Blutspecht - Bernd Leix - E-Book

Blutspecht E-Book

Bernd Leix

4,2

Beschreibung

Herbst 2013, wenige Monate vor Einrichtung des Nationalparks Schwarzwald: Die Widerstände gegen das Naturschutz–Großprojekt der grün-roten Landesregierung werden geringer. Doch nicht alle geben auf: Organisation Blutspecht will den Park um jeden Preis verhindern. Niemand soll sich getrauen, beim Nationalpark zu arbeiten. Niemand, der dort mitmacht, soll sich sicher fühlen. Ohne Personal kein Park! Ebenso einfach wie genial. Eine blutige Spur zieht sich durch den Schwarzwald.

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Bernd Leix

Blutspecht

Oskar Lindts neunter Fall

Impressum

Personen und Handlung sind frei erfunden.

Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen

sind rein zufällig und nicht beabsichtigt.

Besuchen Sie uns im Internet:

www.gmeiner-verlag.de

© 2014 – Gmeiner-Verlag GmbH

Im Ehnried 5, 88605 Meßkirch

Telefon 0 75 75 / 20 95 - 0

[email protected]

Alle Rechte vorbehalten

Lektorat: Claudia Senghaas, Kirchardt

Herstellung / E-Book: Mirjam Hecht

Umschlaggestaltung: U.O.R.G. Lutz Eberle, Stuttgart

unter Verwendung eines Fotos von: © Ornitolog82 – Fotolia.com

ISBN 978-3-8392-4496-8

Prolog

Spätsommer 2013 – imNordschwarzwaldkehrt Ruhe ein.

Zwar hat der Landtag in Stuttgart denNationalparknoch nicht beschlossen, aber der Gesetzesentwurf wurde im Juni vom Ministerrat abgesegnet, und die zuständigen Behörden arbeiten fieberhaft an der Planung. Sobald das Parlament zustimmt, soll die Einrichtung des Schutzgebiets beginnen.

Doch was ist aus denen geworden, die vehement gegen dieses Projekt gekämpft haben?

Die Leserbriefschlachten geschlagen haben?

Die zu Hunderten demonstriert haben?

Die mit ihren Traktoren und Lastwagen die Straßen blockiert haben?

Die Autos zerkratzt, Scheiben eingeworfen und Reifen zerstochen haben?

Die bei Versammlungen die Politiker angepöbelt, beschimpft und beleidigt haben?

Haben die Gegner resigniert?

Hat sich die Bevölkerung mit dem Park abgefunden?

Was ist in Baiersbronn aus den 78% geworden, die bei der Bürgerbefragung im Mai dagegen gestimmt haben?

Schauen jetzt alle nach vorne und versuchen, das Beste daraus zu machen?

Die Lage hat sich beruhigt – wirklich?

Nur scheinbar!

Mindestens einer ist enttäuscht.

Einer ist verbittert.

Einer ist wütend.

Einer ist zornig.

Einer beschließt, zu handeln.

Das Wort muss zur Tat werden!

Sein Ziel ist klar:

den Nationalpark verhindern, verhindern um jeden Preis.

Auch der Weg zum Ziel ist klar:

Niemand soll sich getrauen, beim Nationalpark zu arbeiten.

Niemand, der dort mitmacht, soll sich sicher fühlen.

Ohne Personal kein Park!

Ebenso einfach wie genial.

Er wird alleine handeln. Ganz alleine.

Nur dann kann es gelingen.

Keine Mitwisser – kein Risiko.

Er ist fit, er ist stark und er ist:

Der BLUTSPECHT!

Kapitel 1

Die Post brachte einen großen gepolsterten Briefumschlag. BÜCHERSENDUNG stand darauf gestempelt, rote Farbe auf festem braunem Papier. Ein gedruckter Aufkleber trug die Adresse:

Naturschutzzentrum Ruhestein

Schwarzwaldhochstraße 2

77889 Seebach

Wie jeden Tag sortierte Kathrin Schuler die Eingangspost. Die Abiturientin aus Freudenstadt arbeitete seit einigen Wochen am NAZ, wie das Naturschutzzentrum oben am Ruhesteinpass zwischen Murg- und Achertal kurz genannt wird. Biologie war das Studienfach ihrer Wahl und ein freiwilliges ökologisches Jahr im praktischen Naturschutz eine wunderbar passende Vorbereitung dazu. Die Stellen dafür sind rar, und so hatten sich Freund und Eltern richtig doll mit ihr gefreut, als im Juni die Zusage gekommen war. »Ein Mordsglück!« Leider wusste Kathrin zu diesem Zeitpunkt noch nicht, wie recht sie mit diesem Ausdruck haben sollte.

Sie beachtete gar nicht, dass der dicke Umschlag ohne Absender war, überlegte kurz, wo sie die Hülle am besten aufschneiden konnte, und nahm die lange vernickelte Büroschere in ihre rechte Hand.

Eine Sekunde später war ihre linke Hand nur noch ein blutiger Klumpen. Die Detonation ließ die Grundmauern der altehrwürdigen Villa Klumpp erzittern, und Kathrins Schmerzensschreie gellten durch das ganze Haus. Dann rutschte sie ohnmächtig vom Stuhl.

Eineinhalb Stunden nach der Explosion der Briefbombe im NAZ lag Kathrin Schuler bereits auf dem Operationstisch der Berufsgenossenschaftlichen Unfallklinik in Tübingen. Aus ihrem Mund ragte ein dicker Kunststofftubus, über den sie beatmet wurde, und eine Vielzahl von Kabeln übertrugen Kreislaufdaten an einen Überwachungsrechner. Verschiedene Infusionen versorgten das Mädchen mit Flüssigkeit als Ersatz für das verlorene Blutvolumen. Handchirurg Prof. Dr. Peter Leibhold warf einen Blick zur Anästhesistin: »Stabil?« Ein Nicken war die Antwort. Dann begann Leibhold, den dicken Druckverband um Kathrins linke Hand aufzuschneiden. Plötzlich spritzte ihm hellrotes Blut an den Kittel, doch sein assistierender Kollege war darauf gefasst und drückte mit der bereitgehaltenen Klemme blitzschnell die Arterie zusammen.

»Ein Glück«, sagte der Chefarzt und begann, sich vorsichtig in den Matsch von Blut, Haut, Sehnen und Knochen hineinzutasten. »Ein Glück, dass die Ersthelfer so schnell und professionell verbunden haben. Sie hätte ohne Weiteres verbluten können.«

»Auch mit dem Hubschrauber hatte sie Glück«, antwortete die Narkoseärztin. »DerChristof 11 war gerade in Freudenstadt zum Heimflug nach Villingen-Schwenningen gestartet. Hat nur ein paar Minuten gedauert, bis er am Ruhestein wieder runter ging. Sonst kannst du dort an der Hochstraße lange warten, bis der Notarzt angefahren kommt.«

Professor Leibhold wurde ganz nachdenklich und starrte auf das zerfetzte Chaos, das einmal Kathrin Schulers linke Hand gewesen war: »Hier braucht unsere junge Patientin mehr als nur Glück. Viel mehr. Ob wir das wieder hinbekommen, kann ich beim besten Willen noch nicht sagen. Eins steht fest: Früher hätte man sofort amputiert.«

ORGANISATION BLUTSPECHT. Damit war das Bekennerschreiben unterzeichnet, das am Tag nach dem Anschlag bei derStuttgarter Zeitung, beimSüdwestrundfunkin Tübingen und beimSchwarzwälder Botenin Freudenstadt einging. Eine gewöhnliche Postsendung, einfacher weißer Briefumschlag, darin ein zusammengefaltetes Blatt.

Links der Text, rechts ein Foto.

Nur Verräter arbeiten im Nationalpark!

Wer das tut, muss büßen.

Jeder kommt dran.

Niemand ist sicher.

Der Knall im NAZ war erst der Anfang.

Stoppt diesen Schwachsinn!

Kein Nationalpark in unserem Nordschwarzwald!

Die Schrift prägnant und fett in roter Farbe, das Foto aufsehenerregend: Ein Schwarzspecht, festgekrallt an der grauen Rinde eines Buchenstammes, offensichtlich dabei, mit großer Energie und seinem langen spitzen Schnabel eine Höhle ins Holz zu hacken. Rings um den Vogel stoben die Späne, doch statt schwarzem Gefieder und roter Kappe trug dieser Specht rote Federn und einen schwarzen Schopf!

Darunter in dicken Lettern: ORGANISATION BLUTSPECHT

Die Geschehnisse trafen sowohl die Medien als auch die Polizei völlig unvorbereitet. Nach Ansicht der Spezialisten des Landeskriminalamts hatte sich das Aggressionspotential der Bevölkerung in den letzten Monaten deutlich verringert. Gegner und Befürworter standen sich zwar immer noch feindselig gegenüber, doch Ausschreitungen oder Krawalle waren nicht mehr vorgekommen. »Wir können bald wieder zum Normalbetrieb übergehen«, hatte der Freudenstädter Kripochef Franz-Otto Kühn noch vor wenigen Tagen in der großen internen Dienstbesprechung im Brustton der Überzeugung von sich gegeben.

Auch Presse, Radio und Fernsehen richteten ihren Fokus nicht mehr so sehr auf die Querelen in den dunklen Wäldern. Nur noch gelegentlich berichteten sie von Protestaktionen, wie etwa das aus vielen Menschen gebildete und aus der Luft fotografierte NEIN auf dem Hang des Skilifts Seibelseckle.

Doch jetzt war schlagartig wieder alles anders.

Sowohl Polizisten als auch Journalisten standen wie vom Donner gerührt.

Terrororganisation bombt gegen Naturschutz, schrieb Europas größte Tageszeitung in fetten roten Lettern und fügte an: Wer steckt hinter BLUTSPECHT? Das Bekennerschreiben mit dem feuerrot gefiederten Vogel wurde dabei in maximaler Größe abgebildet.

Der Kampf gegen den Nationalpark nimmt eine unvorstellbare Wendung, prangte unübersehbar auf der Titelseite der Stuttgarter Zeitung. Die mit langjährigem Insiderwissen aus der Schwarzwaldregion ausgestattete Redakteurin brachte es auf den Punkt: Kein Personal – kein Nationalpark: BLUTSPECHT kann grün–rote Pläne zum Scheitern bringen.

Die Politik jedoch reagierte mit trotzigem Zweckoptimismus: »Wir lassen uns von kriminellen Elementen nicht erpressen. Die Ermittlungen laufen bereits auf Hochtouren, und wir sind sicher, dass unsere Spezialisten diese unglaublich perfide Tat bald aufklären können.«

Die Organisation der Nationalparkgegner distanzierte sich eiligst auf das Schärfste von den verbrecherischen Machenschaften: »Niemand aus unseren Reihen würde zu solchen Mitteln greifen. Wir sind immer noch gegen den Park, aber unser Protest ist absolut friedlich!«

Verschiedene Fernsehsender sandten Aufnahmeteams in das obere Murgtal, um die Stimmung in der Bevölkerung einzufangen. Angst und Abscheu dominierten die Interviews, doch auf die Frage der Reporter: »Könnten Sie sich vorstellen, im Nationalpark zu arbeiten?«, fand sich niemand, der uneingeschränkt ja sagen mochte.

Ausweichende Antworten wie: »Sicherlich hat die Fahndung demnächst Erfolg«, oder »Diese Bande wird hoffentlich bald geschnappt«, waren die Regel.

Im Lagezentrum der Polizei konnte man von einem solchen Optimismus nicht das Geringste spüren. Die Sonderkommission - auf direkte Anweisung der Landesregierung mit einer Personalstärke von über 100 Mann ausgestattet - bestand aus Beamten des Landeskriminalamts, der Bereitschaftspolizei und der Freudenstädter Polizeidirektion. Kripochef Kühn hatte zudem darauf bestanden, auch ein Ermittlerteam mit einzubinden, das in Sachen Nationalpark bereits einmal sehr erfolgreich gewesen war. »Der Oskar muss her. Unbedingt. Mit seiner ganzen Mannschaft.«

Damit war Oskar Lindt gemeint: Erster Kriminalhauptkommissar aus Karlsruhe und Leiter der dortigen Mordkommission. Ihm war es gelungen, zusammen mit seinen Kollegen Paul Wellmann und Jan Sternberg im Jahr zuvor als verdeckte Ermittler einen spektakulären Fall in Baiersbronn zur Aufklärung zu bringen.

»Oh nein, nicht schon wieder Schwarzwald …«, stöhnte Jan, als er die E-Mail aus Freudenstadt las. »Tagelang, wochenlang …«

Oskar Lindt jedoch wusste sofort, dass sein Team keine Alternative hatte: »Wenn es dumm läuft, sogar monatelang. Nach dem, was die Zeitungen schreiben, ist völlig klar: höchste Priorität. Dem können wir uns auf gar keinen Fall entziehen.«

»Und wie soll ich das meiner Familie erklären?«

Lindt begann eine seiner dicken Pfeifen zu stopfen und musterte den jungen Kollegen nachdenklich: »Jan, ich versteh dich nur zu gut. Mir wäre ein Fall hier in der Oststadt auch lieber. Auch Carla wird bestimmt nicht begeistert sein, wenn ich wieder weg bin, aber wir haben keine Wahl.«

Sternberg ließ sich in seinem Bürosessel kraftlos nach vorne rutschen: »Augen auf bei der Berufswahl, sag ich nur.«

»Polizistenlos. Wir müssen halt spuren«, versuchte ihn sein Chef zu trösten. »Aber vielleicht kannst du ja teilweise von hier aus recherchieren. Ich werd’ sehen, was sich machen lässt.«

Kapitel 2

So kam es dann auch. Zunächst packten nur Lindt und Wellmann die Koffer. Jan Sternberg wurde für besondere Aufgaben vorerst im Karlsruher Polizeipräsidium belassen.

Im Schwarzwald hatte die große Lagebesprechung bereits stattgefunden. Deshalb informierte der Freudenstädter Kripochef Franz-Otto Kühn die zwei Badener separat über den aktuellen Ermittlungsstand.

Der Mann stand sichtbar unter Strom. »Alarmstufe rot«, keuchte er, und seine ebensolche Gesichtsfarbe ließ keinen Zweifel daran. »In Stuttgart drehen alle durch. Stellt euch nur mal vor, so eine Gruppe von Spinnern bringt das Prestigeprojekt der Landesregierung zu Fall. Der Schaden für die Politik wäre nicht auszudenken.«

»Dann hätten die Nationalparkgegner ihr Ziel erreicht«, nickte Paul Wellmann. »Wenn keiner mitspielt, stirbt der Plan.«

»Alle haben Kreide gefressen«, stöhnte Kühn. »Bedauern, wo man auch hinschaut. Glaubt bloß nicht, dass sich einer von denen jetzt öffentlich positioniert. Alle tun so, als würden sie von Mahatma Gandhi persönlich abstammen, zumindest, was ihre Gesinnung anbelangt. So oft, wie in den letzten Tagen habe ich die Worte ›friedlich‹ und ›gewaltlos‹ von denen noch nie gehört.«

»Aber was abgeht, wenn keiner zuhört …«, hob Oskar Lindt die Augenbrauen.

»Genau«, bestätigte Kühn. »Jede Wette, dass die ORGANISATION BLUTSPECHT schon eine große Menge stiller Bewunderer hat.«

»Die Idee an sich hat ja durchaus Erfolgspotential«, meinte Lindt. »Überlegt doch mal: Diese schrägen Vögel haben ein Ziel. Kein Nationalpark! Auf politischem Weg kommen sie nicht weiter, also suchen sie andere Wege. Den Gedanken an sich – jetzt mal völlig wertneutral betrachtet – finde ich fast schon genial. Ein Park, in dem niemand arbeiten will, kann gar nicht erst entstehen.«

»Oskar, ist das die ungewohnte Höhenluft?« Franz-Otto Kühn konnte noch gar nicht glauben, was er hier gerade gehört hatte. »Sympathisierst du etwa mit denen?«

Lindt grinste: »Nur wer weiß, wie sein Gegner tickt, kann ihn besiegen. In Straßburg hätten bei einem solchen Konflikt sicherlich nächtelang die Autos gebrannt. Hier dagegen sind die Leute brav. Sie wählen Schwarz und sind gewohnt, der Obrigkeit zu gehorchen.«

»Okay«, lenkte Kühn ein, »wenn du die Vorkommnisse nur mal rein theoretisch analysieren möchtest, kann das ein Ansatz sein.«

»Genau. Was war bisher? Nur ein paar kleinere Sachbeschädigungen. Aber jetzt stehen wir an der Schwelle zur großen Eskalation. So was hat es noch nie gegeben, deshalb meine ich, wir dürfen die BLUTSPECHTE auf gar keinen Fall unterschätzen. Findige Köpfe – dafür haben sie meine Anerkennung.«

»Lass das lieber hier keinen hören. Die Empörung ist riesig, zumal das verletzte Mädchen mit dem Nationalpark überhaupt nichts zu tun hatte. Freiwilliges Jahr im Naturschutz - und dann so was.«

»Sie war halt zur falschen Zeit am falschen Ort. Kollateralschaden eben. Aber insgesamt werte ich die Briefbombe nur als einen Warnschuss. Mit dem richtigen Sprengstoff …«

»… wäre sie wahrscheinlich ganz zerfetzt worden und nicht nur ihre Hand«, ergänzte Franz-Otto Kühn. »Andererseits sind wir uns alle einig, dass der Ruhestein jetzt besonders bewacht werden muss. Wir haben dauerhaft eine Streife dort stationiert. Das NAZ ist eindeutig Feindbild Nummer 1 für die Parkgegner. Keimzelle des Schutzgedankens und für die Gegner daher Quell allen Übels.«

Lindt schaute ihn durchdringend an: »Wir müssen die Personen schützen, nicht nur die Gebäude. Wenn BLUTSPECHT wieder zuschlägt, dann bestimmt nicht im Naturschutzzentrum. Oder glaubt ihr vielleicht, die spazieren dort rein und starten einen Amoklauf?«

Kühn schlug die Hand vor den Mund: »Denk doch nicht gleich an das Schlimmste, Oskar.«

»Wieso? Kannst du das ausschließen?«

Der Kripochef suchte nach Worten: »Ich … ich …«

»Genau«, unterbrach ihn Lindt. »Gar nichts lässt sich jetzt mit Sicherheit ausklammern. Wir müssen auf alles gefasst sein. Eine Taschenkontrolle habt ihr ja bereits eingerichtet. Gut und schön, aber wer schützt die zukünftigen Nationalparkbeschäftigten, wenn sie nach Hause fahren?«

»Oder nachts?«, setzte Paul Wellmann nach. »Oder am Wochenende?«

»Die wohnen …« Kühn kratzte sich am Kopf. »Eigentlich wissen wir noch gar nicht, wo die ganzen NAZ-Mitarbeiter alle wohnen. Aber das können die von der Streife sicherlich schnell herausfinden.«

»Lass mal«, wehrte Lindt ab. »Wir beide machen das.«

»Besonders gefährdeter Personenkreis«, stimmte sein Partner Wellmann zu, »wir fahren hoch auf den Ruhestein, erheben die Daten und lernen die Leute dabei gleich alle persönlich kennen. Das ist sicherlich kein Fehler.«

Der BLUTSPECHT ließ ihnen allerdings keine Zeit dazu.

Exakt in dem Moment, als die zwei Karlsruher Kommissare in ihren bequemen französischen Dienstwagen stiegen, um die Schwarzwaldhochstraße anzusteuern, machte sich auf dem Ruhesteinparkplatz in der Nähe des Bergwachtgebäudes ein Wanderer fertig. Die Temperaturen des sonnigen Septembertages waren selbst in den Hochlagen so angenehm, dass der Mann beschloss, seine leichte Jacke im Auto zu lassen. Mit eng anliegendem sandfarbenem Poloshirt, das seinen athletisch durchtrainierten Oberkörper betonte, der farblich passenden Cargohose eines bekannten schwedischen Outdoor-Ausrüsters und einer im selben Ton gehaltenen Baseballmütze entsprach er genau den Bekleidungsnormen des aktiven Schwarzwaldurlaubers. Er öffnete die Heckklappe des schwarzen BMW-Geländewagens, holte ein Paar Trekkingstiefel heraus, streifte seine bequemen Slipper von den Füßen, schlüpfte in die gut eingelaufenen Wanderschuhe und schnürte sie mit geübten Bewegungen. Der Mann verschloss den Wagen, rückte die Designersonnenbrille zurecht, fühlte kurz nach dem Inhalt beider Schenkeltaschen und reihte sich gemächlich in die Schar derer ein, die den herrlichen Sonnentag auf den Schwarzwaldhöhen genießen wollten.

Mit federnden Schritten ging er am Naturschutzzentrum vorbei, warf einen flüchtigen Blick auf die dort geparkten Autos, beachtete die Ruhesteinschänke nicht und nahm den Weg, der quer über den Skihang bergan führte.

Er ging nicht zu schnell. Langsamer, als man es von einem schlanken Sportler eigentlich erwartet hätte. Doch er hatte nicht vor, die drei älteren Spaziergänger, die vor ihm den Hangweg hinaufzogen, zu überholen.

Ab und zu blieb er deshalb stehen, tat, als würde er die Gegend betrachten, und ließ so den Abstand größer werden. Am Waldrand, bei der ersten Kehre, machte er wieder Halt. Zufrieden stellte er fest, dass im Moment niemand von hinten zu dicht aufschloss, angelte sein Smartphone aus der rechten und ein kleines Faltfernglas aus der linken Oberschenkeltasche. Das Glas richtete er nach unten auf den Hof der altehrwürdigen Villa Klumpp, dem Sitz des NAZ.

Er erkannte eine Familie, die gerade aus der Eingangstür kam, zwei Erwachsene, vier Kinder. Also abwarten, erst mal ruhig durchatmen. Unbeteiligte durften nicht schon wieder zu Schaden kommen. Zumindest im Moment noch nicht …

Es dauerte einige Minuten, bis alle weit genug weg waren. Weit genug für den Befehl, den er durch die vorgespeicherte SMS übertragen würde. Der Daumen seiner rechten Hand näherte sich dem »Senden«-Button.

Halt! Jetzt waren es vier Personen, die in den Hof des NAZ einbogen.

Mist, noch mal warten.

Er ließ das Fernglas sinken und spähte den Weg entlang.

Von unten kam im Moment niemand, doch von oben näherten sich ihm zwei ältere Frauen mit Nordicwalkingstöcken. Die musste er auf jeden Fall noch vorbei lassen.

Glücklicherweise waren die beiden sehr in ihr Gespräch vertieft und würdigten ihn keines Blickes. Die Zeit, bis die zwei Schnatterenten weit genug weg waren, erschien ihm ewig.

Der Wanderer nahm das Fernglas hoch. Unten beim NAZ war niemand mehr zu sehen.

Jetzt gleich … jetzt! Er drückte auf das Smartphone.

Ein dumpfer Knall, eine Feuersäule. Der gepflegte ältere Jeep hinter dem Naturschutzzentrum stand voll in Flammen! Eine schwarze Qualmwolke breitete sich aus.

Ein Lächeln zog über das Gesicht des Mannes.

Bingo! Geht doch!

Erst der explodierende Brief, jetzt die Steigerung.

Eine Autobombe - wie im Irak oder in Afghanistan!

Schon wieder ein Schlag gegen diesen absurden National­park!

Der BLUTSPECHT ist aktiv!

Niemand ist vor ihm sicher!

Schon gar nicht die, die in diesem historischen Gebäude da unten arbeiteten und bald gut dotierte Posten im Park erhalten sollten!

Der Wanderer ließ das Fernglas sinken und linste wieder in die Runde.

Wie nicht anders zu erwarten, waren die Gesichter sämtlicher Spaziergänger, die er von seinem Platz aus sehen konnte, auf den Ort des Geschehens gerichtet.

Prima! Der ideale Zeitpunkt, um nach hinten im Wald unterzutauchen.

Ein letzter Blick durch das Fernglas: Mehrere Gestalten mit Feuerlöschern stürzten aus der Eingangstür.

»Na dann löscht mal schön«, sagte der BLUTSPECHT grinsend halblaut zu sich selbst, »nicht dass die ›heilige Villa‹ noch Schaden nimmt.«

Im selben Moment passierte es: eine weitere Explosion, weitaus stärker als die erste. Zwei Personen wurden meterweit durch die Luft geschleudert. Ein glühender gelbroter Feuerball breitete sich aus.

Dem Mann stockte der Atem. Das hatte er nicht erwartet. Die Sprengladung war doch direkt am Benzintank festgeklebt gewesen. Konnte der erst verzögert explodiert sein? Oder hatte der Wagen etwa …?

Egal, jetzt nichts wie weg. Das Adrenalin in seinen Adern befahl: Flucht!

Er schlug sich hastig ins Gebüsch und war schon nach wenigen Metern vom Skihang aus nicht mehr zu sehen.

Dann zwang er sich wieder zur Ruhe. Wesentlich langsamer als zuvor schlich er vorwärts. Stieg über umgestürzte Stämme, kletterte über mehrere große Sandsteinblöcke und wand sich – immer am Hang entlang - durch dichte Stellen voller kleiner Fichten, deren Nadeln ihm schmerzhaft in die Arme pieksten.

Endlich, nach zehn Minuten, hatte er es geschafft. Ein breiter Waldweg lag vor ihm. Er kletterte die hohe Böschung hinunter und schaute sich vorsichtig um. Niemand zu sehen. Ein forstlicher Wirtschaftsweg eben und keiner der vielen Touri–Trampelpfade.

Der Mann nahm seine Kappe ab, die Sonnenbrille auch, zog sich das Shirt über den Kopf und schüttelte es aus. Nadeln, Erde und Rindeteilchen flogen davon. Schnell schlüpfte er wieder hinein und wischte noch flüchtig über seine Hose.

So, jetzt weiter, immer talwärts. Obertal war sein Ziel.

In der Ferne hörte er von unten das erste Martinshorn.

Oskar Lindt und Paul Wellmann fuhren auf der B 500, der Schwarzwaldhochstraße, kurz vor dem Schliffkopfhotel, als der Funkspruch sie erreichte.

»Explosion auf dem Ruhestein. Feuer und Verletzte. Alle verfügbaren Kräfte zum Naturschutzzentrum.«

Die beiden Kommissare schauten sich an.

»Scheiße«, sagte Paul, und Oskar nickte: »BLUTSPECHT! Die Sauerei geht weiter.«

Er griff hinter den Sitz, zog das Magnetblaulicht hervor und setzte es durch das offene Seitenfenster aufs Dach. Dann drückte er das Gaspedal durch und ließ den Sechszylindermotor des großen Citroën aufheulen.

Wellmann nahm den Handapparat des Funkgeräts: »Standort Schliffkopf, wir fahren an.«

Wenige Minuten später trafen sie ein. Beißender dunkler Rauch zog quer über die Straße. Lindt hatte Mühe, nicht mit dem Bordstein zu kollidieren. Er ließ den Qualm hinter sich, stoppte den Wagen in sicherer Entfernung und sprang hinaus. Das Blaulicht ließ er eingeschaltet.

Er rannte zur Heckklappe, zog zwei neongelbe Westen mit der Aufschrift »POLIZEI« heraus und warf seinem Kollegen eine davon zu. »Hier, zieh sie drüber!«

Dann eilten beide in Richtung des Brandherds.

Ein schockierendes Bild erwartete sie.

Zuerst sahen sie blau. Blaue Polizeiuniform. Blau und schwarz. Verkohlt und in Fetzen hing die Dienstkleidung an dem Streifenbeamten herunter, der seitlich im Gras saß und gerade verbunden wurde. Laut stöhnend drückte er sich zwei weiße Kompressen auf die Augen. Eine jüngere Frau im Wanderdress schlang mit fachkundigen Bewegungen eine elastische Binde um seinen Kopf.

»Kennen Sie sich aus?«, rief Lindt ihr zu.

Die Frau nickte: »Krankenschwester. Hat starke Verbrennungen. Braucht dringendst einen Arzt …«

»Ist schon unterwegs«, antwortete der Kommissar und hoffte inständig, dass er recht hatte.

Einige Meter weiter der nächste Polizist. Auch er war sichtbar lädiert. Rücklings lag er auf einer Bank. Augen geschlossen, Gesicht und Hände voller Blut. Zwei Männer kümmerten sich um ihn. Ein geöffneter orangefarbener Erste-Hilfe-Koffer daneben.

»Ist er ansprechbar?«, keuchte Lindt. »Hallo, Kollege, können Sie mich hören?«, setzte er nach, ohne eine Antwort der Helfer abzuwarten.

Der Polizist schlug die Augen auf. »Mich hat’s voll erwischt«, stöhnte er. »Ich krieg kaum Luft!«

»Hinsetzen, dann geht’s besser«, beruhigte ihn Paul Wellmann. »Moment, ich helfe hoch.«

»Er … er … er hat den Feuerlöscher voll gegen die Brust bekommen«, stammelte der eine Ersthelfer. »Ich war grad noch in der Tür, als es zum zweiten Mal geknallt hat. Er ist mir quasi in die Arme geflogen.«

»Arbeiten Sie hier?«, wollte Lindt wissen.

»Biologe«, antwortete der Mann. Auch der zweite Helfer nickte. »Wir sind beide vom NAZ. Mein Auto …« Er zeigte in Richtung des rauchenden Trümmerhaufens.

»Noch mehr Verletzte?«

Der Biologe schüttelte den Kopf: »Die beiden Polizisten sind als Erste raus. Dann kam die zweite Explosion.«

»Autogas«, sagte der andere.

Lindt griff zu seinem Handy, wählte die 110 und gab eine erste Lagemeldung durch. »Zwei schwerverletzte Kollegen. Brandwunden, Gesicht, Augen, Brust, vielleicht was Inneres.«

»Feuerwehr und Rettung sind unterwegs. Auch der Hubschrauber.«

»Die sollen noch einen schicken. Beiden geht’s echt dreckig.«

»Unsere Kollegen, die zur Bewachung eingeteilt waren?«

»Ja«, antwortete Lindt kurz und kämpfte gegen den Kloß in seinem Hals an.

Dann legte er auf, nahm die Hand des nach Luft ringenden Polizisten. »Geht’s schon ein wenig besser mit dem Schnaufen?«

»Klein bisschen«, stöhnte der Kollege. »Wer …?«

»Kripo Karlsruhe, ich bin Oskar, Oskar Lindt, und dort, der Paul ist mein Partner, Paul Wellmann.«

»Ach ja … kenn ich … die Namen … in der Besprechung.«

»Und vielleicht auch vom letzten Jahr?«

Der Polizist, grauhaarig und etwas füllig, schaute ihn intensiver an und antwortete angestrengt: »Genau, die Sache … mit dem … Frieder … vom … vom … Murg-hotel.«

Lindt legte sich den Finger auf die Lippen: »Psst, nicht viel sprechen.« Die Hand seines Kollegen ließ er aber erst los, als der Notarzt des Hubschraubers heran­eilte.

Paul Wellmann hatte sich zwischenzeitlich überzeugt, dass der zweite Schwerverletzte bei der Krankenschwester in guter Obhut war, und näherte sich dann vorsichtig dem Autowrack. Immer noch stieg beißender Rauch auf. Flammen waren nicht mehr zu sehen.

Ein großer, kräftiger Mann in Waldarbeiterkleidung stand mit einem Feuerlöscher parat.

»Falls es noch mal losgeht«, sagte er und deutete zur Wand der Villa Klumpp, wo mehrere der roten Löscher lagen. »Die fünf sind schon leer. Um ein Haar hätt’s das Haus erwischt.«

Eine große Fläche schwarz verkohlter Schindeln an der Wand des NAZ sagte alles. Ein junger Kerl, vom Alter her Schüler oder Student mit einem Wasserschlauch in der Hand, ließ die versengte Fläche keinen Moment aus den Augen.

»Wer sind Sie?«, wollte Paul Wellmann wissen.

»Adrian. Adrian Stengele. Praktikant seit einem halben Jahr. Will mal Forst studieren.«

Paul nickte, dann schaute er zu dem Waldarbeiter: »Und er?«

»Der Gottfried. Unser Mädchen für alles. Zumindest für das, was mit praktischer Arbeit zu tun hat. Gottfried Gaiser. Unglaublich, was der alles kann.«

»Jetzt übertreib bloß net«, rief der Angesprochene herüber. »Mittlerweile weißt du auch schon, wie man Hammer, Axt und Schäleisen hält.«

»Oder einen Wasserschlauch«, meinte Paul Wellmann, dann war ein Martinshorn zu hören.

Kurze Zeit später standen mehrere Feuerwehrleute neben ihm.

»Möglichst kein Wasser mehr reinspritzen«, bat der Kommissar.

Der Kommandant verstand den Grund sofort: »Spurensicherung? Okay.« Dann wies er seine Kollegen an: »Nur Löschbereitschaft.«

»Und die Hauswand?«, wollte ein hochgewachsener junger Feuerwehrmann wissen.

»Abwarten. Die Wärmebildkamera kommt. Nichts Unnötiges.«

Tatsächlich war der Schaden am Gebäude nicht sehr groß. »Abschleifen und frisch streichen«, konstatierte Gottfried Gaiser später. »Ein Mordsglück, dass die Holzschindeln nicht richtig Feuer gefangen haben. Das hätten wir mit dem Gartenschlauch nicht mehr aufgehalten. Da wär’ die ganze alte Bude abgebrannt.«

Die beiden Polizisten dagegen hatte es wesentlich schlimmer erwischt. Mit zwei Hubschraubern wurden sie in unterschiedliche Kliniken geflogen.

Der Jüngere, ein Familienvater mit drei kleinen Kindern, nach Ludwigshafen, wo sich Spezialisten für Brandverletzungen um ihn kümmerten und schon beim ersten Check einen monatelangen Aufenthalt mit umfangreichen Hautverpflanzungen prophezeiten. Das Augenlicht konnte glücklicherweise erhalten werden.

Der Ältere musste auf der Intensivstation der Freiburger Universitätsklinik sogar künstlich beatmet werden. Die Lunge und auch sein Herz waren durch die Druckwelle der Explosion und den Aufprall des schweren Feuerlöschers hochgradig in Mitleidenschaft gezogen worden. Daneben wurden zahlreiche offene Brand-, Schnitt- und Platzwunden konstatiert. Eine Prognose wollten die Ärzte am Tag des Unglücks noch nicht abgeben.

»BLUTSPECHT. Kein Zweifel«, stellte Oskar Lindt fest. Von den schockierenden Ereignissen sichtbar mitgenommen, war er dabei, eine Beruhigungspfeife zu stopfen, und lehnte neben Paul Wellmann im Schatten an der Sandsteinmauer des weiträumig abgesperrten Naturschutzzentrums. Mit einer Flasche Wasser in der Hand beobachteten die zwei Karlsruher Kommissare, wie ein Kranlastwagen den ausgebrannten Jeep Grand Cherokee verlud.

»Der Sprengstoff müsste eigentlich noch zu analysieren sein«, sinnierte Paul Wellmann. »Vielleicht kommen wir ihm damit auf die Spur.«

»Ob die Attentäter das mit dem Gastank wohl wussten?«, überlegte Lindt und hielt ein Streichholz an den Tabak. »Maximal heimtückisch, wenn sie gewusst haben, dass noch eine zweite Explosion zu erwarten war.«

Paul zuckte die Achseln und schaute dem abfahrenden LKW nach. »Hoffentlich findet die Technik was.«

»Und zwar schnell«, blies Lindt eine erste dicke Qualmwolke in die Luft.

»Für mich ist das Terrorismus, ganz klar, nichts anderes!« Franz-Otto Kühn trat mit hochrotem Kopf auf seine zwei Kollegen zu. »Wir sind doch hier nicht im Nahen Osten. Das muss eine komplett übergeschnappte Bande sein.«

»Gibt es schon wieder einen Bekennerbrief?«, wollte Lindt wissen.

»Noch nicht, Oskar, aber für mich liegt es auf der Hand, wer dahintersteckt. ORGANISATION BLUTSPECHT, verdammt, wenn ich das schon höre. Haben wir echt solche verblendeten Subjekte hier im Schwarzwald?«

»Hast du denn gedacht, Verrückte gibt es nur bei uns in Karlsruhe?«

»Deswegen haben wir euch ja hergeholt. Jahrzehntelange Großstadterfahrung. Ihr habt doch viel mehr von dem üblen Gesindel als wir hier auf dem Land.«

»Ich mache mir schon die ganze Zeit Gedanken, in welchem Milieu diese Täter zu finden sind. Vielleicht gar nicht in den üblichen miesen Kreisen. Wer weiß, hinter welchen Masken sich verbohrte Überzeugungstäter verstecken?«

»Apropos Erfahrung«, schaltete sich Paul Wellmann ein. »Habt ihr eigentlich Kollegen mit Videokameras im Einsatz?«

Kühn war sichtlich überrascht: »Du meinst, die Burschen stecken dort in der Gaffermenge?«

»Bei uns ist das mittlerweile Routine. Kein Tatort ohne Umfelddokumentation.«

Auch Lindt nickte zustimmend. »Kann ich nur empfehlen. Ab und zu haben wir schon verblüffende Entdeckungen gemacht. Du musst dich halt auf einige Stunden Fernsehglotzen einstellen.«

Kühn schüttelte ärgerlich den Kopf: »Mist, darauf hätte ich eigentlich kommen sollen. Ich frag mal nach, ob eines der Teams eine Kamera dabei hat.«

»Na ja, wenn ihr jetzt noch nicht damit angefangen habt …«

Paul Wellmann vollendete süffisant lächelnd Oskars Satz: »… dann halt bei der nächsten Bombe.«

Kühns Gesichtsfarbe verdunkelte sich noch mehr: »Jetzt malt mir bloß nicht den Teufel an die Wand. Soll es vielleicht so weitergehen?«

»Franz, wir machen Jagd«, sagte Oskar Lindt, und seine Augen verengten sich zu schmalen Schlitzen. »Wenn es sein muss, quer durch den ganzen Schwarzwald. Bis in den hintersten Winkel, bis unter den letzten Wurzelstock, bis in den tiefsten Karsee, bis in die steilste Felswand. Treibjagd auf die BLUTSPECHTE. Tatütata, die Jagdsaison ist eröffnet!«

Was keiner ahnte: Der gesuchte Vogel flatterte exakt in diesem Moment vor den Augen der Jäger vorbei. Allerdings waren sie gravierend im Nachteil, denn ein rotes Gefieder mit schwarzer Kopfkappe wäre pro­blemlos zu erkennen gewesen. Nicht aber ein schlanker, hochgewachsener Wanderer, der gerade an der Haltestelle aus dem Omnibus stieg. Der letzte des Tages auf der Linie Freudenstadt – Baiersbronn – Obertal – Buhlbach – Ruhestein – Schliffkopf. Ankunft 16:46 Uhr. Beige Bekleidung und dunkle Sonnenbrille – einer unter vielen Schwarzwald-Wanderern. Unauffällig mischte er sich unter die immer noch zahlreichen Schaulustigen vor dem polizeilichen Absperrband und versuchte, einen Blick zu erhaschen oder einen Gesprächsfetzen aufzuschnappen. Nach wenigen Minuten ging er aber ohne ein sichtbares Zeichen von Regung weiter und stieg schließlich am unteren Ende des Ruhesteinparkplatzes in einen schwarzen BMW X3.

Er schloss die Tür, öffnete das Handschuhfach und fühlte nach der Klarsichthülle, in der mehrere Kuverts steckten. Bis zur Leerung des Autobriefkastens auf dem Freudenstädter Marktplatz blieben ihm jetzt noch genau 35 Minuten Zeit. Das würde problemlos reichen.

Kapitel 3

Oskar Lindt, der noch voll unter dem Eindruck der schockierenden Ereignisse des Tages stand, konnte in seiner Baiersbronner Pension keinen Schlaf finden. Nach mehreren Stunden des Wachliegens war er deshalb kurz entschlossen in den dunkelroten Citroën XM gestiegen und zur großen Garage gefahren, in der das Autowrack untersucht wurde.