Bodhichitta - Das erwachte Herz - Pyar Troll-Rauch - E-Book

Bodhichitta - Das erwachte Herz E-Book

Pyar Troll-Rauch

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Beschreibung

Pyars Buch Bodhichitta ist ein Schatz, der uns herausfordert und zugleich Hilfestellung für viele Aspekte unseres menschlichen Seins bietet – im täglichen Leben und in unserem Umgang miteinander bis hin zur Meditationspraxis und dem Erkennen und Leben letztendlicher Wirklichkeit und Mitgefühls so weit wie der Himmel. Pyar vermittelt mit viel Humor und Wärme buddhistische Weisheit für den modernen westlichen Menschen. Atishas Lojongs oder "Sieben Punkte des Geistestrainings" erläutert sie mit einfachen Worten, verständlich und alltagstauglich. So kann diese uralte Weisheit unser Leben hin zu Freude, Glück und Klarheit verändern. Der große indische buddhistische Meister Atisha (982-1054) war verantwortlich für die Wiedereinführung des ursprünglichen Buddhismus in Tibet. Die von ihm entwickelten sieben Punkte des Geistestrainings sind eine Kostbarkeit tibetischer Weisheitsliteratur aus dem 11. Jahrhundert n. Chr. Diese praktischen und lebensnahen Ratschläge und Unterweisungen sind jedoch nicht verstaubt oder veraltet, sondern, gerade mit Pyars Kommentaren versehen, für uns moderne westliche Menschen eine wunderbare Hilfe und praktische Anweisung auf dem weglosen Weg. Die Erweckung von Bodhichitta, dem Erleuchtungsgeist, in dem Weisheit und Mitgefühl zusammen kommen, ist der wesentliche Aspekt des Textes, der hierzu die entsprechenden tiefgreifenden Werkzeuge zum Wohle aller Wesen anbietet. Weisheit und Mitgefühl sind wie zwei Flügel, die uns tragen auf unserem Weg, und sie ermöglichen uns unsere tiefste Sehnsucht nach dem Erfahren von unerschütterlichem Glück, von Frieden und von Stille zu erfüllen.

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Inhaltsverzeichnis

Intro

I. Teil: Entdecken und experimentieren

1. Grundlegende Übungen

2.A Die zentrale Praxis – Realität und Traum

2.B Die zentrale Praxis – Mitgefühl

3. Umwandlung widriger Umstände in den Bodhipfad.

4. Anwendung der Praxis im Leben und im Sterben

5. Anzeichen des Geistestrainings

6. Schwert des Geistestrainings

7. Richtlinien des Geistestrainings

II. Teil: Tieferes Verstehen

8. Die Basis

9. Das Zentrum – Weisheit und Mitgefühl

10. Das Wunder der Umwandlung

11. Leben, Sterben, Freude und Ausrichtung

12. Zeichen der Klarheit

13. Der Wahrheit im Leben treu sein

14. Hilfen auf dem weglosen Weg

Die Slogans

Glossar

Bibliografie

Intro

Dieses Buch ist meinem brennenden Herzen entsprungen. Zwar benutze ich einen uralten, weisen tibetischen Text als Grundlage, doch ist alles hier Gesagte oder Geschriebene vollkommen neu und frisch und oft recht „pyarig“.

Atishas „sieben Punkte des Geistestrainings“ sind ein Grundlagentext tibetischer Weisheitsliteratur aus dem 11. Jahrhundert n. Chr. Man nennt die darin enthaltenen Aussagen auch Losungen oder Lojongs. Seine sehr praktischen Ratschläge und Unterweisungen sind jedoch nicht veraltet, sondern gerade für den modernen Menschen und den Menschen aus dem westlichen Kulturkreis eine wunderbare Hilfe und praktische Anweisung auf dem weglosen Weg. Die Texte sind so vollkommen, dass ich stets staunend und in tiefem Respekt davor stehe. Sie gänzlich auszuloten und ihren Nektar bis zum letzten Tropfen zu genießen, scheint ein unendliches Unterfangen zu sein. Diese Losungen Atishas sind mir selbst seit langem immer wieder Anregung, Hinweis und Herausforderung.

Eines meiner Anliegen ist es, Suchern und Schülern immer wieder Werkzeuge an die Hand zu geben, die in der Meditationspraxis und im Alltag anwendbar sind, um zu mehr Bewusstheit und Mitgefühl zu gelangen. Daher nutzte ich diesen bekannten Text Atishas 2003 als Grundlage für ein längeres Sommerretreat, an dem 120 Menschen teilnahmen. Dieses Retreat erwies sich für alle Teilnehmer als sehr tief gehend und weit greifend. Zu meiner großen Freude stellte sich in den folgenden Monaten heraus, dass mehr als zuvor die Menschen bereit waren, die angebotenen Werkzeuge zu nutzen, damit zu experimentieren und eigene Erfahrungen damit zu sammeln. Weil dabei auch immer wieder Fragen und auch Missverständnisse auftauchten, beschloss ich, ein Vertiefungsseminar zum selben Text anzubieten.

Dieses Buch entstand aus Mitschriften dieser beiden Retreats. Wie schon bei meinem letzten Buch „Poesie der Stille, Tanz des Lebens“ waren es auch dieses Mal eine Reihe Schüler und Teilnehmer, die um eine Veröffentlichung baten. Und wieder waren es viele Menschen, die mir mit so viel Geduld und Freude halfen, diese Mitschriften redaktionell zu bearbeiten, zu kürzen, in lesbares Deutsch zu verwandeln. Insbesondere Abhijat, Nirdoshi und Kranti waren mir dabei unschätzbare Hilfe und Unterstützung. So entstand ein Buch, das ich selbst als spannend zu lesen empfinde.

Ein wesentlicher Aspekt in Atishas Text ist die Erweckung von Bodhichitta, von Erleuchtungsgeist. Im Erleuchtungsgeist kommen Weisheit und Mitgefühl zusammen. Bodhichitta ist das Aufkeimen und Wachsen des Entschlusses, Befreiung zum Wohle aller Wesen zu erlangen. Deshalb freute es mich besonders, dass mich die Menschen dieses Mal auf eine Veröffentlichung der Texte ansprachen, da sie für noch viel mehr Menschen hilfreich sein könnten. Bodhichitta begann zu wirken …

Das Buch enthält die Vorträge, in denen ich jeweils am Anfang der Satsangs die einzelnen Punkte Atishas erläuterte, sowie einzelne Gespräche mit Teilnehmern, die zu weiterer Vertiefung der Themata, zu praktischer Verknüpfung mit dem täglichen Leben und Erfahren der Menschen führten. So wehen der Hauch der Weite, des Friedens, des Mitgefühls und immer wieder Lachen und Humor durch dieses Buch.

Wichtig ist mir, vielen Menschen diesen (und auch andere) Weisheitstexte wieder zugänglich zu machen und aufzuzeigen, dass sie auch in unserer modernen Welt nichts an ihrer Aktualität verloren haben und jetzt im täglichen Leben hilfreich sind. Mein Bestreben ist daher, sie in eine moderne Sprache zu „übersetzen“ und sie für unser Leben in diesem Jahrtausend praktisch anwendbar zu machen. Weisheit und Mitgefühl sind die zentralen Themen dieses Textes, und sie sind zu allen Zeiten wie zwei Flügel, die uns auf unserem weglosen Weg tragen. Sie ermöglichen die Erfüllung der tiefsten Sehnsucht aller Wesen nach Befreiung von Leid und dem Erfahren von unerschütterlichem Glück, Frieden und Stille.

Gerade Atishas Text ist ein Schatz, der uns sowohl herausfordert als auch Hilfestellung für viele Aspekte des menschlichen Seins bietet – vom täglichen Leben und unserem Umgang miteinander bis hin zur Meditationspraxis und dem Erkennen und Leben letztendlicher Wirklichkeit und des Mitgefühls – so weit wie der Himmel.

Ein weiterer wichtiger Aspekt, der sich wie ein roter Faden durch diesen Text zieht, ist die Alchemie der Umwandlung. Atisha beschreibt und erklärt, wie wir alles, was uns begegnet, in Heil, Fruchtbarkeit und segensreiche Herausforderung zum Wachsen nutzen können. Seien es Gefühle und Gedanken im Innen, seien es Umstände im Außen, selbst wenn sie äußerst unangenehm oder widrig sind, alle und alles ist nutzbar, um in Weisheit und Mitgefühl zu wachsen. Und alles ist verwandelbar in den Pfad des Erwachens. Das ist die tiefste Alchemie. Was für eine gute Botschaft!

Noch einige Sätze, die das Verständnis oder den Einstieg erleichtern:

Ich entschloss mich, dieses Buch in zwei Teile, entsprechend den beiden Retreats aufzuteilen. Da das zweite Retreat ein Retreat mit denselben Teilnehmern war, hatte ich die Freude und Gelegenheit, mit diesen Menschen den Text tiefer zu ergründen. Unter anderem begann ich den Text zu „verweben“, das heißt, bereits bei der Besprechung des 1. Kapitels zitierte ich immer wieder Abschnitte aus späteren Kapiteln. So fand ich es sinnvoller, euch, liebe Leser, zunächst dem Faden des ersten Retreats und anschließend dem des Vertiefungsretreats folgen zu lassen – genau wie die Teilnehmer auch. Dieses Verweben und Zusammenhängeherstellen erwies sich als sehr fruchtbar, und ich bin überzeugt, dass es auf diese Weise auch für euch fruchtbar sein wird. Daher ist es empfehlenswert, das Buch auch in dieser Reihenfolge zu lesen.

Die einzelnen Sätze des Geistestrainings werden Losungen oder Slogans genannt. Diese Slogans habe ich der Übersichtlichkeit halber im ersten Teil immer an den Anfang eines Kapitels gestellt.

I. Teil:

Entdecken und experimentieren

1. Grundlegende Übungen

1. „Zunächst übe dich in den Grundlagen, den Vorbereitungen.“

Als Grundlage dieses Retreats habe ich einen Text ausgewählt, der mich selbst seit fünfzehn Jahren begleitet: Atishas sieben Punkte des Geistestrainings. Atisha kam um das Jahr 1000 n. Chr. von Indien nach Tibet. Zu dieser Zeit war der Buddhismus in Tibet bereits verbreitet, es gab Schulen und Klöster.

Atisha war lange Jahre Schüler bei drei Meistern. Beim ersten lernte er Meditation und wurde still, er erfuhr Nicht-Verstand, Göttlichkeit, die Buddha-Natur. Nachdem er Stabilität in der Meditation und Weisheit entwickelt hatte, schickte ihn der Meister weiter mit den Worten: „Zu deiner Verwirklichung fehlt noch etwas Wesentliches, nämlich Mitgefühl. Das könnte ich dir zwar auch nahe bringen, aber es gibt einen Meister, einen Freund von mir, dessen Spezialität die Vermittlung von Mitgefühl ist.“ So reiste Atisha zu seinem zweiten Meister nach Indonesien, bei dem er fünfzehn Jahre verbrachte. Zuletzt lernte er noch bei einem dritten Meister. Deshalb wird Atisha der dreifach Gesegnete genannt, und er wurde in Indien zu einem großen, bekannten Meister. Die Menschen in Tibet erfuhren von seiner großen Weisheit und seinem Mitgefühl, und so reiste eine Delegation aus Tibet zu ihm und bat ihn, den Dharma in Tibet zu lehren. So kam Atisha nach Tibet.

Kurz nach seiner Ankunft in Tibet begegnete er einem Meister von großer Weisheit, Tiefe und Stille. Er unterhielt sich mit ihm und geriet in Zweifel, was er in Tibet überhaupt noch lehren solle, da doch dieser wunderbare Meister bereits hier war. Aber dann stellte Atisha diesem Meister folgende Frage: „Was ist die Verbindung und das Verhältnis von Meditation und Leben?“ Der Meister antwortete: „Meditation ist Meditation, und Leben ist Leben.“ Da wurde Atisha klar, warum er in Tibet war und was so notwendig war, dort zu lehren.

Atishas Text „Sieben Punkte des Geistestrainings“ ist in sieben Kapitel unterschiedlicher Länge eingeteilt. Er beginnt im ersten Kapitel mit vorbereitenden Übungen, um dann, einem Paukenschlag gleich, mit dem zweiten Kapitel in die absolute Wahrheit, Leerheit und in Mitgefühl einzutauchen, und er endet mit sehr praktischen, simplen Ratschlägen. Atisha beginnt also mit der tiefsten Wahrheit, fährt dann mit einfacheren Dingen fort und führt uns zurück ins Praktische, ins Leben. Dieser Text bildet auch einen Kreis oder ein Webstück. Ich verstehe ihn auch als Landkarte, und entsprechend der Stelle, an der man sich gerade befindet, betrachtet man eine bestimmte Stelle der Landkarte. Ihr werdet sehen, wie uns der Text immer wieder an den Anfang führt und wie alle Punkte miteinander verwoben sind.

Atishas Anliegen und das zentrale Thema dieses Textes sind die Verbindung von Meditation und Leben, die Verbindung von Stille und Leben, die Verbindung von Leerheit und Fülle, von Weisheit und Mitgefühl.

Im Umgang mit den Worten Atishas ist es immens wichtig, nicht mit Konzepten behaftet an sie heranzugehen. Wird dieser Text zum Beispiel aus einer kirchlichen Konditionierung heraus gelesen, dann könnte er einem moralistisch vorkommen. Das ist aber nicht der Fall, denn er kommt aus einem völlig anderen Verständnis. Er kommt aus demselben Verständnis, das auch Jesus hat, nicht aber aus dem Verständnis der Kirche. Sätze, Losungen, die Atisha verwendet, wie „Sei nicht eifersüchtig!“, sind nicht moralisch, sind keine Regeln, sondern kommen aus tiefem Verstehen und verlangen von uns tiefes Verstehen. Also ist es wichtig, zunächst die innere Tafel leer zu wischen, damit Atisha darauf schreiben kann. Nur so kann sich diese wunderbare Blume entfalten.

Das erste Kapitel beinhaltet nur einen Satz: „Zunächst übe dich in den Grundlagen, den Vorbereitungen.“ Wir sollten es nicht so verstehen, dass wir diesen Punkt eins abhaken, zu Punkt zwei fortschreiten und dabei Punkt eins hinter uns lassen, sondern Punkt eins bleibt die ganze Zeit über bestehen. Vorbereitung verlangt immer weitere Praxis, sie bleibt die ganze Zeit über im Hintergrund.

Ich werde euch in diesem Retreat nicht soviel über die traditionellen vorbereitenden tibetischen Übungen erzählen – vielleicht kommt das später –, sondern ich versuche, euch die grundlegenden Übungen in einer „pyarigen“ Art nahe zu bringen. Es ist einerseits wie eine Übersetzung, denn der Inhalt, die Essenz der Vorbereitung, der Grundlage, ist natürlich dieselbe wie in der Tradition und ist andererseits einfach die Übermittlung meines eigenen Erfahrens, meines eigenen Übens.

Was sind diese Grundlagen, die Vorbereitungen?

1. Loslassen von Konzepten, von Moralvorstellungen, von Ideen und Wissen.

2. Die innere Bereitschaft, wirklich selbst zu „brennen“ und in dieser Bereitschaft rückhaltlos zu sein.

3. Offenheit, Berührbarkeit. Ein offenes Herz – eine weiche Stelle, die berührbar ist in dir und wächst und wächst. Die Berührbarkeit lässt dein Herz überfließen in Dankbarkeit, auch wenn du das Risiko eingehst, gesehen zu werden und auch gelegentlich Schmerz zu erfahren.

4. Die Kostbarkeit der menschlichen Geburt.

5. Den Hintern hochkriegen.

6. Ausrichtung, Dringlichkeit, Entschlossenheit, Rückhaltlosigkeit, Treue. Und diese müssen wachsen, je mehr sich dir die Kostbarkeit des Einen enthüllt.

7. Ehrlichkeit. Kein spirituelles Mäntelchen, sondern direkte nackte Begegnung mit dem, was ist – im Innen und Außen.

8. Dableiben, nicht Fliehen. Sich nicht abwenden, nicht verstecken.

9. Die Bereitschaft, immer am Anfang zu stehen und einen Schritt nach dem anderen zu tun. Immer ein Schritt von genau dem Punkt aus, an dem ich stehe.

10. Nicht wissen.

11. Nicht immer um sich selbst kreisen. Mehr und mehr aufhören, in Ich und Ich und Ich zu denken, und anfangen, für das Ganze zu sein.

12. Innehalten, still sein.

13. Absichtslosigkeit. Ausrichtung bei gleichzeitiger Absichtslosigkeit. Hier keimen Hingabe und Geduld.

14. Respekt und Dankbarkeit. Respekt vor dir, vor allen Wesen, vor der Erde, der Natur, diesem wunderbaren Netzwerk der Existenz und vor dem Mysterium, das kein Ende hat. Dieser Respekt drückt sich auch in konkretem Handeln aus.

Zunächst einmal, wie schon erwähnt, das Loslassen von Konzepten, das Loslassen von Moralvorstellungen, von Ideen und Wissen. Moralvorstellungen töten das ursprünglich Lebendige, Liebevolle, Respektvolle so leicht und werden schnell zur Regel, zur Krücke, zu Gift. Dieses Gift tragen viele Menschen in sich, sie leiden daran und kämpfen damit. Spuckt es aus! Was lässt einen an diesem Gift festhalten, selbst wenn man bereits die Giftigkeit und Dummheit darin erkannt hat? Vielleicht ist es manchmal die leise Furcht, es könnte die Hölle doch geben, oder die Hoffnung: Vielleicht, wenn ich ganz, ganz brav bin und immer den Kopf einziehe, hilft es ja doch und ich erreiche den Himmel. Aufgrund dieser Furcht und dieser Hoffnung können euch so manche Strukturen von außen unterjochen.

Konzepte

Frage: Könntest du bitte erklären, was uns überhaupt dazu bringt, Konzepte aufzustellen? Was für einen Zweck haben sie? Was sind die Auslöser? Und welche geschickten Mittel habe ich, um wachsamer zu werden, wenn sie auftauchen?

Pyar: 1. Zunächst einmal sind Konzepte bequem. Man weiß, wo es langgeht, und man muss nicht selbst denken, muss nicht selbst erforschen. Man muss nicht selbst ein Licht anzünden. Konzepte sind geborgt. Konzepte sind bequem. Und da mag ja die eine oder andere Wahrheit in manchen dieser Sätze stecken, seien sie jetzt katholisch oder advaitanisch. Aber ich muss sie doch erst einmal untersuchen, bevor ich sie übernehme. Diese Untersuchung ist nicht analytisch und theoretisch, sondern ein Selbstversuch am eigenen Leib, mit dem eigenen Empfinden und mit dem eigenen Geist. Das ist ein wissenschaftliches Vorgehen, und so war auch das Vorgehen Buddhas, Oshos, Jesu. Selbst denken, selbst schauen, selbst erforschen, und nicht nachplappern. Der erste Vorteil von Konzepten ist ihre Bequemlichkeit. Das hat Mama schon gesagt und das hat Papa schon gesagt, oder das hat der Guru gesagt, dann wird es schon stimmen.

2. Durch Konzepte wähnt man sich auf der guten und sicheren Seite. George W. Bush hat Konzepte, und seine islamischen Gegenspieler haben Konzepte. Und jeder nimmt an, er sei auf der guten Seite. Dann kommt es zur Explosion, zu Krieg und Gewalt. Keiner hinterfragt: Bush nicht den Prediger, der ihm anscheinend seinen spirituellen Input gibt, und die Islamisten hinterfragen auch nicht. Das heißt, dass es bei beiden nichts Eigenes, nichts Erprobtes, nichts Erfahrenes ist – nur Geborgtes, nur Konzepte. Es mag ja sein, dass man beim Hinterfragen vielleicht an dem einen oder anderen Punkt am Ende zur selben Erkenntnis gelangt, die man schon immer vertrat. Aber dann weiß ich: „Oh ja, das war ein Goldkorn.“ Und es wird zu meinem eigenen Goldkorn. Das heißt, dass es nicht darum geht, prinzipiell alles in Bausch und Bogen zu verurteilen, was Mama, Kirche, Papa, Guru und so weiter gesagt haben. Aber es geht darum, sich zunächst zu verunsichern, sich den Boden unter den Füßen wegzuziehen, jede Krücke wegzuwerfen, um dann zu sehen, was wirklich ist, was wahr ist, was anwendbar ist.

Das sind die zwei hauptsächlichen Attraktionen von Konzepten: Sie sind einfach und sicher. Beides stimmt natürlich nicht, denn in Wirklichkeit bringen sie uns ständig in Teufels Küche, und Sicherheit gibt es nicht. Trotzdem glaubt man immer wieder daran. Wenn man dann von einem Konzept frustriert wurde, gerät man oft in die nächste Falle, indem man denkt: „Ich brauche ein besseres Konzept“, anstatt Konzepte ganz fallen zu lassen und es zu wagen, der Soheit der Dinge, dem Jetzt, der Situation ungeschminkt, nackt, ungeschützt und berührbar zu begegnen. Das neue Konzept wird natürlich auch nicht funktionieren. Und es schneidet euch wieder, genau wie das alte, von der Präsenz und von der Wahrnehmung der Präsenz ab. Und damit schneidet es auch vom Potenzial ab. Eure Augen sind von Konzepten verschleiert, und ihr könnt nicht sehen, was tatsächlich an Nützlichem vorhanden wäre. Konzepte hindern euch, neu zu entdecken. Konzepte machen alt, machen viel älter als Falten und graue Haare. Es ist eigenartig, trotz seiner grauen Haare wirkte Osho total jung. Selbst als er sehr krank war, wirkte er jung. Das kommt daher, dass er auf jeden Moment frisch zuging. Und auch Ramana sah recht jung aus, oder?

3. Zu den geschickten Mitteln im Umgang mit auftauchenden Konzepten: Als Erstes ist Wachsamkeit notwendig, um das Auftauchen eines Konzeptes überhaupt zu bemerken. Dann brauchen wir Ehrlichkeit. Ich muss mir eingestehen, dass ich einem Konzept gefolgt bin, anstatt der Wahrheit. Dann setzt ihr eure Bereitschaft ein, etwas zu ändern. Als Nächstes benutzt all euren Mut und all eure Neugier. Sie befähigen euch, das Konzept beiseite zu lassen und der Situation direkt und ungeschützt zu begegnen. Dann untersucht und beobachtet den Unterschied. Wie fühlt es sich an, wie schmeckt es, wenn ich durch die Konzeptbrille auf die Welt schaue, und wie schmeckt es, wenn ich ungefiltert, unwissend, unschuldig, neu schaue? Diese Untersuchung hilft wiederum, das Auftauchen eines Konzeptes beim nächsten Mal noch früher zu bemerken.

Die Lampe entzünden

F: Osho schreibt in dem Buch „Der Rabbi und die Katze“, dass Menschen, die einem Guru folgen, das Licht nur borgen. Wenn der Guru irgendwann geht, wird die Dunkelheit noch schlimmer sein als vorher. Das hat mich sehr berührt. Was sagst du dazu? Ich möchte vermeiden, mir etwas auszuborgen. Ich möchte nicht den Fehler machen, in deinem Licht zu stehen und darüber zu vergessen, mein eigenes anzuzünden. Das ist mir wichtig ...

P: Diese Herausforderung nehme ich mit Freuden an, denn genau dies ist mir ein großes Anliegen und war auch Oshos großes Anliegen. Weißt du, es ist möglich, in Menschen – auf welche Art auch immer (da gibt es mehrere gangbare Methoden) – eine sehr klare Einsicht hervorzurufen, ein Satori, eine direkte Erfahrung der Leerheit, oder auch ein ozeanisches Gefühl, ein Schweben in Stille. Das ist überhaupt nicht schwierig, aber sehr gefährlich, denn es macht abhängig, und der Schüler bleibt ärmer und ohne Werkzeug zurück. Das wäre geborgtes Licht. Ich tue das nicht, sondern ich halte mich an Buddha, der sagt: „Sei dir selbst ein Licht!“ Ich sage zu dir: „Hier ist eine Kerze, da sind Streichhölzer. Jetzt experimentiere damit! Und dann komm in drei Wochen wieder und sage mir, wie es geht.“

Das ist deine Herausforderung an mich und deine Herausforderung an alle. Und sie ist ganz wunderbar. Versucht nicht, Licht zu borgen, sondern zündet euer Licht selbst an! Dabei kann es jedoch durchaus hilfreich sein, miteinander in Stille zu sitzen und zuzulassen, in diese Stille, die hier präsent ist, zu fallen. Und dennoch ist es immer dein eigenes Zulassen. Es ist durchaus hilfreich, mit einem leeren Spiegel zusammen zu sein. Das ist meine Funktion. Und meine Funktion ist es, so gut wie möglich auf den Mond zu zeigen und dir Streichhölzer in die Hand zu geben, dich herauszufordern, sie zu benutzen, und da zu sein.

Manchmal erzählen mir Menschen, es sei so leicht, im Retreat oder in meiner Gegenwart in Stille zu kommen. Das ist wahr. Es ist ein Resonanzphänomen, und dennoch ist es deine Stille, sie ist nicht geborgt. Hier ist ein Klang der Stille, der in dir Resonanz findet, und zwar genau dort, wo kein Unterschied, keine Trennung zwischen dir und mir besteht. Und was dabei in dir in so wunderschöne Resonanz gerät, war immer schon da und wird auch da sein, wenn ich morgen sterbe. Es hängt auch davon ab, mit welcher Haltung, mit welcher Motivation du zum Guru gehst. Willst du dir etwas borgen? Oder willst du selbst lernen, wachsen, entdecken? Und falls jemand kommt, um zu borgen, dann bekommt er vielleicht sogar etwas, nur um später festzustellen und zu lernen, dass Geborgtes nicht hält.

Ich bin nicht zu Osho gegangen, um mir etwas auszuborgen, sondern um zu lernen. Schülerschaft heißt Lernen. Ich bin nicht zu ihm gegangen, um irgendwo auf „Wolke Sieben“ zu schweben, denn von dieser Wolke fällt man schnell und tief herunter.

Die Geschichte vom Rabbi und der Lampe

Es mag dem einen oder anderen erscheinen, als verließen wir gerade den Faden des Textes von Atisha, aber ihr werdet sehen, dass es ganz wesentlich zu den vorbereitenden Übungen gehört. Die chassidische Geschichte, auf die sich deine Frage bezog, erläutert, worum es bei dem ersten Kapitel Atishas „Studiere zunächst die Voraussetzungen, übe dich zunächst in den Grundlagen“ geht. Mit Studieren meint er, mit klarer, eigener Einsicht einzudringen und zu erforschen. Mit Studieren ist hier nicht ein Universitätsstudium gemeint, bei dem man viele Bücher liest und Exzerpte macht, sondern essenzielles, existenzielles Studieren.

Und nun die Geschichte, die Martin Buber so schön erzählt und die Osho in seiner Diskurs-Serie „Der Rabbi und die Katze“ erläutert:

„Ein junger Rabbi klagt dem Rabbi von Rizhyn sein Leid: ,Während der Stunden, da ich mich meinen Studien widme, fühle ich Leben und Licht; aber sobald ich aufhöre, ist alles weg. Was soll ich tun?‘“

Kommt euch die Frage bekannt vor? Es ist dieselbe Frage, um die es sich bei Atisha dreht. Wie bringe ich das Licht ins Leben? Nur wenn wir Meditation, Stille, Friedlichkeit ins Leben bringen und sie nicht als Flucht vor dem Leben missbrauchen, wird die Meditation auch unser Leben begleiten und erhellen, in jedem Moment.

„Der Rabbi von Rizhyn erwiderte: ,Das ist, wie wenn jemand in dunkler Nacht durch den Wald geht und für eine Strecke Wegs begleitet ihn ein anderer, der eine Lampe hat. An der Wegkreuzung aber trennen sie sich, und der erste muss jetzt allein weitertappen. Aber wenn einer sein eigenes Licht mit sich trägt, braucht er sich vor keiner Dunkelheit zu fürchten.‘“ Schöne Geschichte, nicht?

Sich selbst ein Licht sein – selbst brennen

F: Ich habe gemerkt, dass ich mich schon in Oshos Licht stellte, weil Osho so viel gegeben hat.

P: Ich weiß, dass es manchen in einem Sangha und mit einem Meister so erging und manchen sicher auch immer wieder so ergehen wird. Vielleicht ist das manchmal auch unausweichlich. Aber ich weiß auch, dass es nicht so sein muss. Schaut her: Wir haben hier zwei Kerzen. Eine brennt, die andere nicht. Die nicht-brennende Kerze kann sich einfach von der brennenden Kerze beleuchten lassen, kann sich natürlich ins Licht der brennenden Kerze stellen. Sie könnte dabei sogar die Illusion entwickeln, dass sie selbst brenne, aber nur so lange, wie die erste Kerze brennt. Wird die erste Kerze ausgeblasen, verschwindet das Licht – es wird dunkel. Es gibt manchmal Kerzen, die finden es ganz schick und bequem, sich ein wenig anleuchten zu lassen. Hinzu kommt noch, dass sich um eine brennende Kerze oft viele nicht-brennende versammeln. Und dann sagt die eine Kerze zur anderen: „Ich werde aber ein bisschen mehr angeleuchtet als du.“ Und das alte Spiel geht weiter. Und sie haben längst vergessen, dass sie selbst Kerzen sind mit dem Potenzial, zu leuchten.

Und hiermit kommen wir wieder zu den Vorbereitenden Übungen. Eine weitere Grundlage und Vorbereitung ist die innere Bereitschaft, wirklich selbst zu brennen und in dieser Bereitschaft rückhaltlos zu sein. Diese wilde Bereitschaft bewirkt eine Öffnung, einen Spalt im Panzer der Persönlichkeit. Du wirst bereit, offen zu sein, berührbar zu sein, zu brennen. Die Rückhaltlosigkeit in dieser Bereitschaft ist bereits ein Widerhall der Bodenlosigkeit der Unendlichkeit. Und die Rückhaltlosigkeit dieser Bereitschaft sagt: „Ja, ich will brennen, egal, was es kostet.“ Und schließlich kostet dieses Brennen die Kerze ja tatsächlich etwas, nämlich ihr Wachs, ihr ganzes Kerzen-Dasein … Es ist also eine Frage der eigenen inneren Haltung, der eigenen Motivation.

Die nicht-brennende Kerze mit dieser Bereitschaft und Haltung nähert sich also der brennenden Kerze, dem Licht, der Wahrheit, dem Meister, der Stille. Und sie ist ja auch eine Kerze mit Docht und Wachs und allem, was notwendig ist, und da ist auch noch die Bereitschaft, zu verbrennen. Sie wird Feuer fangen.

Wesentlich ist, festzustellen und zu würdigen, dass ein Docht in euch ist, dass da etwas ist, was selbst brennen kann. Diese Erforschung und Entdeckung gehört zu den vorbereitenden Übungen. Ihr entdeckt die Kostbarkeit der menschlichen Geburt, entdeckt das Potenzial der Bewusstheit. Ihr entdeckt diese wunderbare Chance, die jetzt gegeben ist. Also nähert ihr euch der brennenden Kerze, und es wird warm, wird heiß. Die Kerze stellt voller Erschrecken fest: „Huch, da schmilzt man ja! Aua! Oh, da lass ich mich doch lieber noch ein bisschen bescheinen, anstatt selbst zu brennen.“ Dann irgendwann versucht es die Kerze wieder, denn ihre grundsätzliche Bereitschaft ist vorhanden. Sie kommt ein bisschen näher zum Licht, kommt näher „... ääh! Nein, zu heiß!“ So geht das eine Weile. Geduld bei gleichzeitiger Ausrichtung ist hier wichtig! Und irgendwann hat die eine oder andere Kerze den Mut, ganz nahe zu kommen. Und dann brennt sie, und ihr Licht ist genau dasselbe. Eine andere Kerze, vielleicht eine andere Farbe, aber dasselbe Licht. Und wenn jetzt die erste Kerze verlischt, dann bleibt doch das Licht da. Also, wo ist das Problem? Das Problem ist nicht das Licht. Das Problem ist nicht, dass da eine Kerze brennt und man jetzt Angst haben müsste, sich Licht zu borgen. Die Herausforderung ist vielmehr, die eigene „Kerzenhaftigkeit“ zu entdecken und den Mut zu finden, tatsächlich zu brennen.

Eine weitere Grundvoraussetzung und grundlegende Übung ist, den Hintern hochzukriegen. Sonst brauchen wir gar nicht weiterzumachen. Innere Entschlossenheit ist notwendig, und zwar eine Entschlossenheit, die nicht zielgerichtet ist. Einfach: Okay, ich bin bereit, mit dem zu sein, was ist, jetzt, ohne Wenn und Aber. Ich bin bereit, offen zu sein, ehrlich zu sein. Das sind die Voraussetzungen: Offenheit, Ehrlichkeit. Ich bin bereit, still zu sein. Und ich bin bereit, hier und jetzt dazubleiben, nicht abzuhauen – weder in die Träumerei der Vergangenheit noch in die der Zukunft, noch in ein abgehobenes „spirituelles“ Erleben. Ich bin da und offen, bin bereit, mich der Angst zu stellen. Ich bin bereit, jetzt einen Schritt zu tun. Und dann den nächsten. Aber jetzt steht ein Schritt an. Ich denke jetzt nicht über den zehnten Schritt nach, sondern ich tue den ersten. Und es ist immer der erste. Jeder Schritt, den wir tun, ist der erste. Denn die vergangenen Schritte sind nicht mehr da. Also ist jeder Schritt immer der erste. Und das ist eine weitere Voraussetzung: Die Bereitschaft, immer am Anfang zu stehen. Dieser Anfang ist immer weiter, tiefer, weiser, liebevoller, ja, aber es ist immer Anfang. Die Unendlichkeit ist immerfort.

Zurück zur Geschichte von dem Rabbi. Osho erläutert dazu: „Solange du dich nicht um dein eigenes Wachstum kümmerst, bleibt diese Geschichte wahr.“ Knallhart. Das heißt, solange du nicht selbst schaust, selbst bereit bist, deinem Inneren zu begegnen, bleibt diese Geschichte wahr. Diese Begegnung mit dem Inneren, die Erforschung des Inneren, ist zunächst oft auch eine Erforschung des inneren Mangels, des Abgrundes in einem, dem man normalerweise durch alle möglichen Projektionen und Konzepte auszuweichen versucht. Dieser Mangel, den man entweder zu stopfen oder zu vermeiden oder hintanzustellen versucht hat, zeigt sich als Erstes, wenn man sich nach innen wendet.

Osho beschreibt weiter, wie Menschen ihm zuhören, im Diskurs mit ihm sitzen und dabei Licht und Leben empfinden. Und er fragt die Menschen: „Welche Meditation bekommt dir am meisten?“ Und viele antworten ihm: „Der Vortrag morgens.“ Das stört Osho irgendwie, denn aus einer solchen Antwort schließt er, dass dieser Mensch keinen Frieden erfährt, sobald er alleine sitzt. Das heißt, er hat zwar die Resonanz des Klanges der Stille wahrgenommen, aber dann nicht in seinem eigenen Inneren nachgeforscht, nicht praktiziert. Er meditiert nicht selbst, sondern er verlässt sich darauf, im Diskurs Stille zu finden. Er bemüht sich nicht.

Das Licht muss in deiner Form erscheinen; keine Nachahmung, keine Nachfolge, sondern das Eigene, das sich wohl an einem anderen entzünden kann und dann dasselbe Licht ist, und doch völlig authentisch, völlig eigen. Osho geht so weit, zu sagen: „Wenn du dir nur Licht borgst, ohne dich ernsthaft und wahrhaftig zu bemühen, deine eigene Lampe sich entzünden zu lassen, dann wäre es noch gescheiter, in der Dunkelheit zu gehen, denn das ist dann wenigstens deine.“1 Ja, das ist einer der Diskurse, in denen Osho seine Sannyasins packt und rüttelt und schüttelt und beißt und kneift und ruft: „Eh, Leute! Aufstehen! Es ist Zeit!“1

Nicht immer um sich selbst kreisen und die Geschichte von Ananda

Es gibt da auch eine Begebenheit aus dem Leben Anandas. Ananda war einer der engsten Schüler Buddhas. Er war 40 Jahre lang immer bei ihm. Er hörte alle seine Reden. Und doch war er so ein Typ, der den Hintern nicht hochgekriegt hat. Irgendwas ließ ihn immer zaudern. Er war ein äußerst treuer Schüler Buddhas, er sorgte für Buddha, kochte ihm Essen, brachte ihm Wasser. Ihr erinnert euch an die Geschichte, als er am Teich saß und beobachtete, wie der Schlamm sich setzt. Er hatte tiefe Einsichten, aber den letzten Schritt tat er nicht. Ananda war auch derjenige Schüler Buddhas, der das beste Gedächtnis von allen hatte. Er hatte alle Reden Buddhas wortwörtlich in seinem Kopf. Als Buddha starb, hatten sich viele seiner Schüler bereits zu Bodhisattvas entwickelt und viele hatten Erleuchtung erfahren – Ananda jedoch nicht. Einige Zeit nach Buddhas Tod wurde von seinen erleuchteten Schülern eine Versammlung einberufen, um den Kanon der Worte Buddhas festzulegen, um niederzulegen, welche Worte original von Buddha sind. Eine sehr wichtige Angelegenheit. Es gab ja keine elektronischen Aufzeichnungen wie zu Oshos Zeiten, und mitgeschrieben hatte auch niemand. Und von Ananda wusste man, dass er ein absolutes, wortgenaues Gedächtnis hatte. Seine Freunde waren alle erleuchtet, er nicht. Daher kamen sie zu ihm und sagten: „Ananda, wir halten eine Versammlung ab, in der aber nur die erleuchteten Schüler Buddhas vertreten sein sollen. Diese Versammlung ist sehr wichtig für alle Menschen, und wir brauchen dich dazu. Die Versammlung ist in einer Woche, also setze dich jetzt auf deinen Hosenboden!“ Ananda hat sich hingesetzt und zwei Stunden vor Beginn der Versammlung – die Erleuchtung.

So eine tiefe Geschichte! Was geschah? Bis zu jenem Zeitpunkt hatte Ananda sich immer um sich selbst gedreht, um Buddha und sich. „Buddha und ich; ich und Buddha.“ Und jetzt, in dieser Aufforderung seiner Freunde, gab es die Herausforderung, über sich selbst hinauszugehen, einmal seine Bequemlichkeit, vielleicht sogar seinen eigenen Wunsch nach Erleuchtung hintanstehen zu lassen und sich um das Ganze zu kümmern. Sie sagten: „Eh, wir brauchen dich! Aber so können wir dich noch nicht brauchen.“ Das heißt, dass seine Motivation, sich daraufhin wirklich hinzusetzen und wirklich die Illusion zu durchschneiden, Bodhichitta war, das Erwachen von Mitgefühl nach dem Arschtritt seiner Freunde. Und das ist wunderschön. Das entzündete sein Licht endgültig. Das ist eine weitere Voraussetzung, die bereits hineinführt in die Dinge, die Atisha später sagt: Nicht immer nur um sich selbst kreisen; sei es jetzt familiär, sei es materiell, sei es spirituell. Sondern sich immer wieder des Ganzen besinnen. Das öffnet.

Nur ein kleines Licht ist nötig – immer ein Schritt auf einmal

Osho erzählt weiter:

„Die ganze Welt braucht nicht mit Licht gefüllt zu sein, damit du gehen kannst – nur dein eigenes Herz, eine kleine Flamme, und das genügt. Denn sie wird genug vom Weg erhellen, damit du gehen kannst.“2

Das ist auch oft so ein Konzept, dass ein Riesenlicht nötig wäre, eine Rieseneinsicht, bevor ich bereit bin, mich zu bewegen. Ja, es reicht, wenn wir gerade bis vor unsere Füße sehen können.

„Niemand tut mehr als einen Schritt auf einmal. Eine kleine Flamme der Bewusstheit im Herzen, der Achtsamkeit, Dhyana, Meditation. Eine kleine Flamme, und das ist genug. Sie erhellt deinen Pfad ein wenig. Dann gehst du, und das Licht geht dir wieder voraus. Lao Tse sagt: ‚Einen Schritt zur Zeit machend, kannst du zehntausend Meilen zurücklegen.’ Und so weit ist Gott gar nicht weg. Gott ist genau da, wo du jetzt gerade bist.“3

Das ist auch so etwas. Manchmal überschlagen sich Menschen, sie purzeln durch die Gegend und versuchen, tausend Schritte auf einmal und vor allem den dritten vor dem ersten zu tun. Das misslingt natürlich und Frustration tritt ein. Dann heißt es: „Dann mache ich gar nichts mehr.“ Immer ein Schritt auf einmal. Ein Schritt auf einmal reicht. Es muss nicht das Ganze auf einmal sein.

Dringlichkeit – Entschlossenheit, Treue

Osho:

„Mein Blut ist wie deins. Mein Fleisch ist genau wie deins. Ich bin ebensoviel Staub wie du. Und dieser Staub wird zu Staub zerfallen, so wie dein Staub zerfallen wird. Wenn etwas so Unsagbares diesem Menschen möglich wurde, kannst du zuversichtlich sein. Dann brauchst du nicht zu zögern. Auch du kannst den Sprung wagen. In diesen Tagen, solange ihr mit mir zusammen seid, werde ich versuchen, euch mit meinem Licht zu begleiten. Aber merkt euch: Genießt es, aber verlasst euch nicht darauf. Erfreut euch daran, aber verlasst euch nicht darauf. Genießt es, damit euer eigener Drang, euer eigenes Verlangen zur Dringlichkeit wird, zu einem Muss wird, anzukommen ...“4

Eine weitere Voraussetzung oder Grundlage ist die Sehnsucht, dieser Drang, der eigentlich auch nicht sagen kann, was das Ziel ist. Das bewirkt die Dringlichkeit, die Ausrichtung, die Treue, die 100 Prozent.

Die Bereitschaft, berührt zu sein und zu berühren

Manche Menschen haben das Konzept, Offenheit und Aktivität würden sich widersprechen. Warum diese strikte Trennung zwischen rezeptiv und aktiv? In der Kommunikation miteinander ist beides da, zu gleicher Zeit. Das Berühren und das Berührt-Werden zugleich, nicht hintereinander, nicht abwechselnd – sondern gleichzeitig.

Die Bereitschaft, zu berühren und berührt zu werden, ist eine weitere grundlegende Übung. Sich nicht zu entziehen, offen zu sein, empfänglich, auch verletzlich, und in der Lage und bereit zu sein, zutiefst in der Seele, im Herzen berührt zu sein, ist wesentlich. Ohne diese Grundlage könnte manches, was Atisha später sagt, zu einer Flucht, zu einer Vermeidung missbraucht werden. Und die Berührbarkeit, inklusive der Verletzlichkeit, ist so schön, so lebendig und so menschlich, und sie befähigt uns, Mitgefühl zu entwickeln.

Es bestehen viele Illusionen über menschliches Zusammensein, über Kommunikation, Gemeinschaft, Partnerschaft, Beziehung. Und ich habe den Eindruck, ein großer Prozentsatz menschlicher Gemeinsamkeit ist vorgetäuscht, ist nicht echt. Ihr seid nicht wirklich berührt, sondern ihr versucht euch zu schützen, zeigt Masken und reagiert auf Masken. Nur merkt es keiner der beiden oder keiner der fünf oder keiner der hundert, die da zusammen sind. Und es bleibt unecht, solange nicht die Bereitschaft da ist, selbst in jedem Moment zutiefst berührt zu sein.

Das war das erste Kapitel. „Studiere die Grundlagen. Übe die Grundlagen.“ Wobei diese Grundlagen sehr weit gehen, oder?

F: Du hast eben gesagt, offen sein bedeutet, in jedem Moment auch tief berührbar zu sein. Da habe ich viel zu viel Angst davor.

P: Also fange an, dich zu trauen! Schritt für Schritt für Schritt. Genau darum geht es hier, darum geht es Atisha, und darum geht es auch in dieser Geschichte vom Rabbi. Wie sonst willst du deine Lampe anzünden? Ich stelle mir die Lampe so vor, wie man sie im 19. Jahrhundert hatte, mit Glas außen herum. Sie hatten einen Schieber, und man muss diesen Schieber aufmachen, denn wie soll man sonst den Docht entzünden? Vielleicht ist Öl in der Lampe und auch ein Docht – alles wäre vorhanden. Vielleicht brennt schon der ganze Wald rundherum! Aber solange der Schieber zu ist ...

F: Ja, was hindert mich daran ...?

P: Du könntest brennen!

F: Ich habe Angst, dass mich dann Wut mitreißt. Ja, ich habe Angst, dass ich mich dann nicht mehr unter Kontrolle habe.

P: Genau. Wenn du dich nicht mehr unter Kontrolle hättest, was würde dann aus dem Bild von dir?

F: Das wäre das Chaos!

P: Du musst dir begegnen und deinen Gefühlen, deiner Wut, deinem Hass und deiner Liebe. Und deiner Angst natürlich auch. Die Angst ist nicht das Problem. Sie ist da, und man kann sie fühlen. Aber du folgst dem Gedanken der Angst, der dir sagt, „Tu’s nicht!“, der dich in den alten Strukturen festhalten will. Oder traust du dich trotzdem?

F: Manchmal, wenn ich mich traue, geht es mir besser.

P: Super! Lass dich berühren. Sei berührt. Und berühre deine eigenen Gefühle.

Mitgefühl

F: Als das Wort Mitgefühl fiel, traf es mich im Herzen und mir wurde klar, dass mir das vollkommen fehlt.

P: Nehmen wir einmal an, du hättest ein Herz aus Stein. Gut, akzeptiert. Dann werden wir uns das jetzt genauer anschauen. Weißt du, es mag ja Herzen aus Stein geben, aber selbst dann ist der Stein immer nur Ummantelung, äußere Schicht.

F: Ich habe schon erlebt, dass der Stein schmelzen kann. Aber je mehr ich in Akzeptanz, in Gelassenheit komme, desto weniger wird mein Mitgefühl. Es regt mich nichts mehr auf, und ich denke: „Es ist alles Gottes Wille, und wenn es diesem Menschen jetzt schlecht geht, dann ist es einfach so.“

P: Hier ist genau der Punkt, wo Atisha dich abholt.

F: Ja, seit vielen Monaten habe ich jetzt das erste Mal starkes Herzklopfen gekriegt. Vorher war es fast ein wenig langweilig, dieses „Nichts-Tun-Können“. Und trotz Akzeptanz war es so weit weg von Glückseligkeit. Friede, aber irgendwie so lauwarm. Und jetzt höre ich auf einmal das Wort Mitgefühl, und ich denke mir: „Ah, das ist wirklich das Aufgehen des Herzens.“

P: Das ist total schön. Hier geht es um Bodhichitta, Erleuchtungsgeist. Erleuchtungsgeist ist die Vereinigung von Weisheit und Mitgefühl. Bodhichitta ist in jedem Wesen vorhanden. Es geht nur darum, es zu wecken oder die Panzer, Schichten und Masken davon wegzunehmen.

F: Ich glaube, ich kann nichts dafür tun. Es kann nur passieren.

P: Natürlich kann man etwas tun. Das ist eines der Konzepte, die man auch loslassen muss. Das ist ein Advaita-Konzept, das genauso giftig ist wie alle anderen Konzepte. Immer dann, wenn es unbequem wird, immer dann, wenn es vielleicht darum ginge, sich zu öffnen, immer dann, wenn ich vielleicht verletzt werden könnte, immer dann, wenn es vielleicht weh tun könnte, sagen die Leute: „Ja, aber ich kann ja nichts tun.“ Wenn es darum geht, Eiscreme aus dem Kühlschrank zu holen, sagt das keiner. Keiner sagt: „Vielleicht kommt die Eiscreme ja auf den Tisch, aber ich kann nichts dazu tun.“ Du kannst wirklich in deiner Haltung immer wieder bereit sein. Du kannst dich öffnen, immer wieder und immer mehr. Es ist deine Haustür.

Erinnerung an vergangene Erfahrung hindert

F: Vor zwanzig Jahren war ich, nachdem ich durch den Tod eines meiner Kinder durch tiefen Schmerz gegangen war, ein Jahr lang in einem Zustand tiefen Seins. Seither hatte ich das nie wieder. Diesen Zustand möchte ich eigentlich wiederhaben.

P: Vergiss es!

F: Ja. Ich weiß, dass ich das vergessen muss. Aber ich weiß nicht, wie das wieder herstellbar ist.

P: Gar nicht. Das ist wie bei dem besonderen Gefühl, das du hattest, als du als Kind zum ersten Mal am Meer warst und eine Sandburg bautest. Wenn du jetzt ans Meer fährst, ist es anders. Es ist wunderschön, aber es ist anders. Wenn du jetzt versuchst, dieses alte Gefühl wiederherzustellen, dann erfährst du nicht, was jetzt an Geschenken zur Verfügung steht. Und das Alte ist trotzdem nicht wieder herstellbar. Verstehst du? Genau dieser Versuch des Wiederherstellens einer noch so spirituellen Erfahrung steht im Weg. Er panzert dich.

Es ist ja als Erinnerung vorhanden. Neben vielen anderen Erinnerungen. Es ist jetzt Erinnerung, es ist Gedanke, mehr nicht. Auch das gehört zu den vorbereitenden Übungen, zu sehen, was Gedanke ist und was nicht. Hier ist ein Gedanke, eine Erinnerung, die du gelegentlich aus deinem inneren Schatzkästchen holst, betrachtest und dann wieder einpackst. Genau wie die Erinnerung an deinen Hochzeitstag oder an deine Scheidung oder alle anderen alten Postkarten. Dagegen ist nichts einzuwenden, solange man weiß, dass man jetzt eine nette halbe Stunde mit seinem Fotoalbum verbringt, und dann wieder offen und bereit ist für: „Was ist jetzt?“

Dein Festhalten an der Erinnerung dieser Erfahrung und deine Anstrengung in dem Versuch, das, was einmal war, wiederherzustellen, hindern dich. Wenn du jetzt einfach hier sitzt, hörst du zum Beispiel Klappern von Geschirr im Hintergrund, du sitzt bequem. Was fehlt denn jetzt, wenn du da bist?

F: Nichts.

P: Sobald du dann die Erinnerung hervorkramst, verblasst auf einmal die Gegenwart. Und die Erinnerung nimmt Gestalt an. Und dabei wirst du selbst genauso zweidimensional wie die Erinnerung.

F: Und wenn ich im Jetzt bin und alles habe, dann brauche ich eigentlich die Erinnerung nicht mehr. Dann könnte ich sie wirklich ernsthaft lassen.

P: Richtig. Du brauchst sie nicht. Du kannst sie lassen als das, was sie ist: Vergangene Erfahrung, Erinnerung, ein Gedanke, abgespeichert und archiviert in den Tiefen der Hirnwindungen. Als Archiv, als Erinnerung, als Foto, als Notiz ist es ja in Ordnung. Nur, die Illusion setzt immer da ein, wo wir etwas anderes daraus machen, als was es ist. Jetzt ist es einfach ein Gedanke, der vorbeizieht wie ein Hauch.

Bequemlichkeit

F: Ich bin zum ersten Mal in meinem Leben wirklich einfach zufrieden, und das ist wunderbar. Und ich mache seit einigen Wochen überhaupt keine spirituelle Übung mehr. Ich würde aber gerne wieder meditieren oder Yogaübungen machen.

P: Ja, dann tu’s doch.

F: Ich kriege den Hintern nicht hoch im Moment. Ich habe keinen Leidensdruck. Ich bin zufrieden …

P: Das heißt, du meditierst nur, wenn es dir schlecht geht. Du meditierst nur, wenn du unzufrieden bist. Weißt du, Meditation beginnt erst, wenn da keine Unzufriedenheit ist, nichts ist, was du damit bezweckst. Da geht es erst los. Weißt du, du erntest mit der Zufriedenheit jetzt vielleicht eine Frucht, eine karmische Frucht deiner Meditation von vor ein paar Jahren. So ist das. So ist das in kurzen Zyklen und in langen Zyklen. Und wenn damals deine Motivation, dich hinzusetzen, zu meditieren, folgende war: „Ich will meine Unzufriedenheit loswerden, ich muss mich zentrieren, weil ich gerade irgendein Drama habe ...“, dann wirst du natürlich in dem Moment, wo Zufriedenheit auftaucht, keinen Sinn mehr in der Meditation sehen.

F: Richtig.

P: Und das wiederum ist auch eine karmische Frucht. Es ist die Frucht der falschen Motivation, die Frucht falschen Verstehens. Deshalb sage ich immer: „Dreht euch nicht nur um euch selbst!“ Auch bei der Meditation, dreht euch nicht um euch selbst, nicht nur um euer Wohlbefinden.

1 Zitate aus: Osho: The True Sage, Pune, India 1976. Deutsche Ausgabe: Osho, Der Rabbi und die Katze, Edition OSHO im Innenwelt Verlag, 1999. © Osho International Foundation. Erlaubnis zum Abdruck erteilt durch: Osho International Foundation, Switzerland, www.osho.com

2/3 Zitate aus: Osho: The True Sage, Pune, India 1976. Deutsche Ausgabe: Osho, Der Rabbi und die Katze, Edition OSHO im Innenwelt Verlag, 1999. © Osho International Foundation. Erlaubnis zum Abdruck erteilt durch: Osho International Foundation, Switzerland, www.osho.com

4 Zitate aus: Osho: The True Sage, Pune, India 1976. Deutsche Ausgabe: Osho, Der Rabbi und die Katze, Edition OSHO im Innenwelt Verlag, 1999. © Osho International Foundation. Erlaubnis zum Abdruck erteilt durch: Osho International Foundation, Switzerland, www.osho.com

2.A Die zentrale Praxis – Realität und Traum

2.1. „Betrachte alle Phänomene als Träume.“ Oder: „Denke, dass alle Phänomene wie Träume sind.“

2.2. „Erforsche die Natur des ungeborenen Gewahrseins.“

2.3. „Lass sogar das Gegenmittel, die Medizin selbst, natürlich wegfallen.“

2.4. „Ruhe in der grundlegenden Natur, der Basis, der Essenz von allem, in Alaya.“

2.5. „Zwischen den Sitzungen betrachte Phänomene als Phantome.“ Oder: „Zwischen den Sitzungen sei wie ein Zauberer.“

Gestern sprachen wir über das erste Kapitel, das nur aus dem einen Satz besteht: „Zunächst übe dich in den Grundlagen.“ Das zweite Kapitel ist schon ein wenig länger und heißt: „Die zentrale Praxis.“ Ja, Atisha fällt fast mit der Tür ins Haus. Die zehn Losungen dieses Kapitels kann man in zwei Abschnitten betrachten. Der erste enthält das, was er bei seinem ersten Meister lernte: die zentrale Praxis der Leerheit, des Still-Seins, des Nicht-Verstandes. Im zweiten Abschnitt geht es um die zentrale Praxis des Mitgefühls, die er bei seinem zweiten und dritten Meister lernte. Er serviert hier also das, was er selbst in circa fünfzehn bis zwanzig Jahren intensivsten Lernens und Praktizierens erkannte, in zehn Sätzen. Seid euch dessen bitte bewusst! Dieser Text ist sehr kondensiert – kondensierter geht es nicht. Es ist wichtig, wahrzunehmen, aus welcher Weite, auch aus welcher zeitlichen Weite diese Weisheit kommt. Es sind nicht einfach nur ein paar Sätze, die jemand zwischen Frühstück und Mittagessen aufgeschrieben hat, sondern sie sind wirklich die Essenz eines Meisters. Ich nehme an, dass Atisha irgendwann diese Losungen für seine Schüler als eine Art Gedächtnisstütze in dieser Form niederschrieb. Sicherlich hat er mit seinen Schülern ausführlich und immer wieder darüber gesprochen und sie in ihrer Praxis begleitet. Seine Schüler waren lange mit ihm zusammen und haben reiche Frucht getragen.

Ihr seht – Geduld ist notwendig auf dem weglosen Weg.

2.1. „Betrachte alle Phänomene als Träume.“ Oder: „Denke, dass alle Phänomene wie Träume sind.“

Hier ist es sehr wichtig, dass wir die Grundlage der Offenheit haben, von der wir sprachen – die Grundlage der Bereitschaft, zu berühren und zugleich berührt zu sein. Von was auch immer. Wenn diese Grundlage nicht vorhanden ist, dann könnte diese Praxis oder Methode gefährlich werden, weil sie dann als Fluchtmittel dienen kann, als Möglichkeit, sich auf eine nihilistische Sichtweise zurückzuziehen, um sich vor der Realität der Soheit der Dinge zu schützen. Das wäre Eskapismus. Okay, ihr seid offen, berührbar, berührt zum Beispiel vom Wind. Ihr berührt Wind. Das ist die Grundlage. Dieses Phänomen „Wind“ dann wie einen Traum zu betrachten heißt, ich nehme die Idee von Festigkeit heraus. Die Festigkeit, die wir in unserer Vorstellung den Dingen, den Phänomenen verleihen, ist ein reines Konstrukt. Sie existiert nicht. Und wir vergessen meistens im Kontakt, in der Wahrnehmung von Phänomenen innerer oder äußerer Art die Vergänglichkeit, die Beweglichkeit, die Veränderlichkeit, das Fließende in allen Phänomenen.

Fließend, flüchtig, zusammengesetzt und bedingt – ohne Muscheln keine Berge

Auch Berge fließen, sie fließen eben ein wenig langsamer. Aber sie fließen. Das Geröll bröselt herunter. Berge zerbröseln im Lauf der Zeit. Irgendwann einmal waren sie nicht da. Irgendwann einmal waren hier Meer, Ozean, Muscheln, Korallen, ganz viele Muscheln und Korallen und sonstiges Getier mit vielen Chitin- und Kalkpanzern. Auch sie sind geflossen und gestorben, so wie alles andere auch. Ihre Reste haben sich am Meeresboden abgelagert, mehr und mehr und mehr. Ihr müsst euch mal vorstellen, wie viele Muscheln nötig waren, um diese majestätischen Berge zu bilden. Und irgendwann zerbröseln die Berge wieder, irgendwann ändert sich die Struktur auf der Erde. Vielleicht ist dann hier wieder ein Ozean und woanders sind Berge, dort, wo jetzt Ozean ist.

Nichts ist fest, alles flüssig, fließend. Eine vorübergehende Erscheinung. Diese Flüchtigkeit, Beweglichkeit, Veränderlichkeit, Sterblichkeit, Nicht-Festigkeit ist eines der Merkmale der Traumhaftigkeit der Phänomene. Was auch immer, es ist flüchtig. Und das zweite Merkmal ist: Kein Phänomen ist selbstständig. Nichts, was wir wahrnehmen, kein Ding existiert aus sich selbst heraus. Die Berge stehen nicht einfach so aus sich selbst heraus hier herum. Ohne die Muscheln keine Berge. Ohne das Meer und ohne die Sonne gäbe es keine Wolken. Und alle Phänomene sind zusammengesetzt. Sie sind keine solide Angelegenheit.

Färbung der persönlichen Wahrnehmung

Der andere Aspekt der Unwirklichkeit, der Traumhaftigkeit kommt aus dem menschlichen Geist. Wir werfen eine Art Netz über die Dinge. Dieses Netz besteht aus der persönlichen Färbung der Wahrnehmung. Der eine mag Berge. Der andere mag Berge nicht. So wird die Wahrnehmung desselben Berges bei zwei Menschen verschieden sein. Der eine hat seine erste Liebe in den Loferer Steinbergen erlebt. Der andere ist dort einmal verunglückt. Da also verschiedene Erinnerungen mit demselben Berg verknüpft sind, ist die gegenwärtige Wahrnehmung unterschiedlich. Das macht es traumhaft. Ähnlich wie wir die Träume der Nacht zweier Menschen nicht vergleichen können, weil sie gefärbt und sehr persönlich sind, ist es auch mit den Wahrnehmungen untertags. Sie sind gefärbt durch Erfahrung, Gefühl, Erinnerung, durch Abneigung, durch Zuneigung, durch Wollen und Nicht-Wollen.

Wenn Bewusstheit wächst und wir diese persönlichen Färbungen, die Festigkeit, das Konzept, das Wissen weglassen können, dann taucht die Wirklichkeit in all dem auf. Der Berg ist dann immer noch da. Er verschwindet nicht. Im Gegenteil, die Wirklichkeit des Berges wird erstmals offensichtlich. Phänomene als Träume zu betrachten, heißt also nicht, dass die Berge verschwinden oder der Wind verschwindet, der jetzt gerade weht. Ganz im Gegenteil, dieses Phänomen von zarter, berührender Bewegung auf meinem Gesicht ist dann einfach dieses Phänomen von zarter, berührender Bewegung auf meinem Gesicht – ohne Namen, und ist völlig neu in jedem Moment. Strahlend aus sich selbst. Manchmal ist es jedoch nicht so leicht, sofort in dieses direkte Erfahren des Moments einzutauchen. Ein gutes Hilfsmittel, eine Methode, eine Praxis besteht dann zunächst darin, die Phänomene als traumhaft zu betrachten, zu denken, sie seien wie ein Traum. Das durchschneidet die Konzepte, die Festigkeit. Aber das ist nur ein Schritt. Versteht ihr?

F: Kann man den Begriff Phänomen eventuell gleichsetzen mit dem Begriff „Sichtweise“?

P: Nein. Sichtweise ist etwas anderes. Das Sanskritwort hier ist „Dharma“. Betrachte alle Dharmas als Träume. „Dharmas“ wird in diesem Zusammenhang durchgängig von allen mit Phänomenen übersetzt. Dharma bedeutet in diesem Zusammenhang nicht Wahrheit oder Lehre, sondern „alle Dinge“. Nicht die Art, wie du draufschaust, sondern wirklich die Dinge. Alle Phänomene. Alles, was kommt und geht. Grundlegende Eigenschaft aller Phänomene ist ihre Unbeständigkeit, ist ihre Veränderlichkeit, ist ihre Abhängigkeit von Ursache und ihr Eingebundensein in Ursache und Wirkung, und die Interdependenz, die zwischendingliche Verbindlichkeit zwischen allem, die Vernetztheit und wechselseitige Bedingtheit. Und das gilt für Sachen, das gilt für Gefühle, das gilt für Gedanken, das gilt für jegliche Art von Zuständen. Und für alle Wesen.

Zwei Meister treffen sich

Zwei Meister treffen sich. Beide haben viele Schüler, die sich natürlich ein erhebendes Gespräch zwischen den Meistern erwarten und sich um die beiden gruppieren. Sie achten darauf, gerade so viel Abstand zu halten, um nicht aufdringlich zu wirken, aber doch noch genau hören zu können, was die beiden Meister vielleicht auszutauschen haben. Die Meister sitzen gemütlich auf ihren Gartenstühlen und sagen nichts. Sie schauen so in der Gegend herum, schauen sich gegenseitig an, sie freuen sich und sagen nichts. Irgendwann fängt der eine lauthals zu lachen an. Als ihn der andere anblickt, sagt er: „Das da drüben, das nennen die Leute einen Baum.“ Woraufhin der andere auch in schallendes Gelächter ausbricht. Ja, und dann sitzen sie wieder und sagen nichts.

Die kleine 180° Kehrtwendung

„Betrachte alle Phänomene als Träume.“ Dieser Satz führt zu einer Kehrtwendung. Normalerweise fokussiert man seine Wahrnehmung stark nach außen und hangelt sich von einem Moment zum anderen: von einem eingefrorenen Moment zum nächsten, von einem nicht-fließenden Moment zum anderen, in der Hoffnung, irgendwo anzukommen. Immer mit dem Fokus nach draußen. Der Fokus richtet sich auf andere Menschen, auf Dinge, auf Gefühle, auf Erfahrungen. Und jetzt sage ich einfach zu mir: „Okay, nehmen wir mal an, alles da draußen an Dingen und Phänomenen und auch alles hier drinnen, was an Gefühl angenehmer oder unangenehmer Art auftauchen mag, ist einfach nur ein Traum.“ Einfach als Hypothese. Das bewirkt eine Wendung, diese kleine Hundertachtzig-Grad-Kehrtwendung: Ich kann mich nicht mehr irgendwo da draußen festhalten und werde nach innen katapultiert. Dort finde ich erst einmal nichts. Und das ist okay.

2.2. „Erforsche die Natur des ungeborenen Gewahrseins.“

Jetzt kommt der nächste Schritt mit dem zweiten Satz: „Erforsche die Natur des ungeborenen Gewahrseins.“ Hier, ganz innen, ist Gewahrsein, ein leerer Spiegel, der jetzt auch gar nichts zu spiegeln hat. Hier ist nur die Spiegelnatur des Spiegels und sonst nichts. Ohne Inhalt. Ohne Objekt. Diese Spiegelnatur, dieses Gewahrsein, Bewusstsein, Wachsein hat keinen Anfang. Es ist ungeboren, sagt Buddha, nicht gemacht, nicht geworden, nicht abhängig. Einfach da. Immer da gewesen, und wird immer da sein. Nur ist es oft verstellt und getrübt durch all die Spiegelungen, all die Illusionen. Diese Natur des ungeborenen Gewahrseins zu erforschen, ist lohnend. Die Erforschung ist keine Analyse, sondern ein schmeckendes Erforschen, ein Tauchen in Das oder ein Fliegen in Dem. Und dann kommen die Dinge in die richtige Dimension: Wenn ich aus diesem ungeborenen Gewahrsein heraus den Wind wahrnehme, der immer noch weht, erhält dieses Hauchen des Windes auf einmal die Wirklichkeit, die ihm zusteht. Jetzt ist es nicht mehr die Wirklichkeit, die ich mir ausgedacht hatte oder die ich als Konzept oder als Gelerntes übernommen habe, sondern es ist die Natur des Windes selbst, ohne den Rattenschwanz der Erinnerung, ohne den Rattenschwanz des Wissens. Jetzt leuchtet die Wirklichkeit und strahlt aus sich selbst – höchst lebendig, nichts Totes, nichts Abgeschnittenes. Das ist höchst lebendig und zutiefst teilnehmend.

2.3. „Lass sogar das Gegenmittel, die Medizin selbst, natürlich wegfallen!“

Dritter Schritt: „Lass sogar das Gegenmittel, die Medizin selbst, natürlich wegfallen.“ Sobald wir da sind, ruhend in Gewahrsein und die „Windigkeit“ des Windes genießend, müssen wir die Methode fallen lassen. Die Methode war der erste Schritt: „Betrachte alle Phänomene als Träume.“ Jetzt brauchen wir die Methode nicht mehr. Wenn wir uns jetzt an der Methode festhalten, hindert sie uns. Dann wird es tot. Man muss immer rechtzeitig wieder damit aufhören, die Medizin zu nehmen, und zwar dann, wenn sie ihren Zweck erfüllt hat. Wenn man sich dann weiterhin vorsagen würde, „Alle Phänomene sind Träume“, kann man die „Windigkeit“ des Windes nicht respektieren und nicht würdigen, und man verschließt sich. Die Methode war nur der Impuls für den Anfang.

2.4. „Ruhe in der grundlegenden Natur, der Basis, der Essenz von allem, in Alaya.“

Dann der vierte Schritt: „Ruhe in der grundlegenden Natur, der Basis, der Essenz von allem.“ Das Gegenmittel wurde losgelassen. Jetzt können wir einfach da sein, spielen, feiern, ruhen, tanzen, leben. In Frieden, in der Essenz, in der Heimat, in der Leerheit, die Fülle ist. Das indische Wort für Basis, Essenz und grundlegende Natur ist „Alaya“. Alaya bedeutet Heimat. Himalaja bedeutet „die Heimat des Schnees“. Einfach daheim sein in der grundlegenden Natur von allem. In der „grundlegenden Gutheit“ nennt Chögyam Trungpa das, insbesondere auch in der grundlegenden Gutheit eurer selbst. Diese Stabilität, das ist Alaya. Alaya ist die Basis, die Abflugbasis, die Startrampe. Und sie ist garantiert in jedem vorhanden.

2.5. „Zwischen den Sitzungen, betrachte Phänomene als Phantome!“

Fünftens: „Zwischen den Sitzungen, betrachte Phänomene als Phantome.“ Gut. Ihr sitzt und betrachtet Phänomene als Träume, erforscht die Natur des ungeborenen Gewahrseins, lasst das Gegenmittel los und ruht in der grundlegenden Natur. Dann steht ihr wieder auf und geht in die Küche und ihr ruht nicht mehr in der grundlegenden Natur. Dann beginne wieder bei Punkt eins: „Betrachte Phänomene als Phantome.“ Das ist sehr wichtig, denn erfahrungsgemäß hält das einfach – und das wiederholen alle Meister – zunächst nicht so lange. Ja, da kommt ein Aufblitzen von „Aaaahhhhhhh! Wow! Jaaa! So ist das!“ In dem Moment warst du genau an dem Punkt, den Atisha als „Ruhen in der Essenz von allem“ beschreibt. Aber es verblasst zuerst mal immer wieder. Ihr fallt heraus, das kennt ihr, oder? Und das ist völlig normal, denn schließlich handelt es sich hier ja um eine Praxis, um ein Üben. Ihr fallt heraus, ihr müsst den Wind wieder benennen, ihr seht die Berge wieder als fest, ihr seid wieder eingesperrt in eurem Gefängnis von konzeptionellem Denken. Sobald ihr es merkt – okay, fangt ihr wieder an: „Erstens, betrachte Phänomene als Phantome.“ Dieser Satz wird auch manchmal übersetzt als „zwischen den Sitzungen sei ein Zauberer“ oder mit „zwischen den Sitzungen sei ein Kind der Illusion“. Das heißt: Du gehst raus und nimmst die Phänomene wahr, nimmst vielleicht noch die fließende Natur, das Nicht-Feste, das Wehende, das Verbundene, das Nicht-Getrennte wahr. Dann spiele damit. Gehe nicht einfach zur Tagesordnung über, sondern lass die Einsicht der Meditation ins Leben fließen. Und zaubere, spiele wie ein Kind. Entdecke, ob man auch Kartoffeln schälen kann, ohne das Konzept von Kartoffel und indem man die scheinbare Festigkeit beiseite lässt. Viele Menschen haben Angst, dass sie ohne das Netz der Illusion, das sie über die Wirklichkeit werfen, nicht funktionieren würden. Also muss man ausprobieren und spielen wie ein Kind oder wie ein Zauberer. Und zwar im Alltag. Kann ich im Alltag sein wie ein Kind, immer neugierig, ausprobierend und unbelastet von Altem? Kann ich das Gewahrsein, die Achtsamkeit, die Weisheit, die sich mir in der Sitzung eröffnet haben, außerhalb der Sitzung und zwischen den Sitzungen praktizieren? Damit das stabil werden und zu einem dauerhaften Sein in der Wirklichkeit werden kann, ist es unerlässlich, dies zu erforschen.

F: Das erinnert mich an ein Bild, vor dem ich mal ganz fasziniert stand. Das Bild bestand aus vielen roten Punkten auf weißer Fläche. Die roten Punkte waren in Reihen angeordnet, zwanzig in der ersten Reihe und neunzehn in der zweiten, und dann wieder zwanzig. Wenn man vor diesem Bild stand, bildeten sich automatisch Linien. Sie veränderten sich ständig, aber ohne Zusammenhänge war das Bild schließlich nicht wahrnehmbar.

P: Oder erinnert euch an diese Bilder, auf die man unfokussiert draufgucken muss. Erst sind es nur Farbflecken, und dann schaust du und es kommt zum Beispiel ein Pferd zum Vorschein. Wow! Das ist auch das Zauberhafte daran, ja? Deshalb steht in der 5. Losung des 2. Kapitels: „Zwischen den Sitzungen, sei wie ein Zauberer.“ Du kannst damit spielen, wenn du weißt, was du tust und es nicht zu ernst nimmst. Du lässt die Bilder spielen, du lässt das Pferd herausspringen. Das ist okay.

Potemkinsche Dörfer

Kennt ihr die Geschichte von den Potemkinschen Dörfern? Sie spielt im Russland der Zarenzeit. Potemkin war wohl irgendein Verwalter oder kleiner Herzog. Es lief nicht sonderlich gut in seinem Distrikt. Die Menschen waren sehr arm, die Hütten waren verfallen, es stank überall. Eines Tages kündigt sich überraschend der Zar zu Besuch an. Aber anstatt aufzuräumen oder dem Zaren einfach die Problematik offen darzulegen, was ja vielleicht hilfreich hätte sein können – was macht der Kerl? Er baut Fassaden vor die Hütten. Pappmaschee, Disneyland. Dahinter waren immer noch die verrottenden, fauligen, stinkenden Hütten und vorne hübsche Fassaden. Der Zar muss auch ein wenig dumm gewesen sein: Er ließ sich hereinlegen und sagte nie: „Ich möchte mal in ein Haus hineingehen!“, sondern er war wohl auch ganz froh, dass alles in Ordnung schien und er schnell wieder nach Petersburg heimkehren konnte.

Normalerweise hält man zunächst an Potemkinschen Dörfern fest. Das ist die Illusion. Sie wird wie eine Fassade vor der Realität aufgebaut. Das heißt aber nicht, dass es nicht eine Realität hinter den Fassaden gäbe. Dass ihr so oft denkt: „Dann bleibt ja nichts“, liegt unter anderem daran, dass ihr diese Potemkinschen Dörfer für derart real haltet, dass ihr euch gar nicht vorstellen könnt, dass es etwas anderes dahinter geben kann – nämlich die tatsächliche Realität. Und manchmal besteht auch, wie bei Potemkin, die Befürchtung, es könnte dahinter stinken. Dann werden wir, sobald wir dem zu begegnen bereit sind, sehen, wie man damit umgeht. Auf der Basis von Alaya ist es möglich, mit allem umzugehen, so wie es ist, ohne Illusion, ohne Traum, ohne zu fliehen. Und ganz lebendig.

Ein anderes Bild dafür ist vielleicht auch der Pawlowsche Hund. Ein Großteil auch menschlicher Verhaltensweisen sind Pawlowsche Reflexe, die auf falschen Verknüpfungen beruhen und mit der Realität nichts zu tun haben. Mit diesem berühmten Hund wurde ein Experiment durchgeführt. Viele Tage lang wurde jedes Mal, wenn er Futter erhielt, eine Glocke geläutet. Wie ihr wisst, läuft Hunden und auch Menschen beim Anblick des Futters der Speichel im Mund zusammen. Nun, nach einer Weile wurde nur noch die Glocke geläutet – ohne Futter. Und siehe da – der Speichel läuft dem Hund beim Klang der Glocke aus dem Maul, als ob es tatsächlich etwas zu fressen gäbe. Das ist eine falsche Verknüpfung, das ist Traum, das ist Illusion. Aber täuscht euch da nicht – derartige Dinge passieren ständig!

Wie man mit dem Verstand redet

Eine der grundlegenden Illusionen, die aus der Wirklichkeit einen Traum macht, ist der Glaube an Beständigkeit, wo keine ist. Alles geht vorbei. Und versucht nicht, ein Programm gegen das andere zu setzen, den positiven Gedanken gegen den negativen, denn dadurch füttert ihr nur den Mechanismus!

Sagt eurem Verstand etwa Folgendes: „Ich finde es total nett von dir, wie du dich bemühst und wie du versuchst, mir ein angenehmes Leben zu schaffen ...“ Das versucht er ja wirklich! Es geht bloß immer nach hinten los. Ihr könnt ihm sagen: „Es ist okay, und ich respektiere dein Bemühen, aber es kümmert mich nicht. Du kannst dich ausruhen! Du musst nicht an der Realität herumstricken! Mir ist die Realität recht, so wie sie ist.“

Das wäre so, wie wenn der Zar in das Dorf kommt und zu Potemkin sagt: „Aha, finde ich total nett von Ihnen, dass Sie mir einen angenehmen Tag machen wollen, aber ich habe keine Angst vor der Realität. Und jetzt lass uns mal die Häuser von innen inspizieren.“ Dann hört diese Verbündung auf, ja? Der Zar verbündet sich nämlich mit Potemkin. Der eine auf Grund seiner Bequemlichkeit, der andere auf Grund seiner Angst. Und dann kommt keiner mehr aus dem Lügengebäude heraus.

Zusammengesetztheit der Phänomene