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Beim Wandern im nördlichen Schwarzwald möchte Oskar Lindt, der oberste Karlsruher Mordermittler, herrliche Natur und kulinarische Köstlichkeiten genießen, doch selbst im Urlaub stolpert er über Leichen. Ein lebloser Körper im kalten Wasser der Murg. Unfall oder Gewalttat? Ist der Bauer alkoholisiert von der Brücke gestürzt oder hat ihm bereits zuvor jemand den Schädel eingeschlagen?
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Seitenzahl: 255
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Bernd Leix
Schwarzwald-Himmel
Oskar Lindts elfter Fall
Bisherige Veröffentlichungen im Gmeiner-Verlag:
Schwarzwald Hölle (2016), Blutspecht (2014),
Mordschwarzwald (2013), Fächerkalt (2012), Fächergrün (2011),
Fächertraum (2009), Waldstadt (2007), Hackschnitzel (2006),
Zuckerblut (2005), Bucheckern (2005)
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© 2018 – Gmeiner-Verlag GmbH
Im Ehnried 5, 88605 Meßkirch
Telefon 0 75 75 / 20 95 - 0
Alle Rechte vorbehalten
1. Auflage 2018
Lektorat: Claudia Senghaas, Kirchardt
Herstellung/E-Book: Mirjam Hecht
Umschlaggestaltung: U.O.R.G. Lutz Eberle, Stuttgart
unter Verwendung eines Fotos von: © Frank Wohlfeil/fotolia.com
ISBN 978-3-8392-5682-4
Personen und Handlung sind frei erfunden.
Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen
sind rein zufällig und nicht beabsichtigt.
»Genussraum für die Seele«, so schreibt die Baiersbronn Touristik. »Wer hier wandert, den erwarten absolute Stille, ausgesprochen wohltuende Höhenluft und der Duft des Tannenwaldes.«
Der Baiersbronner Wanderhimmel® bietet nicht nur weitläufige Wege in einem der schönsten Wandergebiete Deutschlands, sondern auch eine Vielzahl von bemerkenswerten Genießerstationen mit besonderen Gaumenfreuden.
Wandern in würziger Waldluft – wunderbar!
Einkehr in urigen Vesperhütten – paradiesisch!
Bewegung gepaart mit kulinarischem Hochgenuss – einfach himmlisch!
Eine unwiderstehliche Kombination.
Eine Wohltat für Körper und Seele.
Eine Auszeit vom strapaziösen Alltag.
Aus gestressten Großstädtern werden entspannte Schwarzwald-Schwärmer.
Aus getriebenen Leistungsträgern werden relaxte Naturliebhaber.
Aus aufgeregten Hektikern werden befreite Genießer.
Kein Wunder, dass es auch immer mehr junge Leute zur Erholung in dieses Wanderparadies mitten im Nordschwarzwald zieht – zum Wander-Wunder im Wald.
»Einfach herrlich, diese Aussicht«, schwärmte Carla, rückte die Sonnenbrille zurecht und ließ den Blick schweifen.
Oskar stimmte ihr zu: »Heißt ja völlig zu Recht ›Panoramastüble‹.« Mit einem großen Stofftaschentuch tupfte er sich den Schweiß von der Stirn und spähte nach einem freien Tisch. Die Terrasse der Wanderhütte oberhalb von Schwarzenberg war gut gefüllt, wie immer bei schönem Wetter.
»Komm schnell, da hinten stehen grad welche auf.« Er fasste seine Frau an der Hand und zog sie hinter sich her. »Glück gehabt!«, stöhnte der füllige Mittfünfziger und ließ sich ächzend im Schatten eines Sonnenschirmes auf weiche Sitzpolster fallen. »Mannomann, was für ein Aufstieg …«
Carla nahm neben ihm Platz. »Deine Kondition war auch schon mal besser.«
»Daheim in Karlsruhe ist es halt schön eben«, brummte ihr Mann. »Da strengen ein paar Kilometer Fußmarsch nicht so an wie hier in diesen Bergen. Aber jetzt haben wir es ja geschafft.«
»Kennst du den Unterschied zwischen Spaß und Freude?«, lächelte seine schlanke Gattin. »Nein? Freude ist Spaß plus Anstrengung. Die Zufriedenheit wird ungleich größer, wenn auch etwas Mühe dabei ist.«
»Dann bin ich jetzt wirklich zufrieden«, meinte Oskar und winkte der Bedienung: »Ein Weizen, alkoholfrei, bitte.«
»Isotonisch«, bestätigte die freundliche Kellnerin. »Das ideale Wandergetränk. Bringt den Flüssigkeitshaushalt gleich wieder in Ordnung.« Dann wandte sie sich an Carla: »Was darf es bei Ihnen sein?«
»Kaffee bitte, einen großen, und dazu …«
»Eine Schwarzwälder?«
»Richtig! Hier oben schmeckt die garantiert noch mal so gut wie unten im Tal.«
Zu Füßen der beiden Karlsruher lagen die Dörfer des oberen Murgtals. Viele Kilometer weit reichte an diesem sonnigen Frühlingssonntag der Blick nach Süden.
»Schau doch, die unterschiedlichsten Grüntöne«, schwärmte Carla. »Dunkle Wälder, frische Wiesen.«
Oskar schielte zum Nebentisch: »Und dann noch diese saftigen Blätter im Salat dort drüben.« Er winkte der Bedienung und grinste: »Für mich auch einen, natürlich einen Wurstsalat!«
»So viel zum Thema gesunde Ernährung«, hob seine Frau die Augenbrauen. »Aber was soll’s, die Stärkung haben wir uns jetzt wirklich verdient.«
Einige Minuten lang genoss das Ehepaar schweigend die fantastische Aussicht. Oskar wischte sich immer wieder über die Stirn und meinte schließlich mit geschlossenen Augen: »Ohne Fleiß kein Preis. Wer dem Himmel näher kommen will, muss sich eben anstrengen.«
»Jetzt mach mal halblang. So schlimm war es ja wirklich nicht, von der Bahnstation in Schönmünzach hier hochzuwandern. Der Schwarzwald ist schließlich ein Mittelgebirge. In den Alpen wär’s noch mal ganz anders.«
»Aber dort gibt’s diese praktischen Bergbahnen. Wunderbare Aufstiegshilfen, damit schwebt man ruckzuck nach oben.«
Carla zeigte in die Ferne: »Du hast Baiersbronn vergessen.«
»Den Sessellift mit seinen engen Sitzen?« Oskar schlug die Augen auf. »Da habe ich doch jedes Mal Mühe, an der Bergstation wieder rauszukommen.«
Seine Frau zwickte ihn schnell in die Hüfte: »Abspecken, das hilft! Etwas beweglicher könntest du ruhig wieder werden.«
Die Antwort bestand lediglich aus einem tiefen Seufzer, doch dann brachte die flinke Kellnerin zum Glück die Bestellung.
»Kirschtorte für die Dame, etwas Herzhaftes für den Herrn«, zwinkerte sie, stellte auch die Getränke auf den Tisch und wünschte einen guten Appetit.
»Danke«, nickte Oskar Lindt. »Den lassen wir uns nicht so schnell verderben.« Und als die Bedienung außer Hörweite war, fügte er hinzu: »Nicht mal durch anzügliche Bemerkungen über körperliche Mängel.«
Carla schob sich eine Kuchengabel voll Sahne in den Mund und antwortete halblaut: »Täusch dich nicht, mein Lieber. Das Fitnessprogramm hat gerade erst begonnen.«
Oskar riss die Augen auf: »Soll das eine Drohung sein? Willst du mich drei Wochen lang durch die Wälder jagen?«
»Genau das habe ich vor«, grinste seine Frau. »Wer jahrelang Verbrecher jagt, wird nun selbst zum Gejagten.«
»Na, wir werden ja sehen«, kam die leicht mürrische Antwort. Lindt beugte sich vor und widmete sich seinem Wurstsalat. »So schnell bringt einen erfahrenen Kommissar nichts aus der Ruhe.«
»Aber ins Schwitzen offensichtlich schon«, sagte Carla und klatschte ihm geschwind auf den schweißnassen Rücken. »Dein neues Polo ist ja völlig durch.«
»Lass das!«, empörte sich Oskar. »Ist unangenehm.«
»Bis wir weiterwandern, bist du wieder trocken. Du erinnerst dich an den Verkäufer gestern im Sportgeschäft?«
»Der hat mir dieses tolle feuchtigkeitsableitende Kunstfaserzeugs ja regelrecht aufgedrängt, obwohl ich eigentlich viel lieber meine stabilen Baumwollhemden trage.«
»Man muss mit der Zeit gehen. Schau dich um. Zum Wandern gehört heutzutage eben auch die entsprechende Funktionskleidung.«
Lindt betrachtete verstohlen die gut gelaunten Wanderer an den anderen Tischen, maulte »ja, ja« und stach wieder energisch in den Wurstsalat.
»Drei Wochen ohne Großstadtmief«, freute sich Carla. »Wenn das Wetter so toll bleibt, werden wir uns bombig erholen.«
»Und was machen wir bei Regen?«
»Wellness im Hotel natürlich. Außerdem kann man immer wandern. Es gibt ja kein schlechtes Wetter, sondern nur unpassende Kleidung.«
»Steht das auch im Prospekt der Baiersbronn Touristik?«
»Klar doch«, strahlte Carla. »Hab ich auswendig gelernt. Und überhaupt: Jetzt ist Urlaubsstimmung angesagt, keine Miesepeterei!«
Ihr Mann nahm seine Serviette und wischte sich über den Mund. »Versprochen. Drei Wochen lang nur noch positives Denken.«
»Na bitte, geht doch.«
»Positiv kulinarisch, selbstverständlich«, schmunzelte der Kommissar. »Von allem was.«
Carla griff zum Rucksack, suchte nach ihrem Smartphone und tippte kurz darauf herum. »Wir könnten von hier aus zu Fuß zurückwandern. Drei Stunden über Schönegründ bis Heselbach. Es wären nur noch zwölf Kilometer.«
Oskar warf einen misstrauischen Blick auf das Display. »Und die Höhenunterschiede? Zeigt dein Gerät die auch an?«
»Du solltest zu Hause wieder öfter das Fahrrad nehmen und deinen Dienstwagen im Präsidium lassen. Dann würdest du keine solchen Fragen stellen.«
»Oje, das sagt alles«, stöhnte Lindt. »Bergauf – bergab. Ich bin schon jetzt total erschöpft.«
»Positiv«, fiel ihm seine Frau ins Wort. »Wolltest du nicht positiv denken? Spaß plus Anstrengung! Heute Abend wirst du vollkommen zufrieden sein.«
»Und wenn ich unterwegs schlappmache?«
»Dann gehen wir runter ins Tal und steigen irgendwo in die Bahn – versprochen!«
Sie erntete einen zweifelnden Blick, aber keinen Kommentar mehr und so kam es, dass ein körperlich recht ungleiches Karlsruher Ehepaar die Wanderstrecke zurück zum Hotel Heselbacher Hof an diesem, ihrem ersten echten Urlaubstag nach der Anreise, tatsächlich zu Fuß bewältigte. Selbstverständlich trug Carla den Rucksack. Selbstverständlich legten die beiden an jeder schönen Aussicht eine Rast ein, doch genauso selbstverständlich erreichten sie am späteren Nachmittag ihr Quartier.
»Zur Erholung ins Wasser?« Carla warf Oskar einen weißen Bademantel zu. Er nickte, schlüpfte hinein … ließ sich aufs Bett fallen und schloss die Augen.
Hätte er auch nur im Entferntesten geahnt, was sich in der kommenden Nacht ereignen sollte, wäre er sofort wieder hellwach gewesen …
Ein Knacken riss ihn aus dem Tiefschlaf. Oskar Lindt zuckte zusammen. Erschrocken fuhr er in die Höhe. Eine helle Gestalt näherte sich ihm. »Waaaah…!« Sein Schrei gellte durch den Raum.
»Oskar? Was ist?«
Die Stimme kam ihm bekannt vor. Stöhnend sank er auf das Kopfkissen zurück und rieb schlaftrunken seine Augen.
»Mann, hast du mich erschreckt!«
»Ich bin’s. Oder wen hast du erwartet?«, antwortete Carla mit ihrer sanften Stimme und ließ den Bademantel fallen.
»Ganz weit … ich muss ganz weit weg gewesen sein«, stammelte ihr Mann.
»Tiefschlaf, siehst du, es wirkt. Die Erholung beginnt bereits.« Flink schlüpfte sie aus ihrem Badeanzug und schob sich zu Oskar unter die Decke.
»Ein Engel … es war … wie wenn ein Engel vor mir …«
»Keine Sorge«, lächelte Carla. »So weit ist es noch nicht. Nur ich im weißen Frottee. Bis dich die Englein in den Himmel holen, dauert es hoffentlich noch sehr lang.« Dann schmiegte sie sich an ihn und begann, sein Brusthaar zu kraulen.
Ein weiteres tiefes Stöhnen drang aus Oskars Mund. »Himmel, ja, Schwarzwaldhimmel.«
»Du hättest ruhig mitkommen können«, meinte Carla später. »Runter ins Schwimmbad. Toll, dieses Außenbecken. Ein Bad in der sinkenden Sonne, einfach herrlich.«
»Oh … ich war … ich war völlig platt von unserer Wanderung. Tut mir leid.«
»Das macht die frische Luft. Der krasse Gegensatz zum Tabakmief in deinem Amtszimmer.«
Lindt setzte sich auf. »Jetzt wo du es sagst«, grinste er. »Heute bin ich noch gar nicht dazu gekommen, mir eine Pfeife anzubrennen.«
»Nur auf dem Balkon«, zeigte Carla zu der großen Fenstertüre. »Und erst nach dem Essen. Oder hast du etwa keinen Hunger?«
Oskar schielte zum Wecker auf dem Nachttisch. »Ich glaube, wir sollten uns beeilen. Nicht, dass die Küche schließt.«
Seine Frau strich ihm zart über die Wange: »Komm, jetzt stärken wir uns erst mal …«
Die beiden Karlsruher kamen gerade noch rechtzeitig ins Restaurant, bestellten ein leichtes Abendmenü und genossen die Köstlichkeiten der Küche.
»Wunderbar«, sagte Oskar und wischte sich mit der Serviette über den Mund. »Eine Stunde von zu Hause und das volle Verwöhnprogramm.«
»Genau der richtige Ort, um den Kripo-Stress hinter dir zu lassen.«
»Ob du es glaubst oder nicht, heute habe ich noch keine fünf Minuten an die Arbeit gedacht«, nickte der Kommissar. »Paul und Jan machen das schon.«
»Du kannst dich auf deine Kollegen verlassen«, stimmte ihm Carla zu. »Und außerdem ist hier von deinen Großstadtgangstern weit und breit keiner zu sehen.«
»Verbrechensfreie Zone, hier im friedlichen Schwarzwald?«
»Selbstverständlich! Um das Murgtal machen die alle einen weiten Bogen.«
»Na, wenn du dich da mal nicht täuschst. The evil is always and everywhere.«
»Rainhard Fendrich?«
»Falsch geraten, Ba-Ba-Banküberfall, Erste Allgemeine Verunsicherung.«
Carla schüttelte den Kopf: »Nein, nein, hier ist ›heaven‹ nicht ›devil‹.«
»Black-Forest-heaven, die ideale Werbebotschaft für internationale Gäste. Das kannst du dem Hotelier ja mal vorschlagen. Da kommt er gerade.«
Gerade als der Hausherr den Tisch des Ehepaars Lindt erreichte – »War alles recht?« –, tönte von der Runde am Stammtisch allerdings eine ganz andere Botschaft herüber. »Ich bring … sie um!«, stieß ein aufgedunsener Gast mit stark gerötetem Gesicht aus. »Irgendwann … bring ich … sie um!«
»Schwere Zunge«, kommentierte Oskar und sah den Wirt mit gerunzelter Stirn an.
»Den muss ich jetzt heimschicken«, war die Antwort. »Der hat wieder mal eines zu viel.«
»Hoffentlich setzt er seine Drohung nicht in die Tat um?«
Der Hotelier, der sich ihnen als Bernd Schneider vorgestellt hatte, winkte ab: »Das sagt er alle paar Tage. Schon jahrelang. Keine Sorge, der Frieder ist ganz harmlos, aber mittwochs, wenn wir Stammtisch haben, schmeckt ihm das Alpirsbacher halt zu gut.«
Lindt hob sein Weizenglas hoch: »Kann ich verstehen.«
»Na dann, zum Wohl! Aber jetzt muss ich da rüber«, verabschiedete sich der Wirt und steuerte den Stammtisch an. Aufmerksam sahen Carla und Oskar zu, wie er dort seinem Gast den Arm um die Schulter legte, ihn mit sanftem Nachdruck von der Eckbank bugsierte und routiniert in Richtung Ausgang schob.
»Unser Ritual«, lächelte der in eine schmucke Trachtenweste gekleidete Hotelier, als er wieder am Tisch der zwei Karlsruher anlangte. »Bis er oben an seinem Hof ist, hat er sich wieder beruhigt.«
»Wen will er denn umbringen?« Lindt konnte nicht anders, als diese Frage zu stellen.
Bernd Schneider ließ sich auf einen freien Stuhl sinken und setzte eine sorgenvolle Miene auf. »Ach … ja …«, zögerte er, »es ist halt ein Elend, da droben im Eichwaldhof. Wir haben es ihm damals schon gesagt, dass er die nicht heiraten soll.«
»Offensichtlich hat er nicht auf Sie gehört?«, wollte Carla wissen.
»Torschlusspanik, ich denke, Sie wissen, was damit gemeint ist. Ein Bauer tut sich heute ja oftmals schwer, eine passende Bäuerin zu finden.«
»Und wenn er endlich eine hat, lässt er sie nicht mehr los?«
Hotelier Schneider runzelte die Stirn: »Ein wenig anders war es schon …«, doch dann lenkte er ab. »Sprechen wir lieber von Ihnen. Sie sind ja hier, um den Schwarzwald zu genießen. Kennen Sie denn schon unsere sagenhaften Wanderrouten?«
Lindt lächelte. »Meine Frau hat sich ganz schön was vorgenommen.«
»Hunderte von Kilometern«, strahlte Carla, worauf Oskar schlagartig seine Augen aufriss: »Was? Hunderte? Willst du mich umbringen?«
»Keine Sorge. Dafür ist dieser Frieder vom Eichwaldhof zuständig. Ich werde dich fit machen.«
Der Wirt betrachtete erst die schlanke Carla, dann den fülligen Oskar und legte sich die Hand auf seinen eigenen respektablen Bauch. »Lassen Sie es langsam angehen. Wir Männer in den besten Jahren müssen gepflegt werden. Bloß nicht übertreiben.«
Carla kniff ein Auge zu: »Beste Jahre? Vor Jahren war mein Mann deutlich flotter unterwegs und hatte noch nicht so viel zu schleppen. Davon könnte er einiges hier im Schwarzwald zurücklassen.«
Lindt stöhnte: »Leichter gesagt als getan, bei dieser sagenhaften Murgtal-Gastronomie.«
Der Hotelier zwinkerte zurück. »Wie Sie sehen, sind wir auch auf leichte Küche eingestellt. Da haben Sie heute Abend bereits hervorragend gewählt. Genuss und Fitness lassen sich problemlos unter einen Hut bringen. Unser Wellnessbereich hilft Ihnen natürlich dabei.«
Lindt hob erneut sein Glas und grinste. »Selbstverständlich bin ich ein Wellness-Fan, vor allem von Weizen-Wellness.«
Dass der Kommissar in dieser ersten Urlaubsnacht tief und traumlos schlief, lag nicht am Klosterbräu, denn er hatte die alkoholfreie Sorte gewählt. Wahrscheinlich war es eher der reichliche Sauerstoff, der während der Wanderung seine großstadtgeplagte Lunge geflutet hatte. Frisch und munter wachte er auf, wie immer um fünf Uhr. Ein schneller Blick ins andere Bett, Carla schlief noch – mit einem seligen Lächeln im Gesicht. Offensichtlich war sie sehr zufrieden, den überlasteten Mordkommissar nach vielen Jahren endlich zu einem richtig langen gemeinsamen Urlaub überredet zu haben.
Weiterschlafen? Nein, keine Chance, Oskar war hellwach. Er entschied sich für einen kleinen Rundgang, um das kleine Schwarzwalddorf Heselbach am frühen Morgen zu erleben. Auch zu Hause in Karlsruhe liebte er es, einen Morgenspaziergang zu machen, dabei die Frühaufsteher zu beobachten und mit einer Tüte frischer Brötchen zu Carla heimzukehren.
So leise es ging, kleidete er sich an: Outdoorhose, Poloshirt und leichte Fleecejacke – nahm die Schuhe in die Hand und zog die Tür des Hotelzimmers hinter sich zu. »Mist, jetzt habe ich doch …«, ärgerte er sich im Treppenhaus, Pfeife und Tabak drin vergessen zu haben, doch er wusste sich zu helfen. Auch im Handschuhfach seines Wagens lag immer genügend Rauchmaterial bereit. Lindt trat aus dem Hoteleingang, wollte hinüber zum Parkplatz und schaffte gerade noch einen Satz zur Seite.
Offensichtlich hatte die Fahrerin des kleinen Geländewagens überhaupt nicht mit einem frühen Hotelgast auf der Straße gerechnet. Die blonde Frau riss am Steuer, verfehlte knapp das Heck des Lindt’schen Mercedes und schoss mit aufheulendem Motor davon.
»Was war denn das?«, schüttelte Oskar den Kopf. »Es geht hier ja zu wie bei uns in der Stadt.« Fassungslos sah er dem grauen Suzuki Jimny hinterher. ›FDS-FP 60‹, erkannte er als Autonummer. FDS wie Freudenstadt, also eine Einheimische, aber überhaupt nicht so entspannt, wie es zu der beruhigenden Wald- und Wiesenlandschaft gepasst hätte.
Lindt schaute zweimal links-rechts, bevor er die Straße überquerte, und öffnete die Beifahrertür seiner taufeuchten weißen M-Klasse. Fünf Pfeifen und drei Tabaksdosen befanden sich im Handschuhfach – mehr als genug für eine genussvolle Morgenrunde. Er füllte sich seinen ledernen Tabaksbeutel, stopfte mit geübten Fingern eine große gebogene Pfeife, riss ein Streichholz an und bemerkte den grauen Wagen wieder. Jetzt fuhr der Jeep drüben auf der anderen Seite des kleinen Tales ziemlich schnell in Richtung Wald. Warum pressierte diese Frau am frühen Morgen schon so?
Der Kommissar in ihm kam durch. Wie hatte sie ausgesehen? Blond, ja. Kurze Haare, genau. Aber das Alter? Und ihr Gesicht? Würde er die Fahrerin wiedererkennen? Nein, höchstens aufgrund des Autos. Doch wieso sollte er? »Urlaub«, murmelte er halblaut vor sich hin. »Oskar, du bist hier, um abzuschalten, und nicht, um irgendwelche Leute zu observieren!« Es war doch völlig egal, was diese Einheimische schon kurz nach fünf so Eiliges zu erledigen hatte. Vielleicht waren ja Kühe von der Weide ausgebrochen? Er sah sich um. Nein, zwischen den Elektrozäunen waren weit und breit keine Rindviecher zu entdecken. Alle noch im Stall. Nur diese eine, diese blöde Kuh, die hätte ihn fast auf die Hörner … die hätte ihn fast auf die Motorhaube ihres Suzuki genommen.
Egal! Oskar Lindt drückte den glimmenden Tabak mit dem Stopfer leicht nach unten in den Pfeifenkopf und machte sich auf den Weg. Links, dann wieder rechts. Bergauf, die Straße hoch in Richtung Dorfmitte. Er registrierte den eckigen Turm der Petruskirche. Ja, dort wollte er sich umschauen.
Er ging gemächlich, wie es auch sonst seine Gewohnheit war, nicht im flotten Wanderschritt, den ihm Carla vorgab. Gehen und sehen, die Devise des aufmerksamen Beobachters. Er betrachtete gepflegte Holzzäune, Gärten mit Tulpen und späten Osterglocken, frisch gepflanzte Salatsetzlinge und stellte fest, dass die Entwicklung der Natur hier im Schwarzwald noch recht deutlich hinter dem Rheintal zurücklag. In manchen Häusern brannte bereits Licht und aus einigen Schornsteinen stieg Rauch auf. Oskar zog den Reißverschluss seiner Jacke höher und stellte den Kragen auf. Frisch, dieser Morgen. In Karlsruhe gingen die Leute wahrscheinlich schon im Kurzarmhemd und ohne Strümpfe zur Arbeit. Aber die Luft – sagenhaft. Selbst hier, mitten in diesem kleinen Örtchen, völlig frisch und sauber. Tief atmete er ein, gewahrte den Duft von frisch gemähtem Gras, hörte das Tuckern eines Traktors – tatsächlich, ein Bauer holte wohl gerade Futter von seiner Hauswiese. Füttern, misten, melken.
Lindt erinnerte sich an seine eigene Kindheit im Kraichgau. In einigen Jahren winkte der Ruhestand. Ob er zusammen mit Carla dann wieder aufs Land ziehen würde? Irgendwohin in die Natur? Weg aus der großen, lauten, stinkenden Stadt? Obwohl – ihre Wohnung in der Karlsruher Waldstadt war auch von sehr viel Grün umgeben. Dazu noch der Hardtwald direkt vor der Haustür, eigentlich gab es nicht viel zu klagen. Aber so ein Häuschen im Schwarzwald? Ideal als Altersdomizil! Gelegentlich hatte er sich darüber schon Gedanken gemacht. Vielleicht wäre Carla ja gar nicht abgeneigt …? Und die letzte Ruhestätte auf einem so kleinen und idyllischen Friedhof wie diesem?
Lindt stand vor dem eisernen Tor und drückte die Klinke. Er ging ein paar Schritte, blies eine voluminöse Rauchwolke Richtung Morgenhimmel und sah sich um. Ja, Friedhöfe hatten es ihm schon seit jeher angetan. Kurz kamen ihm die Exhumierungen in den Sinn, die er im Laufe seines langen dienstlichen Lebens veranlasst hatte, dann konzentrierte er sich auf die Inschriften der Grabsteine. Wein, Kallfaß, Schneider, Frey, Züfle, Rothfuß, Mast – immer wieder dieselben Namen. Familien, die sicher schon seit Jahrhunderten in diesem beschaulichen Dörfchen beheimatet waren.
Heimat, ging es dem Kommissar durch den Kopf. Wo war eigentlich seine Heimat? Auf dem Land? Da, wo seine Wurzeln lagen und wo er die Kindheit verbracht hatte? Oder in der Stadt, in der badischen Metropole, in der seine Kinder auf die Welt gekommen waren und in der er mit Carla seit Jahrzehnten wohnte? In der Nähe von netten Menschen, von Freunden, Nachbarn, Kollegen und Bekannten, mit denen sie sich bestens verstanden?
Konnte auch so ein herrliches kleines Schwarzwalddorf zur Heimat werden? Lindt trocknete mit seinem großen Stofftaschentuch den Tau von den hölzernen Latten der Sitzbank direkt an der Kirchenwand, setzte sich und genoss die Stille des Friedhofs.
Rechts von ihm ein frisches Grab. Er erhob sich wieder und trat näher. Übersät mit Blumenschmuck, deutlich mehr als üblich. Ein junges Mädchen, er betrachtete die Jahreszahlen, gerade siebzehn war sie geworden. Ein Unfall? Eine Krankheit? Ja, auch auf dem Land schlug das Schicksal unbarmherzig zu. ›Pia, Du bist uns in den Himmel vorausgegangen‹, las er auf der Schleife eines der vielen Kränze. Tragisch, wenn man ein Kind verloren hatte. Er dachte an seine drei bereits erwachsenen Töchter und schloss die Augen. Gewaltverbrechen an Kindern gehörten zum Schlimmsten, mit dem er sich in seiner Dienstzeit zu befassen hatte.
Oskar Lindt setzte sich von neuem, zog an der Pfeife und schob sie im Mund von links nach rechts. Rauchen durfte man hier bestimmt nicht. Aber jetzt, am frühen Morgen, gab es ja noch niemanden, der sich daran stören konnte.
Vereinzelt waren Autos zu hören. Leute, die zur Arbeit fuhren. Weg vom Dorf, hin zu Fabriken und Büros. Völlig anders als früher. Wie viele aktive Landwirte es wohl in Heselbach noch gab? Dieser alkoholisierte Frieder vom … vom … ja, Eichwaldhof hatte der Hotelier gesagt, der gehörte wahrscheinlich dazu. Muskulös und breitschultrig, vielleicht früher einmal. Jetzt eher gebückt und verquollen. Trotzdem konnte sich Lindt ihn gut als Bauer vorstellen. Bestimmt Milchviehhaltung, Grünlandbewirtschaftung. Ackerbau? Nein, der war in dieser Gegend mit ihren steilen Wiesen vermutlich ganz selten geworden.
Der Urlauber zuckte zusammen. Er hörte einen Wagen schnell näher kommen, Bremsen, Türschlagen, das Quietschen der Friedhofspforte. Rasche Schritte näherten sich. Lindt nahm die Pfeife aus dem Mund. Eine kräftig gebaute Frau eilte an ihm vorbei … blond … Kurzhaarfrisur … das war doch … Sie blieb vor dem frischen Grab stehen, schaute sich suchend um, blickte unwirsch auf den unbekannten Besucher, machte kehrt und verschwand schneller, als sie gekommen war. Was war denn das gewesen? Kopfschüttelnd sah Oskar Lindt ihr hinterher.
Vollgas! Das Auto fuhr davon.
Jetzt würde er sie wiedererkennen. Garantiert. Der eine Blick hatte genügt, um ihre Gesichtszüge tief in Lindts Hinterkopf zu speichern. Schmerz? Anspannung? Wut? Irgendetwas trieb diese Frau mordsmäßig um. Irgendetwas lief da gerade ganz schief! Offensichtlich!
Oskar sah auf die Uhr. Elf Minuten nach sechs. Eine halbe Stunde blieb er noch und brannte eine frische Pfeife an, dann setzte er seinen Rundgang zwischen den Gräbern fort. Schwarzwälder Familiengeschichten. Die einen hatten ein hohes Alter erreicht, andere waren in der Blüte ihres Lebens fortgerissen worden – er sah hinauf zum blassblauen Himmel – und schauten jetzt von oben zu …
Lindt ließ den Friedhof hinter sich, las interessiert die in der Nähe aufgestellten Hinweistafeln zur Dorfgeschichte, betrachtete die massive kleine Kirche, das ehemalige Waschhaus, danach den stattlichen Alt-Schulzenhof und ging auf dem Gernbachweg weiter. Ein gutes Stück nach den letzten Häusern genoss er den Ausblick ins Murgtal Richtung Röt, bemerkte dann unterhalb ein Gewerbegebiet mit mehreren Hallen und einem Holzwerk, folgte dem Weg hoch bis zum Wald und drehte um. Sein Magen meldete sich. Frühstück! Ja, das könnte er jetzt gebrauchen. Ob Carla schon wach war?
Kurz vor acht. Im Hotel herrschte bereits emsiges Treiben. Personal eilte hin und her. Gäste saßen schon vereinzelt an den Tischen. Kaffeeduft zog durch die Räume. Wo denn wohl das Buffet zu finden war? Lindt brauchte nicht lange zu suchen. Links um die Ecke, im nagelneu gestalteten Thekenbereich, fand er eine paradiesische Landschaft mit köstlichsten Frühstücksleckereien vor. Voller Vorfreude leckte er sich die Lippen, eilte nach oben und öffnete langsam die Zimmertür. Carla blinzelte ihn verschlafen an. Er beugte sich über sie: »Das Buffet ist schon aufgebaut. Himmlisch!«
Seine Frau schnupperte, rümpfte die Nase: »Anscheinend gibt’s da unten auch einen Rauchersalon.«
»Bin schon unter der Dusche«, lächelte Oskar zurück. »Aber dann müssen wir uns beeilen. Sonst ist das Beste weg.«
Carla schüttelte den Kopf: »Bestimmt gibt’s genug für alle«, aber das hörte Lindt nicht mehr.
Eine gute Dreiviertelstunde später verließen die zwei Karlsruher ihr komfortables Hotelzimmer und gingen durchs Treppenhaus nach unten. Auf der letzten Stufe blieb Oskar abrupt stehen und hielt Carla zurück. »Halt, warte.« Hinter der Empfangstheke stand der Hotelier, davor … ja, das war doch … »Die hätte mich vorhin fast umgefahren«, raunte Lindt seiner Frau zu.
»Die stabile Blonde dort?«
»Ja, und auf dem Friedhof habe ich sie später auch wieder gesehen.«
»Was wolltest du denn am frühen Morgen schon auf dem …«
Der Kommissar unterbrach sie: »Psst, horch doch mal.«
Offensichtlich war die Frau vollkommen erregt. »Der war doch gestern Abend garantiert hier bei euch.«
»Ja, wieso?«
»Weg! Er ist weg. Nirgends zu finden. Die Kühe brüllen, weil sie gemolken werden wollen, und der Kerl ist nicht da.«
Der Wirt runzelte die Stirn. »Wann hast du es gemerkt?«
»Heute Morgen!«, zischte ihn die Frau an.
»Und wo …?«
Zornesröte schoss ihr ins Gesicht. »Das weißt du genau, dass ich es mit diesem Mann keine Nacht mehr aushalten kann!«
Ein tiefer Blick fixierte sie: »Wir wissen Bescheid. Alle wissen Bescheid. Und was willst du jetzt von mir?«
»Suchen!« Verzweiflung lag in ihrer Stimme. »Helft ihr mit, ihn zu suchen? Bitte.«
»Wo denn? Du warst doch bestimmt schon überall.«
»Ja, aber …«
»Von uns kann im Moment keiner weg. Die Gäste wollen frühstücken. Ruf die Polizei an und dann geh melken.«
Knallend haute die blonde Frau mit der flachen Hand auf die Empfangstheke: »Arschloch!«, und rannte aus dem Hotel.
Erst jetzt bemerkte der Hotelier, dass die Lindts alles mitgehört haben mussten. »Entschuldigung!«, stieß er seufzend hervor. »Wir haben ein Problem im Dorf.«
»Etwa der von gestern Abend, dieser … dieser Frieder?«
Carla fasste ihren Mann am Arm. »Komm, das geht uns nun wirklich nichts an.«
Oskar folgte gehorsam in Richtung Gaststube, bemerkte aber noch das Nicken des Wirts und dessen sorgenvollen Blick. Da lag Unheil in der Luft, gewaltiges Unheil, ganz klar.
»Der Wahnsinn!«, stieß Lindt aus, als die beiden vor dem opulenten Frühstücksbuffet standen. »Sieh doch nur. Schlaraffenland schon am frühen Morgen.«
»Trotzdem möchte ich noch wissen, was du auf dem Friedhof zu suchen hattest.«
»Ja, gleich, aber erst …«
Carla begnügte sich mit einem Brötchen, nahm Honig, Joghurt, Orangensaft und Früchte. Oskar lud gekochten Schinken, Rührei und gebratene Würstchen auf den Teller. Ein Brötchen platzierte er obenauf, das andere steckte er in seine Jackentasche. Ein missbilligender Blick folgte.
»Du darfst auch zweimal hingehen.«
»Muss mich doch stärken nach meiner Morgenwanderung.«
»Mindestens zehn Kilometer, wenn ich den Berg auf deinem Teller so ansehe.«
Oskar schwieg.
Kaffee mit einem kleinen Tröpfchen Milch für Carla, Milchkaffee halb-halb für ihn. Diese Gewohnheit hatten die beiden schon seit vielen Jahren.
»Da ist ein Kindergrab, ziemlich frisch«, begann Lindt, als er das erste kleine Bratwürstchen verzehrt hatte. »Ein Mädchen, siebzehn. Schlimm.«
»Siebzehn ist aber schon fast erwachsen.«
»Egal, ein ganzes Meer voller Blumen.«
»Und dort hast du diese Frau getroffen?«
»Ich habe etwas abseits auf einer Bank gesessen, da kam die in den Friedhof gerannt, bis zum Grab, hat sich umgeschaut, mir einen komischen Blick zugeworfen und ist wieder abgehauen.«
»Und dann wollte sie dich überfahren?«
»Nein, das war schon vorher, direkt hier auf dem Hotelparkplatz. Ich kam gerade noch zur Seite.«
Carla strich Butter und Honig auf ihr Brötchen. »Jetzt wissen wir ja, dass sie ihren Mann gesucht hat.«
»Ja, aber was ist mit ihm?«, gab Oskar zurück. »Offensichtlich ein Vermisstenfall.«
Seine Frau sah ihm fest in die Augen: »Für dich, Hauptkommissar Lindt, gibt es hier überhaupt keinen Fall! Verstanden? Der Kerl liegt garantiert irgendwo in einer Wiese und schläft seinen Rausch aus.«
Oskar rieb sich am Ohr: »Und wenn er …?«
»Kein Fall für die Kripo Karlsruhe! Ist das klar?«
Lindt senkte den Blick und widmete sich dem Rührei auf seinem Teller.
»Hast ja recht. Ich dachte bloß …«
»Am besten denkst du jetzt nur noch an unsere heutige Wanderstrecke. Ich hab mir da schon was Tolles ausgedacht.«
»Auweia, wieder zwölf Kilometer? Dann muss ich Blasenpflaster aufkleben.«
»Freu dich, keine großen Steigungen. Wir fahren mit der Bahn nach Freudenstadt. Am Stadtbahnhof steigen wir in den Bus zum Kniebis.«
»Also ganz nach oben?«
»Genau, 900 Meter Meereshöhe und von dort aus ziemlich eben in Richtung Baiersbronn.«
»Ziemlich eben?« Oskar wurde misstrauisch. »Gestern war unsere Wanderung das krasse Gegenteil von eben.«
Carla lächelte ihn an: »Versprochen. Eine leichte Strecke, völlig entspannt, bis zur Glasmännlehütte.«
Jetzt hellte sich Lindts Miene auf. »Bewirtschaftet?«
»Natürlich. Ich will dir ja nach der Tour den Genuss nicht verwehren.«
Er erinnerte sich: »Die Baumstammhütte oben an der Sesselbahn?«
»Richtig, am Skihang hoch über Baiersbronn.«
»Aber bitte ohne die Bahn mit ihren engen Sitzen.«
»Keine Sorge. Du musst nicht befürchten, stecken zu bleiben. Wir steigen anschließend ganz gemächlich zu Fuß ab.«
In diesem Moment bemerkte Lindt einen Streifenwagen, der sich Heselbach näherte.
»Untersteh dich!« Carla gab ihm unter dem Tisch einen kräftigen Tritt mit dem Fuß.
Tatsächlich hielt die Organisatorin des Lindt-Wanderurlaubs Wort und die Anstrengung sich in Grenzen. Nur ein leichtes Auf und Ab. Gepflegte Wege, sonnendurchflutete Wälder. Gelegentlich nahmen sich die beiden sogar an der Hand und wanderten wie ein junges Paar über die Schwarzwaldhöhen.
»Früher, ganz früher«, meinte Carla schelmisch, »hätten wir uns an einem solch herrlichen Tag auch mal in eine Waldwiese gelegt und in den Himmel geschaut.«
»Jaja«, verzog Oskar das Gesicht, »weiße Wölkchen über uns und Ameisen unter uns.«
»Spielverderber! Schau, da drüben die Lichtung. Ich glaube, wir müssen uns etwas entspannen.« Entschlossen zog Carla ihren Mann hinter sich her. »Feines weiches Moos und von Krabbeltierchen weit und breit nichts zu sehen.« Flugs schlüpfte sie aus ihrer Jacke, breitete das Fleece aus und machte es sich auf dem Waldboden bequem. »Komm!«
Kritisch betrachtete Lindt den Untergrund, konnte aber nichts Bedrohliches finden, tat es seiner Frau gleich und schloss die Augen. »Stechmücken gibt es zu dieser Jahreszeit wohl auch noch keine.«
Eine gute Viertelstunde lagen die beiden so, lauschten dem Gesang von Tannenmeise und Rotkehlchen, ließen sich von der Sonne des späten Frühlings wärmen und freuten sich, ein solch herrliches Wetter erwischt zu haben.
Irgendwann stieß Oskar einen tiefen Seufzer aus. »Hier gefällt es mir wirklich.«
»Ja, ein sagenhaftes Plätzchen«, stimmte Carla zu.
»Nein, nicht nur hier. Überhaupt im Schwarzwald.«
»Bin ganz deiner Meinung. Mehr Schwarzwald gibt’s nirgends.«
»Diese Parole habe ich doch schon mal irgendwo gelesen. Baiersbronn Touristik, stimmt’s?«
»Kann schon sein, aber recht haben die auf jeden Fall.«
»Was hältst du von ›Schwarzwald für immer‹?«
Carla setzte sich auf. »Für immer? Black Forest for ever? Wie meinst du das?«
»Na ja, später halt. Wenn wir mal älter sind?«
»Du zählst schon die Jahre bis zum Ruhestand, nicht wahr?«
Oskar antwortete liegend und mit geschlossenen Augen. »Stress und Großstadt haben wir jetzt lange genug gehabt. Wir sollten uns mal Gedanken über die nächste Lebensphase machen.«
»Das Häuschen im Grünen?«
»Wandern, so oft wir wollen.«
»Ein Garten mit Obstbäumen und Gemüsebeeten?«
»Mit Liegestühlen und Grill.«
»Sandkasten und Schaukel für die Enkel?«
»Vielleicht ein knuddeliger Hund?«
»Oder zwei E-Bikes für entspannte Radtouren.«
»Einkaufen direkt beim Bauern.«
»Und dann in Ruhe gemeinsam kochen.«
»Statt einer schnellen Mahlzeit am Abend.«
Carla schaute zu ihrem Mann hinunter. »Ich glaube, dafür könnte ich mich tatsächlich erwärmen.«
Lindt schlug die Augen auf. »Echt? Ruhestand im Paradies?«