommy.»

«Tatsächlich?» Er klang hoffnungsvoll. Ernst. Verfluchte Sarah McLachlan.

«Hast du die Kette mitgebracht?»

«Ja, habe ich, für alle Fälle, aber –»

«Gib sie mir. Ich werde den Ring als Anhänger tragen, unter meinem Shirt. Er bleibt unser Geheimnis, wenigstens so lange, bis wir von der Schule sind. Ich weiß auch ohne große Show, was du für mich empfindest. Das hast du mir jetzt schon unter Beweis gestellt …» Ihre Stimme wurde wieder schärfer. Sie bemühte sich um einen milderen Ton. «Dass du daran gedacht hast, bedeutet mir viel.»

Tommy strahlte übers ganze Gesicht. Er griff in seine Tasche und holte eine kleine Plastiktüte daraus hervor, in der eine Kette lag. Wahrscheinlich hatte er sie im Wal-Mart gekauft. Vierzehn Karat. Ihr Hals würde sich darunter grün verfärben.

Und dafür dieser ganze Aufstand? Verdammt.

Sie nahm die Kette, streifte den Ring darüber und schenkte ihm ein Lächeln.

Er fiel über sie her und küsste sie stürmisch. Sie ließ ihn gewähren. Doch dann fummelte er an ihr herum, offenbar mit dem Ziel, ihre neue Beziehung mit einem kleinen Fick im Wald zu besiegeln.

Himmel, war sie müde.

Mit leichtem Nachdruck schob sie achtzig Kilo Testosteron zurück. «Tommy», keuchte sie. «Ich muss nach Hause. Du willst doch nicht, dass mir gleich zu Beginn unserer Beziehung Hausarrest aufgebrummt wird.»

Er grinste breit. «Natürlich nicht. Aber …»

«Ist ja gut. Zurück in den Wagen, mein großer Junge. Zeig mir doch mal, wie schnell du fahren kannst.»

Tommy konnte sehr schnell fahren. Trotzdem erreichten sie ihr Ziel erst um zehn nach elf. Auf der Eingangsterrasse brannte Licht, doch hinter den Fenstern war es dunkel.

Vielleicht hatte sie Glück, und ihre Mutter war unterwegs. Nach diesem Abend hatte Ginny eine kleine Verschnaufpause verdient.

Tommy wollte warten, bis sie die Haustür hinter sich zugezogen hatte, doch sie erklärte ihm, dass alles nur noch schlimmer würde, wenn ihre Mutter herauskäme und eine Szene machte. Es dauerte weitere fünf wertvolle Minuten, bis sie ihn endlich abgewimmelt hatte.

Mein Held, dachte sie spöttisch und wandte sich dem Haus zu.

Es war klein und grau und hatte nicht mal einen Alibi-Vorgarten. Von außen trostlos, im Inneren noch trostloser. Aber es war immerhin ein gemauertes Zuhause und kein Wohnwagen. Ginny hatte einmal einen Vater gehabt. Er war ein großer, gut aussehender Mann mit dröhnendem Lachen und dicken, kräftigen Armen gewesen, mit denen er sie in die Luft geworfen hatte, wenn er nach einem langen Arbeitstag nach Hause zurückgekehrt war.

Doch eines Tages hatte es diesen Unfall gegeben. Er war von irgendeiner Baustelle gekommen und mit seinem Wagen auf Glatteis geraten.

Mit der Versicherungssumme hatten sie das Haus bezahlen können. Ihre Mutter war anderen Tätigkeiten nachgegangen, um das Geld für alles Weitere aufzubringen.

Ginny versuchte, die Tür zu öffnen. Sie war verschlossen. Achselzuckend ging sie um das Haus herum, doch auch die Hintertür war zu. Sie rüttelte an den Fenstern, obwohl ihr klar war, dass es nichts nützte. Ihre Mutter machte immer alles dicht. Die Nachbarschaft hatte bessere Zeiten erlebt, doch die lagen zehn Jahre und mehrere Wirtschaftskrisen zurück.

Ginny klopfte an die Tür. Sie klingelte. Nichts.

Ihre Mutter machte ernst. Ginny war zu spät gekommen, und ihre verfluchte Mama, anscheinend überzeugt davon, ihre Tochter mit Strenge erziehen zu müssen, hatte sie ausgesperrt.

Verdammt. Sie war wohl ausgegangen. In ein oder zwei Stunden, wenn sie der Meinung war, ihren Standpunkt klargemacht zu haben, würde sie vielleicht zurückkehren.

Ginny schlenderte die dunkle Straße entlang, vorbei an einem winzigen Einfamilienhaus nach dem anderen, deren Bewohner früher ihr Auskommen gehabt hatten. Heute lebten viele von der Stütze.

Als sie die Kreuzung der Landstraße erreichte, fuhr mit hohem Tempo ein schwarzer Geländewagen vorbei. Wie Drachenaugen leuchteten die Bremslichter auf. Nach zwanzig Metern hielt der Wagen mit quietschenden Reifen an. Der Fahrer steckte den Kopf zum Fenster hinaus. Im Dunkeln waren nur die Umrisse einer Baseballkappe zu erkennen. Eine tiefe Stimme fragte: «Kann ich dich mitnehmen?»

Ginny brauchte nicht lange, um eine Entscheidung zu treffen. Das Fahrzeug sah teuer aus, die Stimme klang sonor. Vielleicht wurde ja noch was aus der angebrochenen Nacht.

 

Fünf Minuten später schwante ihr, dass sie einen Fehler gemacht hatte. Sie war eingestiegen, hatte sich auf einen weichen Ledersitz fallen lassen und dem Mann am Steuer, einem geschniegelten Mittvierziger, kichernd zu verstehen gegeben, dass sie ihren Tank leergefahren habe. Sie kicherte immer noch, als sie ihn bat, sie einmal um den Block zu fahren.

Er sagte nicht viel, bog einmal links ab, dann nach rechts, blieb schließlich hinter einem riesigen Mietlager stehen und schaltete den Motor aus.

Nun wurde ihr doch mulmig. In Gegenwart eines völlig Fremden gab es immer einen solchen Moment, der einem fast Angst machte, auch wenn man sich einredete, keine Angst haben zu müssen, weil es im Grunde nichts gab, was ein Arschloch von einem verlangen konnte, das man nicht längst zu geben bereit war.

Aber dann wandte er sich ihr zu, und sie starrte in ein flaches, unfreundliches Gesicht mit kantigen Kieferknochen, zusammengepressten Lippen und tiefschwarzen Augen.

Und dann, als hätte er gewusst, wie sie reagieren würde, als wollte er diesen Moment ihrer Irritation genießen, hob er den Schirm seiner Baseballkappe an und zeigte ihr seine Stirn.

Ginny schloss in ihrer Jackentasche die Hand um Tommys Ring, denn ihr war auf den ersten Blick gleich einiges klar: Ihre Mutter würde ihr nicht mehr wegen ihres Zuspätkommens in den Ohren liegen, und Tommy würde sich ihretwegen vor seinen Freunden nicht schämen müssen.

Denn dieser Mann würde sie nicht mehr nach Hause zurücklassen.

Manche Mädchen waren schlau, andere schnell auf den Beinen, wiederum andere überdurchschnittlich stark. Ginny, die arme Ginny Jones, hatte schon vor vier Jahren, als der Freund ihrer Mutter zum ersten Mal in ihrem Schlafzimmer aufgekreuzt war, lernen müssen, dass ihr nur eines blieb, um sich zu retten.

«Na schön», sagte sie forsch. «Bringen wir es hinter uns. Du erzählst mir, was du von mir willst, und ich ziehe mich aus.»

Kapitel 1

Es gibt Dinge, die einem niemand beibringen kann und nur aus eigener Erfahrung zu lernen sind:

Anfangs tut es einfach nur weh. Du schreist. Du schreist und schreist, bis dir die Kehle rau wird, die Augen geschwollen sind und dir ein Geschmack auf der Zunge liegt, der so bitter ist wie Galle, vermischt mit Erbrochenem und Tränen. Du weinst und rufst nach deiner Mutter. Du betest zu Gott. Du verstehst nicht, was da geschieht. Du kannst es nicht glauben.

Und doch geschieht es.

Und so verstummst du nach und nach.

Der Schrecken dauert nicht ewig. Das kann er nicht. Ihn aufrechtzuerhalten würde zu viel Kraft erfordern. Schrecken wird ausgelöst durch die Konfrontation mit dem Unbekannten. Aber was einen schon über jedes Maß der Erträglichkeit gequält und eingeschüchtert hat, ist irgendwann nichts Fremdes mehr. Vielmehr wird das, was dich einmal in Schock versetzt hat, dir weiter weh tut und dich in seiner Perversion beschämt, irgendwann zur Normalität, zur Alltäglichkeit, zu einem Teil deines Lebens, ja, zu einem Teil deiner selbst.

Es ist ein Ding unter vielen.

Kapitel 2

«Spinnen sind immer auf Beute aus und dabei selbst permanent in der Gefahr, ihren Fressfeinden zum Opfer zu fallen. Geschickte Tarnung und schnelles Reaktionsvermögen helfen ihnen zu überleben.»

Herbert W. und Lorna R. Levi: Spiders and Their Kin

«Wir haben ein Problem.»

«Eins? Mir fallen auf Anhieb gleich ein paar ein: Unmengen an Meth sind in Umlauf, die Mittelschicht löst sich auf, ganz zu schweigen von den Folgen der globalen Erwärmung …»

«Nein, nein. Ich meine ein reales Problem.»

Kimberly seufzte. Seit nunmehr drei Tagen kämmten sie den Unfallort durch. Den Gestank von Kerosin und verkohlten Leichen nahm sie schon gar nicht mehr wahr. Ihr war kalt, sie war dehydriert und hatte Seitenstiche. In ihrer Verfassung musste ein reales Problem einiges zu bieten haben, um von ihr ernst genommen zu werden.

Sie nahm den letzten Schluck Wasser aus der Flasche, kehrte der Zeltstadt, die nun das provisorische Kommandozentrum darstellte, den Rücken und wandte sich ihrem Teampartner zu. «Na schön, Harold. Was ist das für ein Problem?»

«Du musst es dir ansehen, sonst glaubst du es nicht.»

Ohne ein weiteres Wort zu verlieren, trabte er davon und ließ Kimberly keine andere Wahl, als zu folgen. Er joggte an der Absperrung des Unfallorts entlang, der bis vor kurzem eine idyllische Aue inmitten dichter Wälder gewesen war. Die Bäume am Rand des Feldes waren bis zur Hälfte abrasiert, und durch die grüne Weidefläche zog sich ein tiefer Graben, an dessen Ende ein verrußter Flugzeugrumpf, das Wrack eines John-Deere-Traktors und eine verbogene Tragfläche lagen.

Es gab kaum etwas Schlimmeres als die Ermittlungsarbeit an Absturzstellen, die meist enorm weitflächig waren, von Schadstoffen kontaminiert und übersät mit scharfkantigen Metallfragmenten und Glasscherben. Solche Einsatzgebiete machten selbst denen, die schon seit vielen Jahren Spuren sicherten, schwer zu schaffen. Gegen Ende des dritten Tages hatte Kimberlys Team die Wo-sollen-wir-eigentlich-anfangen-Phase abgeschlossen und war dazu übergegangen, den Befund zu dokumentieren in der Hoffnung, am Abend des nächsten Tages nach getaner Arbeit wieder zu Hause zu sein. In dieser Phase konnte man sich mal eine Verschnaufpause gönnen, anstatt einfach bloß die nächste Aspirin mit einem Schluck Kaffee runterzuspülen, wenn man am Limit war.

Umso rätselhafter war es, dass Harold sie nun von der Kommandozentrale mit ihren knatternden Generatoren und dem Gewusel Dutzender Ermittler weglockte …

Er lief immer noch an der Absperrung entlang. Fünfzig Meter, einhundert, einen halben Kilometer weit …

«Harold, wohin?»

«Halt durch, du schaffst es. In fünf Minuten sind wir da.»

Harold legte noch einen Schritt zu. Kimberly biss die Zähne zusammen und blieb ihm auf den Fersen. Am Ende der Absperrung bog Harold nach rechts in den Waldabschnitt ein, durch den das abstürzende Flugzeug eine Schneise geschlagen hatte. Zerfetzte Baumkronen ragten in den bedeckten Winterhimmel auf.

«Wehe, es lohnt sich nicht.»

«Wart’s ab.»

«Wenn du mir irgendein seltenes Moos oder eine gefährdete Pilzsorte zeigen willst, gibt’s Saures.»

«Daran zweifle ich nicht.»

Er lief im Zickzack um Baumstümpfe herum und zwängte sich durch dichtes Unterholz. Dann blieb er endlich stehen, so abrupt, dass Kimberly ihn fast umgerannt hätte.

«Sieh mal nach oben», sagte Harold.

Kimberly gehorchte. «Oh, Scheiße. Wir haben ein Problem.»

 

FBI Special Agent Kimberly Quincy war nicht nur schön und mit einem klugen Kopf gesegnet, sondern auch eine geborene Polizistin, und zwar im wahrsten Sinne des Wortes, denn ihr Vater war ehemaliger FBI-Profiler und hatte sich als solcher einen Ruf erworben, der dem eines Douglas oder Ressler in nichts nachstand. Sie hatte schulterlanges dunkelblondes Haar, hellblaue Augen und ein geradezu edel geschnittenes Gesicht, das sie ihrer verstorbenen Mutter verdankte. Um Letztere rankten sich Gerüchte, die Kimberly vermutlich bis ans Ende ihrer beruflichen Laufbahn begleiten würden.

Kimberly war eins achtundsechzig, schlank, athletisch gebaut und als ungemein ausdauernd bekannt, treffsicher im Umgang mit Schusswaffen und heikel bis schwierig im persönlichen Umgang. Jedenfalls gehörte sie nicht zu jenen Teamkollegen, die Liebe auf den ersten Blick zu wecken vermochten, aber dafür wusste sie sich Respekt zu verschaffen.

Sie stand vor dem vierten Jahr ihrer Anstellung im FBI-Büro von Atlanta, war seit einiger Zeit mit Schwerverbrechen befasst und leitete eines der drei Evidence-Response-Teams vor Ort, die vor allem mit kriminaltechnischen Aufgaben betraut waren. Bis vor ungefähr fünf Monaten hatte sie berechtigte Aussicht auf eine steile Karriere gehabt. Von einem Karriereknick konnte aber auch nicht die Rede sein. Denn abgesehen davon, dass sie am Schießtraining nicht mehr teilnehmen durfte, hatte sich, was ihren Dienst anging, nichts geändert. Das FBI-Büro von heute betrachtete sich schließlich als eine aufgeklärte, den Tugenden der geschlechtlichen Gleichstellung und Fairness verpflichtete Behörde. Jedenfalls war es, wie die Agenten zu scherzen beliebten, nicht mehr das FBI ihres Vaters.

Momentan sah sich Kimberly allerdings vor weitaus größere Probleme gestellt. Drei Schritte außerhalb der abgesteckten Unglücksstelle hing in einem riesigen Rhododendronbusch ein abgetrenntes Bein.

«Dass du das überhaupt gesehen hast. Wie zum Teufel hast du das entdeckt?», fragte Kimberly, als sie mit Harold zur Kommandozentrale zurückeilte.

«Vögel haben mich drauf aufmerksam gemacht», antwortete er. «Ich sah immer wieder Schwärme aufflattern und dachte, sie würden von einem Raubtier aufgeschreckt. Und dann fragte ich mich, was ein Raubtier dort zu suchen haben mochte. Tja …» Er zuckte mit den Achseln. «Den Rest kannst du dir denken.»

Kimberly nickte, obwohl sie sich als Stadtmensch auf das Verhalten wilder Tiere nicht besonders gut verstand. Harold hingegen war in einem Blockhaus aufgewachsen und hatte früher für den Forstdienst gearbeitet. Er konnte die Spuren von Rotluchsen lesen, Hirsche häuten und anhand des Wachstums von Moosen an Bäumen das Wetter vorhersagen. Seiner Statur nach – eins fünfundachtzig bei gerade mal knapp achtzig Kilo – erinnerte er allerdings weniger an einen Holzfäller als an einen Telegraphenmast. Aber man durfte sich nicht täuschen: Zwanzig Meilen waren für ihn locker an einem Tag zu schaffen. Als im Zuge der Ermittlungen gegen den Bombenleger im Olympiapark von Atlanta alle drei ERTs einen entlegenen Zeltplatz in den Bergen hatten aufsuchen müssen, war Harold auf steilem, dicht bewaldetem Gelände eine Stunde vor allen anderen am Ziel gewesen.

«Wirst du Rachel informieren?», fragte er jetzt. «Oder soll ich?»

«Ich finde, du solltest das Verdienst für deine Entdeckung ganz allein für dich in Anspruch nehmen.»

«Ach was. Du leitest das Team. Und sie wird dich schon nicht fressen.»

Er betonte den letzten Satz deutlicher als nötig. Kimberly verstand ohnehin. Und natürlich hatte er recht.

Sie massierte ihre Seite und gab sich unbeeindruckt.

 

Das Problem hatte am Samstagmorgen seinen Anfang genommen, als eine Boeing 727 um 6:05 Uhr vom Flughafen Charlotte, North Carolina, abgehoben war. Mit drei Besatzungsmitgliedern und einem Frachtraum voller Postsendungen sollte sie um 7:20 Uhr in Atlanta landen. Die Luft war feucht und neblig, es drohte Eisschlag.

Was sich im Einzelnen zugetragen hatte, würde die Nationale Behörde für Transportsicherheit, kurz NTSB, feststellen müssen. Jedenfalls hatte die Maschine kurz nach 7:15 Uhr beim Anflug auf die Landebahn mit der rechten Tragfläche ein paar Baumwipfel gestreift, war auf eine Weide gestürzt, hatte sich einmal im Kreis gedreht, einen Mähdrescher, zwei Lastwagen und einen Traktor mitgerissen und war nach einer knapp achthundert Meter langen Rutschpartie in Flammen aufgegangen, nachdem sie eine Wolke von Trümmerteilen hatte abregnen lassen.

Als die Rettungsfahrzeuge eintrafen, gab es nichts mehr zu retten. Übrig geblieben waren nur auf weiter Fläche verstreute Bruchstücke samt der Leichenteile dreier Personen, vier zerstörte landwirtschaftliche Nutzfahrzeuge und der Niederschlag von U.S. Mail im Umfang eines Schneesturms. Experten der NTSB rückten an und übernahmen das Kommando über die Aufräumarbeiten gemäß einem zwischen der NTSB und dem FBI geregelten Abkommen. Die drei ERTs aus Atlanta wurden hinzugezogen, um bei der Spurensicherung zu assistieren.

Rachel Childs, die dienstälteste FBI-Vertreterin vor Ort, hatte als Erstes die Unglücksstelle absperren lassen. Bei Explosionen und Flugzeugabstürzen wird einer Faustregel entsprechend der Abstand zwischen den am weitesten auseinanderliegenden Trümmerteilen mit dem Faktor eins Komma fünf multipliziert. Im vorliegenden Fall ergab sich nach dieser Berechnung eine Fläche von vier Kilometern Länge und achthundert Metern Breite – also nicht gerade das, was Spurensicherungsexperten jeden Tag vorgesetzt bekommen.

Es war der perfekte Einsatzort für das neuste Spielzeug des FBI: die Totalstation, ein modifizierter Tachymeter, wie er von Vermessungstechnikern verwendet wurde, ausgestattet mit einer speziellen Software, die aus den Messdaten blitzschnell millimetergenaue 3-D-Modelle entwickelte, über die Ermittler am Ende ihrer Schicht brüten konnten.

Das Verfahren war relativ einfach, die Auswertung umso arbeitsintensiver. Zuerst mussten Dutzende von Kriminaltechnikern sämtliche Beweisstücke klassifizieren und markieren. Handelte es sich um Wrackteile, menschliche Überreste oder Wertgegenstände? Als Nächstes versah ein sogenannter rod man – also derjenige, der bei üblichen Landvermessungen die Messlatte hielt – jedes Beweisstück mit einem Glasreflektor. Auf die richtete dann der Kollege die Laserkanone, mit der sich bis auf eine Entfernung von fünf Kilometern optische Daten einholen ließen. Das Ganze überwachte der sogenannte spotter/recorder, der für die Zählung und Dokumentation der einzelnen Beweisstücke zuständig war.

Alle Beteiligten arbeiteten hart, mit dem Ergebnis, dass sich in relativ kurzer Zeit das Chaos auf dem Feld in ein übersichtliches Computermodell verwandelt hatte, das der Laune des Schicksals fast so etwas wie einen Sinn verlieh. Krankhaft ordnungsfixierte Kontrollfetischisten hätten ihre helle Freude daran, und Kimberly musste sich in beiden Punkten schuldig bekennen. Allzu gern wäre sie der rod man gewesen, hatte sich aber diesmal mit den Aufgaben des spotters/recorders begnügen müssen.

Nach ihrem Abstecher in den Wald eilten Kimberly und Harold nun wieder auf die Kommandozentrale zu, wo sich ein Rudel von weiß behemdeten Anzugträgern gebildet hatte – NTSB-Vertreter, die über einer großen Planzeichnung einer Boing 727 brüteten. Vorort waren außerdem sechs Kriminaltechniker, die immer noch ihre blaue Schutzkleidung trugen, und schließlich ein Streichholz mit feuerrotem Kopf: Rachel Childs, die Aufsicht führende FBI-Frau und Perfektionistin schlechthin.

Kimberly und Harold tauchten unter dem Absperrband hindurch.

Harold flüsterte: «Viel Glück.»

 

Special Agent Childs hatte eigentlich eine berühmte Architektin werden wollen, sich aber letztlich anders entschieden und eine FBI-Laufbahn vorgezogen. Sie war Assistentin eines der fähigsten Kriminaltechniker Chicagos und hatte über ihn zu ihrer Bestimmung gefunden. Dass sie am Detail interessiert war, maßstabsgerechte Skizzen anfertigen und pedantisch genau Buch führen konnte, ließ sich auf dem Gebiet der Spurensicherung besser nutzen als in dem Versuch, die Skyline Chicagos zu verschönern.

Die Entscheidung für den Polizeidienst hatte sie vor fünfzehn Jahren getroffen, doch zurück blickte sie nie. Sie war knapp über eins fünfzig, wog kaum fünfzig Kilo und war in etwa so entspannt wie Rumpelstilzchen. Bei ihrem ersten Mordfall war sie vermutlich vor Freude in die Luft gesprungen.

«Wie um Himmels willen konnte dieses Bein übersehen werden?», kläffte sie.

Zusammen mit Kimberly und Harold hatte sie sich aus der Menge hinter einen lärmenden Generator zurückgezogen. Rachel las ihren Teamkollegen, die für sie so etwas wie Familienmitglieder waren, nur unter vier Augen oder im kleinen Kreis die Leviten. Es reichte, wenn sie wusste, wer Bockmist gebaut hatte, und wenn sie dem Betreffenden die Meinung geigte. Andere hatte das nicht zu interessieren.

«Das Bein hängt versteckt in einem Busch», entgegnete Harold. «Unter einem Baum. Ziemlich versteckt.»

«Es ist Februar. Die Bäume sind kahl. Es muss doch deutlich zu erkennen gewesen sein.»

«Nicht zwischen immergrünen Kiefern», warf Kimberly ein. «Ich habe es auch erst gesehen, als Harold mit dem Finger darauf gezeigt hat. Mich wundert, dass es ihm überhaupt aufgefallen ist.»

Harold warf ihr einen dankbaren Blick zu. Kimberly zuckte mit den Achseln. Er hatte recht. Mit ihr würde Rachel nicht allzu hart ins Gericht gehen. Vielleicht gelang es ihr sogar, sie zu beruhigen.

«Unsinn», knurrte Rachel. «Nach drei Tagen Arbeit sollten wir doch allmählich hier fertig sein. Aber nein, jetzt können wir von vorn anfangen. Stümperei ist das …»

«So was kommt vor. Ich erinnere nur an Oklahoma City oder an den Absturz bei Nashville. Ist doch wirklich erstaunlich, dass wir mit solchen Unfallorten überhaupt zurande kommen», sagte Kimberly.

«Trotzdem …»

«Wir erweitern den Umkreis und konzentrieren unsere Suche auf den westlichen Abschnitt. Es wird uns einen weiteren Tag kosten, und wenn wir Glück haben, haben wir nur dieses eine Bein übersehen.»

Rachel runzelte die Stirn. «Augenblick. Seid ihr eigentlich sicher, dass es sich um ein Menschenbein handelt?»

«Ich weiß doch, wie Menschenbeine aussehen», meinte Harold entschieden.

Kimberly pflichtete ihm bei.

Rachel drückte beide Hände an ihre Schläfen. «Verdammt! Uns fehlen keine Körperteile. Die drei Leichen, die aus dem Cockpit geborgen wurden, sind komplett. Ich habe mich selbst davon überzeugt und bin mir absolut sicher, dass wir nicht weniger als sechs Beine gefunden haben.»

Harold schaute beide Frauen an. «Ich sagte doch: Wir haben ein Problem.»

 

Sie packten eine Kamera, Taschenlampen, Handschuhe, einen Rechen und eine Plane zusammen. Ein Minisortiment zur Spurensicherung. Rachel wollte das Fundstück mit eigenen Augen sehen. Was Harold und Kimberly gesehen hatten, konnte schließlich auch ein Stofffetzen sein, das abgerissene Bein eines Dummys oder der Hinterlauf eines Hirschs, dem irgendein humorbegabter Jäger ein Hosenbein übergezogen hatte. In Georgia waren schon seltsamere Dinge vorgekommen.

Weil es nur noch zwei Stunden hell bliebe, beeilten sie sich, um an den Fundort zu kommen.

Vorsichtig näherten sie sich durch dichtes Gestrüpp und achteten darauf, nicht aus Versehen auf mögliche Spuren zu treten. Harold und Kimberly richteten schließlich ihre Taschenlampen auf den von Kiefern überschatteten Rhododendronbusch. Rachel schoss ein paar Fotos und machte sich dann mit Maßband und Kompass daran, den Busch zu vermessen, den nächsten Fixpunkt zu bestimmen und den Abstand zum bisherigen Grenzverlauf der Unfallstelle zu ermitteln.

Als sie bis auf den Schrei einer Schleiereule und den Wind, der sie im Nacken kitzelte und ihnen unter die Tyvek-Anzüge zu kriechen versuchte, alles dokumentiert hatten, hob Harold den Rechen und zog das Fundstück aus dem Busch. Es fiel auf die von Rachel am Boden ausgebreitete blaue Plane.

«Verdammt», kommentierte Rachel.

Es war tatsächlich ein Bein, genauer gesagt ein knapp oberhalb des Kniegelenkes abgetrennter Unterschenkel. Der Oberschenkelknochen ragte weiß aus dem Fleischgewebe hervor. Er steckte in einem Hosenbein aus blauem Jeansstoff und gehörte, der Größe nach zu urteilen, zu einer männlichen Person.

«Du bist sicher, dass alle drei Absturzopfer vollständig sind?», fragte Kimberly. Sie hatte im Laufe des gegenwärtigen Einsatzes selbst keine Spuren zusammengetragen, worüber sie sich ein wenig ärgerte, vor allem jetzt, da es schien, dass etwas Wichtiges übersehen worden war. «Ich meine, das Cockpit ist völlig ausgebrannt, und die Leichen sind bestimmt in keinem guten Zustand.»

«Vom Piloten stammt das Bein jedenfalls nicht», sagte Harold. «Piloten tragen keine Jeans.»

«Von einem Bauern vielleicht? Einem Feldarbeiter?», dachte Kimberly laut nach. «Als die Maschine auf den Traktor traf …» Sie unterbrach sich, als ihr wieder einfiel, dass der Besitzer des Traktors an der Unfallstelle aufgetaucht war, um den Schaden zu begutachten und sein Fahrzeug zu betrauern. Wenn er einen Gehilfen vermisste, hätten sie es längst erfahren.

«Ich verstehe das nicht.» Rachel hob den Kopf und schaute sich um. «Wir sind hier an der Stelle, wo die Maschine zum ersten Mal mit einem Widerstand kollidiert ist.» Sie zeigte nach oben auf die hellen Splitterenden abgescherter Baumkronen. «Und zwar mit der rechten Tragfläche. Sie wurde abgerissen. Die Maschine kippt nach rechts. Der Pilot steuert dagegen und übersteuert. Nach hundert Metern …» Sie drehte sich um und deutete auf eine Stelle, die zu weit entfernt war, als dass man Genaueres hätte sehen können. «Dahinten am Rand des Feldes ist die Furche, die die Spitze der linken Tragfläche gezogen hat …»

«Es kam also erst dort zum eigentlichen Absturz», ergänzte Kimberly. «Mit anderen Worten, hier, an dieser Stelle …»

«War die Maschine noch in der Luft und wird mit Sicherheit keine Körperteile von Menschen verloren haben. Wir sind eine Meile vom Cockpit entfernt. Selbst wenn es in die Luft geflogen wäre, was, wie wir wissen, nicht der Fall war – nein, ausgeschlossen, dass ein Bein bis hierher zurückgeschleudert worden wäre.»

Harold drehte eine kleine Runde und musterte das Unterholz. Auch Kimberly setzte sich in Bewegung. Den Kopf im Nacken schaute sie zu den Bäumen auf.

Wie es der Zufall wollte, machte sie wenig später eine weitere Entdeckung. Nur fünf Meter entfernt und fast auf gleicher Augenhöhe, so nah, dass sie stolz auf sich sein konnte, nicht laut aufgeschrien zu haben. Der scharfe, an Rost erinnernde Geruch hatte sie vorgewarnt. Zuerst sah sie nur einen Fetzen aus orange fluoreszierendem Material. Dann einen zweiten, und noch einen. Bis sie schließlich …

Der Kopf fehlte. Ebenso der linke Arm und das Bein. Übrig geblieben war nur eine seltsame, vornübergebeugte Gestalt, die in den Ästen eines Baums hing.

«Ich fürchte, wir werden morgen noch nicht nach Hause kommen», sagte sie, als Rachel und Harold zu ihr aufgeschlossen hatten.

«Ein Jäger?», fragte Rachel ungläubig. «Aber die Jagdsaison ist doch längst vorbei.»

«Auf Rotwild darf seit Anfang Januar nicht mehr geschossen werden», erklärte Harold. «Aber kleineres Wild kann bis Ende Februar gejagt werden. Und dann gäbe es ja auch noch Wildschweine, Bären, Alligatoren. Mensch, wir sind hier in Georgia. Irgendwas findet sich immer, worauf man schießen kann.»

«Armer Teufel», murmelte Kimberly. «Man stelle sich vor. Da sitzt jemand auf einem Baum, hält Ausschau nach …»

«Opossums, Moorhühnern, Schnepfen, Kaninchen, Eichhörnchen», führte Harold weiter aus.

«Nur um sich am Ende von einer Sieben-zwei-sieben den Kopf absäbeln zu lassen. Wie unwahrscheinlich ist das?»

«Wenn deine Zeit gekommen ist, ist sie gekommen», kommentierte Harold.

Rachel schien immer noch unter Strom zu stehen. Doch dann seufzte sie ein letztes Mal und riss sich zusammen. «Also gut, in einer Stunde wird es dunkel. Wir sollten keine Zeit verlieren.»

 

Es stellte sich heraus, dass die NTSB an einem Bein im Wald kein Interesse hatte. In der Welt der Flieger war ein toter Jäger nicht mehr als ein Kollateralschaden. Das FBI sollte sich darum kümmern.

Rachel orderte per Telefon ein mobiles Labor, weitere Fachkräfte und Freiwillige für einen Suchtrupp. Fünfzehn Minuten später waren etliche Hilfssheriffs und FBI-Kollegen zur Stelle. Harold verteilte lange Sonden und wies alle darauf hin, nicht nur nach unten, sondern auch nach oben zu schauen. Als Einsatzleiter hatte er darauf zu achten, dass die Reihen geschlossen blieben, was unter den gegebenen Verhältnissen alles andere als leicht sein würde.

Laut Auskunft des zuständigen Sheriffs war am Vormittag ein gewisser Ronald «Ronnie» Danvers als vermisst gemeldet worden, ein Zwanzigjähriger, der vor drei Tagen zur Jagd aufgebrochen und nicht mehr zurückgekehrt war. Seine Freundin hatte zunächst angenommen, dass er zu Besuch bei irgendwelchen Freunden war, sich dann selbst auf die Suche gemacht und am frühen Morgen dann endlich einsehen müssen, dass irgendetwas nicht stimmen konnte.

«Und dafür brauchte sie drei Tage?», fragte Kollege Tony Coble. «Wie langmütig ist doch wahre Liebe.»

«Anscheinend hat es zwischen den beiden Schwierigkeiten gegeben», berichtete Harold. «Die Freundin ist schwanger und soll launisch sein.»

Als er dies sagte, vermied er wohlweislich, Kimberly in die Augen zu schauen. Alle anderen aber taten es.

«Was glotzt ihr so? Ich bin nicht launisch», sagte sie. «Im Gegenteil, ich bin immer mies drauf.» Der Krampf in ihrer linken Seite hatte sich ein wenig gelöst. Stattdessen spürte sie eine Art Schluckauf unter den Rippenbögen. Die Empfindung war neu für sie und entsprechend rätselhaft. Sie hielt ihre Hand auf den Bauch gedrückt, was, wie ihr peinlich bewusst war, als mütterliche Geste ausgelegt werden konnte.

Die Kollegen grinsten sie an. Sie hatten bereits einen Klapperstorch an die Wand über ihrem Schreibtisch geheftet. Als sie letzte Woche nach der Mittagspause in ihr Büro zurückgekehrt war, hatte sie den Posteingangskorb voller Schnuller vorgefunden. Cops seien besonders taff, hieß es. Seit neuestem brauchte Kimberly nur einmal tief einzuatmen, und schon eilten Kollegen mit einem Glas Wasser herbei, einem Stuhl oder einem Glas saure Gurken. Sie war umgeben von einem Haufen Softies. Nun ja, sie mochte jeden Einzelnen, sogar Harold, den ewigen Besserwisser.

«Hört mal alle her», sagte Rachel. «Daraus, dass wir heute Abend abrücken, wird nichts. Bevor es dunkel wird, müssen wir den Fundort hier kartographiert, systematisch durchkämmt und sämtliche Beweismittel in die Kommandozentrale geschafft haben, um sie dort im Licht der Scheinwerfer vor den Zelten zu dokumentieren. Mit anderen Worten: Ihr könnt mir wieder einmal für kurzweilige Unterhaltung danken.»

Die Freiwilligen stöhnten im Chor.

Rachel lächelte nur. «Okay, Leute. Bringt mir Ronnies Kopf.»

Kapitel 3

«Die Loxosceles reclusa spinnt ein mittelgroßes, engmaschiges Netz, das sich ohne erkennbares Muster oder Plan nach allen Seiten hin ausdehnt.»

Julia Maxine Hite, William J. Gladney, J.L. Lancaster, Jr. und W.H. Whitcomb: Biology of the Brown Recluse Spider

Kurz nach Mitternacht war Kimberly endlich zu Hause. An späte Stunden und trübes Licht gewöhnt, bewegte sie sich mit Leichtigkeit durch die dunkle Wohnung. Nachdem sie Tasche, Mantel und Schuhe auf der Bank in der Diele abgelegt hatte, ging sie kurz in die Küche, um ein Glas Wasser zu trinken, dann warf sie einen Blick auf den Anrufbeantworter.

Mac hatte auf seinem Schreibtisch die Lampe brennen lassen. Im Lichtkegel lag ein kleiner Stapel Post, auf dem eine violette Haftnotiz mit einem Smiley klebte.

Ein leerer Pizzakarton ließ darauf schließen, dass Mac zu Hause gegessen hatte. Sie schaute im Kühlschrank nach, fand darin eine halbe Käsepizza und wägte ihre Optionen ab. Halbfettjoghurt mit Vanillegeschmack, kalte Käsepizza. Die Wahl war schnell getroffen.

Kauend stand sie in der Küche und ging ihre Post durch. Sie entdeckte einen Katalog von Pottery Barn Kids, gönnte sich ein zweites Stück Pizza und musterte alle Artikel, die aus rosa-weiß karierter Baumwolle gemacht waren.

Kimberly war überzeugt davon, ein Mädchen zu bekommen. Denn zum einen wusste sie über kleine Jungs herzlich wenig, und zum anderen hatte sie vor zehn Jahren ihre Mutter und ihre Schwester verloren, die einem Psychopathen zum Opfer gefallen waren. Sie fand, dass der Herr im Himmel ihr etwas schuldig war, nämlich eine Tochter.

Mac spekulierte natürlich auf einen Jungen, den er nach Dale Murphy von den Atlanta Braves benennen und ausschließlich mit Baseball-Liga-Trikots einkleiden wollte.

Kimberly war überzeugt davon, dass ihr kleines Mädchen (Abigail, Eva, Ella???) Macs kleinen Jungen problemlos würde ausstechen können. Aber noch ging es zwischen ihnen hin und her. Die Entscheidung sollte um den 22. Juni herum fallen.

Kimberly und Mac hatten sich vor fast fünf Jahren in der FBI-Akademie kennengelernt. Sie war für das Ausbildungsprogramm junger Agenten eingeschrieben gewesen, er als Special Agent für das GBI – Georgia Bureau of Investigation. Während ihrer ersten Begegnung hatte sie ihn mit einem Messer bedroht, was er mit dem Versuch beantwortete, ihr einen Kuss abzuluchsen. Damit waren die Eckpunkte ihrer Beziehung festgelegt.

Vor einem Jahr hatten sie geheiratet. Die meisten logistischen Fragen waren inzwischen geklärt – wer den Müll nach draußen trug, die Einkäufe besorgte, den Rasen mähte –, gleichzeitig sahen sie als relativ jung vermähltes Paar dem jeweils anderen noch gewisse kleinere Mängel und Nachlässigkeiten großzügig nach.

Mac war der Romantiker. Er schenkte ihr Blumen, erinnerte sich an ihren Lieblingssong und gab ihr einfach so einen Kuss in den Nacken. Sie war der Typ-A-Workaholic, hatte jeden Tag eine Agenda und jede Stunde etwas zu tun, das zu Ende gebracht werden musste. Sie arbeitete allzu viel, entspannte sich nie und riskierte mit spätestens vierzig einen Nervenzusammenbruch, was Mac aber mit Sicherheit zu verhindern wissen würde. Er war ihr Fels in der Brandung, sie für ihn wahrscheinlich das Ticket in den Heiligenstand.

Kein Zweifel: Mac würde eine ausgezeichnete Mutter abgeben.

Kimberly seufzte und schenkte sich noch ein Glas Wasser ein. Die ersten drei Monate waren glimpflich verlaufen. Manchmal hatte ihr Müdigkeit zugesetzt, sie aber nie in den Seilen hängen lassen, und gelegentliche Übelkeitsattacken waren mit einem Pudding zu kurieren gewesen. Normale Frauen nahmen gut zehn Kilo zu, doch zum Glück war sie athletisch gebaut und hatte einen Stoffwechsel, der auf Hochtouren lief. Sie hatte gerade einmal vier Kilo zugelegt, und erst jetzt, zu Beginn der zweiundzwanzigsten Woche, konnte man ihr ansehen, dass sie schwanger war.

Sie war gesund, ihr Baby war gesund, und ihr hübscher, dunkelhaariger Mann war aus dem Häuschen.

Vielleicht drängten sich ihr deswegen in Nächten wie dieser Zweifel auf.

Von einer traditionellen Ehe zwischen ihr und Mac konnte keine Rede sein. Sie waren sich an einem Tatort nähergekommen und miteinander ausgegangen zu einer Zeit, als sie einen Serienkiller festzunageln versuchten. In den vergangenen Jahren waren sie nur einmal mehrere Tage am Stück zusammen gewesen, nämlich in Oregon, wo sie einen anderen Fall zu bearbeiten hatten – die Entführung von Kimberlys Stiefmutter.

Dass sie freitagabends mal ins Kino gingen, kam kaum vor, und sonntagmorgens noch ein bisschen im Bett zu kuscheln war ebenfalls eine Seltenheit, denn meist piepte entweder ihr Pager oder seiner. Wenn einer von ihnen wegmusste, hatte der andere immerhin Verständnis dafür, weil er oder sie wusste, dass er oder sie das nächste Mal dran war. Sie liebten ihren Job und ließen dem anderen genügend Raum. Darum hatte es bisher wohl mit ihnen funktioniert.

Kimberly war aber natürlich klar, dass Babys freitagabends nicht allein, sonntagmorgens bekuschelt und überhaupt rund um die Uhr betreut sein wollten.

Welcher Elternteil würde kürzertreten? Er oder sie? Oder sollten sie Macs Mutter in Anspruch nehmen? Aber welchen Zweck hatte es, ein Kind in die Welt zu setzen, um es dann einer dritten Person zur Pflege zu überlassen?

In letzter Zeit wurde Kimberly von Albträumen geplagt, von schrecklichen Vorstellungen, in denen Mac mit dem Wagen verunglückte, im Dienst erschossen oder über den Haufen gefahren wurde beim Versuch, ihnen irgendwo schnell noch Abendessen zu besorgen. Die Träume endeten immer damit, dass ihr jemand am Telefon sagte: Wir müssen Ihnen leider mitteilen …, während nebenan ein Neugeborenes mit schriller Stimme zu weinen anfing.

Dann schreckte sie schweißgebadet und am ganzen Körper zitternd auf. Ausgerechnet sie, der einmal in einem Hotelzimmer von einem Killer eine Pistole wie der Kuss eines Liebhabers an die Schläfe gedrückt worden war.

Sie war stark, sie war intelligent und zäh. Und sie wusste mit absoluter Sicherheit, dass sie es als Mutter nicht allein schaffen würde.

In solchen Nächten rückte sie im Bett zur Seite, weg vom warmen, festen Körper ihres Mannes. Sie zog dann die Beine an und umfasste ihren Bauch mit beiden Händen, starrte auf die dunkle Wand und vermisste ihre Mutter.

Kimberly schlug den Katalog zu, stellte das Wasserglas ab und ging ins Gästebad, wo sie sich leise die Zähne putzte. Ihre Haare rochen immer noch nach Kerosin, Kleider und Haut wie nach einem ordentlichen Barbecue. Sie warf ihre Sachen in den Wäschekorb und tappte nackt durch den Flur ins Schlafzimmer.

Mac hatte auch die Lampe auf dem Nachttischchen brennen lassen. Er war an ihr spätes oder auch frühes Nachhausekommen gewöhnt und ließ sich nicht stören, als sie duschte und anschließend in den Schubladen nach einem Pyjama suchte.

Erst als sie zu ihm unter die Decke schlüpfte, drehte er sich zu ihr auf die Seite und hob schlaftrunken einen Arm zur Begrüßung.

«Alles okay?», flüsterte er.

«Wir haben Ronnies Kopf gefunden.»

«Schön.»

Sie schmiegte sich rücklings an seinen warmen Körper, legte seine Hand auf ihren Bauch, unter dem sich die Bewegungen des Babys wie die Flügelschläge eines Schmetterlings ausnahmen. Kimberly war selig.

 

Im Traum hörte sie Stimmen:

«Komm schon, Sal. Als würdest du das nicht besser hinkriegen. Herrje, es ist drei in der Früh. Das Mädchen hat Kimberly bestimmt noch nie gesehen. Es will wahrscheinlich nur wieder auf freien Fuß. Das kennt man doch.»

Der Klang ihres Namens holte sie aus dem Schlaf. Sie öffnete die Augen und sah Mac mit einem Handy am Ohr auf der anderen Seite des Schlafzimmers stehen. Als er ihren Blick auf sich gerichtet sah, wurde er vor Verlegenheit rot.

Dann kehrte er ihr demonstrativ den Rücken und sprach weiter: «Und warum schaltet sich das FBI ein? Ach ja? Verstehe. Aber das bringt nichts. Außerdem sind wir am Ball und nicht das FBI.»

Kimberly war inzwischen hellwach. Und verärgert.

Mac fuhr sich mit der Hand durchs Haar. «Oh Mann, kann man ihr glauben, oder macht sie euch etwas vor? Ja, ich weiß, dass es nicht deine Sache ist. Tu’s trotzdem!»

Sal wollte offenbar nicht mitspielen. Mac seufzte. Zauste sich wieder das Haar. Dann drehte er sich zögernd zu seiner Frau um und legte mit niedergeschlagener Miene seine Hand mit dem Handy auf die Schulter.

Er kam ihrer Tirade mit einem Präventivschlag zuvor: «Es ist Special Agent Salvatore Martignetti. Kollegen haben eine Prostituierte in Sandy Springs hoppgenommen. Sie behauptet, eine Informantin von dir zu sein, kann aber weder deine Visitenkarte vorlegen noch nähere Einzelheiten über dich angeben. Trotzdem hält sie an ihrer Geschichte fest. Die Kollegen sind zusammen mit Sal im VICMO-Programm und haben ihn informiert, weil sie wissen, dass er mit uns befreundet ist.»

VICMO stand für Violent Crimes and Major Offenders. Das Programm zielte darauf ab, Polizeiermittler des ganzen Staates zusammenzuführen und über bestimmte Verbrechensmuster aufzuklären. In Wahrheit aber stand der bürokratische Versuch dahinter, die einzelnen Strafverfolgungsbehörden zur Kooperation zu bewegen.

«Hey, wenn Sal mir etwas sagen will, soll er mich anrufen. Das müsste er doch in eurem Programm inzwischen gelernt haben, oder? Wir sind schließlich eine große glückliche Familie und haben alle die Kurzwahl jedes Kollegen gespeichert.»

Mac warf ihr einen seiner Blicke zu. «Komm schon. Diese junge Prostituierte gibt sich aus als Delilah Rose. Sagt dir das was?»

«Nur dass das wahrscheinlich ein Pseudonym ist.»

«Keine Sorge, du musst dich nicht weiter darum kümmern. Du hast schließlich anderes zu tun und musst, wenn ich mich nicht irre, schon um sechs wieder am Unfallort sein, stimmt’s?»

«Was bietet sie an?»

«Hat bisher nicht damit rausgerückt. Sie sagt, das sei nur für deine Ohren bestimmt.»

«Aber Sal hat doch bestimmt eine Ahnung.»

Mac zuckte mit den Schultern. «Es scheint, dass sie Informationen über eine andere vermisste Prostituierte hat.»

Kimberly zog eine Braue in die Stirn. «Und dafür seid ihr am Ball, wie du es so hübsch formuliert hast?», fragte sie trocken.

«Ich kenne die Statuten des GBI.»

«Nicht wenn Staatsgrenzen überschritten werden.» Kimberly warf die Decke beiseite und verließ das Bett.

«Kimberly …»

«Statt Baumwollfelder zu pflügen, werde ich jetzt mit diesem Mädchen reden. Glaub mir, das schafft selbst eine Schwangere.»

Mac wusste inzwischen längst, wann er die Segel zu streichen hatte. Er hielt wieder das Handy ans Ohr. «Sal? Hast du’s gehört? Ja, sie stattet ihr einen Besuch ab. Kannst du mir einen Gefallen tun? Sieh zu, dass ihr auf eurer Wache genug Mineralwasser habt.»

«Oh bitte», rief Kimberly über die Schulter, «warum sorgt er nicht gleich auch für ein Gläschen mit sauren Gurken?»

Sal hatte sie offenbar gehört. «Nein, nein, nein», wiegelte Mac ab. «Aber wenn ich dir ein Geheimnis verraten darf: Für Vanillepudding macht sie alles. Ich habe in meinem Wagen Leckereien gehortet. Wahrscheinlich bin ich nur deshalb noch am Leben. Und noch was: Gib ihr nur Plastikbesteck. Anderenfalls könnte es zu hässlichen Verletzungen kommen. Ja, danke. Bye.»

 

Kimberly spritzte sich Wasser ins Gesicht, um wach zu werden. Als sie aus dem Badezimmer kam, war Mac wieder im Bett. Er hatte sich das große Kissen ins Kreuz geschoben und beobachtete sie aus seinen dunklen Augen. Sie nahm eine Hose aus dem Kleiderschrank. Er sagte immer noch kein Wort.

Es war immer dasselbe. Kimberly hatte eine Zahl von Fällen zu bearbeiten, die selbst für FBI-Standards überdurchschnittlich hoch war. In der Welt nach dem elften September war die National Security auf Kosten der Kriminalpolizei aufgeblasen worden. Das FBI-Büro von Atlanta hatte von ehemals sechzehn Agenten sieben einbüßen müssen, und aus der Fünfzigstundenwoche war ein Siebzigstundenmarathon geworden. Normale Arbeitstage begannen um neun und endeten nicht selten erst tief in der Nacht.

Und als wäre das nicht schon genug, hatte Kimberly in ihrem ERT auch noch sogenannte außerplanmäßige Aufgaben zu erfüllen, das heißt, sie musste sich für vierzig bis fünfzig zusätzliche Einsätze im Jahr bereithalten, wenn zum Beispiel ein Flugzeug abstürzte, ein Bankraub mit Geiselnahme geschah, wenn Menschen verschleppt wurden oder irgendwelche Bandenkriege ausbrachen. Agenten wurden für diese zusätzlichen Aufgaben zwar ausgebildet, aber nicht besser entlohnt. Man ging offenbar davon aus, dass sie einer Berufung folgten und ihnen die Arbeit als solche Lohn genug war.

Kimberly war erst vier Wochen schwanger, als Mac die Frage aufgeworfen hatte, ob sie tatsächlich noch der Anerkennung wegen so viel arbeiten müsse. Sie könne sich doch an einen Schreibtisch versetzen lassen oder, besser noch, zusammen mit Rachel Childs Betrügereien im Gesundheitswesen nachgehen. Rachel bearbeitete nur fünf Fälle im Jahr, die zwar aufwendig dokumentiert werden mussten, wofür aber in der Regel jede Menge Zeit blieb. Rachel, so Mac, hätte genügend Spielraum für die Leitung ihres ERTs, und sie, Kimberly, könne sich entspannt auf das Kind freuen.

Die zur Bekämpfung von Korruption im Gesundheitswesen zuständige Abteilung leistete wichtige Arbeit, und wenn Mac in Fahrt war, behauptete er gern, dass Betrug das Herz und die Seele des Büros seien.

Um ihn zum Schweigen zu bringen, drohte Kimberly dann damit, der Antiterrortruppe beizutreten und sich für sechs Monate nach Afghanistan zu verabschieden.

Für das FBI standen «die Bedürfnisse des Büros» an erster Stelle. Warum durften sich junge Agenten nicht selbst ihre erste Dienststelle aussuchen, ja, warum wurde ein Neuling aus Chicago mit großer Wahrscheinlichkeit nach Arkansas geschickt, obwohl das Büro in Chicago die meisten Rekruten brauchte? Weil die Verantwortlichen allen Mitarbeitern von Anfang an eines unmissverständlich klarmachen wollten: Die Bedürfnisse des Büros gingen in jedem Fall vor. Dass man der US-Regierung diente und das amerikanische Volk zu schützen hatte, hatte beim FBI dasselbe Gewicht wie bei allen anderen bewaffneten Einheiten.

Das Büro brauchte Kimberly zur Aufklärung von Gewaltverbrechen. Sie war fleißig und erfahren. Außerdem käme ein Antrag auf Versetzung einer Beleidigung ihrer männlichen Teamkollegen gleich, von denen die meisten selbst Kinder hatten.

Sie hatte ihr Hemd angezogen und schlüpfte nun in ein schwarzes Jackett, das sie schon nicht mehr zuknöpfen konnte, aber auch offen getragen recht schick aussah. Sie betrachtete sich im Spiegel. Von vorn sah man ihr die Schwangerschaft nicht an. Doch wenn sie sich zur Seite drehte …

Wieder dieses Flattern. Sie presste ihre Hand in die Seite und sah auf ihrem Gesicht im Spiegel ein klägliches Lächeln. Sie liebte ihren Job, liebte aber weiß Gott auch schon das da …

Sie kehrte ans Bett zurück und gab Mac einen Kuss auf die Wange.

«Ich habe recht, du irrst», stellte sie fest.

«Ich habe doch kein Wort gesagt.»

«Oh, doch.»

Er legte seine Hand um ihren Hinterkopf, zog sie an sich und küsste sie auf den Mund. Sie beide wussten, wie wichtig es war, das Haus nie im Groll zu verlassen.

«Es hat sich einiges verändert», sagte er leise.

«Das weiß ich selbst, Mac. Schließlich bin ich es, die eine Hose mit Gummibündchen trägt.»

«Ich mache mir Sorgen.»

«Ist aber nicht nötig. Der Check von letzter Woche bestätigt: Mommy und Baby sind wohlauf.» Sie seufzte und ließ sich ein klein wenig erweichen. «Noch acht bis zwölf Wochen, Mac. Mehr nicht. Aber diese kleine Frist brauche ich noch. Danach bin ich kugelrund und gehorche dir aufs Wort, weil ich mir dann nicht einmal mehr die Schuhe allein anziehen kann.»

Sie gab ihm einen letzten Kuss und spürte, dass er ungehalten war.

Auf dem Weg zur Tür hörte sie ihn noch etwas sagen, etwas, das er ihr gegenüber nicht aussprechen würde, aber immer zwischen ihnen in der Luft hing.

Auch für ihren Vater hatte das Büro immer an erster Stelle gestanden. Und darüber war ihre Familie zerbrochen.

Kapitel 4

«Der erste Biss ist für gewöhnlich schmerzlos.»

Michael F. Potter: Brown Recluse Spider

Sandy Springs liegt im Großraum Atlanta, rund zwanzig Kilometer nördlich der City an der Interstate 285 und der Georgia State Route 400. Die Satellitenstadt brüstet sich mit vier Krankenhäusern, mehreren Unternehmen, die laut Fortune zu den Top 500 der USA zählen, und natürlich, wie schon der Name sagt, ein paar Süßwasserquellen. Sandy Springs will ein familienfreundlicher Wohnort sein, ist aber vor allem für sein Nachtleben bekannt, für seine Bars, die bis vier geöffnet haben, und «Massagesalons» mit einem ständigen Bedarf an neuem Personal. Ob jung, alt, männlich, weiblich, betrunken oder nüchtern – in Sandy Springs machen alle einen drauf.

Was die Bewohner zunehmend stört. Im Juni 2005 sprachen sie sich in einem Referendum mit überwältigender Mehrheit für die Einrichtung einer kommunalen Selbstverwaltung aus. Auf der Tagesordnung des neuen Stadtrats stand an erster Stelle die Gründung einer eigenen Polizei mit dem Auftrag, gegen weniger wünschenswerte Elemente hart durchzugreifen. Sandy Springs sprang auf den fahrenden Zug städtischer Erneuerung auf und konnte tatsächlich sehr bald mit einer Reihe sehr schicker neuer Restaurants aufwarten.

Bislang hatte Kimberly mit der hiesigen Polizei nichts zu tun gehabt. Sie glaubte, sie bestünde aus milchgesichtigen Rekruten und reaktivierten Veteranen der State Police. Ganz falsch lag sie nicht.

Der Junge, der sie in Empfang nahm, sah aus, als hätte er noch drei Jahre mit dem Rasieren Zeit. Der diensthabende Sergeant hingegen, ein Mittfünfziger mit schütteren Haaren und Plauze, hatte offenbar schon einiges durchgemacht. Er schüttelte ihr die Hand, deutete mit einer Kopfbewegung auf seinen Kollegen und gab ihr augenrollend zu verstehen, was er von dem Welpen hielt. Um Missverständnissen vorzubeugen, grinste er und zwinkerte ihr zu.

Weil Kimberly keine Miene verzog, ließ es Sergeant Trevor dabei bewenden.

«Wir haben die junge Frau kurz nach eins aufgegriffen», berichtete er. «Sie hielt an der MARTA-Station Ausschau nach Kunden …»

«Am Bahnhof?», platzte es aus ihr heraus. Sie hatte angenommen, das Mädchen sei bei einer Razzia in einem der Massagesalons festgenommen worden. Prostituierte waren in der Regel nur in Rotlichtvierteln anzutreffen, auf dem Fulton Industrial Boulevard zum Beispiel, und so etwas gab es im schicken Sandy Springs eigentlich nicht.

«Soll vorkommen», entgegnete Trevor. «Vor allem seit wir den einschlägigen Etablissements regelmäßig Besuch abstatten. Manche Mädchen glauben anscheinend, sie würden unter den anderen Gästen nicht auffallen, aber das tun sie allein schon deshalb, weil sie weniger Haut zeigen. Andere haben überhaupt keine Hemmungen, und es gibt auch solche, die für Frischfleisch sorgen, damit das Hühnerhaus immer gut bestückt ist, wenn Sie verstehen, was ich meine.»

Trevor warf sich in die Brust. Offenbar wollte er die Kollegin vom FBI beeindrucken. Vielleicht war er früher für einen Sicherheitsdienst tätig gewesen oder in irgendeiner Anstellung, in der er eine Uniform hatte tragen dürfen.

Der Junge war verschwunden. Wahrscheinlich hatte Trevor ihn weggeschickt, um sich selbst besser in Szene setzen zu können. Kimberly befingerte ihren Nasenrücken und wünschte sich zurück an den Absturzort.

Sie bat Trevor um den Bericht von der Festnahme. Er druckte ihn aus. Der Text war knapp gehalten und enthielt die wichtigsten Details. Zeit, Ort, Fragen zur Person. In der Tasche des Mädchens waren achtundzwanzig Gramm Crystal Meth sichergestellt worden, was für eine längere Haftzeit reichte. Verständlich, dass Delilah Rose behauptete, eine Informantin des FBI zu sein.

«Ich möchte mich mit ihr unterhalten», sagte Kimberly.

«Wegen der Drogen?», fragte Trevor. «Ja, quetschen Sie die Kleine aus. Wer ist ihr Dealer? Oder steckt ein Ring dahinter? Verdammt, dieses Meth-Zeug überschwemmt den ganzen Staat. Sorgen Sie dafür, dass sie singt. Und zwar richtig. Wir brauchen Ergebnisse.»

«Ich werd’s mir zu Herzen nehmen», erwiderte Kimberly trocken. «Wo ist sie?»

Trevor führte sie in ein Vernehmungszimmer. So wurden Spitzeldienste entlohnt: Statt in ihrer Zelle schmoren zu müssen, durfte Delilah in einem eigens dafür vorgesehenen Raum Audienz halten. Eine Diet-Coke hatte man ihr auch spendiert. Nicht schlecht als Gegenleistung für ein paar Auskünfte.

Kimberly blieb vor der Tür stehen. Hinter einer Spiegelglasscheibe sah sie «ihre Informantin» zum ersten Mal, musterte sie auf die Schnelle und ließ sich dabei selbst nicht das Geringste anmerken.

Delilah Rose war weiß, was Kimberly ein wenig überraschte, da in einem Staat wie Georgia die meisten Prostituierten afroamerikanischer Herkunft waren oder, wenn sie in Massagesalons arbeiteten, aus Asien kamen. Sie schien Anfang zwanzig zu sein, hatte stumpfe blonde Haare und die fleckige Haut einer Frau, die Raubbau mit sich trieb.

Sie hob den Kopf und warf einen ungeduldigen Blick auf den Einwegspiegel. Die Augen hellblau, aufeinandergepresste Lippen. Taff. Nüchtern.

Gut.

«Ich übernehme», sagte Kimberly zu Trevor. «Danke für Ihren Anruf.»

«Kein Problem. Sie halten uns doch auf dem Laufenden …»

«Danke für Ihren Anruf», wiederholte sie, zwängte sich an dem dicklichen Sergeanten vorbei und betrat das winzige Vernehmungszimmer.

 

Kimberly ließ sich Zeit. Schloss die Tür. Rückte einen Stuhl mit Plastikschale zurecht. Nahm darauf Platz.

Aus der Innentasche holte sie einen Minirecorder hervor. Dann einen kleinen Spiralblock und zwei Stifte. Übertrieben lange schaute sie auf die Armbanduhr und notierte die Zeit am oberen Rand des Blocks.

Anschließend legte sie den Stift hin, lehnte sich zurück, faltete die Hände über dem Bauch und starrte Delilah Rose ins Gesicht. Eine Minute verstrich, dann noch eine und eine weitere. Kimberly fragte sich, ob der Sergeant immer noch vor dem Einwegspiegel stand und zuschaute. Wenn ja, würde er mit Sicherheit allmählich ungeduldig werden.

Die junge Frau war gut, aber Kimberly war besser. Delilah gab vor ihr nach und griff nach ihrer Cola, musste jedoch feststellen, dass die Dose leer war. Nervös stellte sie sie auf den Tisch zurück.

«Wollen Sie noch eine?», fragte Kimberly ruhig.

«Nein, danke.»

Aha. Gute Manieren. Die meisten Verdachtspersonen, Informanten und Drogenabhängigen gaben sich redlich Mühe, gesittet zu erscheinen, vielleicht weil sie sich daran erinnerten, was ihnen als Kind versprochen worden war: «Wenn du das Zauberwort benutzt …» Ja, sie waren sehr höflich. Wenigstens zu Anfang.

Kimberly verlegte sich wieder aufs Schweigen. Delilah räusperte sich und drehte die Coladose mit den Fingerspitzen im Kreis.

«Wollen Sie mich nervös machen?», fragte sie schließlich, mürrisch und mit leichtem Vorwurf in der Stimme.

«Sind Sie high, Delilah Rose?»

«Nein!»

«Die Polizei hat Sie mit Meth erwischt.»

«Damit habe ich nichts zu tun. Ich habe diese Tüte nur für einen Freund aufbewahrt. Woher sollte ich wissen, was drin ist?»

«Trinken Sie?»

«Manchmal. Aber letzte Nacht keinen Tropfen.»

«Verstehe. Was haben Sie vergangene Nacht gemacht?»

«Was soll ich schon gemacht haben?» Die höfliche Fassade bröckelte. «Ich war in einem Club und habe ein bisschen getanzt. Danach wollte ich mit dem Zug zurück nach Hause. Ist doch wohl nicht verboten, oder?»

Delilahs Outfit hatte Kimberly nur flüchtig zur Kenntnis genommen. Unter einem dunkelblauen Jackett, das für die Jahreszeit viel zu dünn war, machte die junge Frau Werbung für Lycra. Sie trug einen kurzen, auberginefarbenen Rock in glänzender Metalloptik und ein pechschwarzes Spaghettiträgerhemdchen, so eng, dass sich die Brüste ins Freie zu zwängen versuchten. Und dann waren da noch die Pumps mit den Zehn-Zentimeter-Absätzen.

Bevor sie das hochgerutschte Hemd wieder herunterziehen konnte, bemerkte Kimberly ein Spinnennetz, das sich Delilah rund um den Bauchnabel hatte tätowieren lassen. Ein zweites Tattoo zeigte sich im Nacken: eine Spinne, die ihr nach oben ins Haar krabbelte.

«Wer hat das gemacht?», fragte Kimberly und zeigte auf den Hals.

«Weiß ich nicht mehr.»

«Hübsch. Auch das Netz auf Ihrem Bauch. Der Ring im Bauchnabel soll wohl die Spinne sein, stimmt’s? Clever.»

Die junge Frau reckte trotzig ihr Kinn und sagte nichts.

Kimberly ließ ihr eine Minute Zeit. Dann gab sie auf, räumte Minirecorder, Block und Stifte zusammen und stand auf.

«Was soll der Scheiß?», fragte Delilah.

«Wie bitte?», entgegnete Kimberly ruhig und steckte den Recorder in ihre Tasche.

«Wo wollen Sie hin? Sie haben mir doch noch gar keine Fragen gestellt. Was für eine sind Sie überhaupt?»

Kimberly zuckte mit den Achseln. «Sie haben ja angeblich nichts getan und behaupten, die Drogen gehörten Ihnen nicht. Schön. Sie sind sauber, und ich gehe jetzt wieder ins Bett.»

Kimberly griff nach einem der Stifte. Die junge Frau hielt sie am Handgelenk fest. Erstaunlich kräftig für ihre Statur und ihren Zustand. Kimberly wusste, woraus sich diese Kraft speiste: Verzweiflung.

Langsam richtete sie ihren Blick auf die viel zu hellen Augen der jungen Frau. «Ich kenne Sie nicht. Wir sind uns nie begegnet. Also sind Sie auch keine Informantin von mir. Von mir aus kann die hiesige Polizei mit Ihnen machen, was sie will. Und wenn Sie mich nicht sofort loslassen, setzt’s was.»

«Ich muss mit Ihnen reden.»

«Ich bin seit sechs Minuten hier. Sie haben noch nichts gesagt.»

«Ich will nicht, dass der Dicke da draußen zuhört.» Die junge Frau zog ihre Hand zurück und warf einen flüchtigen Blick auf den Einwegspiegel.

«Sergeant Trevor geht Sie nichts an, und mir haben Sie noch keinen Grund genannt, warum ich bleiben sollte.» Kimberly hatte jetzt den ersten Stift weggesteckt.

«Er bringt mich um.»

«Sergeant Trevor?»

«Nein, nein. Der Mann … ich weiß nicht, wie er heißt. Wie er in Wirklichkeit heißt. Nennen tut er sich Mr. Dinchara. Wir, die Mädchen, nennen ihn Spiderman.»

«Mr. Dinchara?»

«Na, wegen diesem Horrorfilm, Arachnid. Er hat die Reihenfolge der Buchstaben einfach nur umgedreht.»

«Oh, bitte», platzte es aus Kimberly heraus. Sie musterte wieder das Outfit der jungen Frau und kniff die Brauen zusammen.

«Er ist eben anders.»

«Ja, ja.» Kimberly schob ihren Stuhl an den Tisch zurück.