Blutnebel - Thomas Enger - E-Book

Blutnebel E-Book

Thomas Enger

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Beschreibung

Vor Jahren verschwand ein Mädchen. Erst die Erschütterung einer Bombe bringt ihre Spur wieder ans Tageslicht ... Ein neuer Fall für Blix & Ramm!

Nachdem eine Explosion den Osloer Hafen erschüttert hat, herrscht Terroralarm in Norwegen. Viele Menschen wurden getötet oder verletzt. Ein Opfer kommt knapp mit dem Leben davon: Ruth-Kristine Smeplass. Diese ist keine Unbekannte für Kriminalkommissar Alexander Blix, denn sie war die Mutter der zweijährigen Patricia, die vor zehn Jahren gekidnappt wurde. Blix ermittelte in diesem Fall, erfolglos. Als sich der Rauch in Oslo legt, ist die Zeit reif, sowohl das Mysterium der Vergangenheit als auch das der Gegenwart zu lösen. Zusammen mit der Journalistin Emma Ramm entdeckt Blix ein unverzeihliches Verbrechen.

Alle Bücher der Platz-1-Bestsellerserie aus Norwegen:
Blutzahl
Blutnebel
Bluttat
Blutnacht
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Buch

Nachdem eine Explosion den Osloer Hafen erschüttert hat, herrscht Terroralarm in Norwegen. Viele Menschen wurden getötet oder verletzt. Ein Opfer kommt knapp mit dem Leben davon: Ruth-Kristine Smeplass. Diese ist keine Unbekannte für Kriminalkommissar Alexander Blix, denn sie war die Mutter der zweijährigen Patricia, die vor zehn Jahren gekidnappt wurde. Blix ermittelte in diesem Fall, erfolglos. Als sich der Rauch in Oslo legt, ist die Zeit reif, sowohl das Mysterium der Vergangenheit als auch das der Gegenwart zu lösen. Zusammen mit der Journalistin Emma Ramm entdeckt Blix ein unverzeihliches Verbrechen.

Autoren

Thomas Enger, Jahrgang 1973, studierte Publizistik, Sport und Geschichte und arbeitete in einer Online-Redaktion. Nebenbei war er an verschiedenen Musicalproduktionen beteiligt. Sein Thrillerdebüt »Sterblich« war im deutschsprachigen Raum wie auch international ein sensationeller Erfolg, gefolgt von vier weiteren Fällen des Ermittlers Henning Juul. Er lebt zusammen mit seiner Frau und zwei Kindern in Oslo.

Jørn Lier Horst, geboren 1970, arbeitete lange in leitender Stellung bei der norwegischen Kriminalpolizei, bevor er Schriftsteller wurde. 2004 erschien sein Debüt; seither belegt er mit seiner Reihe um Kommissar William Wisting regelmäßig Platz 1 der norwegischen Bestsellerliste. Für seine Werke erhielt er zahlreiche renommierte Preise, zuletzt 2019 den Petrona Award für den besten skandinavischen Spannungsroman.

Die beiden Bestsellerautoren belegen mit ihrer Thrillerreihe über die Ermittler Alexander Blix und Emma Ramm regelmäßig die Spitze der norwegischen Bestsellerliste.

Alle Bände der Blix- und Ramm-Serie

Blutzahl

Blutnebel

Bluttat (in Vorbereitung)

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Thomas EngerJørn Lier Horst

BLUTNEBEL

Thriller

Deutsch von Maike Dörries und Günther Frauenlob

Die Originalausgabe erschien 2019 unter dem Titel »Røykteppe« bei Capitana, Oslo.

This translation has been published with the financial support of NORLA, Norwegian Literature Abroad

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.

Sollte diese Publikation Links auf Webseiten Dritter enthalten, so übernehmen wir für deren Inhalte keine Haftung, da wir uns diese nicht zu eigen machen, sondern lediglich auf deren Stand zum Zeitpunkt der Erstveröffentlichung verweisen.

Copyright der Originalausgabe © 2019 Jørn Lier Horst & Thomas Enger

Published by agreement with Salomonsson Agency.

Copyright der deutschsprachigen Ausgabe © 2020 by Blanvalet in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH, Neumarkter Str. 28, 81673 München

Redaktion: Ricarda Essrich

Umschlaggestaltung: www.buerosued.de

Umschlagmotiv: Sandro Fabris/Moment/Getty Images; www.buerosued.de

BL · Herstellung: sam

Satz: Buch-Werkstatt GmbH, Bad Aibling

ISBN 978-3-641-25410-0V002

www.blanvalet.de

PROLOG

Die Gittertür am Ende des Ganges schlug zu. Das Geräusch drang durch die Steinwände.

Christer Storm Isaksen sah von seinem Buch auf und lauschte.

Eilige kurze Schritte auf dem Linoleum.

Frankmann.

Nur er nahm die Mühe dieser Extrarunden auf sich, wenn etwas Spezielles anstand.

Vor der Zelle verstummten die Schritte. Schlüsselklirren, leises Klopfen an der Tür.

Isaksen legte das Buch weg.

»Ja?«

Der obere Riegel kratzte über Metall, als Frankmann die Tür öffnete. Er schien im Laufe der letzten Woche noch mehr abgenommen zu haben, seine Uniformjacke hing schlaff an dem mageren Oberkörper.

»Gutes neues Jahr«, begrüßte er Isaksen mit einem Nicken.

Er hielt einen Umschlag in der Hand.

»Gutes Neues«, erwiderte Isaksen.

Er wollte fragen, wie Weihnachten und Silvester gewesen waren, hielt sich aber zurück. Der Umschlag machte ihn neugierig.

»Post für Sie«, sagte Frankmann. »Ich dachte mir, dass Sie den bestimmt so schnell wie möglich haben wollen.«

Isaksen nahm den Brief entgegen.

Es standen weder Adresse noch Poststempel auf dem Umschlag, nur sein Name, runde, leicht geneigte, schwer zu entziffernde Buchstaben, als hätte jemand es eilig gehabt beim Schreiben.

»Der lag im Briefkasten an der Pforte«, erklärte Frankmann.

Isaksen betastete das Kuvert. Der Inhalt fühlte sich etwas steifer an als ein Brief, eine Postkarte vielleicht.

Er wischte mit dem Daumen über die Stelle, an der normalerweise die Briefmarke klebte, und drehte den Umschlag um. Kein Absender.

Er erinnerte sich nicht, wann er das letzte Mal einen handgeschriebenen Brief bekommen hatte. Seit dem Tod seiner Mutter war es auch mit den Weihnachtskarten vorbei gewesen.

Frankmann stand mit neugierigem Blick in der Zellentür.

»Das wäre normalerweise mit der übrigen Post überprüft worden«, sagte er wie eine Entschuldigung, dass er bleiben musste, bis Isaksen den Umschlag geöffnet hatte. »Aber der Köter ist erst am Freitag wieder da«, fügte er auf den Drogenhund verweisend hinzu.

Isaksen öffnete eine Ecke des Klebefalzes und riss die Lasche vorsichtig auf, bis er hineinsehen konnte.

Es war ein Foto.

Er zog es heraus und fühlte, wie seine Brust sich zusammenschnürte.

Das Mädchen auf dem Foto war acht, vielleicht neun Jahre alt. Sie trug einen blauen Kapuzenpulli, ihr langes braunes Haar war in einem hoch angesetzten Pferdeschwanz zusammengebunden. Sie saß hinter einem Schultisch, die Hände auf einem Buch. Dabei lächelte sie so breit in die Kamera, dass man ihre Zahnspange sah. Eine Handvoll Sommersprossen verteilte sich auf Nase und Wangen. Ihre Augen waren klar und blau wie seine.

»Das ist sie«, rutschte es ihm heraus.

Frankmann machte einen Schritt in die Zelle.

»Wer?«, fragte er.

Isaksen antwortete nicht.

Das ist sie, wiederholte er im Stillen.

Sie, die alle für tot gehalten haben.

20 Stunden zuvor

Die Stadt war von dem Feuerwerk beinahe taghell erleuchtet. Heulend schossen die Raketen in den Himmel und explodierten in farbenprächtigen Fächern. Die Knallerei variierte in Stärke und Intensität. In den letzten Minuten war sie aber immer lauter geworden.

Der dichte Nebel, der vom Fjord in Richtung Rathauskai trieb, schob frostige Temperaturen vor sich her. Die festlich gekleideten Leute knöpften ihre Jacken zu und wickelten sich fester in ihre Schals. Johlend und lachend, stützten sie sich gegenseitig, um auf dem Schneematsch nicht den Halt zu verlieren.

Emma Ramm hatte ihre dicke Winterjacke angezogen. Ihre Füße steckten in zwei Paar Wollsocken und dicken Gummistiefeln. Sie gehörte nicht zu denen, die mit gezücktem Handy an den Himmel starrten oder kurz vor Mitternacht hektisch versuchten, Freunde und Familie zu erreichen. Sie schlenderte über den Platz und suchte bei den Leuten nach Anzeichen, ob sie einfach zum Feiern dort waren oder aus einem anderen Grund, unsicher, wie sie das zweifelsfrei erkennen wollte.

Vor etwas über einer halben Stunde hatte sie Irenes Wohnung mitten in einem Streit mit Kasper verlassen, der sein traditionelles Silvesterfest mit Freunden in Amager abgesagt hatte, weil er das neue Jahr lieber im Bett an ihrer Seite beginnen wollte. Er hatte nicht verstanden, wieso sie um Mitternacht unbedingt auf dem Rathauskai sein wollte, wo sie sich doch noch nicht einmal für das Feuerwerk begeistern konnte.

»Darum«, hatte Emma knapp geantwortet. Kasper hatte über die trotzige, kindische Antwort gelacht und sich dann zu einem angesäuerten »Okay, aber dann musst du alleine los – ich hab keine Lust, jetzt noch mal in die Kälte rauszugehen« hinreißen lassen.

»Ich komme gerne mit«, hatte Martine begeistert gerufen. »Ich finde das Feuerwerk ganz toll. Darf ich, Tante Emma? Bitte?«

Emma hatte lächelnd den Kopf geschüttelt. Sie wollte ihrer Nichte nicht sagen, dass es für ein kleines Mädchen wie sie an diesem Ort gefährlich werden könnte. Für Erwachsene auch, was das betraf. Eine Menge Leute starteten das neue Jahr mit Feuerwerksverletzungen in der Notaufnahme.

Der eigentliche Grund, weshalb sie Martine nicht mitnehmen wollte, war aber ein ganz anderer.

Im Herbst war sie nicht unwesentlich an den Ermittlungen der Countdown-Morde beteiligt gewesen, wie die Medien den Fall nannten. Um Haaresbreite wäre sie selbst zu einer Ziffer in dem morbiden Spiel des Serienmörders geworden. Je näher nun das neue Jahr kam und der unvermeidbare Countdown der letzten Sekunden des scheidenden Jahres, desto stärker wuchs ihre Befürchtung, dass irgendein Irrer sich zu einer Kopie dieser Taten inspiriert haben lassen könnte.

Emma hatte ihrem Psychologen von der irrationalen Angst erzählt. Er verstand, woher die Angst rührte, sah aber keine Anhaltspunkte dafür, dass sich so etwas noch einmal wiederholen würde. Emma hatte sich von der Absurdität ihrer Spekulationen zu überzeugen versucht, aber der Gedanke hatte sich wieder und wieder in ihr Bewusstsein gedrängt. Sie hatte unablässig an das große Silvesterfeuerwerk denken müssen, das die Stadt jedes Jahr über dem Hafenbecken vor dem Rathauskai veranstaltete, wo um Mitternacht Tausende von Menschen versammelt waren. Ihr Psychologe hatte ihr geraten, genau an diesen Ort zu gehen und sich ihrer Angst zu stellen. Er meinte, sie würde gestärkt daraus hervorgehen, wenn sie sich mit eigenen Augen davon überzeugen könne, dass nichts passierte.

Eigentlich hatte sie nicht vorgehabt, diesem Rat zu folgen, aber im Laufe des Abends hatte sie eine klaustrophobische Panik überkommen, was Kasper sich für Mitternacht ausgedacht haben könnte. Sie rechnete nicht damit, dass er ihr auf Knien einen Heiratsantrag machte – schließlich kannten sie sich erst acht Monate. Aber mit einer Liebeserklärung musste sie rechnen. Emma war sich nach wie vor nicht sicher, was sie wirklich für ihn empfand. Sie wusste nur, dass sie gerne Zeit mit ihm verbrachte, solange jeder von ihnen in seiner Stadt wohnte und sie sich nicht zu oft sahen. Sie wollte einfach nur weiter ihr annähernd unkompliziertes Dasein als frischgebackene Kriminalreporterin bei news.no genießen, ohne sich zu sehr den Kopf über die Zukunft zu zerbrechen.

Sie zog ihr Handy aus der Tasche. Kasper hatte gerade erst versucht, sie anzurufen, aber sie konnte sich nicht aufraffen zurückzurufen. Es war 23.59 Uhr. Emma atmete tief ein und lauschte der Kakofonie aus verschiedenen Sprachen, Knallerei, Stimmen und Geschrei. Die ersten Feiernden lagen sich in den Armen oder stießen mit Sekt an. Emma konnte diesem Partyleben nichts abgewinnen, oder doch, vielleicht, sie liebte den kurzen Glücksrausch nach ein oder zwei Gläsern, bevor die Stimmung ins Gegenteil kippte.

Jemand begann von zehn abwärts zu zählen. Emmas Bauch zog sich zusammen, und sie begann, die Versicherung des Psychologen wie ein Mantra vor sich her zu sagen. Es wird nichts passieren. Noch ein paar Minuten, und sie war wieder zurück bei Irene, Kasper und Martine, von allen Sorgen befreit, bereit für das neue Jahr.

Fünf!

Vier!

Drei!

Zwei!

Eins! …

Plötzlich war der Platz in grelles Licht getaucht. Eine gewaltige Explosion brachte den Boden unter ihren Füßen zum Beben. Der Druck der Hitzewelle warf sie zu Boden. Gegenstände flogen durch die Luft. Sie versuchte, mit ihren Armen ihren Kopf zu schützen, rollte sich am Boden zusammen und versuchte, sich zu orientieren.

Unten am Anleger, vielleicht dreißig Meter vor ihr, fiel eine breite orangefarbene Säule gelbroter Flammen in sich zusammen. Es pfiff in ihren Ohren, trotzdem hörte sie die Schreie, sah die festlich gekleideten Menschen durcheinanderlaufen, sich beiseiteschubsen, während sie panisch nach Freunden, Liebsten, Kindern suchten – und nach einer Antwort, was da gerade passiert war.

Emma kam auf die Füße. Schwarze Ascheflocken und irgendwelche Fragmente rieselten vom Himmel. Ein Mann taumelte auf sie zu. Sein Arm brannte. Er schlug hektisch und schreiend auf die Flammen ein, ehe es ihm endlich gelang, die Jacke auszuziehen.

Die innere Unruhe der letzten Wochen hatte leise in ihr rumort, immer wieder bekämpft von dem rationalen Teil von ihr, der diese Ängste als absurde, abwegige Vorahnung abzutun versucht hatte.

Jetzt war es keine abwegige Vorahnung mehr. Keine unbegründete Angst.

Das hier war real.

Und um sie herum knallten noch immer Raketen.

Alexander Blix schob sich durch die Menge panisch aufgescheuchter Menschen, sprang mit einem Satz über ein verschneites Blumenbeet und rutschte auf dem Eis aus, konnte sich aber gerade noch fangen. Sofia Kovic war direkt hinter ihm. Über Funk alarmierte sie die Notrufzentrale über eine Explosion am Rathauskai.

Ein Mann mit einer schwarz versengten offenen Wunde im Gesicht irrte mit einer Sektflasche in der Hand hin und her. Eine Frau, der etwas aus dem Oberschenkel ragte, stolperte auf sie zu.

Blix lief weiter. Blutüberströmte Menschen lagen vor Schmerzen wimmernd auf dem Boden. Andere hockten benommen in zerrissenen Kleidern da. Ein dunkelgrauer Rauchteppich senkte sich über sie.

Blix blieb stehen, unentschlossen, wo er anfangen sollte.

Dicht an der Hafenmauer lagen vier reglose Körper. Er lief dorthin und kniete sich neben eine junge Frau mit blonden Haaren. Ein Splitter war in ihr linkes Auge gedrungen. Seine Finger tasteten ihren Hals ab, aber er konnte keinen Puls fühlen. Die Frau neben ihr hatte Verletzungen im Brust- und Bauchbereich, sie lag mit offenem Mund und aufgerissenen Augen da. Auch sie hatte keinen Puls.

Kovic beugte sich über einen Mann in einem grauen Mantel, sah zu Blix und schüttelte den Kopf, als ihre Blicke sich begegneten.

Über einem Ankerpoller an der Stegkante hing ein halb verkohlter Mensch. Ein Mann, wie es aussah. Die Verletzungen waren schlimmer als bei den anderen. Das halbe Gesicht und große Teile des Oberkörpers waren zerfetzt, nach einem Puls würden sie hier vergeblich suchen.

Vier Tote.

Die Explosion hatte einen tiefen Krater in den Asphalt gerissen. An mehreren Stellen brannten und schwelten Sprengreste. Über Funk wurde von einer Bombe gesprochen und die Order ausgegeben, in Terrorbereitschaft zu gehen.

Terror, dachte Blix. Verdammt.

Er drehte sich um, als er direkt neben sich ein Rufen hörte. Zwei festlich gekleidete Männer zeigten auf einen mit ausgebreiteten Armen und dem Gesicht nach unten im schwarzen Wasser treibenden Menschen.

Blix riss sich den Ohrstöpsel heraus, schälte sich aus der Jacke, schnallte den Ausrüstungsgürtel ab und machte einen Schritt auf die Kaikante zu, ehe er sprang. Er verschwendete keinen Gedanken daran, wie kalt das Wasser war, aber als er die Oberfläche durchbrach, hatte er das Gefühl, in ein Eisbecken zu tauchen. Die Gesichtsmuskeln froren ein. Ein harter, kalter Ring legte sich um seinen Kopf. Das Hemd saugte sich augenblicklich mit Wasser voll, die Hose, die Stiefel. Seine Brust schnürte sich zusammen. Sosehr er sich auch anstrengte, Arme und Beine wollten ihm nicht gehorchen.

Der Auftrieb brachte ihn wieder nach oben, aber als sein Kopf die Oberfläche durchbrach, war er nicht in der Lage zu atmen, so sehr hatten seine Muskeln sich verkrampft.

Oben auf der Hafenmauer hörte er jemanden rufen:

»Zehn Meter, schräg links.« Kovic. »Pass auf!«

Blix holte Luft und versuchte zu schwimmen, aber die nassen Sachen waren furchtbar schwer und klebten an der Haut. Das kalte Wasser machte seine Bewegungen träge und ineffektiv, er hatte das Gefühl, überhaupt nicht voranzukommen. Zugleich zogen ihn die schweren Stiefel nach unten.

»Noch fünf Meter! Direkt links vor dir.«

Blix machte ein paar große Züge und streckte die Hände aus, versuchte, mit den gefühllosen Fingern zuzugreifen. Kleider, eine eiskalte, leblose Hand, Blix bekam die auf dem Wasser treibende Person zu fassen. Er versuchte, den Körper umzudrehen, was ihm nur halbwegs gelang, ehe er aus seinem Griff rutschte. Die Anstrengung drückte ihn wieder unter Wasser. Er schluckte Wasser, hustete, spuckte – konnte nur abwarten, bis seine Muskeln nicht mehr protestierten, um sich wieder darauf zu konzentrieren, den leblosen Körper ganz umzudrehen.

Es war eine Frau.

Dunkle lange Haarsträhnen verdeckten das Gesicht und die stark verbrannte Haut. Blix packte sie unter der Achsel und zog sie hinter sich her ans Ufer.

»Hier drüben!«, rief Kovic. Er drehte sich um und entdeckte die Kollegin, die mit einem Fuß auf einer Stegleiter stand, um sie in Empfang zu nehmen. Mit jedem Schwimmzug verkrampften seine Muskeln mehr. Prustend und keuchend versuchte er, den Kopf der Frau über Wasser zu halten. Kovic kam ihm noch eine Leitersprosse entgegen.

Bevor ihn seine Kräfte endgültig verließen, bekam er eine Leitersprosse zu fassen und zog sich und die Frau näher an die Mauer heran. Sein rechter Fuß fand Halt. In einem letzten Kraftakt hievte er den schlaffen Körper so weit nach oben, dass Kovic den Jackenkragen zu fassen bekam. Hinter Kovic tauchte Verstärkung auf. Als Blix die Frau loslassen konnte, blieb er ein paar Sekunden nach Luft schnappend an der Stahlleiter hängen.

»Brauchst du Hilfe?«, hörte er Kovic rufen.

Blix hustete, schüttelte den Kopf und versuchte, sich hochzuziehen. Seine Beine gaben unter ihm nach, die Arme waren steif und durchgefroren. Kovic stemmte sich wieder mit einem Fuß auf der Leiter ab und umfasste mit beiden Händen einen seiner Unterarme. Jemand kam, um ihr zu helfen. Gemeinsam zogen sie Blix nach oben.

Es waren bereits Rettungssanitäter da, die sich um die leblose Frau kümmerten. Blix stand vornübergebeugt da, die Hände auf die Knie gestützt. Das Wasser rann an ihm herunter. Für so etwas war er nicht ausgebildet. Ganz und gar nicht. Normalerweise saß er hinter einem Schreibtisch. Oder er untersuchte Tatorte und befragte mögliche Zeugen. Sein letzter operativer Einsatz lag beinahe zwanzig Jahre zurück. Er hatte sich nur für den Silvesterdienst gemeldet, damit die Kollegen mit Kindern mit ihren Familien feiern konnten.

Er schnaufte, richtete sich halb auf und sah, dass er aus einem Schnitt an der Hand blutete.

Sirenen vermischten sich mit dem Knallen der Neujahrsraketen. Kovic kam mit einer Wolldecke und legte sie ihm um die Schultern. Neben ihr stand eine Frau, die Blix erst gar nicht richtig wahrnahm. Als er sie erkannte, versuchte er es mit einem Lächeln.

»Hallo, Emma«, sagte er.

Der Bereich um die Hafenmauer glich einem Schlachtfeld. Überall war Blut. Verletzte Menschen hielten sich weinend in den Armen. Hier und da brannten noch Reste der Explosion. Emma versuchte, nicht zu den Toten zu schauen.

Das neue Jahr war gerade erst ein paar Minuten alt. Überall war Lärm – Sirenen, Böller, ein hupendes Auto, die Bässe weit entfernter Musik. Oslo im Ausnahmezustand, dachte Emma, schon wieder. Siebeneinhalb Jahre, nachdem im Regierungsviertel eine Autobombe detoniert war und acht Menschen getötet hatte. Emma hatte schon immer gedacht, dass die Hauptstadt der feierfreudigen Norweger ein willkommenes Ziel für Terrorangriffe war. Auf den öffentlichen Plätzen war ständig etwas los, nicht nur am Nationalfeiertag am 17. Mai oder an Silvester.

Die Frau, die Blix aus dem Wasser gerettet hatte, lag auf einer Trage. Die Sanitäter versuchten, die in die Gesichtshaut eingebrannten Haare zu entfernen, um das Sauerstoffgerät aufsetzen zu können. Vor ihr kniete ein Mann und machte Herzmassage. Sollte sie das überleben, wäre sie für den Rest ihres Lebens von diesem Ereignis gezeichnet. Wie sie selbst, dachte Emma, die durch eine seltene Krankheit alle Haare verloren hatte. Sie konnte diesen Makel durch verschiedene Perücken vor der Welt verbergen. Mit Brandnarben im Gesicht ging das nicht.

Um sie herum erledigten Polizeibeamte Routineaufgaben. Der Explosionsherd wurde weiträumig abgesperrt.

Emmas Handy klingelte. Auf dem Display stand Anita Grønvold, news.no.

»Wo bist du?«

Emma hörte, dass ihre Chefin getrunken hatte und sich irgendwo befand, wo gefeiert wurde.

»Am Rathauskai«, antwortete Emma. »Ich wollte mir das Feuerwerk ansehen«, fügte sie hinzu.

Sie erzählte von den Toten und Verletzten, die sie gesehen hatte, und von der aus dem Wasser geretteten Frau.

»Hast du Fotos gemacht?«

»Noch nicht.«

»Wir brauchen Bilder«, sagte Anita. »Du musst nicht viel schreiben, aber Fotos brauchen wir. Fang mit der Terrorperspektive an. Opfer- und Verletztenzahlen. Ich schicke Henrik Wollan und noch ein paar andere zur Unterstützung, egal, wie voll die sind.«

»Ich vermute einen Zusammenhang mit dem Countdown«, sagte Emma.

Anita verstand nicht, was sie damit meinte.

»Die Wahl des Zeitpunktes«, erklärte Emma. »Schlag Mitternacht. Ein Countdown, der auf Mitternacht und das neue Jahr runterzählt.«

»Du meinst, dass das kein Zufall ist?«

»Nein.«

»Selbst, wenn es … ein Trittbrettfahrer war, wird dir das heute Nacht niemand mehr bestätigen. Konzentrier dich für den Anfang auf Fotos und den Schadensumfang.«

Emma seufzte innerlich.

»Okay.«

»Und morgen schreibst du dann was über Blix und die Frau im Wasser. Finde raus, wer sie ist und wie es ihr geht.«

Emma beendete das Gespräch und machte mit dem Handy Bilder von der Rettungsmannschaft, dem Absperrband, den Opfern, über die das Blaulicht hinwegflackerte, und den bewaffneten Polizisten. Sie überlegte kurz, ob sie Kasper und Irene anrufen sollte, um ihnen zu sagen, dass sie unversehrt war, begnügte sich aber mit einer kurzen Textnachricht an ihre Schwester mit der Bitte, die Nachricht weiterzuleiten.

Dann ging sie zu Blix zurück. Er saß in eine Wolldecke gewickelt in der offenen Tür eines Einsatzwagens. Von seinem Kopf dampfte es.

Vor neunzehn Jahren hatte Blix ihr beim Teisen-Drama, wie die Medien es nannten, das Leben gerettet und in letzter Sekunde ihren Vater erschossen, ehe der nach ihrer Mutter auch noch sie erschießen konnte.

Emma wusste nichts über Blix’ Rolle, bis die Umstände sie bei den Ermittlungen zu den Countdown-Morden zusammengeführt hatten. Seitdem hielt er seine Hand schützend über sie und spielte ihr hin und wieder Informationen zu, die er mit keinem anderen Journalisten teilte. Aber das war nicht der eigentliche Grund für ihre Wertschätzung. Sie hatte das Gefühl, dass er sie mochte. In ihren Gesprächen mit dem Psychologen war sie zu dem Ergebnis gekommen, dass sie in ihm eine Vaterfigur sah.

Emma trat näher zu ihm. Blix hatte blaue Lippen und war kreidebleich im Gesicht. Eine Hand war verbunden, der Verband war blutig. Sie machte ein Foto von ihm, ohne dass er es merkte, und ging weiter. Irene antwortete, aber Emma klickte die Push-Nachricht weg, die konnte sie auch noch später lesen. Kasper hatte weder geschrieben noch angerufen, um zu fragen, wie es ihr ging.

Jetzt, da nicht mehr so viele Menschen in dem Explosionsbereich herumliefen, war das Ausmaß der Zerstörung besser zu erkennen. Ihr Blick wurde von dem schwarzen Krater im Boden von gut einem Meter Durchmesser angezogen, sie hielt ihn mit dem Handy fest. Zoomte eins der auf dem Rücken liegenden Opfer heran. Der Kragen seines grauen Mantels war hochgeklappt, verkohlt und blutfleckig. Er trug eine schwarze Hose und Handschuhe. Die schwarzen Lederschuhe sahen aus … Sie sahen aus wie …

Emma ging um den Körper herum. Hörte eine Stimme hinter sich ihren Namen rufen, drehte sich aber nicht um. Sie hatte nur Augen für den Mann auf dem Boden, aber ihr Gehirn weigerte sich zu akzeptieren, was sie sah. Das war nicht Kasper. Das konnte nicht Kasper sein. Das war unmöglich.

»Sie können hier nicht bleiben«, sagte die Stimme, die gerade ihren Namen gerufen hatte. »Sie müssen den Sperrbereich verlassen, Emma, wie alle anderen auch.«

Emma hörte nicht zu, starrte wie paralysiert auf den Mann, der mit leeren Augen in den Himmel starrte. Zu den Raketen und Sternen. Der Boden um ihn herum war blutgetränkt. Er hatte eine offene Wunde im Bauch.

Nein, flehte Emma stumm. Das kann nicht …

Sie schnappte kopfschüttelnd nach Luft. Spürte eine Hand am Arm, bekam aber nicht mit, wer sie wegzuziehen versuchte. Sie sah nur die schwarzen Locken vor dem weißen Schnee. Die Bartstoppeln. Die unbewegten toten Augen.

Blix hatte geglaubt zu wissen, was Frieren ist. Als Jugendlicher hatte er eine Zeit lang jeden Morgen im Meer gebadet, und das zu jeder Jahreszeit. Damals hatte er noch auf Bygdøy gewohnt, mit kurzen Entfernungen nach Huk oder in die Paradiesbucht. Manchmal war Gard Fosse, sein heutiger Chef, mitgekommen. Schreiend und prustend waren sie ins Wasser gerannt, um sechs Sekunden später zurück an Land zu stürmen zu ihren trockenen Handtüchern und warmen Kleidern und in der kalten Jahreszeit einer Thermoskanne Kaffee.

Wegen der Sperrungen und dem Chaos im Osloer Stadtzentrum hatte die Fahrt ins Polizeipräsidium lange gedauert. In den Umkleideräumen herrschte hektische Aktivität. Einberufene Sondereinheiten bereiteten sich auf ihren Einsatz vor. Waffen wurden geladen, und überall krächzten Funkgeräte.

Blix hatte sich aus den nassen Kleidern geschält, die Tür zum Duschraum geschlossen und sich so lange unter den heißen Strahl gestellt, bis er sicher war, wieder aufgetaut zu sein.

Der Schnitt an der Hand war nicht weiter schlimm, die Wunde musste nicht genäht werden. Trotzdem hatte er beschlossen, im Präsidium zu bleiben.

Kovic war am Rathauskai geblieben. Er rief sie an und fragte sie nach der aktuellen Lage.

»Wir sind noch dabei, Zeugen zu suchen«, antwortete sie. »Keiner von denen, die ich gesprochen habe, war nüchtern, und niemand hat irgendetwas Außergewöhnliches bemerkt. Bleibt nur zu hoffen, dass die Bilder der Überwachungskameras aufschlussreicher sind.«

Blix nickte vor sich hin. Die Kamerabilder logen nicht, auch äußere Umstände spielten für sie keine Rolle. Und die Stadt war voll von ihnen.

»Es muss doch Handyfotos geben … und Filme«, sagte er und ließ sich hinter dem Schreibtisch auf seinen Stuhl fallen. »Wir müssen die Leute auffordern, uns ihre Bilder zu schicken.«

»Ein paar Aufnahmen konnten wir schon sichern«, sagte Kovic. »Aber wenn wir nicht wissen, wonach wir suchen, wird das ein Haufen Arbeit.«

»Wissen wir schon mehr über die Explosion?«, fragte Blix.

Es rauschte in der Verbindung.

»Die Bombe war in einer Mülltonne deponiert«, antwortete Kovic.

Blix hatte seinen Rechner hochgefahren und öffnete die Online-Seite der Zeitung VG Nett, Bilder vom Rathauskai ergänzt durch Zeugenaussagen.

Überall war Blut. Angst. War das ein Terroranschlag?

»Die Kollegen vom Bombenteam gehen von einer Sprengkraft von 70 Millibar aus«, sprach Kovic weiter.

»Ist das viel oder wenig?«

»Nicht genug, um Fenster zu sprengen oder sonstige Schäden an umliegenden Gebäuden zu verursachen«, erklärte Kovic. »Aber genug, um Menschen im näheren Umkreis lebensgefährlich zu verletzen.«

»Verstehe«, antwortete Blix.

»Da ist noch etwas, das du wissen solltest«, fuhr Kovic fort.

»Und das wäre?«

Kovic zögerte mit der Antwort.

»Keines der Opfer wurde bisher offiziell identifiziert, aber Emmas Freund ist einer von den Toten.«

Blix nahm den Hörer ans andere Ohr.

»Sie war hinter der Absperrung«, fuhr Kovic fort. »Ich war bei ihr, als sie ihn entdeckt hat. Kasper Bjerringbo. Ein dänischer Journalist.«

»Ich weiß, wer ihr Freund ist«, antwortete Blix und schluckte. »Ein netter Kerl.«

»Laut Emma hätte er gar nicht da sein sollen.«

Blix sah Emma vor sich.

»Wie geht es ihr?«, fragte er.

»Was soll ich sagen … Ich schätze mal, sie steht unter Schock. Sie hat einfach nur dagestanden. Nicht geweint, gar nichts. Ich hab es nicht übers Herz gebracht, sie wegzuschicken, als die Rettungsleute kamen, um sich um ihn zu kümmern.«

Blix spürte das starke Bedürfnis, Emma zu sehen. Mit ihr zu reden. Nicht, weil er so viel Vernünftiges zu sagen gehabt hätte, einfach nur, um da zu sein.

»Kümmert sich jemand um sie?«, fragte er.

»Ja, ich glaube schon.«

»Kannst du das abchecken?«, bat Blix sie.

»Mach ich.«

Sie schwiegen beide.

Ein Beamter ging hinter ihm vorbei. Blix richtete sich etwas auf und räusperte sich.

»Was ist mit der Frau, die wir aus dem Wasser geholt haben?«

»Ich habe vor zehn Minuten mit dem Krankenhaus telefoniert«, sagte Kovic und seufzte. »Die können noch nichts sagen.«

»Haben wir ihre Personalien?«

»Haben wir, einen Moment.«

Blix hörte Kovic in einem Notizbuch oder was auch immer blättern.

»Sie haben eine Bankkarte in einer Jackentasche gefunden … Ruth-Kristine Smeplass.«

Blix’ Kinn klappte herunter.

»Sag das noch mal«, sagte er.

Kovic wiederholte den Namen. Blix strich sich mit einer Hand über den Kopf.

»Was ist los?«, fragte Kovic. »Kennst du sie?«

»Du nicht?«

»Äh, nein?«

Blix dachte an die langen Locken. Den aggressiven Blick. All die Stunden, in denen er in ihren zornigen Augen nach der Wahrheit gesucht hatte.

»Ruth-Kristine Smeplass ist die Mutter von Patricia«, sagte er. »Vermisst und 2009 für tot erklärt.«

»Shit«, sagte Kovic.

Patricias Verschwinden war einer der Fälle, in denen Blix im Laufe seiner Karriere ermittelt hatte. Immer wieder war er zu dem Fall zurückgekehrt und hatte nach Informationen gesucht, die er möglicherweise übersehen hatte.

Erst Kasper, und nun noch Ruth-Kristine.

Zwei Personen, die er kannte, beide von der gleichen Bombe getroffen.

Das war so unwirklich.

Im Hintergrund hörte er Sirenen.

»Kommst du bald rein?«, fragte er.

»Ich bin nicht sicher«, antwortete Kovic. »Hier ist noch viel zu tun.«

»Okay«, sagte Blix. »Erkundige dich nach Emma und gib mir Bescheid. Wir sehen uns dann.«

Das neue Jahr war drei Stunden und sechs Minuten alt, als Gard Fosse in schwarzem Anzug und mit am Hals aufgeknöpftem weißen Hemd aus seinem Büro kam.

»Großer Konferenzraum«, sagte er und zeigte an die Decke.

Kovic war gerade angekommen.

»Ich müsste erst mal was essen«, murmelte sie und warf Notizblock und Kugelschreiber auf den Tisch.

Blix schob den Stuhl vom Schreibtisch weg. Er hatte mehrfach versucht, Emma anzurufen, und ihr diverse Nachrichten geschrieben, aber noch keine Antwort erhalten.

Sie folgten Fosse in die obere Etage. Die Plätze an dem großen Tisch füllten sich schnell. Die Einsatzleiter des SEK und der Chef des Inlandsnachrichtendienstes PST waren anwesend, mit ihnen die Chefs diverser anderer Abteilungen. Darüber hinaus war noch eine Handvoll leitende Beamte vom Kriminalamt da, die Blix kannte, sowie ein paar fremde Gesichter. Viele der Anwesenden waren noch immer festlich gekleidet, und nicht wenige hatten sichtlich Schwierigkeiten, sich zu konzentrieren.

Blix und Kovic setzten sich. Eine Tür am anderen Ende des Raumes ging auf, und der Polizeipräsident betrat den Raum, begleitet von seinem PR-Chef und einem Mann im Smokinghemd mit hochgekrempelten Ärmeln.

»Willkommen«, sagte der Polizeipräsident und setzte sich. »Legen wir los.«

Mit einem Nicken übergab er das Wort an den Mann im Smokinghemd.

»Mein Name ist Raymond Rafto«, stellte er sich vor. »Ich bin Ermittlungschef beim Polizeilichen Geheimdienst. Ich bin der verantwortliche Leiter in diesem Fall.«

Er sah in die Runde.

»Um Mitternacht ist auf dem Rathauskai eine in einem Abfallbehälter deponierte Sprengladung detoniert. Zum momentanen Zeitpunkt haben wir vier Tote zu verzeichnen, zwei Männer und zwei Frauen, eine weitere Frau schwebt noch in Lebensgefahr. Des Weiteren gibt es zwölf Schwerverletzte und siebzehn weitere Personen mit leichteren Verletzungen. Bisher wurde noch keines der Todesopfer offiziell identifiziert. Es deutet aber alles darauf hin, dass es sich bei den Toten und Verletzten um zufällige Opfer handelt.«

Blix hätte Rafto gerne unterbrochen, um ihm zu sagen, was er über Kasper und Ruth-Kristine wusste, ließ es aber bleiben.

»Bisher hat noch niemand die Verantwortung für die Bombe übernommen. Uns liegen auch keine konkreten Informationen über die Zeit unmittelbar vor der Explosion vor. Über die Weihnachtsfeiertage gab es Aktivitäten bei einigen observierten Objekten, das wird noch näher untersucht. Wir arbeiten eng mit den kooperierenden Geheimdiensten im Ausland zusammen, aber es gibt keine konkreten Hinweise auf eine terroristische Bedrohung. Trotzdem schließen wir einen Terroranschlag nicht aus und ziehen die Möglichkeit weiterer Ereignisse in Betracht. Nicht selten folgt einem Anschlag ein zweiter. Vor diesem Hintergrund wurde die allgemeine Bedrohungsstufe angehoben. Auf ein mittleres Niveau.«

Er schob ein Papier zur Seite und wandte sich an Fred Malmberg, den Leiter der operativen Einheit.

»Wie sieht die aktuelle Lage vor Ort aus?«, fragte er.

»Der Bereich am Rathauskai ist abgesichert«, informierte Malmberg die Anwesenden. »Alle Verletzten wurden in Krankenhäuser gebracht. Es sind Rechtsmediziner vor Ort, die die Todesopfer untersuchen, ehe sie zur Obduktion in die Rechtsmedizin gebracht werden. Techniker und Spezialisten vom Bombenteam sind jetzt auch dort. Wir haben Personal an zentralen Verkehrsknotenpunkten in der Stadt eingesetzt, um für Ruhe zu sorgen und die Gegend zu observieren, und wir bekommen Unterstützung von den Streitkräften bei der Bombensuche.«

Der Ermittlungschef vom PST schaute ans andere Tischende.

»Ermittlungsstatus?«

Der Chef der Kriminalpolizei richtete sich auf.

»Diejenigen, die nur leicht verletzt waren, wurden verhört«, sagte er, »ohne dass etwas herausgekommen wäre. Viele waren nicht unmittelbar von der Explosion betroffen, zumindest physisch nicht, aber von denen, die zum Zeitpunkt der Detonation auf dem Rathauskai waren, haben wir keine verwertbaren Informationen bekommen.« Er räusperte sich und fasste weiter zusammen. »Es gibt mehrere gemeldete Beobachtungen von Männern mit vermeintlich muslimischem Hintergrund, die bislang wohl vorrangig auf Vorurteilen basieren und nicht auf konkret verdächtigem Handeln. Teile des Bereichs werden von unseren eigenen Kameras überwacht. Wir haben mit der Durchsicht des vorliegenden Materials und weiterer Aufnahmen begonnen. Im Laufe des Vormittags rechne ich auch mit dem Ergebnis, welche Art von Sprengstoff verwendet wurde.«

»Was ist mit Form und Zündmechanismus?«, fragte Rafto.

»Auch das sollten wir im Laufe der nächsten Stunden erfahren. Ein paar Komponenten konnten gesichert und eingesammelt werden, Taucher suchen im Wasser nach mehr Fragmenten, da der Abfalleimer am Rand der Hafenmauer stand.«

Rafto schaute auf die Uhr.

»Ich habe in einer halben Stunde einen Termin beim Justizminister, um ihn auf den aktuellen Stand zu bringen«, sagte er und ließ den Blick in die Runde schweifen. »Hat noch irgendjemand was?«

Der Verantwortliche für Organisierte Kriminalität ergriff das Wort.

»Bei uns gab es einen eskalierenden Banden-Streit«, sagte er. »Wir wissen, dass die Balkan Brothers Silvester in einem Lokal in der Rådhusgata gefeiert haben, etwa dreihundert Meter von der Explosionsstelle entfernt.«

»Das ist eine Detailinformation«, unterbrach Rafto ihn. »Regeln Sie das auf Abteilungsebene.«

Er schob seine Unterlagen zusammen.

»Die Ermittlungen werden aus unseren Räumlichkeiten in Nydalen geleitet, aber die Aufgaben werden an alle Dezernate verteilt. Wenn ich die Leiter der jeweiligen Polizei- und Sicherheitseinheiten bitten dürfte, noch zu bleiben. Die Übrigen können gehen.«

Der Großteil der Anwesenden erhob sich. Blix schob sich an Fosses Seite.

»Das Opfer, das noch in Lebensgefahr schwebt, ist identifiziert«, sagte er.

»Schreib einen Bericht«, antwortete Fosse.

»Es ist Ruth-Kristine Smeplass«, fuhr Blix fort. Fosse sah ihn von der Seite an. »Patricias Mutter«, schob Blix hinterher.

»Manchen wird wirklich besonders übel mitgespielt«, seufzte Fosse. »Wird sie überleben?«

»Wissen wir noch nicht«, antwortete Blix. »Aber wir sollten das genauer unter die Lupe nehmen.«

Sie waren an der Treppe angekommen.

»Wie meinst du das?«, fragte Fosse. »Glaubst du, die Bombe hat irgendwas mit Patricia zu tun?«

Blix konnte das seltsame Gefühl, das in ihm rumorte, nicht konkret begründen, aber das war schon immer so gewesen. Er fing mit Dingen an, die auffällig waren, und hangelte sich von dort aus über alle möglichen Unebenheiten weiter.

»Die Bombe sollte keinen möglichst großen Schaden anrichten«, sagte er.

Kovic hatte sie eingeholt.

»Abgesehen von den Menschen in ihrer unmittelbaren Nähe, sollte niemand verletzt werden«, fügte sie hinzu. »Der größte Teil der Druckwelle ist aufs Wasser rausgegangen. Die Bombe hätte an einer anderen Stelle des Rathausplatzes oder auf der Karl Johans gate viel größeren Schaden angerichtet.«

Fosse stieß ein missbilligendes Grunzen aus.

»Als ob der Schaden nicht so schon groß genug wäre«, kommentierte er. »Wir können froh sein, dass nicht noch mehr Menschen getötet wurden.«

»Es könnte ein gezielter Anschlag gewesen sein«, sagte Blix.

»Und wer soll das Ziel gewesen sein?«, fragte Fosse. »Ruth-Kristine Smeplass? Als ich das letzte Mal von ihr gehört habe, war sie das reinste Drogenwrack. Weder sie noch einer der anderen Getöteten waren Menschen von Bedeutung.«

Blix sah Fosse erschüttert an.

»Sie haben jemandem was bedeutet«, sagte er.

»Du weißt schon, wie ich das meine«, sagte Fosse. »Sie alle waren zufällige Opfer. Beim Terror geht es doch immer nur darum, Angst zu schüren.«

»Einer der Getöteten war ein dänischer Journalist«, sagte Blix. »Kasper Bjerringbo.«

Sie hatten den Flur der sechsten Etage erreicht. Fosse sah Blix von der Seite an.

»Woher weißt du das?«, fragte er.

»Er ist Emma Ramms Freund«, erklärte Blix. »Sie waren beide dort.«

Gard Fosses Lippen wurden schmal. Ihm gefiel Blix’ enges Verhältnis zu der jungen Journalistin gar nicht. Fosse war vor neunzehn Jahren mit Blix zusammen Streife gefahren, als Emmas Vater sich mit einer Waffe in der Wohnung der Familie verschanzt hatte. Blix war hineingegangen, während Fosse draußen auf Verstärkung gewartet hatte.

»Verstehe«, sagte er. »Aber das ändert nichts an der Sachlage. Er ist ein zufälliges Opfer.«

Blix war noch nicht fertig.

»Das sollten wir meiner Meinung nach genauer überprüfen«, sagte er.

»Wie meinst du das?«

»Es könnte durchaus sein, dass wir es mit etwas anderem als einem Terroranschlag zu tun haben.«

Fosse blieb noch einmal stehen und sah zwischen Blix und Kovic hin und her.

»Unsere Abteilung wird dafür eingeteilt werden, eingehende Hinweise zu bearbeiten«, sagte Fosse. »Dieses Mal bist du eines von vielen Zahnrädern in einem größeren Getriebe, Blix. Du kannst nicht einfach machen, was du gerade für richtig hältst. Was diesen Fall angeht, musst du ausnahmsweise mal ein Teamplayer sein und tun, was man dir sagt.«

Blix wartete, bis Fosse in seinem Büro verschwunden war, ehe er sich zu Kovic umdrehte.

»Ich geh runter ins Archiv.«

Er drückte den Fahrstuhlknopf.

»Und was willst du da?«

»Die Akte Patricia holen.«

Auf dem Weg mit dem Fahrstuhl nach unten dachte Blix an die ersten Wochen und Monate nach Patricias Verschwinden. An die intensive Fahndung, den engen Kontakt zum Kindsvater und die Verzweiflung, die bald auf ihn selbst übergesprungen war, weil das ohne Weiteres auch seiner eigenen Tochter, Iselin, hätte passieren können.

Im Keller trat er aus dem Aufzug. Er war nur selten im Archiv, aber das Leitsystem erklärte übersichtlich, wo die eingestellten Fälle abgelegt waren. Der Fall »Patricia« umfasste neun Mappen, die in einem Pappkarton gelagert wurden. Staub wirbelte auf, als er ihn vom Regalbrett zog.

Kovic aß einen kalten Tortilla-Wrap, als er wieder zurückkam.

»Das wird eine lange Nacht, wenn wir das alles durcharbeiten wollen«, kommentierte sie und schluckte.

Blix stellte den Karton ab.

»Bei den meisten Akten handelt es sich um Sackgassen«, sagte er. »Dokumentationen von Ermittlungen, die ins Leere geführt haben.«

Kovic wischte sich den Mund mit einer Serviette ab.

»Könntest du mir eine kurze Zusammenfassung der wichtigsten Dinge geben?«, schlug sie vor. Um sie herum wimmelte es von zusätzlich angeforderten Kommissaren und Sonderermittlern. Der Geräuschpegel war dementsprechend höher als sonst.

Blix nahm die Hauptmappe heraus, setzte sich und holte tief Luft. Er war sich nicht sicher, wo er beginnen sollte.

»Patricia wurde am 11. August 2009 entführt«, sagte er und löste das Band, mit dem die Mappe verschnürt war. »Das Au-pair, das Patricia im Kindergarten abgeholt hat, wurde auf dem Rückweg von Tangen überfallen. Die junge Frau wurde hinterrücks niedergeschlagen und in ein Gebüsch im Bjølsenparken gestoßen. Der Täter ist dann mit dem Kinderwagen abgehauen. Das Au-pair hat selbst nichts mitbekommen und kann den Täter nicht beschreiben. Wir wissen nur, dass es ein Mann in dunklen Kleidern war.«

Blix legte die Mappe hin und nahm die ersten Dokumente heraus.

»Patricias Vater, Christer Storm Isaksen, hatte zu dieser Zeit das Sorgerecht für Patricia. Ruth-Kristine, Patricias Mutter, rückte als eine der Ersten in den Fokus der Ermittlungen, weil sie sich mit Christer immer wieder über das Sorgerecht gestritten hatte. Viele waren damals der Ansicht, dass sie irgendwie in die Entführung involviert war.«

»Warum hatte nicht sie das Sorgerecht für die Tochter?«, fragte Kovic. »Meistens kriegen das doch die Mütter.«

»Sie hatte psychische Probleme«, erklärte Blix. »Eine lange Liste von Psychosen, Persönlichkeitsstörungen, Einweisungen, ausagierendem Verhalten und Selbstverletzung. Außerdem nahm sie Drogen und wurde deshalb als potenzielle Gefahr für das Kind eingeschätzt. Aus denselben Gründen hatte sie auch nur eingeschränktes Besuchsrecht.«

»Aber an der Entführung war sie dann doch nicht beteiligt?«

Blix rieb sich mit den Händen die heißen Wangen. Das Bad im Hafenbecken würde ihm eine Erkältung bescheren.

»Sie hatte ein Alibi«, sagte er. »Und es gab keine konkreten Hinweise, dass sie etwas mit der Entführung zu tun hatte. Die tauchten erst zwei Jahre später auf, als Patricias Vater auf einem Parkplatz bei Solemskogen einen Mann namens Knut Ivar Skage traf.«

»Daran erinnere ich mich«, sagte Kovic, auf einmal hellwach. »Der wurde umgebracht, oder? Vom Kindsvater ermordet?«

»Stimmt«, sagte Blix mit einem Nicken. »Skage hatte es auf die Belohnung abgesehen, die Isaksen demjenigen versprochen hatte, der ihm half, Patricia zu finden. Laut Isaksen hat Skage behauptet, Patricia nach der Entführung noch gesehen zu haben. Und dass die Drahtzieherin der Entführung eine Frau sei, die Christer gut kenne.«

»Ruth-Kristine«, schloss Kovic.

Blix nickte.

»So jedenfalls hat Isaksen das interpretiert. Und wir auch.«

»Aber warum hat er den Mann getötet, der ihm Informationen hätte geben können?«

»Bei dem Treffen hat Isaksen einen Beweis gefordert, dass Skage die Wahrheit sagt, worauf der ihm von einem Muttermal an der Innenseite von Patricias Schenkeln erzählt hat. Da ist Isaksen durchgedreht, weil er dachte, seine Tochter wäre missbraucht worden.«

Kovic biss sich nachdenklich auf die Unterlippe.

»Vermutlich stimmte das aber nicht«, fuhr Blix fort. »Das Letzte, was Skage vor seinem Tod gesagt hat, war, dass er die Windeln der Kleinen gewechselt hat. Er hatte nichts mit der Entführung zu tun und war vom Entführer nur kontaktiert worden, weil dieser nicht wusste, wie er mit einem Kleinkind umgehen musste.«

»Mein Gott«, stöhnte Kovic.

»Das war alles extrem tragisch, noch dazu, weil Knut Ivar Skage ohnehin sterbenskrank war.«

»Was heißt das?«

»Er hatte eine Autowerkstatt in Kalbakken mit eigener Lackierhalle, wo er über lange Zeiträume die unterschiedlichsten Lösungsmittel eingeatmet hat. Sein Körper war vom Krebs regelrecht zerfressen. Die Ärzte hatten ihm bestenfalls noch ein paar Monate gegeben.«

Kovic warf einen Blick auf den Rest ihres Tortilla-Wraps, schnitt eine Grimasse und schmiss ihn in den Müll.

»Dann wollte er sich vor seinem Tod tatsächlich nur von der Seele reden, was er wusste?«, fragte sie und wischte sich den Mund mit einer Serviette ab.

»Und sich vermutlich ein paar Kronen für Frau und Kinder sichern«, stimmte Blix mit einem Nicken zu. »Der krankheitsbedingte Arbeitsausfall hatte sie finanziell in Schwierigkeiten gebracht. Da er in den Jahren zuvor ziemlich viel schwarzgearbeitet hatte, waren kaum noch Einnahmen da.«

»Hatte er eine Akte?«

»Ja, aber nur Kleinigkeiten wegen fehlender Rechnungsbelege und eine Anzeige wegen Betrugs in Verbindung mit einem Autoverkauf«, erklärte Blix. »Als wir nach seinem Tod die Werkstatt untersucht haben, sind wir auf eine Reihe von Autoteilen gestohlener Fahrzeuge gestoßen. Er kaufte Unfallwagen und reparierte sie mit den Ersatzteilen der gestohlenen Autos, bevor er sie wieder verkaufte.«

»Und hatte er irgendetwas mit Ruth-Kristine zu tun?«

Blix schüttelte den Kopf.

»Wo war die Mutter, als die Tochter entführt wurde? Du hast gesagt, sie hätte ein Alibi gehabt?«

»Sie war zusammen mit einer Freundin, einer Nachbarin, unter anderem in einem Einkaufszentrum gewesen. Es gibt Videobilder und einige Zahlungsbelege.«

»Und Patricia wurde mit Sicherheit von einem Mann entführt?«, fragte Kovic.

»Es deutet vieles darauf hin«, bestätigte Blix. »Nach allem, was Christer uns über Knut Ivar Skages Behauptungen gesagt hat, begannen wir nach einem Mann in Ruth-Kristines Umfeld zu suchen, der selbst keine Kinder hat.«

»Wegen der Sache mit den Windeln?«

Blix nickte.

»Wir haben ein paar Kandidaten ausfindig gemacht, die sich aus den unterschiedlichsten Gründen aber alle als unverdächtig erwiesen haben.«

»Kann das Au-pair etwas mit dem Fall zu tun haben?«, wollte Kovic wissen.

»Carmen Velacruz«, sagte Blix und gab sich Mühe, den Namen spanisch auszusprechen. »Da sind wir auch nicht weitergekommen. Wir haben kein Motiv gefunden. Außerdem hat sie sich bei der Entführung eine heftige Gehirnerschütterung zugezogen. Mit etwas Pech hätte das lebensbedrohlich sein können.«

»Habt ihr sie danach im Auge behalten?«, fragte Kovic.

»In gewissen zeitlichen Abständen«, sagte Blix. »Sie ist wieder zu Hause in Spanien. Ich habe sie ein paar Mal überprüft, um auszuschließen, dass sie Kontakt zu einem Kind in Patricias Alter hat – sollte die Kleine noch am Leben sein.«

»Und das hatte sie nicht?«

Blix schüttelte den Kopf.

»Lückenlos sind die Ergebnisse allerdings nicht, da ich meine spanischen Kollegen in Madrid nicht ständig in Anspruch nehmen kann.«

»Wie hoch war Isaksens Strafe?«

»Zwölf Jahre. Er sitzt noch ein.«

Blix sah, dass ihr ein Gedanke gekommen war.

»Ich dachte nur, dass niemand ein besseres Motiv hat als er, Ruth-Kristine zu töten, falls sie wirklich etwas mit der Entführung zu tun gehabt hat. Aber – wenn er Silvester in einer Zelle gefeiert hat, dann …«

Sie drehte sich zum Computer um und klickte das Strafregister an, in dem alle Freigänger und sonstige Haftunterbrechungen notiert waren.

»Soweit ich weiß, hat er nicht ein einziges Mal um Hafturlaub gebeten«, sagte Blix, während sie die Personaldaten eintippte.

Kovic nickte und sah mit zusammengekniffenen Augen auf den Bildschirm.

»Er war seit dem Verfahren nicht einmal außerhalb des Osloer Bezirksgefängnisses«, fügte sie hinzu. »Doch, einmal, als seine Mutter gestorben ist.«

Blix bemerkte, dass sie noch immer skeptisch war.

»Er könnte jemanden beauftragt haben, es an seiner Stelle zu tun?«, schlug sie vor. »Vielleicht hat er im Gefängnis Leute getroffen, die sich mit Sprengstoff auskennen. Ausländische Kriminelle, was weiß ich? Leute, die für Geld alles zu tun bereit sind.«

»Christer hat sich im Gefängnis weitestgehend isoliert«, antwortete Blix. »Er hat kaum Kontakt zu anderen Insassen.«

»Trotzdem«, drängte Kovic. »Wir sollten das überprüfen.«

Blix sammelte die Papiere auf seinem Tisch zusammen, legte sie zurück in die Mappe und versorgte alles wieder in dem Karton. Er war müde und abgeschlagen.

»Lass uns eins nach dem anderen angehen«, sagte er. »Jetzt sollten wir erst einmal ein bisschen schlafen.«

Mit zitternden Fingern schloss Emma die Tür zu ihrer Wohnung in der Falbes gate auf und trat ein. Sie stockte, als ihr Blick auf Kaspers Joggingschuhe fiel, die vor Emmas Winterstiefeln standen, einer auf dem anderen.

Hinter ihr fiel die Tür ins Schloss. Ein paar Sekunden blieb sie mit geschlossenen Augen stehen. Das Knallen vom Rathausplatz hallte noch immer in ihren Ohren.

Emma atmete tief durch und blinzelte ein paar Mal. Das war jetzt der Moment, in dem er mit ausgebreiteten Armen und einem breiten Lächeln auf sie zukommen sollte. In dem sie ihre Hände in seine widerspenstigen Locken oder unter sein offenes, weites Hemd schieben würde. Am Ende des Abends, des Festes. Die Haare auf seiner Brust, die definierten Bauchmuskeln. Emma mochte Männer ganz besonders, wenn sie nicht ganz nackt waren und sie nur ahnen konnte, wie der Rest des Körpers aussah. Aus irgendeinem Grund liebte sie Kasper am meisten, wenn er ein bisschen müde und fertig war, wie es jetzt um vier Uhr morgens wahrscheinlich der Fall gewesen wäre.

Sie hätte jetzt auf ihn zugehen und ihn auf den Mund küssen sollen, die vielleicht trockenen Lippen. Er würde nach Alkohol oder Zigarren schmecken. Und er würde sie an sich ziehen, sie umarmen, während sie ihm eine Entschuldigung ins Ohr flüsterte, weil sie einfach vom Esstisch aufgestanden und ohne ihn gegangen war. Und dann hätte sie ihm erklärt, warum sie das einfach hatte tun müssen. Er hätte das sicher okay gefunden, wie immer, und gesagt, es sei doch nur wichtig, dass sie gesund zu ihm nach Hause gekommen sei.