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Eingesperrt, ohne Erinnerung, erwacht Manuel allein in einem weißen Raum. Sein einziger Kontakt zur Außenwelt ist die computergenerierte Stimme Alice, durch die er Zugriff auf das Internet hat. Stück für Stück erschließt sich Manuel online, was mit ihm passiert ist: Bei einem Entführungsversuch wurde er lebensgefährlich verletzt. Doch wie konnte er diesen Anschlag überleben? Ist das tatsächlich die Wahrheit? Und wer ist Manuel wirklich?
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Seitenzahl: 308
Die Auszüge aus Alice’s Abenteuer im Wunderland von Lewis Carroll entsprechen in Orthografie der Erstausgabe von 1869 in der Übersetzung von Antonie Zimmermann. Die Interpunktion wurde vorsichtig angepasst.
Für Nik
Ich will daher annehmen, daß zwar nicht der allgütige Gott, der die Quelle der Wahrheit ist, wohl aber irgendein ebenso böser wie mächtiger und listiger Geist all sein Bestreben darauf richtet, mich zu täuschen; ich will glauben, daß der Himmel, die Luft, die Erde, die Farben, die Gestalten, die Töne und alles außerhalb von uns nur das Spiel der Träume sei, durch die er meiner Leichtgläubigkeit nachstellt. Mich selbst will ich so ansehen, als hätte ich keine Hände, keine Augen, kein Fleisch, kein Blut noch irgendeinen Sinn, sondern glaube dies bloß fälschlicherweise zu haben. Ich will hartnäckig in dieser Betrachtung verharren, und wenn es dann auch nicht in meiner Macht steht, etwas Wahres zu erkennen, so will ich wenigstens, soweit es an mir ist, mit festem Geiste mich vor Irrtum bewahren, und jener Betrüger, sei er noch so mächtig, noch so listig, er soll keinen Einfluß auf mich bekommen!
René Descartes,Untersuchungen über die Grundlagen der Philosophie, 1641
Wo bin ich?
Ein weißer Raum in der Form eines Würfels. Keine Lichtquelle. Die Wände leuchten offenbar ganz von allein, sodass ihre Begrenzungen nur durch feine dunkle Linien in den Ecken erkennbar sind. Keine Fenster oder Türen, keine Möbel, keine Bilder an den Wänden. Nichts lässt erkennen, was außerhalb dieses Raums ist oder wie ich hierhergekommen bin. Nicht ein einziges Geräusch ist zu hören.
Wer bin ich?
Da ist kein Name in meinem Gedächtnis, kein Selbstbild, nur Begriffe: Ich weiß, was ein Würfel ist, ein Baum, ein Hund, ein Computer. Doch diese Dinge haben nichts mit mir zu tun. Ich verbinde keine Erlebnisse mit ihnen. Ich weiß nicht einmal, woher die Fülle der Begriffe in meinem Kopf stammt. Ich erinnere mich an nichts.
Verwundert starre ich meine Hände an. Sie sehen aus, als trüge ich Handschuhe aus dünnem Plastik, die die feinen Fältchen und die Rillen meiner Fingerkuppen abdecken. Mein Körper steckt in einem glatten Overall aus weißem Material. Als ich ihn anfasse, fühle ich nichts – weder in meinen Fingern noch an der berührten Körperstelle. Selbst heftiges Schlagen erzeugt keinen Schmerz. Ich habe keinen Tastsinn. Auch riechen kann ich nichts.
Langsam gehe ich zu einer der Wände, strecke die Hand aus, berühre die glatte Fläche, spüre aber nichts. Die Oberfläche gibt nicht nach. Ich taste die Wände ab, suche nach einem verborgenen Schalter, einem Spalt, irgendetwas, was auf eine Öffnung hindeutet. Doch ich finde keinen Ausweg.
Panik steigt in mir auf. Was soll das? Wer hat mich hier eingesperrt? Und warum? Habe ich etwas Falsches gemacht? Ich kann mich nicht erinnern. Mein Herz müsste rasen, aber ich empfinde nichts. Was ist bloß los mit mir?
Versuchsweise trete ich gegen die Wand, fühle und höre jedoch nichts. Es ist, als würde ich gar nicht wirklich existieren.
Vielleicht träume ich ja bloß? Aber wenn es tatsächlich ein Traum ist, dann ein schrecklich realer. Die Stille bedrückt mich. Es ist, als ob es außerhalb dieses Raums nichts gäbe. Ein schrecklicher Gedanke.
»He! Lasst mich hier raus!«, brülle ich. Oder besser gesagt, ich will es brüllen, doch aus meinem Mund kommt nur eine seltsame, tonlose Stimme, so als würden die Worte von einem Computer gesprochen.
»Ich verstehe die Anweisung nicht.« Die Stimme einer Frau. Ihre Betonung ist genauso unnatürlich wie meine. Sie scheint von überall gleichzeitig zu kommen. Trotzdem drehe ich mich um, halb hoffend, halb befürchtend, dass auf magische Weise jemand in diesem Raum aufgetaucht ist, dass es einen Zugang gibt und somit auch einen Ausweg. Doch ich bin allein.
»Was?«, frage ich.
»Ich verstehe die Frage nicht.«
»Wer … wer bist du?«
»Mein Name ist Alice«, erwidert die Stimme. »Das steht für ›Advanced Language Interpretation Counseling Extension‹.«
»Wo bin ich?«
»Ich bin nicht befugt, nähere Angaben zu deinem Aufenthaltsort oder deinem Zustand zu machen.«
»Wer bin ich?«
»Du bist der Patient.«
Das Wort weckt düstere Vorstellungen. »Bin ich in einem Krankenhaus?«
»Ich bin nicht befugt, nähere Angaben zu deinem Aufenthaltsort oder deinem Zustand zu machen.«
»Wozu bist du denn dann befugt? Was soll das alles? Warum bin ich hier?«
»Ich bin da, um dir dabei zu helfen, deine neue Umgebung kennenzulernen.«
Ich verstehe das alles nicht! Ist das ein übler Scherz? Ein wissenschaftliches Experiment? Oder eine neue Form von Therapie? Vielleicht bin ich auch gar nicht in einem gewöhnlichen Krankenhaus, sondern in einer Nervenklinik. Vielleicht haben sie mir irgendwelche Drogen gespritzt, die meine Erinnerungen blockieren, meinen Tastsinn betäuben und meine Stimme tonlos machen. Was auch immer der Grund dafür ist, ich will hier raus. Ich muss hier raus!
»Bitte, lass mich hier raus!«
»Ich verstehe die Anweisung nicht. Sage ›Hilfe‹ für eine Erläuterung meiner Grundfunktionen.«
»Hilfe.«
»Willkommen. Mein Name ist Alice, das ist ein Akronym für ›Advanced Language Interpretation Counseling Extension‹, das bedeutet ›Fortgeschrittene Hilfserweiterung auf Basis der Interpretation natürlicher Sprache‹. Ich bin da, um dir dabei zu helfen, dich in deiner neuen Umgebung zurechtzufinden. Dazu kannst du mir einfache Anweisungen geben oder Fragen stellen. Einige Kommandos, die ich verstehe, sind: ›zeige mir‹, ›was ist‹, ›wo ist‹, ›öffne‹ und ›schließe‹.«
»Öffne die Tür.«
»Ich verstehe die Anweisung nicht.«
»Was ist außerhalb dieses Raums?«
»Ich verstehe die Frage nicht.«
»Verdammt! Sag mir endlich, was mit mir passiert ist!«
»Ich verstehe die Anweisung nicht. Sage ›Hilfe‹ für eine Erläuterung meiner Grundfunktionen.«
Vor Frustration schlage ich mit der Faust gegen die Wand. Dass ich dabei nichts spüre, macht es nur noch schlimmer.
»Hilfe!«, rufe ich verzweifelt, doch aus meinem Mund kommt nur ein neutrales, tonloses Wort, das die Computerstimme dazu veranlasst, ihren Standard-Hilfetext aufzusagen.
Eine Weile gehe ich rastlos in meinem Gefängnis hin und her wie ein Raubtier im Käfig. Ich habe das Gefühl, dass es mit der Zeit kleiner wird, so als würden sich die leuchtenden Wände immer näher aufeinander zubewegen. Ich durchmesse den Raum mehrmals mit gleichmäßigen Schritten – es sind gerade mal fünf von einer Seite zur anderen –, doch obwohl sich die Distanz nicht verändert, bleibt der Eindruck, dass ich immer weniger Platz habe. Der Sauerstoff scheint knapp zu werden.
Ich darf jetzt nicht durchdrehen! Ich muss mich zusammenreißen, mich konzentrieren, systematisch vorgehen, wenn ich herausfinden will, was passiert ist. Tief durchatmen! Aber als ich mich auf meine Atmung fokussieren will, spüre ich meine Lunge nicht. Ich kann nicht atmen! Mir wird schwindelig und einen Moment lang befürchte ich, ohnmächtig zu werden. Doch es geschieht nichts.
Ruhig bleiben! Wo immer ich auch bin, eine unmittelbare Gefahr droht mir anscheinend nicht. Es muss einen Grund für all das geben. Der Gedanke macht mir Mut.
»Wie bin ich hierhergekommen?«, frage ich die Computerstimme.
»Ich verstehe die Frage nicht.«
»Was ist dieser Raum?«
»Dieser Raum ist eine Computersimulation, eine sogenannte virtuelle Realität.«
Natürlich. Warum habe ich nicht gleich daran gedacht? Mit virtuellen Welten kenne ich mich aus. Namen von Computerspielen kommen mir in den Sinn: Minecraft, World of Warcraft, League of Legends, Team Defense, Assassin’s Creed. Wahrscheinlich habe ich viel Zeit mit ihnen verbracht, auch wenn ich mich nicht an Einzelheiten erinnern kann.
Vielleicht hat mir irgendwer eine dieser neuen 3-D-Brillen aufgesetzt und mir dann Drogen verabreicht, sodass ich vergessen habe, wer und wo ich bin. Aber wer sollte so etwas tun? Und warum?
Ich betaste mein Gesicht, doch meine Hände sind gefühllos. Wenn ich den Kopf drehe, sehe ich einen anderen Ausschnitt des Raums. Ich kann hin und her gehen, sogar auf der Stelle hüpfen, ohne dass irgendwelche wahrnehmbaren Verzerrungen oder Verzögerungen auftreten. Ich kann auch keine Pixel erkennen. Wenn das wirklich eine Brille ist, dann muss sie sehr leistungsfähig sein.
»Ist das hier ein Computerspiel?«
»Ein Computerspiel ist ein Computerprogramm, das es einem oder mehreren Benutzern ermöglicht, interaktiv ein durch implementierte Regeln beschriebenes Spiel zu spielen. Möchtest du mehr darüber wissen?«
Ich frage mich, wer auf die Idee gekommen ist, dieses dämliche Programm als »fortgeschritten« zu bezeichnen. »Befinde ich mich in einem Computerspiel?«
»Ich bin nicht befugt, nähere Angaben zu deinem Aufenthaltsort oder deinem Zustand zu machen.«
Falls dies tatsächlich ein Spiel sein sollte, dann besteht meine Aufgabe wohl darin, diesen Raum zu verlassen. Aber wie? Da es keinerlei Öffnungsmechanismen zu geben scheint, bleibt als einzige Möglichkeit, mit Alice zu reden. Vielleicht muss ich irgendein Codewort herausfinden, das eine Tür öffnet oder so.
Ich versuche es auf die direkte Art: »Nenne mir das Codewort.«
»Ich verstehe die Anweisung nicht.«
Mit Fragen komme ich wohl nicht weiter. Was waren noch die Anweisungen, die man Alice erteilen kann? ›Zeige mir‹, ›öffne‹, ›schließe‹.
Auf gut Glück sage ich: »Zeige mir Elefanten!«
Überraschenderweise versteht Alice diese Anweisung. An den Wänden erscheinen Videos von Elefanten, angeordnet in einem Gitter von drei Spalten mal vier Zeilen. Die meisten stammen offensichtlich von Webcams in den Elefantengehegen von Zoos. Deutlich sind die Pixelstruktur und die typischen Schlieren einer Videoübertragung im Internet mit niedriger Bandbreite zu erkennen. Ich tippe eines der Bilder versuchsweise mit dem Zeigefinger an, woraufhin es größer wird und fast die gesamte Wand ausfüllt, während die übrigen Bilder verkleinert an den unteren Rand geschoben werden.
Am oberen Rand des Videobilds stehen eine Ortsangabe – das abgebildete Elefantengehege befindet sich in einem Zoo in den Niederlanden – sowie die Zeit: der 27. April 2017, zehn Uhr fünfzehn. Auch einige der anderen Kameras zeigen Orts- und Zeitangaben, aus denen ich schließen kann, dass die Videostreams live übertragen werden. Jetzt weiß ich zwar immer noch nicht, wo ich bin, aber wenigstens kenne ich das Datum. Als ob mir das viel nützen würde.
Immerhin habe ich anscheinend eine Internetverbindung. Vor diesem Hintergrund ergeben die anderen beiden von Alice genannten Anweisungen neuen Sinn.
»Öffne Google!«
Die Elefantenbilder verschwinden und die Wände werden wieder weiß. Nur die Wand vor mir zeigt jetzt einen Webbrowser mit der Seite der Suchmaschine. Ich tippe auf das Eingabefeld und ein Cursor blinkt. Offenbar sind die Wände riesige Touchscreens. Eine virtuelle Tastatur gibt es allerdings nicht.
»Elefant«, sage ich laut. Augenblicklich erscheint das Wort im Google-Eingabefeld. Als ich den Button mit der Aufschrift »Google-Suche« berühre, tauchen wie erwartet eine Liste mit Suchergebnissen sowie einige Bilder und Informationen zu der Tierart auf.
Ich bin in einem simulierten Raum mit virtuellen Touchscreens, über die ich Zugriff auf das Internet habe. Welchen Sinn ergibt das? Wieso weiß ich, wie Google funktioniert, kann mich aber nicht daran erinnern, die Suchmaschine jemals benutzt zu haben?
»Öffne Google Earth.«
Die Wand zeigt nun ein Satellitenbild. Von links oben nach rechts unten durchzieht das dunkle Band eines Flusses die graugrüne Fläche. In der Bildmitte spaltet sich der Fluss in zwei Arme auf, die eine zwiebelförmige Insel umschließen und sich dahinter wieder vereinen. In der Umgebung des Flusses ist das Bild grau gepixelt, so als hätte jemand dort Asche ausgestreut. Auch ohne die weiße Schrift in der Bildmitte hätte ich erkannt, welcher Ort hier dargestellt ist – obwohl ich nicht weiß, wieso. Google ermittelt den eigenen Standort anhand der IP-Adresse und richtet das Kartenbild entsprechend aus. Auch diese Information ist einfach in meinem Kopf, ohne dass ich sagen könnte, wie sie dorthin gekommen ist. Aber sie ist sehr nützlich, denn so kann ich meinen Aufenthaltsort eingrenzen.
»Bin ich in Hamburg?«, will ich wissen.
»Ich bin nicht befugt, nähere Angaben zu deinem Aufenthaltsort oder deinem Zustand zu machen«, erwidert Alice wieder völlig ungerührt.
»Zeige mir Hamburg«, weise ich Alice an.
Die Karte und das Suchfenster verschwinden, dafür sehe ich wieder Dutzende von Webcams. Sie alle nehmen Szenen aus der Stadt auf: die Binnenalster mit der Fontäne, die Landungsbrücken, die HafenCity, die Elbphilharmonie, den Hauptbahnhof, den Flughafen, einige Straßen, die ich nicht auf den ersten Blick erkenne. Autos huschen durchs Bild, Menschen laufen zielstrebig umher. Wie gern wäre ich an ihrer Stelle, im Blickfeld der Kameras, statt hier in diesem virtuellen Raum nur das Abbild einer unerreichbaren Wirklichkeit zu sehen.
Wer bin ich? Wo bin ich? Warum bin ich hier? Diese Fragen werden mit jeder Minute quälender.
Vielleicht kann eines der Kamerabilder eine Erinnerung auslösen. Doch ich erkenne zwar viele der markanten Gebäude und Plätze, aber es ist, als hätte ich bloß einen Film über Hamburg geschaut und wäre nie selbst dort gewesen.
Einer der Videostreams zieht meine Aufmerksamkeit an. Was dort zu sehen ist – ein asphaltierter Radweg in einer Wohnstraße am Rande eines Parks –, ist unspektakulär, doch die Kameraperspektive ist für eine Webcam ungewöhnlich: etwa auf Augenhöhe bewegt sie sich den Weg entlang, dreht in schwankenden Bewegungen mal nach links, mal nach rechts, als hielte sie ein betrunkener Kameramann, während Bäume, Fußgänger und parkende Autos vorbeiziehen. Oben rechts in dem Videobild ist das Logo eines Internetservices eingeblendet: Eyestream.
Das Bild schwenkt plötzlich nach unten und ich erkenne die Spitze eines Skateboards, das über den Radweg rast. Die Kamera muss am Kopf des Skateboarders befestigt sein.
»Alice, öffne Eyestream!«
Die Webcam-Bilder verschwinden und eine schlicht gestaltete Website öffnet sich. Sie zeigt einige Videos, die von der Perspektive her dem Stream des Skateboarders ähneln, sich jedoch wesentlich langsamer bewegen – offenbar sind dies von Fußgängern getragene Cams. Darunter stehen Name und Aufenthaltsort der Streamer: Carol in Amsterdam, Jorgen in Trondheim, Ralf in Pisa, Maria in Regensburg.
Ein kurzer Text erklärt, dass Eyestream »die Welt an deinem Leben teilhaben lässt, indem das, was du siehst, direkt live übertragen wird«. Natürlich nur, wenn man dies möchte, und unter strenger Berücksichtigung des Datenschutzes. Bereits über dreihunderttausend Mitglieder hat der Service, doch nur etwas über tausend Kameras sind um diese Zeit aktiv. Eine davon habe ich gerade gesehen.
Ich gebe »Hamburg« in das Suchfeld ein und erhalte noch vier weitere Treffer. Als ich den obersten anklicken will, fordert mich die Seite auf, mich zu registrieren. Na schön. Benutzername? Keine Ahnung, wie ich heiße. Ich gebe »Boy in a White Room« ein. Meine E-Mail-Adresse? Ich erinnere mich nicht. Also öffne ich Google und lege eine neue an: [email protected].
Als ich den Registrierungsprozess endlich abgeschlossen habe, füllt der Stream, den ich ausgewählt habe, die Wand aus. Er gehört zu Mike, einem 21-jährigen Studenten, der die Mönckebergstraße Richtung Rathausmarkt entlangschlendert. Durch das Mikrofon seiner Kamera kann ich gedämpft die Geräusche des Straßenverkehrs hören: Stimmengewirr, einen Straßenmusikanten.
Gerade als ich auf den nächsten Stream schalten will, vernehme ich laute, aggressive Stimmen. Mike dreht seinen Kopf und ich sehe einen älteren Mann in schäbiger Kleidung, der zusammen mit einem altersschwach wirkenden Hund in einem Hauseingang sitzt. Vor ihm stehen zwei junge Männer in Lederjacken. Ich kann ihre Worte nicht verstehen, doch es ist offensichtlich, dass sie pöbeln und den Mann drangsalieren.
Der Alte hebt schützend die Hände über den Kopf. Erst jetzt wird mir bewusst, dass sich das Kamerabild nicht mehr bewegt. Mike ist stehen geblieben und beobachtet die Szene. Am Rand des Bildes tauchen Menschen auf. Anscheinend bildet sich eine Gruppe von Schaulustigen, doch niemand greift ein, um dem bedrängten Mann zu helfen.
»Tu doch was!«, rufe ich aus.
»Ich verstehe die Anweisung nicht«, kommentiert Alice.
»Alice, ruf die Polizei an!«
»Ich verstehe die Anweisung nicht.«
In diesem Moment schlägt einer der pöbelnden Männer mit einer Bierflasche nach dem Obdachlosen. Der dürre Hund springt auf und schnappt nach dem Arm des Angreifers, der vor Schmerz brüllt und zurücktaumelt. Das Tier hat sich in seine Lederjacke verbissen und lässt nicht los. Der zweite Mann holt ein Klappmesser hervor und rammt es dem Tier in die Seite. Blut spritzt.
Niemand hilft. Die Leute stehen bloß da und glotzen.
Ich muss etwas tun, irgendwas!
Man kann den Eyestream-Usern über eine Chatfunktion Nachrichten schicken. Doch es ist bereits zu spät: Der Alte beugt sich schluchzend über seinen toten Hund, während die Angreifer abhauen und sich die Menge der Gaffer zerstreut. Auch Mike wendet sich ab und geht einfach weiter. Ich höre seine Stimme: »Mann, das war echt krass. Habt ihr das gesehen? Irgendwelche Typen haben ’nen Penner vermöbelt und seinen Hund abgestochen. Ich wette, jetzt bin ich ein heißer Kandidat für den Stream des Monats. Also, Daumen rauf und votet für mich, okay?«
Ich könnte kotzen. Ruf die Polizei, du Arschloch!, schreibe ich in das Chatfenster.
Keine Reaktion von Mike. Angewidert weise ich Alice an, die Eyestream-Seite zu schließen.
Eine Zeit lang starre ich nur auf die inzwischen wieder weiße Wand. Mir ist übel. Ich bin nicht sicher, ob das nun von den schwankenden Kamerabildern kommt, von der blutigen Szene, die ich gerade mitangesehen, oder von der Hilflosigkeit, die ich dabei empfunden habe. Ich löse mich aus meiner Starre und laufe in dem weißen Raum herum wie ein Raubtier im Käfig – aufgewühlt, hilflos, frustriert –, bis ich wieder einen klaren Gedanken fassen kann.
Was weiß ich? Ich befinde mich in einem virtuellen Raum ohne Ausgang. Ich habe mein Gedächtnis verloren und weiß nicht, wo mein Körper ist. Ich kann durch tausend Augen in die Außenwelt sehen, doch solange ich nicht weiß, wo ich hingucken muss, ist das völlig sinnlos. Dann ist da noch Alice, die künstliche Möchtegernintelligenz. Sie ist vielleicht meine beste Spur.
»Öffne Google!«
Ich klicke in das Suchfeld und gebe »Alice« ein. Die Suchergebnisse beinhalten Verweise auf das Buch Alices Abenteuer im Wunderland von Lewis Carroll, dessen Inhalt ich kenne, obwohl ich mich nicht erinnern kann, es je gelesen zu haben. Außerdem tauchen auf Seite eins ein Telefonanbieter, eine Sängerin und eine Frauenrechtlerin auf. Kein Hinweis auf ein Programm mit diesem Namen. Aber das wäre wohl auch zu einfach gewesen.
Dann gebe ich »Advanced Language Interpretation Counseling Extension« ein.
Google findet diverse Treffer, die etwas mit »Advanced Counseling« oder mit »Language Interpretation« zu tun haben, aber keine zu einem Programm, das einfache Sprachkommandos versteht. Das bringt mich also auch nicht weiter.
Ich versuche es mit »Künstliche Intelligenz Hamburg«.
Der oberste Treffer ist die Website einer Firma namens Mycrologic, die sich mit der Entwicklung von Algorithmen für sogenanntes Data-Mining beschäftigt, was auch immer das genau bedeutet. Auf der Homepage finde ich keinen Anhaltspunkt dafür, dass sie der Entwickler von Alice sein könnte. Aber das muss nichts heißen.
»Wer ist Mycrologic?«, frage ich Alice.
»Mycrologic ist der führende Anbieter auf dem Gebiet der Analyse und Verarbeitung großer Datenmengen mithilfe neuronaler Netze«, antwortet sie bereitwillig. »Zu den Kunden von Mycrologic gehören renommierte internationale Unternehmen wie Philips, Siemens, Deutsche Telekom, Commerzbank, DKV, BMW und Vattenfall. Mycrologic – wir finden jede Nadel im Heuhaufen Ihrer Daten!«
Interessant: Alice, die sonst nicht besonders viel versteht, scheint eine ganze Menge über Mycrologic zu wissen. Vielleicht lohnt es sich, die Website der Firma genauer anzuschauen.
Auf den ersten Blick entdecke ich nichts Interessantes – weder einen Hinweis auf Systeme, die Alice ähneln, noch auf Computersimulationen oder virtuelle Welten. Die Firma stellt offenbar Software her, mit der man große Datenbestände nach Mustern und Zusammenhängen durchsuchen kann, um das Verhalten von Verbrauchern besser vorauszusagen. Das ist wohl mit DataMining gemeint. Als ich den Begriff »Mycrologic« bei Google eingebe, erscheint ein 2013 in einem Wirtschaftsmagazin veröffentlichter Artikel, in dem berichtet wird, dass sich der Milliardär Henning Jaspers mit einem »zweistelligen Millionenbetrag« an der Firma beteiligt habe.
Irgendetwas an diesem Namen klingt vertraut, als hätte ich ihn schon einmal gehört, doch ich verbinde kein spezifisches Wissen damit und erst recht keine Erinnerungen. Google und Wikipedia wissen dagegen eine Menge über Henning Jaspers. Er hat zusammen mit seinem Partner Marten Raffay die Firma Dark Star Game Studios gegründet, die mit dem Spiele-Megahit Team Defense weltweit erfolgreich wurde. Vielleicht kenne ich seinen Namen daher.
Ich stolpere über eine etwa acht Monate alte Nachrichtenmeldung:
Hamburger Milliardärsfrau von Einbrechern erschossen
Hamburg. In der Nacht zum Sonntag drangen Unbekannte in die Villa des Internetunternehmers Henning Jaspers ein. Dabei wurde die Frau des Milliardärs, Maria Jaspers, erschossen. Der 15-jährige Sohn Manuel wurde schwer verletzt und schwebt derzeit in Lebensgefahr. Er wurde in eine Spezialklinik gebracht. Nach Angaben der Kriminalpolizei wollten die Täter den Jungen offenbar entführen und wurden von der Mutter überrascht, die versuchte, sie mit Reizgas in die Flucht zu schlagen. Konkrete Hinweise auf die Täter gebe es noch nicht. Man gehe jedoch davon aus, dass es mindestens zwei Personen waren. Der Anwalt der Familie teilte mit, Henning Jaspers werde sich zu dem Fall nicht in der Öffentlichkeit äußern. Er werde jedoch die Ermittlungen der Polizei nach Kräften unterstützen und alles tun, um dieses abscheuliche Verbrechen aufzuklären. Sachdienliche Hinweise nimmt jede Polizeidienststelle entgegen.
Der Artikel zeigt das Foto einer Luxusvilla. Personen sind darauf nicht zu erkennen. Ich tippe es an und vergrößere es. War ich schon einmal dort? Ich erinnere mich nicht.
»Wer ist Henning Jaspers?«, frage ich.
»Henning Jaspers ist dein Vater«, antwortet Alice.
Der Browser schließt sich, ohne dass ich eine entsprechende Anweisung gegeben habe. Die Wände werden wieder weiß und es erscheint eine sich drehende Sanduhr. Als sie verschwindet, stehe ich plötzlich in einer Art Bibliothek. Sie ist nicht bloß auf den virtuellen Wänden des weißen Raums abgebildet, sondern wirkt wie eine völlig reale dreidimensionale Umgebung, so als sei ich hierher teleportiert worden.
Was ist passiert? Ich sehe mich um. Hohe Bücherregale ragen ringsum auf, Fenster geben den Blick auf einen großen Garten frei. Ein moderner großer Schreibtisch aus dunklem Holz dominiert den Raum. In einer Ecke stehen zwei Ledersessel. Eine Tür führt hinaus.
Ich mache probehalber einen Schritt nach vorn. Ich kann mich in diesem Raum ganz normal bewegen. Doch meine Hände sind, wie der Rest meines Körpers, immer noch eine virtuelle Projektion. Vergeblich versuche ich, eines der Bücher aus dem Regal zu nehmen.
Ich bin nicht wirklich hier, wo auch immer hier ist.
Die Tür öffnet sich mit einem leisen Quietschen und ein Mann tritt ein. Er ist etwa fünfzig Jahre alt, mit grau meliertem, schütterem Haar und einer markanten Nase, auf der eine große Brille sitzt. Obwohl seine Texturen sehr detailliert sind, fällt mir sofort auf, dass auch er nur eine virtuelle Figur ist.
»Manuel!« Seine Stimme klingt, als ob er sich freut, aber in seinem virtuellen Gesicht zeigt sich das nur durch ein dünnes, unechtes Lächeln. Er kommt auf mich zu und will mich umarmen. Doch als ihm klar wird, wie sinnlos diese Geste in einer virtuellen Welt ist, bleibt er stehen. »Wie geht es dir?«
Manuel. Der Name klingt irgendwie vertraut, aber nicht so vertraut, als sei es mein eigener.
»Wer sind Sie?«, frage ich.
Sein Gesicht wird ausdruckslos. »Du kannst dich immer noch an nichts erinnern?« Im Unterschied zu meiner Stimme und der von Alice klingt seine natürlich, ich kann die Enttäuschung darin hören. Er ist eine echte Person.
»Nein«, antworte ich.
»Das habe ich befürchtet«, sagt er resigniert. »Es tut mir leid, mein Sohn. Wir haben alles versucht, um dein Gedächtnis zu stabilisieren, aber es kommt immer wieder zu Abwehrreaktionen deines Gehirns gegen die Implantate.«
Das klingt gar nicht gut. »Was für Implantate?«
»Eins nach dem anderen. Du bist hier, also hast du herausgefunden, wer du bist.«
»Alice hat gesagt, ich bin der Sohn des Milliardärs Henning Jaspers. Ich nehme an, das sind Sie.«
Er sieht mich einen Moment schweigend an. Mir wird klar, dass ich ihn möglicherweise verletzt habe. Als er schließlich spricht, ist seine Stimme neutral: »Ja, das bin ich. Du bist mein Sohn, Manuel, auch wenn du dich nicht an mich erinnern kannst. Ich muss für dich wie ein Fremder wirken, dabei bist du das Einzige, was mir noch wichtig ist.« Er macht eine kurze Pause, als ringe er um Worte. »Diese Schweine haben deine Mutter umgebracht und dein Leben zerstört. Dafür werden sie büßen!«
»Also ist es wahr, was online steht? Einbrecher haben … meine Mutter erschossen?«
»Natürlich ist es wahr. Was glaubst du, warum ich mich mit dir in dieser virtuellen Welt unterhalten muss, statt dich in der Realität in den Arm zu nehmen?«
»Das verstehe ich nicht. Wo bin ich? Was ist mit mir los?«
»Ich zeige es dir«, sagt er und macht eine Geste mit der Hand.
Im nächsten Moment befinde ich mich nicht mehr in der Bibliothek, sondern in einem weiß gestrichenen Raum mit Linoleumfußboden und einem Krankenhausbett neben Regalen voller blinkender elektronischer Geräte. Ein dicker Kabelstrang läuft zum Kopf eines Jungen, der in dem Bett liegt: etwa fünfzehn Jahre alt, mit krausem dunklem Haar, das unter einer Netzhaube aus dünnen Drähten hervorquillt. Schläuche führen in Mund und Nase. Seine Augen sind geschlossen, die Gesichtszüge entspannt, als schlafe er friedlich.
Einen Moment lang starre ich stumm auf die reglose Gestalt, gehe näher heran und beuge mich über sie. »Das … das da bin ich?«
Der Avatar des Mannes, der behauptet, mein Vater zu sein, nickt. »Die Kugel traf dich in den Hals. Deine Wirbelsäule wurde zerschmettert. Knochensplitter drangen in den Hirnstamm ein. Es ist ein Wunder, dass du noch lebst.«
Kann das sein? Bin das wirklich ich? Es kommt mir nicht so vor. Aber wahrscheinlich habe ich meinen Körper auch noch nie zuvor von außen betrachtet.
»Die Drähte dort führen direkt in mein Gehirn?« Was für eine gruselige Vorstellung!
»Ja. Dein Geist ist vollständig von deinem Körper isoliert. Selbst die Nervensignale deiner Augen und Ohren erreichen dein Gehirn nicht mehr. Nur die Blutversorgung funktioniert noch. Die Ärzte haben gesagt, du seist so gut wie tot. Doch als wir dein Gehirn untersucht haben, konnten wir sehen, dass es noch aktiv ist. Wir haben eine Weile gebraucht, aber schließlich ist es uns gelungen, die wichtigsten Nervensignale zu entschlüsseln und damit deinen virtuellen Körper zu steuern. Am schwierigsten war es, die Signale deines Sprachzentrums zu interpretieren. Aber wie du siehst, ist uns auch das gelungen. Deine Stimme ist die eines Computers, doch die Worte sind deine eigenen. Du warst in einem finsteren Gefängnis eingesperrt, aber wir konnten dich daraus befreien.«
Ich sehe mich in dem virtuellen Krankenzimmer um. Freiheit sieht für mich anders aus.
»Werde ich jemals wieder meinen Körper benutzen können?«
Er zögert einen Moment. Ich höre an seiner Stimme, dass er den Tränen nahe ist, als er antwortet: »Nein. Nein, mein Sohn, das ist leider nicht möglich. Ich wünschte, ich könnte dir etwas anderes sagen.«
»Ich verstehe.« Tue ich das wirklich? Ich bin wie vor den Kopf geschlagen. Für immer in dieser virtuellen Realität gefangen zu sein … Vielleicht ist mein Gedächtnisverlust keine Abwehrreaktion meines Gehirns gegen die Elektroden, sondern gegen die schreckliche Wahrheit.
»Komm, ich zeige dir etwas.« Er macht eine Handbewegung und das Krankenzimmer verschwindet. Dafür befinde ich mich jetzt in einem Raum mit schrägen Wänden. Auf einem Schreibtisch steht ein Computer, daneben ein Regal voller Bücher, ein Kleiderschrank, ein Bett. Poster von Rockbands, deren Namen mir bekannt vorkommen, ohne dass ich ihre Musik im Ohr habe. Über dem Bett hängt eine Szene aus dem Film Der Herr der Ringe: Frodo lehnt am Geländer von Elronds Palast und blickt hinaus über das märchenhafte Bruchtal. Darüber ein Mannschaftsbild des HSV mit Unterschriften – offenbar war ich ein Fan. Ein Tennisschläger liegt neben einem Rucksack, aus dem Schulbücher hervorschauen, auf dem Boden. Alles wirkt so echt und doch fremd.
»Das ist dein Zimmer«, erklärt er. »Wir haben es genau so abgebildet, wie es war, als …« Er stockt. Nach einer Weile fragt er: »Erinnerst du dich an irgendetwas?«
Ich habe nicht das Gefühl, dass ich jemals zuvor in diesem Raum gewesen bin. Die Dinge bedeuten mir nichts. Ich kann die Namen der Fußballspieler auf dem Poster nennen, aber ob ich selber jemals einen Ball gekickt habe, vermag ich nicht zu sagen. Ich weiß, wer Elrond und Frodo sind, und kenne die Handlung des Films, doch ich weiß nicht, wann und wo ich ihn angeschaut habe. Plötzlich habe ich das Gefühl, vor mir etwas unendlich Wertvolles zu sehen – einen kostbaren Schatz, der unerreichbar ist: mein früheres Leben.
»Ich weiß nicht«, antworte ich, damit er meine Verzweiflung nicht spürt.
»Vielleicht kommt das noch.« Aber in seiner Stimme liegt wenig Hoffnung. »Nun, ich habe noch eine Überraschung für dich. Es muss ja schließlich auch Vorteile haben, wenn man in einer virtuellen Welt lebt.«
Er berührt das Herr der Ringe – Poster und im nächsten Moment stehe ich an einer halbrunden Balustrade, die kunstvoll aus hellem Holz geschnitzt ist, und blicke über ein bewaldetes Tal mit steilen Felswänden, von denen Wasserfälle herabstürzen. Über einen davon spannt sich eine schwungvoll gebogene Brücke, hinter der die Sonnenstrahlen im Sprühwasser einen Regenbogen erzeugen.
»Wow!«, entfährt es mir.
»Gefällt es dir?« Als ich mich zu ihm umdrehe, sehe ich, dass sich sein Aussehen verändert hat. Er trägt jetzt ein langes Gewand, sein Haar fällt ihm bis über die Schultern und sein Gesicht wirkt deutlich jünger. Auch die Brille ist verschwunden. Die markanteste Veränderung sind jedoch die spitzen Ohren.
»Wir haben uns von Peter Jackson die Originaldateien besorgt, die für die 3-D-Animationen und die Kulissen des Films verwendet wurden«, erzählt er stolz. »Wir mussten sie allerdings noch deutlich erweitern, damit die Räume auch alle begehbar sind.«
»Hast du … das alles extra für mich gemacht?«
Sein Elbengesicht verrät keine Gefühlsregung. »Ich wollte, dass du dich hier wohlfühlst. Der Herr der Ringe war immer dein Lieblingsbuch.«
»Es ist wunderschön. Aber eins verstehe ich nicht: Warum war ich in dem Raum mit den weißen Wänden, als ich aufgewacht bin? Warum hat niemand mit mir gesprochen? Wieso musste ich erst mühsam selbst herausfinden, wer ich bin?«
»Du bist in einer schwierigen Situation, Manuel. Niemand weiß das besser als ich. Um dich so behutsam wie möglich an die Wahrheit heranzuführen, solltest du dein Schicksal ein Stück weit selbst in die Hand nehmen können. Statt dir einfach zu erzählen, was mit dir passiert ist, wollte ich dir die Chance geben, alleine dahinterzukommen. Ich hätte nicht gedacht, dass dir das so schnell gelingt. Ich hoffe, das hat dir gezeigt, dass deine Lage nicht hoffnungslos ist.«
Ich möchte ihn anschreien, aber meine synthetische Stimme bleibt emotionslos. »Dass ich mein Schicksal selbst in der Hand habe, war wohl ebenso eine Illusion wie dieser Elbenpalast!«
»So darfst du es nicht sehen«, widerspricht er. »Viele Jungen in deinem Alter würden alles dafür geben, jetzt hier zu sein und diese fantastische Welt so zu erleben, wie du es kannst.«
»Und ich würde alles dafür geben, mit ihnen zu tauschen.«
»Das verstehe ich, Manuel. Aber das ist nun mal nicht möglich.« Er legt eine Hand auf meine Schulter, doch ich kann sie nicht spüren. »Warum gehen wir nicht ein bisschen spazieren und erkunden diese Welt? Du wirst sehen, das Team hat wirklich ganze Arbeit geleistet!«
Wenn man danach geht, wie real etwas auf die Sinne wirkt, dann ist Elronds Palast wirklicher als die Bilder von Hamburg, die an die Wände des weißen Raums projiziert wurden. Die Zimmer sind mit kunstvollen Schnitzereien und Wandmalereien verziert, während das Mobiliar eher spärlich ist. Elben in schlichten Gewändern verbeugen sich vor uns und huschen weiter, als hätten sie dringende Aufgaben zu erledigen.
»Das sind NPCs, nehme ich an?«
»Ich sehe, du hast nicht alles vergessen, was du über Computerspiele gelernt hast. Kein Wunder, du hast ja auch jeden Tag Stunden damit verbracht. Deine Mutter war damit nicht einverstanden, aber was sollten wir machen? Schließlich gehört mir eine Spielefirma. Um deine Frage zu beantworten: Ja, das sind alles computergesteuerte Figuren.«
»He, du«, sage ich zu einer hübschen Elbenfrau, die eben aus einer Tür tritt.
»Ja, Herr?«
»Was ist die Wurzel aus sechsunddreißig?«
»Verzeiht, Herr, aber ich bin nur eine einfache Dienerin und verstehe nichts von solchen Dingen«, antwortet die Elbin in derselben unnatürlichen Betonung wie Alice.
»Wie alt bist du?«
»Verzeiht, Herr, aber ich bin nur eine einfache Dienerin und verstehe nichts von solchen Dingen.«
»Besonders schlau sind die nicht gerade«, stelle ich fest.
»Natürlich können wir nicht alle Figuren hier mit hoch entwickelter künstlicher Intelligenz ausstatten, das würde unsere Rechenkapazität sprengen«, sagt der Mann, der nach allem, was ich weiß, mein Vater sein muss, mir doch immer noch wie ein Fremder vorkommt. »Aber es gibt jemanden, den ich dir gern vorstellen würde. Sie ist eine Art Experiment, und zwar noch im Betastadium, aber wir sind schon ziemlich stolz auf ihre Fähigkeiten.« Er winkt einen der Elbendiener herbei. »Bitte bring Alandil zu uns.«
»Ja, Herr.« Der Elb verschwindet in einem der angrenzenden Räume und kehrt kurz darauf in Begleitung einer Elbin zurück, die ein schlichtes olivgrünes Kleid trägt. Auf den ersten Blick unterscheidet sie sich kaum von den anderen NPCs, doch ihr Gesicht wirkt detaillierter, weniger perfekt, weniger maskenhaft. Sie verbeugt sich vor uns.
»Ihr habt nach mir gerufen, Herr?«
»Das hier ist Manuel. Er wird für eine Weile unser Gast sein.«
»Es freut mich, Euch kennenzulernen, Manuel.« Alandils Stimme ist künstlich, aber die Betonung wirkt natürlicher als die der anderen simulierten Gestalten.
»Was ist die Wurzel aus sechsunddreißig?«, frage ich.
»Verzeiht, Herr, aber ich bin nur eine einfache Dienerin und verstehe nichts von solchen Dingen.«
Ich bin ein wenig enttäuscht, doch mein Vater sagt: »Alandil mag nicht viel von Mathematik verstehen, aber sie ist eine geschickte Heilerin und kennt sich mit der Geschichte der Elben gut aus.«
Das kann ich mir vorstellen. Ein wandelndes Tolkien-Lexikon zu programmieren ist wohl nicht besonders schwierig und Rezepte für irgendwelche Salben und Heiltränke aufzusagen auch nicht. Ich überlege, wie ich ihre angebliche Intelligenz testen kann. Auf einem Beistelltisch entdecke ich eine Vase. Sie ist mit Szenen bemalt, die wie Buchcover von Fantasy-Romanen aussehen.
Ich nehme die Vase in die Hand. Sie lässt sich problemlos herumtragen, als sei sie ein echter Gegenstand, auch wenn ich ihr Gewicht nicht spüren kann. Ich öffne die Tür zu einem kleinen Zimmer, das womöglich einem der Elben als Wohnraum dient, stelle die Vase auf den Boden und kehre in den Korridor zurück.
»Was ist hinter der Tür dort?«, frage ich Alandil.
Sie blickt mich einen Moment an, als hätte sie die Frage nicht verstanden. Gerade als ich sie wiederholen will, sagt sie: »Ihr meint Gerfrens Raum?«
»Kann sein. Was befindet sich in dem Raum?«
»Ist das ein Spiel?«, will Alandil wissen. Immerhin, das klingt nicht wie eine typische vorprogrammierte Antwort.
»Ja.«
Sie schließt die Augen, als müsse sie sich konzentrieren. »In dem Raum sind ein Bett, ein Tisch, zwei Stühle, eine Waschschüssel, zwei silberne Leuchter, eine mit Schnitzereien verzierte Truhe und die Vase, die Ihr gerade dort hineingestellt habt.«
Obwohl ich nicht viel darüber weiß, wie ein Computerprogramm funktioniert, erstaunt mich ihre Antwort. Ich hätte nicht erwartet, dass eine künstliche Person wie Alandil eine so konkrete Vorstellung von den Dingen in diesem Palast haben und aus meiner Handlung die richtige Schlussfolgerung ziehen kann.
»Ich denke, ihr beide könnt euch später noch besser kennenlernen«, sagt mein Vater. »Ich würde dir gern noch etwas zeigen, Manuel.«
»Ich gehe dann wieder an meine Arbeit, wenn Ihr erlaubt, Herr.« Alandil verbeugt sich leicht. »Es hat mich gefreut, Euch kennenzulernen, Manuel. Darf ich die Vase jetzt wieder an ihren Platz stellen?«
»Ja … ja, natürlich«, erwidere ich verblüfft und sehe zu, wie sie die Vase aus dem Raum holt, wieder auf dem Beistelltisch platziert, mir zum Abschied noch einmal zulächelt und dann hinter einer anderen Tür verschwindet. »Sie ist wirklich toll!«
»Ja, nicht wahr?«, meint mein Vater.
»Kann sie wirklich … denken? Hat sie ein Bewusstsein?«
»Die Frage ist schwer zu beantworten. Philosophen, Psychologen, Neurologen und Informatiker sind sich nicht mal einig, was Intelligenz und Bewusstsein eigentlich sind. Ich habe es mir abgewöhnt, darüber nachzugrübeln. Mir genügt es, dass sich Alandil in den meisten Fällen so verhält, als könnte sie denken. Komm, ich will dir noch etwas zeigen.«
Er führt mich eine gewundene Treppe hinauf in einen Raum, der von einem einzelnen großen Tisch dominiert wird. Darauf ist eine riesige Karte ausgebreitet. Obwohl die Orte in für mich unlesbarer Elbenschrift markiert sind, erkenne ich sofort die charakteristische rechteckige Form des Schattengebirges, hinter dem sich das finstere Reich Mordor verbirgt.
»Was möchtest du dir zuerst ansehen?«, fragt mein Vater.
»Soll das heißen, diese Simulation umfasst nicht nur Bruchtal, sondern ganz Mittelerde?«
»Ja. Das Auenland, den Düsterwald, Rohan, Gondor, Isengard, die Minen von Moria – all die Schauplätze aus den Büchern sind da. An einigen Teilen arbeiten wir natürlich noch, aber es gibt schon sehr viel zu entdecken. Ich habe dafür fast die Hälfte der Programmierer, Grafiker und Designer von Dark Star abgestellt und außerdem zwei der Computergrafikexperten engagiert, die an dem Film Der Hobbit mitgearbeitet haben.«
Ich starre auf die Karte und betrachte all die fantastischen Orte. Habe ich nicht immer davon geträumt, all dies einmal mit eigenen Augen zu sehen? Es kommt mir so vor, aber ich kann mich nicht daran erinnern. Jetzt, wo ich tatsächlich die Möglichkeit dazu habe, fällt es mir doch schwer zu entscheiden, wo ich anfangen soll. Am einfachsten vielleicht dort, wo auch das Buch beginnt.
»Ich möchte nach Hobbingen.«
»Wie du willst.«
Ich erwarte, dass wir direkt dorthin teleportieren, doch mein Vater bedeutet mir, ihm zu folgen. Wir gehen Korridore entlang, erklimmen eine steile Wendeltreppe und treten schließlich auf eine Art Dachterrasse, die einer der höchsten Punkte des Palastes sein muss. Von hier oben hat man einen guten Überblick über die ganze Anlage, die sich so perfekt der natürlichen Form des Tals anpasst, als wäre sie aus dem Fels gewachsen.
»Was tun wir hier?«, frage ich.