Fächertraum - Bernd Leix - E-Book

Fächertraum E-Book

Bernd Leix

4,9

Beschreibung

Oskar Lindt, unter der Last der Jahre in die Breite gegangener Chefermittler der Karlsruher Mordkommission, tut sich zunehmend schwer mit seinem Beruf. Frühere Fälle verfolgen ihn in Albträumen, Kollegen aus anderen Abteilungen mobben ihn und setzen ihn unter Druck. Doch es kommt noch schlimmer: Als der Filialleiter eines Bettenmarkts brutal ermordet wird und Lindt einen Verdächtigen unsanft überwältigt, hängt man ihm ein Verfahren wegen Körperverletzung an, das ausgerechnet seine Erzfeindin, die Oberstaatsanwältin Lea Frey, genüsslich gegen ihn einleitet. Eine erste Spur führt in das Milieu des äußerst profitablen Zigarettenschmuggels. Aber die Ermittlungen verlaufen zäh und als ein zweiter Mord geschieht, steckt der erfolgsverwöhnte Fächerstadt-Kommissar endgültig in der Krise ...

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Titel

Bernd Leix

Fächertraum

Oskar Lindts fünfter Fall

Impressum

Personen und Handlung sind frei erfunden.

Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen

sind rein zufällig und nicht beabsichtigt.

Besuchen Sie uns im Internet:

www.gmeiner-verlag.de

© 2009 – Gmeiner-Verlag GmbH

Im Ehnried 5, 88605 Meßkirch

Telefon 07575/2095-0

[email protected]

Alle Rechte vorbehalten

1. Auflage 2009

Lektorat: Claudia Senghaas, Kirchardt

Herstellung / Korrekturen: Katja Ernst / Susanne Tachlinski

Umschlaggestaltung: U.O.R.G. Lutz Eberle, Stuttgart

unter Verwendung eines Fotos von: © theogott / Fotolia.com

1

»Wieso immer im Herbst?« Oskar Lindt hielt seinem Kollegen die Tageszeitung hin: »Heute schon wieder zwei Seiten.«

»Brauchst doch nur rauszuschauen«, antwortete Paul Wellmann. »Vielleicht stirbt es sich bei diesem trüben Nebelwetter einfach leichter.«

»Oder besser?«

»Oder schneller oder lieber, was weiß ich, Oskar.«

Ein intensiver Blick auf die Anzeigen mit dem schwarzen Rand gehörte neben der ersten Pfeife und dem ersten großen Milchkaffee des Tages zum festen Ritual des Leiters der Karlsruher Mordkommission.

»Hier, einer unserer Kunden. ›Plötzlich und unerwartet‹ … Ein Glück, dass ihn die Sanitäter schon abgeschnitten hatten. Je älter ich werde, umso schwerer fällt mir der Anblick.«

Auch Paul Wellmann wurde nachdenklich: »Noch vor zehn Jahren hat es mir nicht viel ausgemacht. Ein Routinefall halt. Suizid, was solls. Keine Fremdeinwirkung festzustellen, also Aktendeckel zu, Leiche freigegeben, erledigt.«

»Und heute?«, fragte Jan Sternberg, der Jüngste im Kommissariat, und angelte sich den Sportteil der Zeitung.

»Hmm«, Wellmann schwieg und schaute zu Lindt.

Der verschränkte die Arme, lehnte sich zurück und blies eine mächtige Rauchwolke aus dem Mundwinkel. »Also, wenn ich ehrlich sein soll …«

Die Augen seiner Kollegen richteten sich auf den Chefermittler.

»… vor vier Wochen ungefähr, ja, in der Nacht, als die Uhr wieder auf Winterzeit gestellt wurde …«

»Hast du davon geträumt?«

Lindt nickte und bekam einen merkwürdig glasigen Blick. »Erinnerst du dich, Paul? Ziemlich lang schon her. Ein eiskalter Wintertag. Der alte Kopp war hier noch der Chef, da hat er uns beide an die Alb geschickt, dort, wo sie durch den Rüppurrer Friedhof fließt.«

Paul zuckte zusammen: »Die Ertrunkene im Pelz?«

»Siehst du sie vor dir? Wie sie im Wasser trieb?«

Wellmann rieb sich die Augen: »Auf dem Rücken, ein Arm in einer Wurzel verfangen. Vornehmes schwarzes Kleid, die Schuhe schon vom Wasser mitgenommen.«

»Und der Mantel? Weißt du noch?«

»Persianer, ja, natürlich genauso schwarz, offen, ausgebreitet.«

»Und die Strömung bewegte ihn hin und her.«

Wellmann schluckte. »Davon hast du geträumt?«

Lindt schüttelte den Kopf. »Nicht, wie sie im Wasser lag, sondern wie sie über den Friedhof ging. Nein, sie schwebte eher. Ihr schwerer Pelz flatterte weit offen im Wind. So leicht, als wäre er ein dünner Sommermantel.«

»Die Frau war schon ziemlich alt. Einer unserer Kollegen von der Streife hat sie doch gekannt und nur gemeint: ›Mit 85 geht man nicht mehr ins Wasser! Die hätt auch vollends warten können.‹«

Jan Sternberg begann zu grinsen, doch Wellmanns Gesichtsausdruck war erstarrt.

»Damals haben wir über diesen blöden Spruch auch gelacht.«

»Das lange weiße Haar hatte sie gelöst. Könnt ihr euch das Bild vorstellen?«

Keiner sagte etwas.

»Sogar Carla ist aufgewacht, so abrupt bin ich hochgeschreckt. Eigentlich wollte ich es niemandem erzählen …«

Das dünne Schulheft, das seither auf seinem Nachttisch lag, erwähnte Oskar Lindt nicht. Dass er schon siebenmal hineingeschrieben hatte, behielt er ebenfalls für sich. Morgens packte er es weg. Manches erzählte er Carla, aber sie sollte es nicht lesen.

»Was sagt denn die Statistik?«, unterbrach Jan die Stille. »Sterben im Herbst wirklich mehr Leute? Ich könnt ja mal bei der Zeitung anrufen, ob sie im Mai auch täglich zwei Seiten mit den schwarzen Anzeigen füllen.«

Lindt seufzte. »Vielleicht bilde ich mir das ja nur ein, aber unser Jahrgang, Paul, wird jetzt immer häufiger aufgerufen.«

»Du meinst, die Einschläge kommen näher?«

»Wie hoch war noch mal die durchschnittliche Lebenserwartung im Polizeiberuf?«

Empört fuhr Sternberg auf: »Was soll die Angstmache? Ihr beide habts ja bald geschafft, aber wo bleibt die Perspektive für mich?«

Das Telefon ersparte Oskar Lindt die Antwort. Er notierte eine Adresse und schob sie Paul Wellmann hin: »Fahrt bitte rüber in die Augartenstraße. Der Notarzt hat Zweifel an einer natürlichen Todesursache. Weiblich, 86.«

Als Paul und Jan gegangen waren, stopfte sich der Leiter der Mordkommission eine neue Pfeife, zog ein kleinformatiges Schulheft aus seiner Gesäßtasche und begann, darin zu blättern.

Schon nach wenigen Minuten steckte er es zurück. Eine seltsame Unruhe hatte ihn ergriffen. Fast bereute er, nicht selbst in die Südstadt gefahren zu sein, doch kurz entschlossen wählte er die Nummer der Zentrale, meldete sich ab – ›bin unterwegs‹ – holte sein altes Damenrad aus dem Keller und trat kräftig in die Pedale.

Am Stadtgarten entlang nahm er die Beiertheimer Allee und dann die Bahnhofstraße, kaufte im Hauptbahnhof ein neues Döschen Presstabak und eine Butterbrezel, unterquerte die Schienen und erreichte nach einer Viertelstunde im Bummeltempo den Friedhof des Stadtteils Rüppurr.

Der Kommissar kettete sein Rad an eine Straßenlaterne, zündete die Pfeife wieder an, kaute rauchend ab und zu ein Stück Butterbrezel und begann, zwischen den Gräberreihen umherzugehen.

Unschlüssig, ziellos – was wollte er eigentlich hier? Was suchte er? Wie von selbst hatte ihn sein altes Rad hergetragen. Der Traum? Die Erinnerung? Er fühlte sich irgendwie fremdgesteuert.

Immer wieder machte er halt und schaute sich um. Die großen alten Bäume standen seit den ersten Nachtfrösten nackt und kahl. Eine Stimmung fast wie damals, nur nicht so kalt.

Kurz nach halb neun, und immer noch schien es nicht ganz hell zu sein. Der seit Tagen gleich düstere bleigraue Hochnebel drückte. Er drückte auch auf Lindt, der seine Hände tiefer in die Jackentaschen schob, den Kragen hochschlug und mit gesenktem Blick weiterwanderte.

Vor einer dunklen Grabplatte blieb er stehen. ›Unvergessen‹, der Name einer jungen Frau. Er musste nicht nachdenken. Ehemann im Vollrausch, die abgesplitterte Bierflasche hatte ihre Halsschlagader aufgerissen. Verurteilt wegen Totschlags. Zwei Jahre sitzt er noch. Die Kinder? Lindt ging weiter.

Außer ihm war kein Mensch zu sehen. Zwei Gräber nebeneinander. Zweimal Suizid, beide Männer damals um die 60. Der eine ging mit dem Strick auf den Dachboden, der andere folgte seinem Beispiel zwei Straßen weiter und 14 Tage später. Er nahm den Firstbalken des Holzschuppens. Krank? Der Kommissar zog seinen Kopf noch ein Stück weiter ein und spürte, dass es nun genug war.

Entschlossen machte er kehrt, hielt den Blick auf den Boden gerichtet. Einmal sah er doch nach oben. Der Ort aus seinem Traum? Vorne eine schmale Gestalt im schwarzen Mantel. Lindt konnte sich nicht rühren. Weiße Haare, wehende Haare! Er riss die Augen auf. Nein, nur ein langes helles Kopftuch. Wo war bloß der Ausgang?

Verfolgt mich die Vergangenheit jetzt auch schon am Tage?

Die Gräber trugen noch die Kränze, Schalen und Gestecke von Allerheiligen. Hier und da ein ewiges Licht.

›Wenn auf den Gräbern aller Ermordeten ein Lichtlein stünde‹, hatte er neulich gelesen, ›dann wären die Friedhöfe hell erleuchtet!‹

Der Leitende Oberstaatsanwalt war bei der letzten großen Besprechung anderer Meinung gewesen: ›Immer dieses populistische Gerede von der hohen Dunkelziffer‹, hatte er gemäkelt. ›Fangen Sie bloß nicht damit an, jede alte Oma wegen ein paar blauer Flecken gleich in die Rechtsmedizin zu schicken. Dafür haben wir nun wirklich kein Geld.‹

Die internationale Statistik sprach dagegen, und Lindt wusste es: In Ländern mit mehr Obduktionen werden nachweislich mehr Verbrechen aufgedeckt. Hätte er es dem hoch dotierten Juristen entgegenhalten sollen? Konfrontation? Gegen das System? Wenig sinnvoll – er kannte bessere Wege zum Ziel. Außerdem träumte er ja von Fällen, die er bearbeitet hatte, und nicht von unentdeckten Verbrechensopfern.

»Tag, Herr Lindt.« Der Kommissar schreckte aus seinen Gedanken hoch und erkannte eine frühere Nachbarin – ein paar Jahre in der Oststadt im selben Haus. »Der Anton liegt gleich dort hinten.«

»Ist das schon zwei Jahre her?« Damals, kurz vor Weihnachten, hatte er bei der morgendlichen Zeitungslektüre den Namen seines ehemaligen Nachbarn entdeckt. Das Schreiben von Trauerkarten war Carlas Sache. »Kommen Sie zurecht?«

»Ich muss, Herr Lindt, ich muss. Wir waren ja kaum umgezogen, als es passierte. Beim Nachtessen, das Herz, einfach so.«

Der Kommissar drückte der Frau die Hand. Eiskalt, erschrak er. Der leichte Anflug eines feinen fiesen Grinsens in ihrem Mundwinkel? Einbildung! Oder?

Früher war es bei denen in der Wohnung oft laut geworden, und die Frau kam manchmal tagelang nicht raus. Lindt traute sich nicht, noch mal in ihr Gesicht zu sehen.

Schnell ging er weiter. Jetzt war er wirklich bedient mit Begegnungen auf dem Friedhof. Ein Frösteln durchzog ihn. Komisch, vorhin war ihm noch nicht kalt gewesen. Nicht mal an den Händen am Lenker hatte es ihn gefroren, aber jetzt …

Er kettete sein Rad los und schwang sich auf den Sattel. Ein Blick zurück zur Alb. Langsam strömte das Flüsschen dahin. Eigentlich nicht tief, aber wenn man untertauchte und lange genug im kalten Wasser blieb – für die Frau im Persianer hatte es damals jedenfalls gereicht.

Das alte Damenrad ächzte, so schnell und energisch trat Lindt in die Pedale. Langsam wurde ihm wieder warm.

2

»Ein paar blaue Flecken vom Sturz, Chef. Der Notarzt hat es dann schließlich auch so gesehen, wollte sich halt absichern. Die Oma lag neben der Wanne auf den Fliesen. Ausgerutscht und mit dem Kopf auf die Kante – hundertprozentig! Pech, wenn der Sensenmann ausgerechnet im Bad kommt. Die Nachbarn haben sie gefunden. Bestimmt schon gestern Abend passiert. Mann, war die kalt!« Jan Sternberg erfuhr nie, warum ihn Oskar Lindt so merkwürdig ansah, nur ein gequältes ›Jetzt reichts mir wirklich‹ hervorwürgte und seinen Stuhl näher an die Heizung rückte.

Paul Wellmann dagegen verstand. Auch er rollte seinen Bürosessel zur Wärme und setzte sich schweigend neben Lindt.

Während ihr junger Kollege den Bericht ›Augartenstraße‹ in diePC-Tastatur hämmerte, saßen die beiden grauen Kommissare bewegungslos nebeneinander und starrten ins Leere.

»Am Anfang die Witze, dann die Routine – und jetzt?« Wellmann zuckte die Schultern. Mit einer flapsigen Bemerkung hatte er sich vor 25 Jahren eine Diszi samt zweijähriger Beförderungssperre eingefangen.

»Um den ist es wirklich nicht schade!« Dummerweise hatte der Zeitungsfotograf nicht nur sein Objektiv auf den von 13 Schüssen durchsiebten Amischlitten des Zuhälters gerichtet, sondern auch die Ohren gespitzt und den respektlosen Satz des langen jungen Oberkommissars gleich brühwarm in der Redaktionskonferenz zum Besten gegeben. Das Bild auf der ersten Seite des Lokalteils zeigte Wellmann zwar nur von hinten, aber der Polizeipräsident erkannte problemlos, wer da neben der durchlöcherten Fahrertür kniete und in fetten Überschriftslettern zitiert wurde.

Lindt presste seine Hände auf die nur lauwarmen Heizkörperrippen. »Und jetzt?«, wiederholte er lakonisch. »Jetzt kommen sie bei Nacht, unsere Opfer von damals.« Er schauderte, obwohl es ihm normalerweise eher zu warm war.

Jan Sternberg zog die Augenbrauen hoch, als Lindt mit gesenktem Kopf in seinem Büro verschwand. »Müssen wir uns Sorgen machen?«, drehte er sich zu Paul Wellmann um.

Doch der schüttelte den Kopf. »Kein Grund, Jan. Ich wette, er stellt sich ans Fenster, unbeweglich, Hände in den Taschen, Pfeife im Mund, und schaut runter auf die Straße. Manchmal steht er eine halbe Stunde lang dort. So ist er halt, unser Oskar.«

Doch Paul sollte sich täuschen. Kaum hatte er das ausgesprochen, kam Lindt wieder ins Zimmer. Er wirkte merkwürdig nervös. Unruhig, rastlos. Ohne etwas zu sagen, nahm er seine Jacke vom Haken und verschwand nach draußen.

»Er geht zu Fuß«, sagte Sternberg, der ihm durchs Fenster nachschaute.

Lindt ging an seinem Dienstwagen vorbei, machte einige Schritte später jedoch kehrt, angelte die Schlüssel aus der Hosentasche, öffnete den Kofferraum und nahm seinen großen schwarzen Stockschirm heraus.

Er schickte einen skeptischen Blick zum Himmel, dann ging er weiter. Wohin? Das wusste er selbst nicht.

Er litt unter der Unrast. Auch Carla hatte es schon bemerkt, doch wenn sie ihn darauf ansprach, wusste er nichts zu sagen. »Keine Ahnung …«

Manchmal half es ihm, ziellos umherzuwandern oder sich irgendwo hinzusetzen und die Passanten zu beobachten. ›Leute schauen‹ war schon immer sein Hobby gewesen. Aber heute? Es kam ihm gar nicht in den Sinn. Mit gesenktem Kopf und hängenden Schultern trottete er vorwärts. Er verlor jedes Gefühl für die Zeit.

Irgendwann erreichte er die Fußgängerbrücke, die über die Kriegsstraße führt. Er stiefelte ein Stück hinauf, blieb stehen, lehnte sich ans Geländer, starrte zum eingezäunten Areal des Bundesgerichtshofes und stierte nach unten auf den vierspurigen Verkehr. Doch er schaute nicht wirklich hin. Es war ihm, als blickte er ins Leere – nirgendwohin.

Er beachtete die Radfahrer nicht, die hinter seinem Rücken die Brücke passierten. Genauso wenig wie die Schulkinder, die lärmend Richtung Naturkundemuseum strömten. Selbst den Gruß zweier Streifenpolizisten nahm er kaum wahr und beantwortete ihn nur mit einem mechanischen Kopfnicken.

Es begann zu nieseln. Nur leicht, zu wenig, um den Schirm aufzuspannen. Einmal tastete Lindt vorsichtig zur Gesäßtasche: Ja, er hatte es eingesteckt, das Heft mit seinen nächtlichen Notizen, mit den Gedächtnisprotokollen seiner Traumwelt.

Warum machten ihm die Träume so zu schaffen? Hatte sich so viel angehäuft in seinem Unterbewusstsein, dass es auf diese Art nach außen drängte?

›Unkonventionell, aber souverän‹ – der Ausspruch des Staatsanwalts, als er vor Kurzem Lindts Arbeitsweise charakterisierte. Hatten diese Worte etwas in ihm ausgelöst? Begann er, über sich selbst nachzudenken?

Er grübelte. Begann er wirklich, sein Verhalten zu reflektieren? Merkwürdig – er schüttelte den Kopf. Was soll das? Ich denke, ob ich denke? Nein, eher kam es ihm so vor, als ob irgendetwas in seinem Innern sich selbst infrage stellte. Ob ich mal mit Paul darüber …?

Nee, schüttelte er wieder den Kopf. Er fühlte sich gar nicht in der Lage dazu, seine Gedanken mit einem anderen zu teilen.

Das Nieseln wurde stärker, aber Lindt merkte es nicht.

Hätte ihm ein Gespräch vielleicht doch geholfen? Hatte er in der Vergangenheit zu viel mit sich selbst ausgemacht?

Der einsame Wolf? Nein, nein, das war er ganz bestimmt nicht. Er wusste sehr wohl, was er an seinem Team hatte und dass die Erfolge ohne Paul und Jan, ohne Ludwig Willms von der Kriminaltechnik und ohne den ›Kurzen‹, den Staatsanwalt Tilmann Conradi, niemals zustande gekommen wären.

Aber diese Erfolge – waren sie es wirklich, auf die es ihm ankam? Komplizierte, langwierige Fälle waren seine Spezialität. ›Das schafft nur Lindt!‹ Diese Worte des Kriminaldirektors klangen ihm noch in den Ohren. Und er hatte es geschafft! »Nein, falsch«, stieß er plötzlich so laut hervor, dass eine Frau, die hinter ihm vorbeiging, fast den Griff ihres Einkaufswagens losgelassen hätte. Doch Lindt beachtete ihren konsternierten Blick nicht. Gemeinsam haben wir es geschafft. Nicht ich allein. Aber wem klopft man auf die Schulter? Dem, der an der Spitze steht.

›Wenn es einer schafft, dann ich.‹ – Ja es stimmte, so hatte er manchmal insgeheim gedacht. Die abstrusen Ideen, die völlig abwegigen Gedanken, die das Team schließlich zum Ziel brachten, die waren tatsächlich in seinem Kopf gereift. Die Technik des ›Querdenkens‹, des ›kreativen Andersmachens‹, das war immer die Spezialität des Oskar Lindt gewesen.

Aber warum fühlte er sich dann so merkwürdig? Eine leichte Beklemmung stieg in ihm auf. War es Angst? Die Furcht davor, von seinem eigenen Gedankenstrudel nach unten gezogen zu werden?

Wurde er etwa depressiv? Begann er, am Sinn seiner Arbeit zu zweifeln? Doch welche Arbeit sollte sinnvoll sein, wenn nicht seine?

Dem Kampf gegen das Unrecht hatte er sich verschrieben. Sein ganzes Leben lang, mit vollem Einsatz, mit Leib und Seele. Nie hatte er daran gezweifelt. Und jetzt? Ein paar Jahre vor der Pensionierung solche Gedanken. War es ein ›Burn-out‹?

Oder war es einfach zu viel? Zu viel, als dass man es einem Einzelnen zumuten, einem allein aufbürden konnte?

›Scheuen Sie sich nicht, auch professionelle Hilfe in Anspruch zu nehmen‹ – die Worte des Psychologen bei einer Fortbildung im letzten Winter. Damals hatte er diese Gedanken weit von sich gewiesen. Er hatte nie zugelassen, dass etwas von seinem Innersten nach außen drang. Selbst mit Carla konnte er darüber nicht sprechen.

Hatte er die Erlebnisse in sich hinein…gestopft? …gefuttert? …gefressen?

Sein langsam wachsender Umfang, war er ein Schutzpanzer gegen die Eindrücke von außen? Gegen das, was man ihm in diesem Beruf schon zugemutet hatte?

Oder war er eher ein Gefängnis, das seine Gefühle in ihm einsperrte?

Dass das Nieseln bereits zu einem richtigen Bindfadenregen geworden war, bemerkte er erst, als ein dicker Wassertropfen über seine Nase hinunterrann. Er betastete seinen Hinterkopf: Die Haare waren schon ganz durchnässt. Schnell spannte er den breiten schwarzen Schirm auf.

Abgeschirmt! Schottete er sich in Wirklichkeit nach außen hin ab? ›Werde ich jetzt komisch?‹ Paul und Jan hatten in den letzten Wochen manchmal recht sonderbar geschaut. Seinetwegen? »Quatsch! Einbildung!«, sagte er laut zu sich selbst. »Aber wozu stehe ich dann die ganze Zeit auf dieser Brücke herum? Wenn das nicht merkwürdig ist …«

Langsam hob er den Kopf. Töne, vertraute Töne. Die näher kommenden Sirenen zweier Streifenwagen holten ihn zurück in die Wirklichkeit. Zeitgleich vibrierte das Handy in seiner Hosentasche: »Oskar, wir müssen. Wo können wir dich abholen?«

3

»Schrotschuss!«, würgte ein junger Streifenpolizist hervor. Mit blassgrünem Gesicht drängte er an Lindt vorbei nach draußen und übergab sich ekelhaft laut neben einer Kletter-rose, die die schmutzige Backsteinwand des Hinterhofs berankte.

Bewegungsunfähig blieben die beiden altgedienten Kommissare auf der Türschwelle stehen. Rot und Weiß – der Lagerraum schien damit gefüllt zu sein. Rote Spritzer und weiße Federn, dazwischen eine Gestalt, verkrümmt, halb auf dem Rücken liegend. Die Arme von sich gestreckt, lag der Mann in einem Berg von plastikverpackten Schlafkissen und folierten Daunendecken.

»Mann!«, entfuhr es Jan Sternberg, als er an seinen Kollegen vorbei einen Blick ins Innere des Raumes werfen konnte. Ein Luftzug wirbelte Federn auf, die sich langsam und gnädig dorthin senkten, wo eigentlich das Gesicht des Mannes hätte sein müssen.

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