Jul-Morde - Thomas Enger - E-Book

Jul-Morde E-Book

Thomas Enger

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Beschreibung

Wie feiert man im hohen Norden Weihnachten? Tanzt man um den Tannenbaum, fährt man Schlitten, genehmigt man sich ein Schlückchen Glögg? Nej, nej! In der norwegischen Einöde stapft ein alter Einsiedler wachsam durchs Gehölz. Nicht schon wieder soll ein Tannenbaum aus seinem Wald gestohlen werden, dafür wird er sorgen – notfalls mit roher Gewalt. In Oslo schmiedet eine böse Stiefmutter finstere Pläne, wie sie ihre schneeblinde Stieftochter loswerden kann, und im eisigen Stockholm gerät ein Kommissar bei einem Verhör gehörig ins Schwitzen. Von einem vorweihnachtlichen Betriebsausflug in die Schären wird eine Kollegin am Ende nicht zurückkehren, und die Tour durch das winterliche Bergslagen wird für zwei kriminelle Motorradrocker zur buchstäblich letzten gemeinsamen Reise. Vor der südschwedischen Küste wiederum fahren zwei Schwestern mit ihrem Vater ein letztes Mal zur See. Seine Asche haben sie in einer Plastiktüte vom Supermarkt dabei. Stellt sich die Frage: Wie ist der geliebte Papa eigentlich gestorben?

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Seitenzahl: 353

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Kari Brænne • Arne Dahl • Thomas Enger • Åke Edwardson

Jul-Morde

Skandinavische Weihnachtskrimis

Herausgegeben von Sibylle Klöcker

Ihr Verlagsname

Über dieses Buch

Wie feiert man im hohen Norden Weihnachten?

Tanzt man um den Tannenbaum, fährt man Schlitten, genehmigt man sich ein Schlückchen Glögg?

Nej, nej!

Über Kari Brænne • Arne Dahl • Thomas Enger • Åke Edwardson

Inhaltsübersicht

Åke Edwardson · … dann steht Lucia vor der TürJohan Theorin · Die letzte ReiseLeena Lehtolainen · Der gestohlene WeihnachtsschinkenMons Kallentoft · Jenseits des ParadiesesThomas Enger · O TannenbaumKristina Ohlsson · Robert Tandem war nicht traurigHans Koppel · Fräulein Petterssons HausArne Dahl · VernehmungViveca Sten · Weihnachtsmord auf SandhamnOlle Lönnaeus · Die AscheKari F. Brænne · SchneeblindRobert Kviby · Abends halb zehn am Tag vor WeihnachtenMichael Hjorth und Hans Rosenfeldt · Im SchrankAutoren- und Quellenverzeichnis

Åke Edwardson

… dann steht Lucia vor der Tür

Aus dem Schwedischen von Angelika Kutsch

Es war wieder Winter geworden, Weihnachten nahte. Vor drei Wochen war in Göteborg der erste Schnee gefallen. Doch er war schnell wieder geschmolzen, erst der zweite Schnee war liegengeblieben. Der zweite Schnee. Das klang wie ein Titel, vielleicht ein Filmtitel. Erik Winter überlegte, ob es einen Film gab, der so hieß. So einen Film sollte es geben, schön und friedlich, nett und fröhlich, mit Charakteren, die voller Güte waren. Solche Unterhaltung brauchen wir, dachte er. Von all dem anderen gibt es heute schon mehr als genug in Büchern, Filmen, Illustrierten, Theaterstücken, Erzählungen. Zu viel Gewalt. Ich mag keine Gewalt. Ich versuche sie zu vermeiden, versuche alles zu vermeiden, was nicht nett, hübsch und angenehm ist. Menschliche Güte, das ist es, was letztlich zählt. Vielleicht habe ich den falschen Job gewählt. Vielleicht war ich zu naiv. Vielleicht bin ich zynisch geworden.

Er hoffte, dass dies nicht der Fall war. Als er vor sechzehn Jahren zum jüngsten Kriminalkommissar Schwedens befördert wurde, hatte er sich geschworen, den Job in dem Moment aufzugeben, wenn er Anzeichen von Zynismus an sich entdeckte. Das war gleichzusetzen mit Selbstzerstörung, als Zyniker verlor man seine Empathie, seine Humanität. Seine Mitmenschlichkeit. Und wenn man einmal so geworden ist wie sie, wie die, die man verachtet, dachte er, dann hat man endgültig verloren.

Vielleicht waren das aber auch nur die Gedanken eines alten Mannes. Unwillkürlich musste er lächeln. Er war doch erst dreiundfünfzig, in der fortgeschrittenen medizinischen Welt von heute fast noch ein Jugendlicher. Trotzdem gab es beunruhigende Zeichen, seine Wahrnehmung von Zeit zum Beispiel: Die Jahreszeiten wechselten einander immer schneller ab. Plötzlich war es Frühling – Sommer-Herbst-Winter, wie jetzt, schon wieder Winter, da draußen der Schnee überm Fattighusån, Schnee deckte alles zu, ließ die Welt hübsch und unschuldig erscheinen.

Winter wandte sich vom Fenster ab und kehrte zurück an den Schreibtisch, setzte sich und nahm sich die Mordbibel vor, die den neuesten Fall zum Inhalt hatte. Im Stadtteil Frölunda war ein junger Mann in seiner Wohnung erschlagen worden. Es war irgendwann gestern am späten Abend passiert oder in den Stunden nach Mitternacht. Das Opfer war dreiundzwanzig, arbeitslos, ein Alkoholiker, der sich noch am Leben festklammerte, als es ihn schon längst aufgegeben hatte. Und nun hatte es ihn endgültig fallengelassen.

Die Ermittlungen waren bereits abgeschlossen, bevor sie überhaupt begonnen hatten. Ein anderer Alkoholiker, auch er dreiundzwanzig Jahre alt, hatte sich in der Wohnung befunden, als das Einsatzkommando hineingestürmt war. Ein Nachbar hatte Schreie gehört und den Notruf gewählt. Der Verdächtige hatte auf dem Fußboden gelegen, neben ihm ein blutiger Hammer, das Opfer auf der anderen Seite. Auf dem Hammer hatten sie Fingerabdrücke des Verdächtigen gefunden.

Klar wie Kloßbrühe, wie ein Zyniker es ausgedrückt hätte.

So sahen die meisten Morde aus. Spannender als in diesem Fall wurde es selten.

Jemand klopfte an die offene Tür. Winter schaute auf und begegnete dem Blick seines Kollegen Bertil Ringmar. Ringmar, Winters Mentor, war schon ein erfahrener Kriminalkommissar gewesen, als Winter noch auf die Polizeihochschule ging.

«Was meinst du?» Ringmar zeigte auf die Dokumente, die auf Winters Tisch lagen.

«Der Mord in Frölunda? Deprimierend leicht gelöst.»

«Auf jeden Fall deprimierend», sagte Ringmar. «Ich bin dort gewesen, wie du weißt.»

«Ja. Wie war es?»

Ringmar antwortete nicht.

«Fahr nach Hause und schlaf ein paar Stunden», sagte Winter.

«Bald. Gehst du zum Lucia-Umzug?»

«Na klar.»

«Sie kommt in einer halben Stunde.»

Die Lucia-Braut kommt. Eine der größten schwedischen Traditionen in der Woche vor Weihnachten: Lucia mit der Lichterkrone auf dem Kopf, gekleidet in die Farbe der Unschuld, Weiß, gefolgt von ihren Jungfern, und dann die Sternjungen mit ihren großen Spitzhüten; so ziehen sie herein, das Lucia-Lied singend. Nur einem Zyniker stiegen bei diesem Anblick keine Tränen in die Augen.

In allen schwedischen Firmen, Schulen, Kindertagesstätten, Gefängnissen, Polizeirevieren sah es an diesem Morgen gleich aus. Der Lucia-Zug bewegte sich durch die Räume, er brachte Licht in die Dunkelheit, brachte Güte, die das Böse verdrängte. Oder? So muss man es sehen, dachte Winter, während er neben Ringmar den Korridor entlangging, nur ein Zyniker konnte es anders sehen.

«Du hörst mir ja gar nicht zu, Erik. Ich hab grad gesagt, der Hammer-Kerl will nicht gestehen.»

«Entschuldige, Bertil. Ich habe über menschliche Güte nachgedacht.»

«Na, das tun wir doch alle gern. Jedenfalls behauptet er, er hat nichts getan.»

«Nie hat jemand etwas getan», sagte Winter. «Die Dinge geschehen, aber niemand hat etwas getan.»

«Ist das Beckett?»

«Nicht, soviel ich weiß.»

«Halders hat ihn heute Morgen lange verhört.»

«Der Junge steht wohl noch unter Schock», sagte Winter.

«Irgendwas ist seltsam an dem ganzen Mist», sagte Ringmar.

«Was ist daran seltsam?», fragte Winter.

«Ist mir noch nicht klar. Dann wäre es ja nicht seltsam, oder?»

«Hast du schlechte Laune, Bertil?»

«Nicht schlechter als sonst.»

«Ich werde jedenfalls noch mal hinfahren», sagte Winter. «Wenn in der Wohnung irgendwas nicht stimmt, fällt es mir hoffentlich auf.»

Jetzt standen sie im Lift auf dem Weg in den ersten Stock, wo gleich der Einzug der Lichterbraut stattfinden sollte. Winter betrachtete sein Gesicht im Spiegel. Es war nicht dasselbe Gesicht, das er zuletzt im Fahrstuhl gesehen hatte, dieses hatte tiefe Falten und Furchen. Es muss der falsche Lift sein, dachte er, der falsche Spiegel. Das bin gar nicht ich, dieses Gesicht gehört mir nicht.

 

Lucia und ihr Gefolge zogen durch das Polizeipräsidium, leise und stimmungsvoll, ein Kontrast zu dem Chaos, das hier an normalen Tagen herrschte, und das Lucia-Lied ertönte:

Schwer liegt die Finsternis auf unseren Gassen,

lang hat das Sonnenlicht uns schon verlassen.

Kerzenglanz strömt durchs Haus. Sie treibt das Dunkel aus:

Santa Lucia! Santa Lucia!

Winter hatte das Lied früh am Morgen schon einmal gesungen, in Elsas Klasse, als die Kinder langsam, mit frohem Blick und feierlichen Mienen, um ihre Plätze gewandert waren. Alle Mädchen waren Lucia gewesen, alle Jungen Sternjungen. Es hatte keine einfachen Jungfern gegeben. In diesem Land gibt es keine Untergebenen mehr, dachte er, wir sind weit gekommen mit unserer Gleichberechtigung. In Schweden sind wir alle entweder Lucia oder Sternjungen, zumindest in der Schule.

Hier war es noch anders. Lucia war die einzige Lichterbraut, die offizielle Lichterbraut der Stadt, vom Volk in der Lokalzeitung ausgewählt, ein hübsches Mädchen mit langen blonden Haaren unter der Lichterkrone, aber dahinter sollte man nun keine Diskriminierung vermuten, denn im letzten Jahr hatten sie eine schwarze Lucia gehabt.

Winter und Ringmar saßen an einem Tisch in der großen Cafeteria des Präsidiums. Sie tranken Kaffee und aßen die obligatorischen Safranwecken, die heute genauso heilig waren wie Lucias Kopf. Gerade schritt sie an ihnen vorbei. Winter lächelte. Lucia lächelte zurück, jedenfalls hatte es den Anschein. Sie war wirklich hübsch. Er dachte an die Kollegen in Stockholm, die vor einigen Jahren einen ganzen Lucia-Tag mit der Suche nach dem französischen Kultusminister, der auf Staatsbesuch war, verbracht hatten. Zuletzt war er am frühen Morgen auf einem Empfang mit Lucia im Stadthaus gesehen worden. Dann war er verschwunden. Die Sicherheitspolizei befürchtete eine Entführung. Schließlich wurde der Minister gefunden, spät am Abend, in zärtlicher Umarmung mit der Lucia beim Tanzen in einem Nachtclub im Stadtzentrum. Er war dem Lucia-Zug den ganzen Tag gefolgt, durch Schulen, Büros, Krankenhäuser, notdürftig maskiert als Sternenjunge. Es war Liebe auf den ersten Blick gewesen. Er hatte seinen Job behalten, soweit Winter informiert war, für so etwas hatte man in Frankreich Verständnis.

 

Winter dagegen verstand nicht alles, was er sah, als er in der Wohnung in der Mandolingatan in Västra Frölunda ankam. Sie lag im siebten von neun Stockwerken, er stand am Wohnzimmerfenster, das einen prachtvollen Blick über den westlichen Teil der Stadt bot. Man konnte sogar das Meer sehen. Es war ein schöner Wintertag, blauer Himmel, weißer Schnee, der Norden in seinem feinsten Gewand.

Die Aussicht war allerdings das einzig Prachtvolle an diesem Ort.

Es gab nur wenige Möbel, und die sahen aus, als hätte man sie aus dem nächsten Abfallcontainer gefischt.

Er ging in die Küche. Der Kühlschrank enthielt zwei Dosen Bier und eine Gurke im letzten Stadium der Verwesung. Was kommt jenseits des letzten Stadiums?, dachte er, als er die Kühlschranktür schloss. Wie sieht das Jenseits für Gurken aus?

Wie sieht das Jenseits für Johnny Berg aus? Winter musterte die Konturen seiner Leiche, die die Spurensicherung aufgezeichnet hatte. Ist das Jenseits für Opfer schlimmer als für Mörder? Das Opfer hat keine Wahl. Unvollendet bis in alle Ewigkeit, dachte er. Vorausgesetzt, man glaubte an das ewige Leben der Seele.

Hoffmann hatte neben Berg gelegen, als die Polizei kam, bis auf weiteres außer Gefecht gesetzt von wer weiß was, die erste Schnellanalyse der Chemie in seinem Körper lag noch nicht vor. Irgendwas ist seltsam an dem ganzen Mist, hatte Ringmar gesagt. Aber nur dann, wenn Hoffmann bewusstlos war, als Berg den Hammer an den Schädel kriegte, dachte Winter. Dann hatten sie es mit einem Rätsel zu tun, oder mit einem Mysterium. Um was es sich handelte, würde er irgendwann erfahren. Ein Rätsel war einfacher, bei einem Rätsel konnte man immer irgendwelche Puzzleteile zusammenfügen. Ein Mysterium war interessanter, bot aber keine Puzzleteile. Beide Alternativen waren gleichermaßen deprimierend, doch nur für Außenstehende oder einen empathischen Kommissar, der alles verstehen wollte. Das Warum war immer die schwerste Frage. Es gab nur wenige Antworten, wenn es sie überhaupt gab. Viele scherten sich einen Dreck um das Warum, aber er wusste, dass der Grund zu allem, was ihm bei seinem Job begegnete, dorthin zurückführte, zu der Frage nach dem Warum. Die Vergangenheit warf immer die längsten Schatten. Niemand entging ihnen.

Hoffmann hatte in einer ersten Vernehmung einen recht verwirrten Eindruck gemacht. Er hatte ausgesagt, dass er und Berg auf Lucia trinken wollten und er «ziemlich schnell voll» gewesen und erst wieder zu sich gekommen sei, als ein uniformierter Polizist ihn heftig schüttelte, «Scheiße, der hätte mir den Arm auskugeln können», wie er zu Halders gesagt hatte.

Hoffmann, das war Angelas Mädchenname. Seine Frau hatte nie einen Peter Hoffmann erwähnt, andererseits hatte er auch nie gefragt. Halders hatte nicht notiert, ob der Kerl einen deutschen Akzent hatte. Angela hatte auch keinen, obwohl sie ihre ersten Lebensjahre in Leipzig verbracht hatte, in der sogenannten DDR, bevor die Familie nach Westen geflüchtet war.

Es ist an der Zeit, mit Hoffmann zu reden, dachte Winter, ging in den Flur und öffnete die Wohnungstür.

Er begegnete dem Blick eines Mannes in einer anderen offenen Tür, auf der gegenüberliegenden Seite des Treppenhauses. Das war kein Zufall. Der Nachbar hatte dort auf ihn gewartet oder gelauscht. Ein Neugieriger. Nichts Ungewöhnliches, die blau-weißen Absperrbänder vor dem Tatort waren ja nicht gerade zu übersehen. Winter wusste nicht, ob die Kollegen ihn schon vernommen hatten. Der Mann wollte gerade seine Wohnungstür schließen.

«Warten Sie», sagte Winter.

Der Nachbar wartete an der halboffenen Tür. Winter ging zu ihm, zeigte seinen Dienstausweis, der Nachbar nickte. Er war älter, vielleicht um die siebzig oder fünfundsechzig, das war schwer zu sagen. Es hing davon ab, wie gesund oder ungesund jemand lebte, vielleicht war er auch erst fünfunddreißig oder hundertzehn.

«Was ist hier eigentlich passiert?», fragte er.

«Waren Sie heute Nacht zu Hause?», fragte Winter.

«Ja.»

«Leben noch mehr Personen in Ihrer Wohnung?»

«Ich lebe allein», sagte der Mann, der Gustafsson hieß, wie Winter vom Türschild abgelesen hatte. «Aber gestern war meine Schwester zu Besuch hier. Sie ist über Nacht geblieben.»

«Können Sie mir bitte den Namen Ihrer Schwester geben?»

«Selbstverständlich, Sigrid Karlström. Sie war mit Karlström verheiratet, ist aber Witwe.»

«Wo wohnt sie?»

«In Påvelund. Sie ist jetzt nach Hause gefahren. Sie stand unter Schock.»

«Hat die Polizei Sie schon vernommen?», fragte Winter.

«Warum sollten die mich vernehmen?», fragte Gustafsson zurück.

«Was denken Sie denn?»

«Okay, okay, ich verstehe. Ich habe mich ein wenig mit einem Ihrer … Kollegen unterhalten, heute Nacht, als ich angerufen hatte.»

«Warum haben Sie angerufen?»

«Das Lied», sagte Gustafsson. «Nach elf haben die angefangen, das Lucia-Lied zu grölen, und als sie um Mitternacht immer noch nicht still waren, hab ich die Polizei angerufen. Mein Schlafzimmer grenzt direkt an das Zimmer, in dem sie gefeiert haben. Meine Schwester hat es auch gehört.»

«Aber die Polizei ist nicht gekommen», sagte Winter.

«Wollen Sie mich auf den Arm nehmen? Ich weiß doch, dass die … dass niemand von euch kommen würde. Aber ich wollte das irgendwie trotzdem loswerden. Vielleicht kommen sie dann das nächste Mal, hab ich gedacht.»

«Was ist danach passiert?»

«Sie haben aufgehört zu singen. Waren wohl zu besoffen. Ich bin eingeschlafen und wurde wach, als jemand nebenan aufschrie.»

«Aufschrie?»

«Ja, es klang wie ein Schrei oder ein Ruf. Und dann hörte es sich an, als würden sie sich prügeln, ich weiß nicht. Es klang unheimlich. Meine Schwester hat es auch gehört. Irgendwas passierte nebenan, und da habe ich die Polizei gerufen … tja, und da seid ihr dann tatsächlich gekommen.»

«Haben Sie jemanden gesehen?», fragte Winter.

«Wen gesehen?»

«Haben Sie irgendjemanden kommen oder gehen sehen?»

«Ich glotz doch nicht dauernd durch den Spion», sagte Gustafsson. «Außerdem hab ich gar keinen Spion in der Tür.»

«Haben Sie an dem Abend jemanden gesehen?»

«Nein. Berg kenne ich, aber ich habe ihn nicht gesehen gestern Abend. Ich weiß nicht, wen er zu Besuch hatte. Wir haben schon versucht, Berg hier rauszukriegen, aber das ist unmöglich.»

«Wer ist wir?», fragte Winter.

«Was?»

«Wer außer Ihnen hat versucht, Berg loszuwerden?»

«Tja … bisher wohl nur ich.»

«Und jetzt ist er weg», sagte Winter.

«Ist er … tot?»

«Ja.»

«Herr im Himmel, so habe ich das doch nicht gewollt.»

«Ist Ihnen heute Nacht noch etwas anderes aufgefallen?», fragte Winter.

«Was sollte das sein?»

«Irgendetwas.»

«Wann?»

«Irgendwann.»

Gustafsson sah aus, als würde er nachdenken, aber vielleicht fühlte er sich auch nur verpflichtet, den Anschein zu erwecken. Er sah sich um, schaute in seine Wohnung, als würde dort die Antwort liegen. Dann drehte er sich wieder zu Winter um.

«Da ist etwas …», begann er, unterbrach sich jedoch.

«Ja?»

«Heute Nacht … nach Mitternacht … als es endlich ruhig war und ich schlafen ging, habe ich noch einen Blick auf die Straße geworfen … und da unten ging eine Lucia.»

«Auf der Mandolingatan?»

«Ja.»

«Woran konnten Sie erkennen, dass es eine Lucia war?»

«Die erkennt doch wohl jeder? Lichterkrone und langes weißes Kleid.»

«Brannten die Lichter?»

«Ich weiß es nicht. Sie ging unter einer Straßenlaterne, da habe ich sie gesehen. Meine Schwester hat schon geschlafen. Sie hat das Mädchen nicht gesehen.»

«Sind Sie sicher, dass es eine Sie war?»

«Was hätte es denn sonst sein sollen?»

«Die Zeiten ändern sich», sagte Winter.

«Was?»

«Vergessen Sie’s.»

«Sie hatte lange blonde Haare. Ist doch klar, dass es ein Mädel war.»

«Was haben Sie getan?»

«Nichts. Was hätte ich tun sollen? Nach einigen Sekunden war sie verschwunden. Ich hab noch gedacht, die Lucia ist aber verflixt früh auf den Beinen.»

 

Winter vernahm Peter Hoffmann direkt nach dem Mittagessen. Es war immer noch Lucia-Tag. Der Verhörraum hatte nur ein Fenster zum Innenhof, das wenig Tageslicht hereinließ. In diesem Raum wurde niemand seines Lebens froh, es war der hässlichste Raum in ganz Schweden, entworfen, damit man sich dort nicht länger als unbedingt nötig aufhielt. Am besten sollte man so schnell wie möglich gestehen, um sodann in die gemütliche Zelle im Untersuchungsgefängnis zurückzukehren.

Winter hatte Hoffmanns Hintergrund überprüft. Sollte es einen Hinweis auf deutsche Herkunft geben, so war jedenfalls nichts darüber in seinem Lebenslauf zu finden. Am besten, er fragte einfach.

«Sind Sie Deutscher?»

«Was?»

Hoffmann war zusammengezuckt, als hätte Winter ihn mit einem Stock angetippt. Das war ein guter Start. Hoffmann hatte abwesend gewirkt, natürlich verkatert, aber auch verwirrt.

«Stammt Ihre Familie aus Deutschland?»

«Nicht dass ich wüsste.»

«Was haben Sie bei Johnny Berg gemacht?»

«Wir haben Lucia gefeiert, Bier und ein paar Schnäpse getrunken.»

«Lucia-Tag ist aber erst heute.»

«Wir wollten früh anfangen.»

«Ist sie gekommen?»

«Was?»

«Hat Lucia Sie besucht?»

«Soll das ein Witz sein?»

«Nein.»

«Warum sollte Lucia zu uns kommen? Wir kennen keine Lucia.»

«Kennen Sie kein Mädchen, das Lucia sein könnte?»

«Vielleicht, aber daran hab ich gestern nicht gedacht.»

«Woran haben Sie denn gedacht?»

«Was?»

«Woran haben Sie gedacht, als Sie Berg erschlagen haben?»

«Ich habe niemanden erschlagen!»

Hoffmann wurde klarer. In seinen Augen blitzte ein Licht auf.

«Ich war es nicht!», sagte er.

Winter schwieg, wartete, vielleicht darauf, dass das Licht in Hoffmanns Augen nochmals aufflammen würde – oder aber ganz erlöschen. In dem Fall wäre die Vernehmung beendet, und der Verdächtige hätte gestanden.

«Es ist egal, was Sie fragen oder sagen, aber ich habe es nicht getan», sagte Hoffmann. «Ich werde nichts gestehen, was ich nicht getan habe.»

«Was ist passiert?»

«Was?»

«Was ist an dem Abend passiert?»

«Es war wie immer … Wir haben ein paar Bier gekippt und ein paar Schnäpse dazu. Johnny und ich haben mit den Drogen aufgehört …»

Hoffmann wurde offenbar jetzt erst bewusst, dass Berg tot war. Die Trauer in seinem Gesicht wirkte echt.

«Also, bei mir sind dann die Lichter ausgegangen, kann mich nicht erinnern, wie oder wann. War total ausgeknockt. Und als ich wieder zu mir kam … oder geweckt wurde … na, Sie wissen ja, was inzwischen passiert war.»

«Hat sich noch eine andere Person in der Wohnung aufgehalten? Irgendwann an dem Abend?»

«Nein.»

 

Die Dunkelheit senkte sich über die Stadt, und Erik Winter war frustriert. Er wollte Hoffmann nicht glauben, aber da war etwas … die Beteuerung seiner Unschuld hatte etwas Rührendes: ein Junge mit Problemen bekommt noch schlimmere Probleme, als er verdient hat.

Wenn nicht er, wer dann?

Lucia?

Das war eine fast komische Vorstellung. Aber der Zeuge in der Mandolingatan, Gustafsson, war kein Idiot. Eine weiß gekleidete Person war durch die Winternacht gegangen. Warum?

Hatte sie noch jemand gesehen?

Winter griff zum Telefonhörer und rief Polizeipräsident Bjerkner an, der sich nach dem zweiten Signal meldete.

«Hallo, Lars, ich brauche mehr Leute, wir müssen in Frölunda eine weiträumige Befragung durchführen.»

«Geht es um den Mord in der Mandolingatan? Ich dachte, der wäre aufgeklärt?»

«Der Verdächtige hat nicht gestanden.»

«Scheiße noch mal, Erik! Das muss er aber doch früher oder später.»

«Es gibt einen Zeugen, der hat ungefähr zu der Zeit, als der Mord passiert ist, jemanden gesehen», sagte Winter.

«Aha.»

«Es könnte ja noch mehr Zeugen geben.»

«Was hat der Zeuge gesehen?»

«Eine Lucia.»

«Hast du zu viel Glögg getrunken, Erik? Oder vielleicht der Zeuge?»

«Ich möchte das einfach überprüfen, Lars. Gib mir einige Leute von der Fahndung und ein paar Tage dazu. Ich habe mit dem neuen Staatsanwalt gesprochen, wir können den Verdächtigen noch mindestens drei Tage festhalten.»

«Du kriegst zwei Tage», sagte der Polizeipräsident. «Aber bevor du am Lucia-Tag eine bestimmte Lucia findest, taucht bestimmt eher die beschissene Stecknadel aus dem beschissenen Heuhaufen auf.»

 

Einen Vorteil hatten sie: Es war noch sehr früh am Lucia-Tag gewesen, nur wenige Lucias hatten schon zu dieser Stunde ihren Auftritt mit brennenden Lichtern im Haar. Die Dezembernacht war dunkel, und bis zur Morgendämmerung war es noch lang hin gewesen. Eigentlich waren nur der Weihnachtsmann in seiner Werkstatt und Alkoholiker um diese Zeit munter.

Wenn Hoffmann es nicht getan hatte, warum war er dann verschont worden? Es ging um Berg. Wenn Hoffmann die Wahrheit sagte, hatte es der Mörder auf Johnny Berg abgesehen. Warum? Schon wieder dieses verdammte Warum. Wer war Johnny Berg gewesen? Sie wussten noch nicht viel über ihn, außer dass er in Tynnered aufgewachsen war, gleich neben der Autobahn, in einem überdimensionalen Wohnblock, ähnlich dem, in dem er seinem Tod begegnet war. Wenn Hoffmann die Wahrheit sagte, ging es hier nicht um eine Prügelei zwischen Betrunkenen, die mit dem Tod geendet hatte. Es war vorsätzlicher Mord, ein geplanter Mord. Mord ist immer Mord, aber ein geplanter Mord war laut Winters Mordbibel noch eine Stufe schlimmer, es war das nackte Böse.

Das Telefon auf seinem Schreibtisch schrillte und riss ihn aus seinen Gedanken. Himmel, wie er das Geräusch hasste. Nach diesem Gespräch würde er einfach den Stecker rausziehen. Sogar das grässliche Vibrieren des iPhones in seiner Brusttasche war angenehmer.

«Ja?»

«Bertil hier. Ich hab den Vermieter nach Gustafsson befragt, dem Nachbarn. Scheint ein ziemlich rechthaberischer Querulant zu sein.»

«Ach?»

«Oder ein Choleriker. Jedenfalls hat er sich ausführlich über die Mieter in der Nachbarwohnung beschwert. Über Berg, auch über die Leute, die vor ihm dort gewohnt haben, und die davor und die davor.»

«Womöglich hatte er einen Grund. Du hättest dich vielleicht auch beschwert, Bertil.»

«Ha, ha. Jedenfalls hat er sich besonders nachdrücklich über Berg beklagt. Gustafsson hat so gut wie jeden Tag bei der Wohnungsgesellschaft angerufen.»

«Und nun ist das Problem für immer erledigt», sagte Winter.

 

Sie war heute noch nicht draußen gewesen, der Kühlschrank war leer, und sie brauchte dringend eine Tasse Kaffee, oder besser noch sieben Tassen, aber sie traute sich nicht raus zum Einkaufen. Einkaufen, ha, sie hatte noch ganze fünfzehn Kronen, und die reichten gerade für einen Liter Milch. Sie könnte zum «Hof» gehen, aber sie wollte sich heute nicht draußen blickenlassen. Sie wollte sich überhaupt nicht mehr draußen zeigen.

Schon mehrere Male hatte sie den Telefonhörer in der Hand gehabt, um bei der Polizei anzurufen. Eigentlich hatte sie es schon heute Nacht tun wollen, als sie nach Hause kam, aber sie war nicht ganz nüchtern gewesen, die hätten sie vielleicht gar nicht ernst genommen oder, schlimmer noch, geglaubt, sie wäre die Täterin.

Herrgott, was sollte sie tun? Sie trat ans Fenster und schaute auf die Fagottgatan hinunter, aber da gab es nichts, was sie nicht schon gesehen hatte. Nach dem Sonnenschein heute Morgen war es ein grauer Tag geworden, eine graue Lucia. Sie drehte sich um, die Lichterkrone lag auf dem Fußboden, das weiße Kleid auf einem Stuhl. Der Stoff hatte graue Flecken, sie sahen aus wie der Tag vor dem Fenster. Sie war gefallen, als sie nach Hause gegangen, das letzte Stück sogar gerannt war. Jemand hatte sie verfolgt, da war sie ganz sicher. Wenn nun jemand sie gesehen hatte, als sie auf der Schwelle zu Johnnys Bude gestanden hatte oder als sie auf dem Weg dorthin war? Sie hatte ihn aus dem Haus kommen sehen, als sie unterwegs zu Johnny war. Er war das, muss es gewesen sein. Er muss sie gesehen haben.

Irgendwo hatte sie noch eine Flasche, versteckt für einen Notfall wie diesen, nicht, dass sie so etwas schon je erlebt hätte. Wenn sie nur die Flasche finden könnte, sie wusste nicht mehr, ob es sich um Schnaps oder Wein handelte, aber verdammt, was spielte das jetzt für eine Rolle.

Inzwischen war es draußen Abend geworden. Bald war es Nacht.

 

Bertil Ringmar besuchte Witwe Sigrid Karlström in ihrer ordentlichen kleinen Wohnung. Aus ihrem Wohnzimmerfenster konnte er Hinsholmskilen sehen, das Meer war noch nicht von einer Eishaut überzogen. In seiner Jugend war er auf Schlittschuhen ganz bis nach Stora Amundön gelaufen. Diese Touren fehlten ihm. Warum hatte er damit aufgehört? Er war schließlich noch nicht lahm.

Sigrid Karlström war auch nicht lahm. Dafür war sie stocktaub. Sie konnte jedoch bestätigen, dass sie bei ihrem Bruder übernachtet hatte. Warum? Manchmal fühlte sie sich einsam. Wie war das mit den Nachbarn?, fragte Ringmar. Sie hatte keine Nachbarn gehört. Gustafsson hatte ausgesagt, dass sie den Krach in der Nachbarwohnung ebenfalls gehört habe. Das war unmöglich. Er schien bei der Vernehmung nervös gewesen zu sein. Aus welchem Grund?

 

Der Morgen war klar und kalt. Winter fuhr mit dem Fahrrad zum Präsidium, ein Fehler. In Höhe von Heden fing er an zu husten, die Luft war zu kalt für einen empfindlichen Kommissar in seinen besten Jahren. Aber es war gut fürs Gehirn, er fühlte sich ganz klar im Kopf. Als er in seinem Büro ankam, rief er, ohne seinen Mantel auszuziehen, Ringmar an.

«Zeit, dass wir uns Bergs Bekannte vorknöpfen», sagte er.

«Willst du Hoffmann heute Morgen vernehmen?»

«Damit warte ich noch ein bisschen. Ich will sofort nach Frölunda.»

«Hast du ein besonderes Ziel?»

«Ja, ich will zum ‹Hof›.»

Winter war schon früher dort gewesen. Es war eine Mischung aus Suppenküche, Wärmestube und Sozialtreffpunkt, ehrenamtlich betrieben, geöffnet für alle Einwohner des Stadtteils, die Probleme hatten.

Das ist unsere Zukunft, dachte Winter, als er über die Umgehungsstraße in Richtung Westen fuhr. Bald ist nichts mehr übrig vom Wohlstand für alle in einer Gesellschaft, die den Wohlstand erfunden hat. Es wird wie in den USA, wenn jemand gerettet werden sollte, dann von Ehrenamtlichen, nicht vom Staat. Wir fahren durch die Ruinen dessen, was einmal war, obwohl rundum auf Teufel komm raus gebaut wird. Ist das ein zynischer Gedanke? Nicht unbedingt, man könnte es ebenso gut Empathie nennen.

Winter parkte vor dem «Hof», der in der Marconigatan lag.

Drinnen tranken ein paar arme Seelen mit zitternden Händen die erste Tasse Kaffee des Morgens, bald würde das Zittern nachlassen. Aus einem anderen Raum hörte Winter jemanden lachen, das klang gut. Im Café war es kühl, es roch nach Einsamkeit und Armut.

Sie wurden von dem Leiter der Einrichtung empfangen, Mike Bike hieß er, ein Amerikaner, der seit dem Vietnamkrieg auf der Flucht vor seinem eigenen Land war.

Sie sprachen über Johnny Berg.

Freunde?

«Ich weiß nicht, was man Freunde nennen kann», antwortete Bike.

«Alles, was man auch nur annähernd mit Freundschaft in Verbindung bringen kann», sagte Winter. «Peter Hoffmann kennen wir schon.»

«Den hab ich schon seit ein paar Tagen nicht mehr gesehen», sagte Bike.

«Er ist im Augenblick bei uns», sagte Winter.

«Aha. Aber Sie glauben doch nicht, dass Hoffmann das war? Der schläft immer ein, bevor er nicht mehr klar denken kann. Das sagen alle aus der Clique hier.»

«Gibt es noch jemanden aus der Clique, den Sie seit ein paar Tagen nicht mehr gesehen haben?», fragte Winter.

«Die Leute kommen und gehen», antwortete Bike.

«Ist eine bestimmte Person seit ein paar Tagen nicht mehr aufgetaucht?»

«Sie meinen Stammgäste?»

«Ja.»

«Annika vielleicht. Sie ist in den letzten Wochen sonst jeden Tag gekommen, glaub ich, aber gestern oder heute hab ich sie nicht gesehen. Annika Helmer. Man kann wohl sagen, dass sie und Berg befreundet sind. Eigentlich ein hübsches Mädchen.»

«Eigentlich?»

«Na ja, Sie verstehen …»

«Wo wohnt sie?»

«Ich glaube, in der Fagottgatan. Nicht weit von Johnnys Bude.»

Winter sah sich um. Einige Gäste waren gegangen, andere waren gekommen. Die Sonne schien durch die großen Fenster, als ob sie auch etwas dazu beitragen wollte, damit diese Menschen an das Leben glaubten. Eine Frau saß einsam an einem Tisch und hustete leise. Sie begegnete Winters Blick, schaute weg, hustete wieder. Von irgendwoher hörte Winter Musik. Wo es Musik gab, gab es Hoffnung.

«Bitte geben Sie uns Bescheid, wenn Sie jemanden sehen, den Sie nicht kennen», sagte Winter.

 

Annika Helmer öffnete nicht. Winter und Ringmar schauten sich an. Winter klingelte noch einmal, wartete.

«Schließlich ermitteln wir in einem Mordfall», sagte er und holte den Dietrich aus der Tasche. «Es könnte ja jemand in Gefahr sein.»

Drinnen herrschte keine Gefahr, jedenfalls nicht soweit sie überblicken konnten. Annika war nicht zu Hause. Ringmar guckte unter das Bett. Winter ging ins Badezimmer. Die Wohnung war ordentlich aufgeräumt, nirgends lag Kleidung herum. Er dachte an Angela, ihre Strümpfe im Flur, zum Trocknen aufgehängte Unterhosen, Blusen auf den Sesseln … er selbst war da ganz anders.

«Wollen wir einen Zettel auf dem Küchentisch hinterlassen?», fragte Ringmar.

«Ha, ha.»

«Sie kommt wieder», sagte Ringmar.

Winter antwortete nicht.

 

Peter Hoffmann antwortete auf die Frage: «Ja, der Alte ist irgendwie krank im Kopf.»

«Sind sie ihm mal begegnet?»

«Einmal hat er die Tür geöffnet und mich wütend angestarrt.»

«Was hat Johnny erzählt?»

«Ihm tat der Kerl leid. Mir tut Stig Gustafsson leid, hat er gesagt.»

«Das war großmütig.»

«Ich würde auch wahnsinnig werden, wenn ich mich zum Nachbarn hätte, hat er gesagt.»

«Wie einsichtsvoll», sagte Winter.

«Vielleicht hat er es ja getan», sagte Hoffmann.

«Nein, Sie waren es», sagte Winter.

«Hören Sie auf.»

«War Annika in der Nacht bei Ihnen?»

«Annika. Was soll mit Annika sein? Was wissen Sie von Annika?»

«War sie in der Nacht zu Lucia in der Wohnung?»

«Nicht soweit ich mich erinnern kann. Ich war weggetreten, das wissen Sie doch.»

«Sollte sie Ihre Lucia sein?»

«Ich weiß nicht. Vielleicht eine Idee von Johnny. Das hätte Johnnyboy ähnlichgesehen.»

 

Am Abend rief Winter Annika Helmers Handy an. Sie hatte keinen Festnetzanschluss. Niemand meldete sich. Er fuhr zur Fagottgatan, schaute an der Hausfassade hoch. In ihrer Wohnung brannte kein Licht.

Er parkte vor dem Haus in der Mandolingatan.

Im Lift zu Gustafsson hinauf vermied er es, sein Gesicht im Spiegel zu mustern. Er versuchte, das Graffito an den Wänden zu deuten. Es handelte sich nicht um fröhliche Grußworte. Die Liftwände und auch die Hausfassaden des Viertels brüllten geradezu vor Wut, Verzweiflung, Hass. Sie schrien ihre Sehnsucht nach einem anderen Ort hinaus. Sie schrien nach Gerechtigkeit.

Bei Gustafsson öffnete niemand auf sein Klingeln. Die Absperrbänder vor der Wohnungstür gegenüber bewegten sich sacht, als wäre ihm ein Windhauch von draußen gefolgt.

Er legte die Hand auf die Türklinke. Die Tür war nicht abgeschlossen. Er schob sie langsam auf und zog die Sig Sauer aus dem Holster, trat über die Schwelle. Jetzt stand er im Flur. Die Wohnung war dunkel.

«Gustafsson?»

Er bekam keine Antwort, ging weiter, passierte die Küche linker Hand, hielt die Waffe bereit, ging weiter durch den Flur, auf das Schlafzimmer zu, sah das Bett, eine Silhouette auf dem Bett, getaucht in Silberlicht, das durch die Jalousien fiel. Die Silhouette rührte sich nicht.

«Gustafsson?»

Winter bekam keine Antwort.

Er drehte sich nach der Wand neben der Tür um, fand den Lichtschalter.

Das Zimmer wurde von einem gelben, hässlichen Licht erfüllt.

Stig Gustafsson lag auf dem Bett, vollkommen bekleidet, vollkommen tot. Seine Augen starrten Winter blind an. Am Hals hatte er eine abscheuliche Wunde.

 

«Dann können wir Gustafsson von der Liste der Verdächtigen streichen», sagte Ringmar.

Sie standen in Gustafssons Wohnung, umgeben von den Kollegen der Spurensicherung. Eineinhalb Stunden waren vergangen, seit Winter die Leiche entdeckt hatte. Gustafsson war schon seit vielen Stunden tot.

«Hat er überhaupt auf der Liste gestanden?», fragte Winter.

«Auf meiner ja», sagte Ringmar.

«Hoffmann können wir auch streichen», sagte Winter.

«Zumindest in diesem Fall.»

«Nein, in beiden Fällen.»

«Bist du sicher?»

«Ja.»

«Warum Gustafsson?», fragte Ringmar.

«Irgendwie ist er in die Sache verwickelt», antwortete Winter.

«War er vielleicht ein Zeuge? Und der Mörder wusste das und wagte nicht, ihn am Leben zu lassen?»

«Nein», sagte Winter. «Das ist zu einfach.»

«Genau, warum es sich einfach machen, wenn es auch kompliziert geht?»

«Gustafsson hat damit zu tun», sagte Winter. «Die Frage ist nur, wen wir jetzt fragen sollen.»

«Diese Frau», sagte Ringmar. «Annika Helmer.»

Winters Handy brummte. Die Nummer auf dem Display kannte er nicht. Er warf einen Blick auf seine Armbanduhr. Halb elf.

«Ja?»

«Hier ist Mike Bike, vom ‹Hof›.»

«Hallo, Bike. Worum geht es?»

«Ja … Sie haben doch gesagt, ich soll darauf achten, ob hier jemand auftaucht, den ich nicht kenne. Ich hab heute Abend darüber nachgedacht … Entschuldigen Sie, dass ich so spät anrufe … Heute Nachmittag ist ein Typ hier gewesen, hat bloß einen Kaffee getrunken … der gehörte jedenfalls nicht hierher.»

«Wie meinen Sie das?»

«Er war nicht so einer, der Hilfe brauchte. So sah der nicht aus. Er schien nach jemandem zu suchen.»

«Hat er etwas gefragt?»

«Nein, nicht dass ich wüsste. Und ich hab ihn auch nichts gefragt. Der Typ war mir ziemlich suspekt, wenn ich das mal so sagen darf.»

«Wann war das?»

«Am späten Nachmittag, vielleicht gegen halb sechs.»

«Wieso glauben Sie, dass er jemanden gesucht hat?»

«Er hat sich umgesehen, ist durch die Räume gegangen. Das hat mich misstrauisch gemacht.»

 

Sie war auf dem Weg zum «Hof». Zu ihrem zweiten Zuhause, sozusagen. Herrgott, dachte sie, dass mein Leben einmal so aussehen würde. Mein einziges Leben.

Sie hatte vor der Tür gestanden. Ein Mann hatte sie durch das linke große Fenster angesehen, er hatte allein in der gedämpften Beleuchtung dadrinnen gesessen. Sie kannte ihn nicht. Sein Blick gefiel ihr nicht. Er machte ihr Angst, als ob er ihr mit seinem Blick schaden könnte. Es war nach sechs gewesen und schon seit Stunden dunkel, sie fror.

Der Mann blieb sitzen. Sie ging nicht hinein, kehrte um, steuerte das Einkaufscenter an, um sich dort aufzuwärmen, sie wollte nicht nach Hause, wollte niemanden treffen.

Als sie sich umdrehte, entdeckte sie ihn. Und sie sah, dass er wusste, dass sie ihn sah. Er folgte ihr. Sie war ganz sicher. Sie wusste, dass er es war, er musste es sein.

 

Sie hatte lange in der indischen Spelunke gesessen und ein Bier getrunken, nur eins.

Um sie herum hatte die Clique geschnattert.

«Annika. Annika! Mensch, bist du still heute!»

«Komm schon, Annika!»

Stunden waren vergangen. Sie war geblieben, bis das Sicherheitspersonal die Letzten rauswarf, Leute wie sie. Leute wie wir, dachte sie.

Sie ging nach Hause. Auf den Straßen waren immer noch Passanten unterwegs, das nahm ihr ein wenig die Angst. Ihr war furchtbar kalt. Ich muss nach Hause, dachte sie, ich muss in die Wärme, es ist schon halb elf. Sie sah sich um, da war niemand. Wenn sie nur erst zu Hause wäre, dann wäre sie in Sicherheit.

 

«Wir fahren zur Fagottgatan», sagte Winter und steckte das Smartphone wieder in die Brusttasche. «Ich fürchte, jetzt kommt es auf jede Minute an.»

Sie hätten zu Fuß gehen können, aber mit Winters Mercedes ging es schneller, quer über die Rasenflächen, die Spielplätze.

Er sah Licht in Annikas Wohnung.

Der Fahrstuhl war kaputt.

Sie stürmten die Treppen hinauf. Winter spürte, dass es um Leben und Tod ging.

Gustafsson hatte jemanden beauftragt, Berg und Hoffmann einen gehörigen Schrecken einzujagen.

Es war entsetzlich schiefgegangen.

Berg war an dem Schlag gestorben. Hoffman war schon vom Schnaps außer Gefecht gesetzt, der Hammer-Mann brauchte ihn nicht anzurühren. Ausnahmsweise hatte der Schnaps ein Leben gerettet.

Annika war Zeugin, eine Lucia am falschen Ort zur falschen Zeit.

Und auch Gustafsson war zu einem gefährlichen Zeugen geworden. So musste es gewesen sein. Der arme Idiot hatte den Mörder anscheinend erpresst. Oder auch nicht. War jedenfalls verurteilt, als es schiefging. Wir werden fragen, dachte Winter. Er ist da oben. Jetzt ist nur noch Annika übrig. Nichts anderes spielt in diesem Moment eine Rolle.

Jetzt waren sie oben, Winter riss an der Türklinke, die Tür war nicht abgeschlossen, sie standen mit gezogenen Waffen im Flur, er hörte Ringmar heftig atmen, in Winters Ohren brauste es, als er durch den Flur lief, er sah sie schon im Wohnzimmer dort hinten, sie war nicht allein, Winter sah etwas aufblitzen, er schrie etwas, er sah das Blitzen des Messers, das der Kerl in der Hand hielt, oder war es ein Hammer, das war jetzt egal, er sah die Augen der Frau, sie war noch am Leben, und die Augen sahen ihn an, sahen Bertil an, sie sahen die Rettung, wir sind die Rettung, dachte er, er sah das widerliche Blitzen in der Hand des Mannes, hörte im Bruchteil einer Sekunde das Aufbrüllen von Bertils Sig Sauer, und der Mörder gefror wie zu Eis unter seinem Blick, erstarrte zu Stein. Winter hörte nichts, der Schuss hatte ihn taub gemacht, er sah, dass Annika etwas rief, konnte aber nichts hören. Und er dachte, wie gut, dass Bertil geschossen hat, er war froh, dass nicht er selbst es gewesen war.

Johan Theorin

Die letzte Reise

Aus dem Schwedischen von Kerstin Schöps

In der Dunkelheit hört er seine Atemzüge, keuchend und stockend.

In der Erinnerung sucht er nach seinem Namen: Vasa Malmsten.

In seinem Inneren steigt eine unsägliche Übelkeit in ihm hoch. Sein Kopf vibriert noch von den harten Schlägen gegen Ohren und Stirn. Sein Blick ist verschwommen, die Nase gebrochen.

Vasa will sich übergeben, aber er spürt die Lederweste, die an seinen Schultern spannt, und erinnert sich daran, wie kostbar sie ist. Die Kutte muss sauber bleiben. Darum reißt er sich zusammen.

Wer hat ihn so zusammengeschlagen, bevor er ohnmächtig wurde? Das war er selbst gewesen. Sein Körper, fast hundert Kilo schwer, ist wie ein Gummiball zwischen dem Dach und den Seitentüren hin und her geflogen.

Vasa versucht, seinen Blick scharf zu stellen. Vor ihm ist eine gesprungene Windschutzscheibe. Ein verbogenes Lenkrad drückt ihm gegen die Brust, und seine Schultern werden gegen einen weichen Sitz gepresst.

Ein Auto. Er ist in einem Autowrack gefangen, das genauso lädiert ist wie er.

Es ist dunkel und kalt, der Motor läuft nicht.

Er ist nicht allein, neben ihm sitzt jemand auf dem Beifahrersitz. Ein lebloser Körper, der vornübergesunken im Sicherheitsgurt hängt.

Vasa streckt den Rücken durch, versucht, einen klaren Kopf zu bekommen.

In diesem Moment gerät der Wagen ins Schwanken. Das Blech knirscht.

Das Auto muss abgestürzt, aber noch nicht auf dem Boden aufgeschlagen sein, begreift Vasa. Es hängt mitten im Nichts und schaukelt in der Dunkelheit hin und her.

Er hält den Atem an und verkrampft sich – alles, was frei in der Luft hängt, muss früher oder später herunterfallen.

Aber nichts geschieht. Das Auto scheint sich an etwas festzuklammern.

Vasa atmet vorsichtig aus, er blinzelt. Was ist geschehen? Heute Morgen war noch alles in Ordnung, es war ein sonniger Tag, und er war mit seinem besten Kumpel unterwegs. Seinem einzigen Kumpel.

Vasa erinnert sich genau, wie Drake am Morgen aussah: stark und unerschütterlich. Pralle Muskeln, gerader, breiter Rücken, lange, geschmeidige Schritte. Drake bewegte sich wie ein Panther auf zwei Beinen, als sie den Parkplatz des Hotels überquerten. Vasa brauchte nur neben ihm zu gehen und spürte, wie diese unglaubliche Energie auf ihn überging.

Sie waren wie zwei Streitwagen, Vasa und Drake, unverwundbar. Als wären sie von einem unsichtbaren Schutzschild umgeben. Aus Panzerglas, ohne Riss, ohne Loch.

Vasa mochte dieses Gefühl. Bevor sie sich als Hangarounds bei den Brüdern kennenlernten, hatte er sich seinen eigenen Schutzpanzer gegen die Welt aufgebaut. Aber seit er mit Patrik Drake unterwegs war, wurde der Panzer immer dicker und stärker. Niemand konnte ein Loch hineinschlagen.

Vasa und Drake waren aus Stockholm nach Örebro gekommen und würden ein paar Tage in der Gegend bleiben. Eine kurze Geschäftsreise, wie immer. Sie fuhren einen anonymen Datsun, keine Motorräder. Ihre Kutten hatten sie dabei, aber die waren im Kofferraum verstaut.

Am Abend ihrer Anreise waren sie ein Steak essen gegangen und danach im Fitnessraum des Hotels Eisen fressen. Vasa hatte beim Bankdrücken hundertdreißig Kilo gestemmt. Drake hatte ihn beobachtet und gesagt, er würde mehr schaffen. Und das tat er auch, hundertfünfzig Kilo mit geschwollenen Adern. Daraufhin hängte sich Vasa das Doppelte auf die Beinpresse, um es ihm zu zeigen. Er grinste Drake an, und sie gaben sich ein High Five.

Gegen halb elf gingen sie zu Bett. Um sieben standen sie auf. Zeit zu arbeiten.

Viertel nach acht fuhr Drake vom Hotelparkplatz, Vasa saß auf dem Beifahrersitz. Er schielte zu Drake hinüber, aber sein Partner starrte stumm geradeaus auf die Straße.

So war Drake, verschlossen. Er ließ seine Blicke sprechen. Wenn er jemandem seinen Willen aufzwingen wollte, starrte er ihn einfach in Grund und Boden, bis er sein Ziel erreicht hatte. Dieses Talent hätte Vasa auch gern gehabt.

Vasa zieht die Nase hoch, es tut unglaublich weh. Warmes Blut läuft ihm die Kehle hinunter.

Er tastet nach dem Hebel und schaltet die Scheinwerfer ein. Doch nichts geschieht.

Er dreht den Kopf nach rechts; neben ihm sitzt ein Mann. Eine männliche Leiche mit einem zerrissenen, blutgetränkten Pullover.

Vasa erinnert sich wieder, er war dabei, als der Mann starb.

Dann dreht er den Kopf nach links und schaut aus dem Fenster. Tief unter ihm sieht er eine glitzernde Wasseroberfläche. Wie ein großer Brunnen.

Nein, es ist kein Brunnen. Direkt neben der Beifahrertür erhebt sich eine Steilwand, uneben und von glänzendem Eisenerz durchzogen.

Er befindet sich in einem stillgelegten Steinbruch, dessen Wände fast senkrecht in die Tiefe stürzen.

Jetzt erinnert Vasa sich wieder.

Der Steinbruch sollte alle ihre Probleme lösen.

Plötzlich geht ein schwaches Licht im Wageninneren an. Vasa sieht sich vorsichtig um, die Lichtquelle befindet sich im Fußraum unterm Steuer. Sein Handy liegt dort. Das Display leuchtet und taucht den Innenraum in einen weißen Schimmer.

Er streckt den Arm aus und greift nach dem Handy. Der Akku ist fast leer, das Batteriesymbol ist rot.

Er geht ran. «Hallo?»

Eine ruhige Stimme antwortet: «Du lebst also noch.»

Vasa schluckt Blut. Er kennt die Stimme.

Vasa erinnert sich an die Autofahrt mit Drake. Eine angenehme Geschäftsreise.

Am Anfang drehten sie ihre Runden durch Örebro. Vasa kannte die Stadt gut, seine Großmutter hatte dort gelebt, er selbst war in einem Ort nur etwa 50 Kilometer nördlich davon aufgewachsen. Als Kind hatte er in den Wäldern gespielt, zwischen den Felsen und stillgelegten Steinbrüchen. Und hatte sich die ganze Zeit gewünscht, weit weg zu sein.

Jetzt war alles anders. Er war erwachsen und von Panzerglas umgeben, und er hatte Drake.

Und Vasa fuhr nicht nach Hause, er kam nur zurück. Die Brüder hatten ihm dieses Gebiet zugeteilt, weil er sich hier auskannte.