Bucheckern - Bernd Leix - E-Book

Bucheckern E-Book

Bernd Leix

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Beschreibung

Im Fokus einer ungeduldigen Öffentlichkeit verfolgen der Karlsruher Kriminalhauptkommissar Oskar Lindt und seine Mitarbeiter monatelang erfolglos jede Spur im Fall des zwölfjährigen Patrick, der im Wald erschlagen aufgefunden wurde. Erst als die Schultasche des Jungen gefunden wird, kommt Bewegung in die Ermittlungen. Zwei Bucheckern, die sich in einer kleinen Tüte in der Tasche befinden, geben den entscheidenden Hinweis. Und langsam begreift Kommissar Lindt das ganze Ausmaß des Verbrechens …

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Bernd Leix

Bucheckern

Oskar Lindts erster Fall

Zum Buch

Giftige Bucheckern Im Fokus einer ungeduldigen Öffentlichkeit verfolgen der Karlsruher Kriminalhauptkommissar Oskar Lindt und seine Mitarbeiter Wellmann und Sternberg monatelang erfolglos jede Spur im Fall des zwölfjährigen Patrick, der im Wald erschlagen aufgefunden wurde. Erst als die Schultasche des Jungen gefunden wird, kommt Bewegung in die Ermittlungen. In der Tasche steckt eine kleine Tüte mit Erde. Deren Analyse ergibt eine Vielzahl giftiger Chemikalien unbekannter Herkunft sowie verschiedene Pflanzenteile, darunter zwei Bucheckern. Lindts Team findet heraus, dass sich Patrick ab und zu mit Freunden in dem verwilderten, unbebauten Teil eines Fabrikgeländes aufgehalten hat. Die Firma wird daraufhin von den Beamten beobachtet und langsam begreift Kommissar Lindt das ganze Ausmaß des Verbrechens …

Der Schwarzwald ist seine Heimat. Bernd Leix wurde 1963 in Klosterreichenbach geboren und hat Forstwirtschaft studiert. Seit langem lebt und arbeitet er in Alpirsbach. Einige Jahre betreute er als Revierförster die von Kriminalität durchdrungenen Großstadtwälder des Karlsruher Hardtwaldes. Deshalb machte er die badische Fächerstadt häufig zum Schauplatz seiner Krimis mit dem behäbigen, Pfeife rauchenden Kommissar Oskar Lindt.

Impressum

Personen und Handlung sind frei erfunden.

Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen

sind rein zufällig und nicht beabsichtigt.

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Alle Rechte vorbehalten

Lektorat: Claudia Senghaas, Kirchardt

Herstellung/E-Book: Mirjam Hecht

Umschlaggestaltung: U.O.R.G. Lutz Eberle, Stuttgart

unter Verwendung eines Fotos von Lena Kopp, Meßkirch

ISBN 978-3-8392-3170-8

Inhalt

Zum Buch

Impressum

Der Rucksack

Der Dachboden

Der Fundort

Der Großvater

Die Auswertung

Die Chemikerin

Die Recherche

Der Journalist

Der Zaun

Der Wirt

Der Ausguck

Das Video

Der Staatsanwalt

Der Chefredakteur

Die Erinnerungen

Der Ingenieur

Die Überwachung

Das Haus

Das Amt

Der Tankwagen

Der Patient

Die Idee

Der Angriff

Die Durchsuchung

Die Gegenüberstellung

Die Urteile

Lesen Sie weiter …

Der Rucksack

Fünf Stockwerke und kein Aufzug – auch Oskar Lindt als leitendem Ermittler der Karlsruher Kriminalpolizei blieb in diesem Mietshaus aus den Dreißigerjahren nur das Treppensteigen übrig. Er zählte siebzehn Stufen pro Stock und rechnete schnell aus, dass es bis zur Wohnungstür von Luise Becker im Vierten schon achtundsechzig sein mussten.

Obwohl er meinte, für sein Alter noch eine ganz passable Kondition zu haben, war Lindt etwas außer Atem gekommen. Er verschnaufte erst kurz, bevor er den runden glänzenden Messingknopf drückte, um zu klingeln.

»Kommissar Lindt?« Fragend öffnete eine zierliche Frau Anfang Siebzig mit umgebundener Küchenschürze. Er nickte und sie zog ihn am Jackenärmel in die Wohnung. »Die Nachbarn, wissen Sie. Ich möchte nicht …«

»Sie sind bestimmt Frau Becker? Wir haben ja miteinander telefoniert.« »Ja, Herr Kommissar, hier, von meinem Küchenfenster aus sieht man es besonders gut.«

Sie führte ihn über einen schmalen dunklen Gang in die Küche und schob auf der blankgescheuerten Tischplatte einen kleinen roten Emailletopf mit Linsensuppe beiseite, um das Fenster öffnen zu können.

Die Äste einer alten Platane reichten bis auf einen Meter an die Hauswand heran. »Da, sehen Sie es? Dort, ziemlich weit drin im Baum.«

Lindt sah erst nicht, was die alte Dame meinte, doch dann blieb sein Blick an einem schwarzen Etwas hängen. Er erkannte ein Stück schwarzen, dicken Stoffs und den unvollständigen Schriftzug ›adi...‹. Er reckte seinen Oberkörper aus dem Fenster, so weit es ging und konnte jetzt sehen, dass dort zwischen den schon herbstgelben Blättern ein kleiner Rucksack hing.

»Wissen Sie«, flüsterte hinter ihm Frau Becker, »ich schaue beim Essen immer gern in den Baum. Ich kenne die Vögel, die hier nisten, und gerade jetzt im Herbst sieht es schön aus, wenn sich die Blätter färben. Viele sind schon abgefallen und da habe ich auf einmal die Tasche mit der Aufschrift entdeckt. Den Sommer über konnte man vor lauter Laub ja nichts sehen, aber als ich das rucksackähnliche Teil jetzt bemerkte, kam mir gleich die traurige Sache mit dem kleinen Patrick in den Kopf. Der Albert, sein Großvater, der wohnt doch unten im zweiten Stock.«

Oskar Lindt nickte. Es war ihm gleich klar, worauf die Frau hinauswollte. Er griff zum Handy, um die Spurensicherung und ein Drehleiterfahrzeug der Feuerwehr zu bestellen.

Vor einigen Monaten hatte der Vorstehhund eines Jägers den zwölfjährigen Patrick gefunden. Zwanzig Kilometer außerhalb der Stadt, nördlich von Leopoldshafen, in einer ehemaligen Trockenbaggerungsfläche, die man nach dem Kiesabbau mit Kiefern wieder aufgeforstet hatte, lag die dick mit Fliegenmaden besetzte Leiche des Jungen. Auch Lindt, der in seiner Dienstzeit schon manches gesehen hatte, musste bei dem Anblick damals heftig schlucken, um sich nicht zu übergeben.

Patrick hatte am 15. Mai nach der Schule, wie er es öfter tat, den Nachmittag mit seinem Großvater verbracht, war danach aber nicht nach Hause gekommen. Weil die Eltern beide berufstätig waren, konnten sie es erst abends bemerken. Nachdem sie alle Freunde des Jungen und auch die Verwandten ohne Erfolg abtelefoniert hatten, erstatteten sie gegen einundzwanzig Uhr eine Vermisstenmeldung beim Polizeirevier Oststadt.

Der Obduktionsbericht der Heidelberger Gerichtsmedizin las sich damals recht nüchtern:

Todesursache: Gehirnblutung, verursacht durch einen Schlag auf den Hinterkopf mit einem stumpfen, schweren Gegenstand. Der Todeszeitpunkt lag zirka 14 Tage vor dem Auffinden der Leiche und der Junge war nicht am Fundort getötet, sondern nach seinem Tod dort hin transportiert worden. In der Kopfwunde konnten die Pathologen einige Zinkpartikel nachweisen.

Er war vollständig bekleidet mit einem marinefarbenem T-Shirt, Jeans der Marke ›Mustang‹ und Turnschuhen aufgefunden worden, nur ohne den schwarzen Rucksack mit der Aufschrift ›adidas‹, den er als Schultasche benutzte. Bei der Fahndung hatte sich die Polizei daher von diesem Stück besonders viel versprochen und ein großes Bild des Modells in Fernsehen, Presse und auf Plakaten veröffentlicht.

»Der Patrick kam oft hierher zu seinem Großvater«, unterbrach Luise Becker die gedankliche Rückblende des Kommissars. »Wenn seine Eltern arbeiteten, machte er auch die Schularbeiten hier und oftmals fuhren Opa und Enkel zusammen nachmittags zum Angeln an den Rhein hinaus.«

Lindt überlegte kurz, was er noch alles fragen musste, aber da war unten schon das Feuerwehrfahrzeug zu hören. »Vielen Dank, Frau Becker, wir melden uns bald wieder. Vielleicht haben Sie noch irgendetwas bemerkt, was uns weiterhelfen könnte«, verabschiedete sich der Kommissar. In der Tür drehte er sich noch mal um und reichte Luise Becker seine Karte: »Am besten erreichen Sie mich über meine Handynummer. Da können Sie jederzeit anrufen.« Dann eilte er die Treppen hinunter, um die Drehleitermannschaft einzuweisen.

Von der Straße aus war der Schulbeutel fast nicht zu sehen, doch Lindt hatte sich die Stelle gut gemerkt. Die Feuerwehr hatte einige Mühe, das große Fahrzeug in der baumbestandenen und stark zugeparkten Straße in die richtige Position zu bringen, doch schließlich war die Leiter bereit, ausgefahren zu werden. Neben dem Feuerwehrmann hatte nur noch eine weitere Person Platz im Korb und so fuhr Lindt als erster hoch, um sich einen Überblick zu verschaffen. Die Spurensicherung sollte danach erfolgen. Die Höhe machte ihm eigentlich nichts aus, denn dass er schwindelfrei war, hatte er schon früher bei vielen Gebirgswanderungen bewiesen, aber die ruckartigen Bewegungen oben an der Leiter erinnerten doch sehr an starken Seegang.

Der Rucksack hing in ungefähr elf Metern Höhe mit seinem rechten Träger an einem Aststummel fest und war wohl von oben her in die Baumkrone gefallen. Lindt ließ ihn vorerst noch hängen, konnte aber, wenn er nach oben blickte, mit einiger Fantasie die Strecke nachvollziehen, die die Tasche beim Fallen genommen haben musste. Er ließ die Feuerwehrleiter an der Außenseite der Baumkrone entlang nach oben fahren und konnte so über die Bruchstellen an den Zweigen und die abgeknickten Astteile die Fallspur gut verfolgen.

Die Spurensicherung musste das Ganze genau vermessen, aber bei einem Blick zum Haus war sich Lindt ziemlich sicher, dass das Teil aus einem der beiden Mansardenfenster des Dachbodens gefallen sein musste.

Nachdem die Drehleiter wieder eingefahren war und er die inzwischen eingetroffenen Beamten der Spurensicherung informiert hatte, kramte Lindt erst mal eine Pfeife aus seiner Jackentasche und stopfte sie mit zerbröseltem Navy-Flake, seinem in kleine Platten gepressten Lieblingstabak.

»Immer das gleiche mit diesen teuren Pfeifenfeuerzeugen«, knurrte er genervt vor sich hin, »sie funktionieren ein paar Monate, und wenn man sie öfter nachgefüllt hat, dann zünden sie nicht mehr richtig.« Zum Geburtstag im Juni hatten ihm seine Kollegen ein besonders edles Modell mit einer Oberfläche aus gebürstetem Edelstahl geschenkt. Der Beschreibung nach war es ein Sturmfeuerzeug, doch im Moment ließ es sich nicht einmal die kleinste Flamme entlocken.

Zum Glück trafen gerade seine Mitarbeiter Jan Sternberg und Paul Wellmann ein. »Hat einer von euch Feuer?«, begrüßte er sie. Sternberg reichte ihm ein Feuerzeug und so konnte Lindt seine Pfeife endlich anzünden.

»Sagt mal, könnt ihr euch vorstellen, wieso eine Schultasche aus einem Mansardenfenster fliegt? Von dort ist sie wohl gekommen«. Er zeigte nach oben. »Schaut euch doch mal auf dem Dachboden um, ich komme nachher hoch.«

Lindt wusste, dass er sich auf sein Team verlassen konnte. Mit Hauptkommissar Paul Wellmann arbeitete er bereits vierundzwanzig Jahre zusammen und auch Kriminalhauptmeister Jan Sternberg, Mitte dreißig, war schon einige Jahre in Lindts Abteilung. Er stand kurz davor, demnächst den Aufstiegslehrgang zum gehobenen Dienst anzutreten und hatte in mehreren Fällen als gelernter Elektroniker sein technisches Wissen zur Aufklärung schwieriger Zusammenhänge einbringen können.

Lindt wartete noch auf den Schulrucksack, den ein Mitarbeiter der Spurensicherung eben aus der Baumkrone abnahm. »Aber bitte Handschuhe anziehen«, sagte der zu Lindt und reichte ihm das langgesuchte Objekt aus dem Drehleiterkorb herunter. Der Kommissar angelte schnell ein paar dünne Latexhandschuhe aus seiner Jackentasche, streifte sie über und öffnete den Reißverschluss auf einer weißen Plane, die auf dem Boden ausgebreitet worden war.

Er wollte nur einen kurzen Blick hineinwerfen, denn eine genauere Untersuchung blieb natürlich der Kriminaltechnik vorbehalten. Schulbücher, Hefte, Mäppchen und Vesperdose konnte Lindt auf die Schnelle erkennen. Eine seitlich steckende Geldbörse mit Namen, Telefonnummer und Adresse »Patrick Berghoff – Humboldtstraße 17 – Karlsruhe« lies zur Gewissheit werden, dass es sich um den gesuchten Rucksack handelte.

Dann bemerkte der Kommissar noch einen weiteren Reißverschluss im oberen Teil der Schultasche. Vorsichtig öffnete er ihn und fand eine kleine Plastiktüte, eigentlich wohl ein Gefrierbeutel, verschlossen mit einer weißen Kunststoffklemme. »Sieht aus wie Sand oder Erde«, war sein erster Eindruck, als er den Beutel in seiner Hand wog und den braunen Inhalt betrachtete. Er wandte sich zu einem Kollegen der Spurensicherung: »Bringt doch bitte die ganze Tasche mal zügig ins Labor. Wichtig ist mir vor allem eine genaue Analyse von dem hier«, und hielt ihm den Beutel hin, bevor er das Fundstück wieder ins Innere schob.

Lindt zog bedächtig an seiner kurzen Pfeife und lehnte sich an den Stamm der Platane, um seine Gedanken etwas zu ordnen. »Mordfall Patrick« – monatelang hatten sich die Ermittlungen schon hingezogen, ohne ein greifbares Ergebnis zu bringen. An die Berichte und Kommentare in den Medien mochte sich der Kommissar nicht gerne erinnern. ›Schnelle Erfolge, Sensationen‹, sinnierte er, ›das ist es, was die Öffentlichkeit will.‹ Wenn keine Ergebnisse präsentiert werden konnten, waren manche Journalisten gleich mit Kritik bei der Hand.

›Kripo tappt weiter im Dunkeln‹ oder ›Ermittlungen drehen sich im Kreis‹, waren noch eher harmlose Überschriften der Zeitungsberichte im Frühjahr.

Richtig getroffen hatte Lindt ein lokaler Radiosender, wo ein Redakteur nach einem Interview mit ihm meinte, in der freien Wirtschaft würden Führungskräfte mit über fünfzig Jahren zügig ausgetauscht, wenn die Leistungen nachließen. »In der Beiertheimer Allee wird es wirklich Zeit für einen Generationswechsel«, endete damals der Kommentar.

Der Polizeipräsident versicherte ihm zwar umgehend, er würde Lindts erfolgreiche Arbeit sehr schätzen und sei überzeugt, dass er aufgrund seiner langjährigen Erfahrung auch diesen Fall aufklären könne, aber eine derart in aller Öffentlichkeit geäußerte Kritik nagte doch sehr an Lindts Innerstem. Gerade weil er in den vergangenen Jahren zahllose Ermittlungserfolge vorzuweisen hatte, empfand er die Äußerungen des Radiokommentators als sehr unfair.

Im Fall des getöteten Jungen war von Lindt und seinem Team akribische Kleinarbeit geleistet worden. Wellmann, Sternberg und auch er selbst hatten wochenlang Gespräche geführt, waren von Tür zu Tür gegangen und jeder noch so aussichtslos erscheinenden Spur gefolgt. Eltern, Freunde, Mitschüler, Lehrer wurden auf der Suche nach irgendeinem verwertbaren Hinweis vernommen, doch es gab nichts, was die Ermittlungen vorwärts gebracht hätte.

Auch Albert Berghoff, der Großvater von Patrick, der jetzt auf Lindt zutrat, war damals eingehend befragt worden. Der Junge hatte sich wie üblich am späten Nachmittag von ihm verabschiedet, um nach Hause zu radeln. Dort war er aber nie angekommen.

»Herr Kommissar«, der rundliche untersetzte Mann Mitte sechzig war ganz außer Puste, »ich komme gerade vom Einkaufen, sind Sie mit Ihren Ermittlungen weiter gekommen?« »Ja, Herr Berghoff«, antwortete der dem pensionierten Triebwagenführer, »wir haben die gesuchte Schultasche endlich gefunden, da im Baum.« Lindt zeigte nach oben. »Man konnte es erst jetzt beim Laubabfall erkennen. Sie wird momentan im Labor von unseren Technikern untersucht. Wir sind fast sicher, dass der Rucksack aus einem der beiden Dachfenster herausgeworfen wurde und im Baum hängen blieb. Meine beiden Mitarbeiter schauen sich gerade auf dem Dachboden um. Könnten Sie denn mit nach oben kommen? Vielleicht fällt Ihnen irgendetwas Ungewöhnliches auf?«

Nachdem Berghoff die Einkaufstasche kurz in seiner Wohnung abgestellt hatte, stieg er mit Oskar Lindt über die breite ausgetretene Holztreppe weiter zur Bodentüre. Auf einem Treppenabsatz musste er halt machen und meinte: »Oft komme ich ja nicht hier hoch, ich habe einen Abstellraum im Keller. Es ist bestimmt schon fast ein Jahr her, seit ich mal der Luise Becker aus dem vierten Stock beim Entrümpeln da oben geholfen habe.«

Albert Berghoff, das wusste Lindt noch aus den Ermittlungen nach dem Auffinden des Jungen, hatte sehr an seinem Enkel gehangen. Es war für ihn der zweite Schicksalsschlag in kurzer Zeit, denn Berghoffs Frau war wenige Jahre zuvor an einem urplötzlich aufgetretenen und sehr schnell wachsenden Tumor gestorben. Besonders als Berghoff ein halbes Jahr nach ihrem Tod in den Ruhestand trat und die Ablenkung durch die Arbeit als Fahrer bei der Stadtbahn fehlte, war es der Kontakt zu seinem Enkel, der ihm half, mit der Situation etwas besser fertig zu werden. Dass sich der Junge nach und nach auch fürs Angeln interessierte und ihn häufig begleitete, hatte dem Großvater besonders gut gefallen. Auch Patricks Eltern freuten sich über das enge Verhältnis von Enkel und Opa. Sie wussten das Kind gut aufgehoben und waren dankbar für die Entlastung.

Der Dachboden

Die alte Holztüre zum Dachbodenaufgang ließ sich nur schwer öffnen und gab für Lindt und Berghoff den Zugang zu einer schmalen steilen Treppe frei. »Fast wie eine Hühnerleiter«, dachte der Kriminalist laut, als er nach oben kletterte und der alte Mann pflichtete ihm bei: »Eigentlich sollte der Boden zum Wäschetrocknen da sein, aber über diese steile Stiege trägt wohl kaum jemand einen gefüllten Korb nach oben. Hier kommt eher selten einer hoch. Nur die Luise hat einige Sachen in den Schränken dort verstaut – in den Keller ist es ihr oftmals zu weit.«

Der Geruch von Taubenkot und Federschuppen stach ihm in die Nase, als sich Lindt umblickte. Ein weitläufiger Raum, in dem ein paar alte Schränke und Kartons standen. Quer gespannte brüchige Wäscheleinen, da und dort ein Lichtstrahl, der durch schadhafte Stellen der Dachziegel und des Mauerwerks eindrang – das war der erste Eindruck, den der Kommissar gewann. ›Wenn die steile Treppe nicht wäre‹, sinnierte Lindt, ›könnte man hier oben schön ausbauen und mit ein paar zusätzlichen Fenstern eine ganz interessante Wohnung schaffen.«

Jan Sternberg, der an den beiden straßenseitigen Mansardenfenstern stand, unterbrach die Gedanken seines Vorgesetzten: »Chef, die Theorie könnte stimmen, dass der Schulrucksack von hier oben in den Baum geworfen wurde. Jetzt, wo das Laub abfällt, kann man auch einige abgebrochene Zweige in der Baumkrone erkennen. Könnten von einem fallenden Rucksack geknickt worden sein.« Lindt überzeugte sich selbst und nickte: »Wahrscheinlich war es so, aber warum fliegt eine Tasche hier oben aus dem Fenster?«

Der Kommissar zündete seine Pfeife wieder an, die beim Treppensteigen ausgegangen war und blies einige dicke Rauchwolken in den Raum. Der Weg der Lichtstrahlen zeichnete sich im Rauch deutlich ab.

»Habt ihr noch irgendwelche Spuren gefunden?«, wandte er sich an Paul Wellmann, der mit einer großen Stablampe hinter und unter die herumstehenden Schränke leuchtete. »Bis jetzt noch nichts Konkretes, aber die Spurensicherung muss auf jeden Fall den Fleck hier neben dem Stützbalken mal genauer unter die Lupe nehmen.«

Wellmann leuchtete mit seiner Lampe weiter nach hinten in einen dunkleren Bereich des Bodens. »Könnte möglicherweise Blut sein.«

Eine etwa handtellergroße Fläche auf dem Holz war dort zu erkennen, die etwas dunkler als das Grau der Dielen zu sein schien.

Mittlerweile waren auch zwei Beamte der Spurensicherung auf den Dachboden gekommen und öffneten ihre großen Aluminiumkoffer, um verschiedene Gerätschaften auszupacken. Sie stellten erst einen Halogenstrahler und dann eine Markierung mit Nummer auf, um den Fleck zu fotografieren.

Lindts Blick schweifte weiter durch das Halbdunkel des Dachbodens und blieb an einem Metallrohr hängen, das weit hinten unter der Schräge lag. »Schaut euch das Teil dort mal genauer an«, beauftragte er die Spurensicherung, »vielleicht ist das unser gesuchter stumpfer Gegenstand.«

»Das ist der Rest von der abgebauten Dachantenne«, warf Albert Berghoff ein. »Als das Haus vor ein paar Jahren ans Kabelnetz angeschlossen wurde, brauchte man sie ja nicht mehr. Weiter da drüben liegen die anderen Teile.« Er zeigte in eine Ecke neben dem Treppenaufgang, wo die restlichen Metallstäbe und Rohre lagen. »Das hätte längst auf den Sperrmüll gehört, aber die Hausverwaltung tut auch nur das Allernötigste.«

Der Kommissar hatte sich angewöhnt, die für ein Verbrechen wichtigen Orte sehr intensiv und konzentriert zu betrachten. »Wenn ihr die Umgebung ruhig auf euch einwirken lasst«, hatte er schon häufig zu seinen Mitarbeitern gesagt, »dann erzählt sie euch, was hier geschehen ist.«

Das gleichmäßige Ziehen an der Pfeife half ihm ungemein, die Stimmungen und Eigenheiten des Raumes wahrzunehmen und sie zu durchdringen.

»Falls die Schultasche tatsächlich von hier oben aus dem Fenster flog, wofür einiges spricht«, überlegte er, »wer hat sie dann geworfen? Der ermordete Junge, sein Mörder, ein Dritter?«

»Sagen Sie, Herr Berghoff, wie gut kannte sich ihr Enkel im Haus denn aus? Abgeschlossen ist die Dachbodentür ja wohl nicht«, wandte sich der Kommissar an den Großvater des Jungen.

»Ein paar Mal waren wir schon zusammen hier oben«, gab der zur Antwort. »Patrick hat auch mitgeholfen, einige Sachen von der Luise Becker runter zu tragen und im Sommer kamen wir zweimal hoch. Ich wollte ihm die Fledermäuse zeigen.« Lindt war erstaunt: »Wie, hier drin, Fledermäuse?« »Ja, ja«, antwortete Berghoff, durch die Lücken im Mauerwerk da drüben können ja selbst die Tauben reinschlüpfen und früher hatten wir im Sommer manchmal bis zu dreißig Tiere an den Dachlatten hängen. Wochenstube nennen die Fachleute das wohl – hab ich mit Patrick zusammen mal nachgelesen. Für die Natur hat er sich immer sehr interessiert.

Aber im letzten Jahr wurden die ganzen Holzteile vom Dachstuhl mit einem Gift gegen Pilze und Insekten behandelt und seither ist es aus mit den Flugkünstlern. Da war der Patrick ganz empört drüber, als wir das da entdeckt haben.«

Berghoff zeigte auf eine Pappkarte, die an einem der senkrechten Stützbalken fest geheftet war. Der Name des Holzschutzmittels und auch der Zeitpunkt der Arbeitsausführung waren von der ausführenden Firma darauf vermerkt worden. »Früher hat man für solche Zwecke sogar Quecksilber verwendet«, knurrte Lindt vor sich hin und stieß erregt einige dicke Rauchwolken aus. »Das ist schon längst verboten, aber die neuen Gifte sind bestimmt auch nicht besser – sieht man ja.«

Paul Wellmann hatte den anderen Stützbalken, neben dem er den dunklen Fleck entdeckt hatte, genauer gemustert. An dessen schräger Seitenstrebe bemerkte er oben noch eine Art rundlicher Einkerbung. Er wandte sich zur Spurensicherung: »Bitte, auch die Stelle hier mal untersuchen, die Delle am Balken meine ich. Vielleicht passt das ja zu dem Rohr von da hinten.«

Lindt warf noch einen abschließenden Blick in das Halbdunkel, wohin die Kollegen der Spurensicherung gerade ihre Halogenstrahler richteten. Dann winkte er Wellmann und Sternberg zu, ihm zu folgen.

»Wir tun unser Möglichstes, Herr Berghoff. Die Spuren hier oben und der Rucksack werden unsere Ermittlungen sicher ein gutes Stück weiterbringen«, verabschiedete er sich und stieg die enge Dachbodentreppe hinunter.

Zurück im Präsidium in der Beiertheimer Allee setzte Lindt erst einmal die Kaffeemaschine in Betrieb und füllte drei Tassen, um zusammen mit seinen beiden Mitarbeitern, die kurz darauf auch eintrafen, ein vorläufiges Resümee des Vormittages zu ziehen.

»Wir müssen natürlich erst mal die Ergebnisse der KTU abwarten«, begann er, »aber was können wir denn jetzt schon mit Sicherheit sagen?«

»Eigentlich nur, dass wir den Schulrucksack von Patrick gefunden haben«, meinte Jan Sternberg.

»Ja, stimmt«, gab ihm Paul Wellmann recht. »Bei allen anderen Gedanken müssen wir das Wort ›wahrscheinlich‹ davor stellen.«

Wahrscheinlich ist das Teil vom Dachbodenfenster aus in die Baumkrone geflogen. Wahrscheinlich war der Junge auf dem Dachboden und wahrscheinlich haben wir das schwere Metallrohr gefunden, mit dem ihm die Kopfverletzung zugefügt worden ist.«

»Immerhin«, warf Sternberg ein, der in den Akten der gerichtsmedizinischen Untersuchung blätterte, »wurden im Bereich der Schädelverletzung kleine Zinkpartikel gefunden. Das könnte zum verzinkten Antennenrohr passen. Auch eine äußere Platzwunde ist hier aufgeführt, sodass es zumindest etwas geblutet haben muss. Passt vielleicht zu dem Fleck, Paul, den du am Balken gefunden hast.«

»Also«, fasste Oskar Lindt zusammen und zog an seiner fast leergerauchten Pfeife, »wir wissen mehr, wenn die Untersuchungsergebnisse vorliegen, aber das kann wohl frühestens morgen gegen Mittag sein. Was tun wir in der Zwischenzeit?«

Er blies einen dünnen Rauchfaden in den Raum und beantwortete sich diese Frage gleich selbst: »Den Großvater Berghoff haben wir damals vernommen – nicht aber seine Nachbarn. Paul und Jan, ihr nehmt Bilder von dem Jungen mit und sprecht mal mit den Hausbewohnern, ob sie sich an ihn erinnern können. Vielleicht gab es auch etwas Besonderes in der fraglichen Zeit im Mai. Der Junge war ja anscheinend oft bei seinem Großvater, da müssen ihn doch viele gekannt haben. Versucht auch in Erfahrung zu bringen, was die anderen Mieter von Herrn Berghoff halten. Es ist manchmal doch sehr aufschlussreich, wie jemand von seinen Mitmenschen gesehen wird. Ich selbst fahre hoch in den Wald bei Leopoldshafen und schaue mir den Fundort der Leiche noch mal an. Vielleicht haben wir damals dort eine Kleinigkeit übersehen, oder mir kommt irgendeine Idee.«

Der Fundort

Oskar Lindt verließ das Büro, um zu seinem Wagen zu gehen, fasste aber auf der ersten Treppenstufe an seine Jackentaschen, wie er es immer tat, um zu prüfen, ob er alles dabei hatte. ›Ach, der Tabak‹, ging ihm durch den Kopf und er machte kehrt, um aus der Vorratsdose in der Schreibtischschublade noch nachzufüllen. Als er auf die angelehnte Tür zutrat, konnte er noch einen Gesprächsfetzen von Jan Sternberg aufschnappen: »... geht im Wald spazieren und wir können Klinken putzen.«

»Na, na, was höre ich da?«, sagte Lindt beim Betreten des Büros und es war Sternberg sichtlich peinlich, dass sein Chef die flapsige Bemerkung mitgehört hatte. Aber der lenkte gleich ein: »Treffen wir uns um fünf drüben beim Italiener, da kann man unter den alten Linden noch schön draußen sitzen, dann habt ihr auch etwas frische Luft.«

Einen Citroen XM – Break mit Dreiliter-Sechszylindermotor, Automatikgetriebe und Klimaanlage hatte sich der Kommissar als Dienstwagen ausgesucht. Im Zusammenhang mit einem Drogendelikt beschlagnahmt, war der Kombi vom Referat Technik den anderen Abteilungen im Polizeipräsidium gerade aktuell angeboten worden, als in Lindt’s Team ein Fahrzeug mit Totalschaden auf der Strecke blieb. Paul Wellmann hatte seine BMW-Fünfer-Limousine bei einer Verfolgungsjagd als Straßensperre quergestellt. Die Sperre tat ihre Wirkung, der Verfolgte wurde gefasst, aber der BMW war Schrott.

Oskar Lindts Schwäche war, dass er gerne häufiger das Auto wechselte. Privat war das mit seinem schmalen Beamteneinkommen finanziell nicht drin, aber den Dienstwagen tauschte er öfter gegen ein anderes Modell aus. Zu diesem Zweck pflegte er immer gute Beziehungen zu den Kollegen in der Technik. Als der BMW ausfiel, gab er den Volvo, den er immerhin schon über ein Jahr in Benutzung hatte, flugs an Wellmann ab und holte sich den bequemen französischen Wagen. Besonders vom sänftengleichen Federungskomfort war er begeistert. Der kantige Volvo, den er abgegeben hatte, war zwar in engen Parkhäusern wesentlich wendiger und übersichtlicher gewesen war, aber das gallische Dickschiff kam auch Lindts frankophilen Neigungen sehr entgegen.

Nicht nur seine Pfeife wusste er zu genießen, auch für französischen Rotwein und vor allem für die unermessliche Vielfalt der Käsesorten des Nachbarlandes hatten seine Frau Carla und er ein großes Faible. Im Elsass und in den Vogesen waren die beiden am Wochenende häufig zu finden – von Karlsruhe aus nur ein Katzensprung. Die beste Erholung, so war er sich mit Carla einig, fanden sie schon seit vielen Jahren an der frischen Meeresluft des Atlantiks. Die Strände der französischen Westküste waren im Juni vor dem Ansturm in den ›Grandes Vacances‹ meist noch leer und mit dem Wetter hatten sie bisher fast immer Glück gehabt. Die salzhaltige Gischt der Brandung bei Spaziergängen entlang des Flutsaumes war ein wohltuender Gegensatz zur abgasbelasteten und häufig drückend schwülen Stadtluft von Karlsruhe.

So ganz zufrieden mit sich und seinem komfortablen Fahrzeug, glitt Lindt über die breite Ausfallstraße nach Norden, um nochmals die Fundstelle der Leiche zu inspizieren.

Ein gutes Stück außerhalb von Leopoldshafen musste der Kommissar von der Bundesstraße erst auf einen asphaltierten Feldweg und dann auf einen staubigen Sandweg abbiegen. Den Platz fand er auf Anhieb wieder, obwohl die Geschehnisse bereits einige Monate zurücklagen.

Nach mehreren Jahrzehnten Kiesabbau im Trockenbaggerungsverfahren war die Fläche wieder aufgeforstet worden. Um die Baustoffe Sand und Kies zu gewinnen, hatte man das Erdreich hier einfach einige Meter tief abgegraben. Nach Beendigung des Abbaus wurde auf dem mageren Boden dann die anspruchslose Baumart Kiefer gepflanzt, um so die Kiesgrube wieder zu rekultivieren.

»Ein ideales Versteck«, dachte er bei sich, als er vor der zimmerhohen Dickung stand. Die Äste der kleinen Bäume reichten fast bis zum Boden. »Der Täter muss sich jedenfalls ausgekannt haben.«

In einiger Entfernung waren wohl Holzfäller bei der Arbeit. Der Lärm von Kettensägen war zu hören, auch das Brummen eines Traktormotors konnte der Kommissar ausmachen. Er erinnerte sich an die ersten Ermittlungstage nach dem Auffinden der Leiche: Seine Mitarbeiter und er hatten bei der Spurensuche nichts unversucht gelassen. Waldarbeiter und Forstpersonal wurden intensiv befragt, Plakate und Handzettel in den Orten der Umgebung verteilt. Die Zeitungen brachten mehrfach Artikel mit Bildern auf der ersten Lokalseite und im überregionalen Teil. In mehreren Radiosendern und selbst in den Landesnachrichten des Fernsehens wurde einige Male berichtet, um Hinweise aus der Bevölkerung zu bekommen.

»Jogger, Radfahrer, Reiter, Pilzsucher, Hundebesitzer«, hatte Paul Wellmann damals in einer Besprechung gesagt, »der Wald ist hier im Ballungsraum doch voll von Menschen. Ja selbst mitten in der Nacht sind noch Läufer mit Stirnlampen unterwegs, da wird doch wenigstens einer etwas gesehen haben, das uns weiterbringt.«

Ein paar dürftige Hinweise kamen, erwiesen sich aber ausnahmslos als falsche Fährten.

Reifenspuren wurden am Fundort der Leiche zwar aufgenommen, waren wegen des sandigen Weges aber nur sehr undeutlich zu erkennen und in den zwei Wochen bis zum Auffinden des toten Jungen wahrscheinlich durch neuere Spuren verwischt worden. Lediglich ein Abdruck, etwas außerhalb des Weges, war halbwegs brauchbar. An einer feuchteren Stelle hatte sich das Profil eines Transporterreifens eingedrückt. Quer zum Verlauf des Weges, wie wenn ein Fahrzeug gewendet hätte, doch die Qualität der Spur war, wie sich die Kriminaltechnik ausdrückte: ›vier minus‹. Reifengröße und Typ konnten nur vage bestimmt werden.

Lindt ging den Sandweg ein Stück weiter, um den Platz, an dem die Leiche des Jungen gelegen hatte, genau wiederzufinden. Ganz einfach war das nicht, denn über den Sommer waren hier Brombeersträucher, Farn und hohes Gras gewachsen. Die Örtlichkeit hatte nun ein ganz verändertes Gesicht.

Lindt duckte sich und schlüpfte gebückt zwischen den buschigen Kiefern durch. Die gesuchte Stelle befand sich ungefähr fünfzehn Meter neben dem Weg. Er ging in die Knie und versuchte, unter den niedrigen Bäumen hindurchzuspähen. Das Grün der Kiefernnadeln mischte sich mit Brauntönen der Rinde und dem Gelb von dürren Gräsern am Boden. »Hier, ja genau, hier ist die Stelle«, sagte er zu sich selbst, als er halb kriechend den Fundort erreichte.

»Mist, jetzt habe ich mir die Jacke versaut«, ärgerte er sich gleich darauf über einen Harzfleck am rechten Ärmel, als sein Blick an etwas Blauem hängen blieb, das farblich nicht zu den Naturtönen der Umgebung passte. Drei Meter seitlich, neben einer Birke, die sich noch zwischen den Kiefern hatte durchschlängeln können, lag eine Zigarettenschachtel. ›Gauloises‹ – Lindt kannte die französische Marke. Er umfasste die zerknautschte leere Schachtel mit einem umgestülpten Plastikbeutel, um sie aufheben zu können, ohne mögliche Spuren oder Fingerabdrücke zu verwischen.

»Als die Leiche des Jungen gefunden wurde, hat diese Packung bestimmt noch nicht hier gelegen. Die Spurensicherung hätte sie auf jeden Fall bemerkt«, waren seine Gedanken, während er den Zipp – Verschluss der Tüte dicht machte. »Wer auch immer diese Packung verloren oder weggeworfen hat, zufällig war der bestimmt nicht hier.«

Er setzte sich neben der Birke auf den sandigen Boden. Instinktiv angelte er seine Pfeife aus der Jackentasche, steckte sie aber angesichts des trockenen Grases gleich wieder weg. Er musste innerlich über sich selbst lächeln. Das wäre wieder eine Schlagzeile in der Zeitung: »Heiße Spur gefunden: Kripo – Kommissar setzt Wald in Brand – Kiefernforst ein Raub der Flammen.«

Viel eher könnte er nach der Kritik der letzten Monate jetzt eine positive Presse brauchen. Er nahm sich vor, eine Mitteilung herauszugeben, wenn die Ergebnisse der Kriminaltechnik über die aktuellen Spuren vorlagen.

Beim flachen Sitzen auf dem Boden drückte ihm das Holster seiner Dienstpistole etwas in die Seite und so stand er wieder auf. Lindt schlängelte sich zwischen den dicht an dicht stehenden Bäumen hinaus auf den Weg, sorgfältig darauf achtend, nicht noch einen Harzfleck einzufangen. Er klopfte die Jacke aus und schüttelte sich noch einige Kiefernnadeln aus den Haaren, bevor er wieder in den Wagen stieg.

Auf der Rückfahrt in die Stadt sinnierte er über die gefundene Zigarettenpackung. Die Wahrscheinlichkeit, dass sie von einem gänzlich Unbeteiligten stammen könnte, einem Waldarbeiter etwa, schätzte er als eher gering ein. In dem Dickicht hatte er keine Spuren von durchgeführten Arbeiten bemerkt. Von einem Pilzsammler vielleicht …, aber lange war das Päckchen jedenfalls noch nicht dort gelegen, darauf konnte man schon vom äußeren Zustand her schließen. Der abgedroschene Spruch vom Verbrecher, der immer zurückkehrt, ging ihm durch den Kopf.