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Der Bestseller von Ali Hazelwood über eine Liebe zwischen zwei Welten: Forbidden Love, Fated Mates, Enemies to Lovers - in einer übernatürlich romantischen, prickelnd heißen Lovestory aus einem neuen Teil des Aliversums.
Misery Lark, Tochter eines mächtigen Vampirfürsten, war schon immer eine Außenseiterin. Mit ihren Reißzähnen weiß sie nichts anzufangen und führt ein anonymes Dasein unter den Menschen. Ausgerechnet sie soll sich nun für eine mehr als brisante Bündnisehe mit einem der Werwölfe, den ewigen Todfeinden der Vampire, zur Verfügung stellen.
Dabei scheint ihr zukünftiger Ehemann, der Alpha Lowe Moreland, ebenso erbarmungslos und unberechenbar zu sein wie der Rest seines Rudels. Das beherrscht er allerdings nicht nur mit absoluter Autorität, sondern, wie Misery bald feststellt, auch mit viel Sinn für Gerechtigkeit und – ganz anders als die Vampire – nicht ohne Gefühl. Aber sie spürt, dass er ihr nicht traut – und wenn er nur wüsste, wie recht er damit hat. Denn Misery hat ganz eigene Gründe, sich auf dieses Bündnis einzulassen. Und dafür ist sie bereit, alles zu opfern, selbst wenn das ein Leben allein unter Wölfen bedeutet. Doch womit Misery nicht gerechnet hat, ist die alles überwindende Ungleichartigkeit der Liebe ...
»Hazelwood ist ein absolutes Romance-Powerhouse.« Christina Lauren.
»Leidenschaftlich und witzig und von einer urweltlichen Intensität – Ali Hazelwoods Debüt im Paranormalen führt uns in eine Welt, die genauso faszinierend ist wie ihre Charaktere.« Nalini Singh, New-York-Times-Bestsellerautorin.
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Seitenzahl: 573
Misery Lark, Tochter eines mächtigen Ratsherrn der Vampire, war schon immer eine Außenseiterin. Anonym lebt sie unter den Menschen und weiß mit ihren ohnehin abgefeilten Reißzähnen nichts anzufangen. Ausgerechnet sie soll sich nun für eine mehr als brisante Bündnisehe mit einem der Werwölfe, den ewigen Todfeinden der Vampire, zur Verfügung stellen.
Dabei scheint ihr zukünftiger Ehemann, der Alpha Lowe Moreland, ebenso erbarmungslos und unberechenbar zu sein wie der Rest seines Rudels. Das beherrscht er allerdings nicht nur mit absoluter Autorität, sondern, wie Misery schon bald feststellen muss, auch mit viel Sinn für Gerechtigkeit und – ganz anders als die Vampire – durchaus gefühlvoll. Doch er misstraut ihr – und wenn er nur wüsste, wie recht er damit hat ...
Denn Misery verfolgt mit dieser Hochzeit einen ganz eigenen Plan. Und dafür ist sie bereit, alles zu opfern, selbst wenn das ein Leben allein unter Wölfen bedeutet. Aber womit Misery nicht gerechnet hat, ist die alles überwindende Ungleichartigkeit von Liebe …
»Leidenschaftlich und witzig und von einer urweltlichen Intensität – Ali Hazelwoods Debüt im Paranormalen führt uns in eine Welt, die genauso faszinierend ist wie ihre Charaktere.« Nalini Singh, New-York-Times-Bestsellerautorin
Ali Hazelwood hat unendlich viel veröffentlicht (falls man all ihre Artikel über Hirnforschung mitzählt, die allerdings niemand außer ein paar Wissenschaftlern kennt und die, leider, oft kein Happy End haben). In Italien geboren, hat Ali in Deutschland und Japan gelebt, bevor sie in die USA ging, um in Neurobiologie zu promovieren. Vor Kurzem wurde sie zur Professorin berufen, was niemanden mehr schockiert als sie selbst. Ihr erster Roman »Die theoretische Unwahrscheinlichkeit von Liebe« wurde bei TikTok zum Sensationserfolg und ist ein weltweiter Bestseller, der in 36 Sprachen übersetzt wurde und zurzeit verfilmt wird. Zuletzt erschienen von ihr bei Rütten & Loening »Das irrationale Vorkommnis der Liebe«, »Die Unannehmlichkeiten von Liebe« und »Love, theoretically«.
Mehr unter www.AliHazelwood.com; Instagram: @AliHazelwood
Anna Julia Strüh übersetzte ihr erstes Buch mit fünfzehn, Autorinnen wie Lily Lindon, Ali Hazelwood, Julie Soto u. a. folgten. Sie lebt in Leipzig und überträgt auch Lyrik, etwa von Rupi Kaur.
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Ali Hazelwood
Bride – Die unergründliche Übernatürlichkeit der Liebe
Roman
Aus dem Amerikanischen von Anna Julia Strüh
Cover
Titel
Inhaltsverzeichnis
Impressum
Titelinformationen
Informationen zum Buch
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Prolog
Kapitel 1
Sechs Wochen vor der Zeremonie
Kapitel 2
Gegenwart
Kapitel 3
Kapitel 4
Kapitel 5
Kapitel 6
Kapitel 7
Kapitel 8
Kapitel 9
Kapitel 10
Kapitel 11
Kapitel 12
Kapitel 13
Kapitel 14
Kapitel 15
Kapitel 16
Kapitel 17
Kapitel 18
Kapitel 19
Kapitel 20
Kapitel 21
Kapitel 22
Kapitel 23
Kapitel 24
Kapitel 25
Kapitel 26
Kapitel 27
Kapitel 28
Kapitel 29
Kapitel 30
Epilog
Lowe
Dank
Impressum
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Diese Hochzeit stellt ein Problem dar.
Diese Frau stellt ein Problem dar.
Unser Krieg, der Krieg zwischen den Werwölfen und den Vampiren, begann vor Jahrhunderten mit Ausbrüchen von Gewalt, erreichte seinen Höhepunkt in einem Blutbad und ging – mit Buttercremetorte – ruhmlos zu Ende an dem Tag, an dem ich meinem Ehemann zum ersten Mal begegnete.
Was ganz zufällig auch mein Hochzeitstag war.
Nicht gerade der Stoff, aus dem Kindheitsträume gemacht sind. Allerdings war ich noch nie eine Träumerin. Mit dem Gedanken an eine Hochzeit hatte ich nur ein einziges Mal gespielt, vor langer Zeit, in meiner überaus trostlosen Kindheit. Nach einigen zu hart ausgefallenen Bestrafungen und einem (ziemlich erbärmlich ausgeführten) misslungenen Mordanschlag hatten Serena und ich Pläne für eine grandiose Flucht geschmiedet. Teil des Ganzen sollten auf Pyrotechnik basierende Ablenkungsmanöver, der Diebstahl des Autos unseres Mathetutors und Stinkefinger zum Abschied an unsere Aufpasser sein.
»Wir werden beim Tierheim haltmachen und einen dieser zotteligen Hunde adoptieren. Dann besorgen wir noch einen Slushie für mich und etwas Blut für dich und hauen für immer in die Menschenwelt ab.«
»Werden sie mich überhaupt aufnehmen, wenn ich kein Mensch bin?«, fragte ich, obwohl das noch die kleinste Schwachstelle in unserem Plan war. Wir waren beide elf. Keine von uns konnte Auto fahren. Und der Frieden im ganzen Südwesten hing buchstäblich davon ab, dass ich verdammt nochmal an Ort und Stelle blieb.
»Ich werde für dich bürgen.«
»Ob das ausreicht?«
»Ich werde dich einfach heiraten! Dann glauben sie, dass du menschlich bist – meine Menschenfrau!«
Gar nicht übel für einen ersten Heiratsantrag. Also nickte ich feierlich und verkündete: »Ich stimme zu.«
Das war allerdings vor vierzehn Jahren, und Serena hat mich nie geheiratet. Genauer gesagt ist sie schon lange fort. Stattdessen bin ich allein hier, mit einem Haufen kostspieliger Geschenke, die den Gästen hoffentlich helfen werden, über den Mangel an Liebe, genetischer Kompatibilität oder auch nur vorhergehender Bekanntschaft zwischen mir und dem Bräutigam hinwegzusehen.
Dabei habe ich versucht, ein Treffen im Vorfeld zu arrangieren. Habe meinen Leuten vorgeschlagen, seinen Leuten vorzuschlagen, dass wir in der Woche vor der Zeremonie zusammen lunchen könnten. Oder uns am Tag vorher auf einen Kaffee treffen. Oder am Morgen vor dem großen Ereignis auf ein Glas Leitungswasser – irgendwas, um ein formelles »Sehr erfreut, Sie kennenzulernen« am Traualtar zu vermeiden. Meine Bitte wurde an den Rat der Vampire weitergeleitet und hatte zur Folge, dass ein Gehilfe eines der Mitglieder mich anrief. Sein Tonfall blieb höflich, suggerierte jedoch zugleich, dass ich völlig durchgeknallt sein müsse. »Er ist ein Werwolf, ein sehr mächtiger und überaus gefährlicher Werwolf. Schon allein die Vorkehrungen, um die Sicherheit bei einem solchen Treffen zu gewährleisten, wären …«
»Ich werde diesen gefährlichen Werwolf heiraten«, entgegnete ich schlicht, woraufhin er sich verlegen räusperte.
»Er ist ein Alpha, Miss Lark. Zu beschäftigt für ein Treffen.«
»Beschäftigt mit …«
»Seinem Rudel, Miss Lark.«
Ich stellte mir vor, wie er seine Werwolfkumpels unermüdlich auf Trab halten musste, und zuckte die Achseln.
Seither sind zehn Tage vergangen, und ich habe meinen zukünftigen Ehemann noch immer nicht getroffen. Stattdessen bin ich zu einem Projekt geworden, das die gemeinsamen Bemühungen einer interdisziplinären Crew erfordert, um mich heiratsfähig aussehen zu lassen. Ein Nageldesigner bringt meine Fingernägel in die Form rosafarbener Ovale. Ein Visagist haut mir mit Begeisterung auf die Wangen, damit sie sich röten. Ein Friseur verbirgt meine spitzen Ohren unter einem Geflecht dunkelblonder Zöpfe, und ein Kosmetiker malt mir ein ganz neues Gesicht auf – das Gesicht einer interessanten, weltgewandten Frau mit sehr markanten Wangenknochen.
»Das ist ein Kunstwerk«, stelle ich fest, während ich ihm im Spiegel beim Konturieren zusehe. »Sie könnten sich für ein Guggenheim-Stipendium bewerben.«
»Ich weiß. Und ich bin noch nicht fertig«, ermahnt er mich, taucht seinen Daumen in ein Töpfchen mit irgendeiner dunkelgrünen Substanz und bestreicht damit die Innenseite meiner Handgelenke. Meinen unteren Hals auf beiden Seiten. Meinen Nacken.
»Was ist das?«
»Nur ein bisschen Farbe.«
»Wofür?«
Ein Schnauben. »Ich habe ein paar Beziehungen spielen lassen und Werwolfbräuche recherchiert. Ihr Ehemann wird es mögen.« Damit rauscht er davon und lässt mich mit fünf merkwürdigen Markierungen und einer neu entdeckten Knochenstruktur allein. Ich schlüpfe in den Hochzeitshosenanzug, den ich dem Stylisten zuliebe nicht mehr als Onesie bezeichne, und dann holt mein Zwillingsbruder mich ab.
»Du siehst phantastisch aus«, sagt Owen und mustert mich argwöhnisch, als wäre ich ein gefälschter Zehndollarschein.
»Das Ergebnis einer gemeinschaftlichen Anstrengung.«
Er bedeutet mir, ihm zu folgen. »Ich hoffe, sie haben dich gegen Tollwut geimpft, wenn sie schon dabei waren.«
Diese Hochzeit soll ein Zeichen des Friedens sein. Deshalb hat mein Vater in einer herzerwärmenden Vertrauensbekundung darauf bestanden, dass ich von einem ausschließlich aus Vampiren bestehenden bewaffneten Sicherheitskommando begleitet werde. Die Werwölfe lehnten das ab, was zu wochenlangen Verhandlungen, dann beinahe zur Auflösung der Verlobung und letztlich zu einem Kompromiss führte, der alle gleich unglücklich machen dürfte: als Hochzeitspersonal Menschen einzustellen.
Bei solchen Anlässen mag bisweilen eine angespannte Atmosphäre herrschen, aber angespannt ist gar kein Ausdruck für das hier: Eine Location, drei Spezies, ein fünf Jahrhunderte andauernder Konflikt und nicht das geringste bisschen Vertrauen. Die Menschen in schwarzen Anzügen, die Owen und mich eskortieren, wirken hin- und hergerissen zwischen ihrer Aufgabe, uns zu beschützen, und dem Drang, uns eigenhändig zu töten, um es endlich hinter sich zu bringen. Sie tragen selbst drinnen Sonnenbrillen und murmeln unterhaltsam schlechte Codes in ihren Ärmel. Die Fledermaus fliegt in den Festsaal. Ich wiederhole, wir haben die Fledermaus.
Den Bräutigam nennen sie, alles andere als originell, Wolf.
»Was meinst du, wann wird dein Zukünftiger versuchen, dich umzubringen?«, fragt Owen in lockerem Plauderton, den Blick starr geradeaus gerichtet. »Morgen? Nächste Woche?«
»Wer weiß?«
»Bestimmt noch diesen Monat.«
»Bestimmt.«
»Man muss sich allerdings die Frage stellen, ob die Werwölfe deinen Leichnam begraben werden oder – du weißt schon – ihn fressen.«
»Muss man wohl.«
»Wenn du ein bisschen länger leben willst, solltest du es mit Stöckchenwerfen versuchen, sobald er sich über dich hermacht. Wie ich höre, lieben Werwölfe es …«
Ich bleibe abrupt stehen, womit ich einen kleinen Aufruhr unter den Agenten verursache. »Owen«, sage ich und wende mich meinem Bruder zu.
»Ja, Misery?« Sein Blick hält meinen fest. Plötzlich verrutscht seine teilnahmslose Beleidigungskünstlermaske, und er ist nicht mehr der oberflächliche Erbe meines Vaters, sondern mein Bruder, der zu mir unter die Decke gekrochen ist, wenn ich Alpträume hatte, der geschworen hat, mich vor der Grausamkeit der Menschen und dem Blutdurst der Werwölfe zu beschützen.
Das ist Jahrzehnte her.
»Du weißt, was passiert ist, als Vampire und Werwölfe zum letzten Mal so etwas versucht haben«, sagt er in der Alten Sprache.
O ja, das tue ich. Die Aster findet sich in jedem Geschichtsbuch, wenn auch mit völlig verschiedenen Interpretationen. Der Tag, an dem sich unser lila Blut mit dem grünen Blut der Werwölfe vermischte, so leuchtend schön wie die Blume, nach der das Massaker benannt ist. »Wer zur Hölle würde danach noch eine politische Bündnisehe eingehen?«
»Wie’s aussieht, ich.«
»Du wirst unter den Werwölfen leben. Allein.«
»Ja. So funktionieren Geiselnahmen nun mal.« Um uns herum checken die Agenten hastig die Uhrzeit. »Wir sollten wahrscheinlich gehen.«
»Allein auf die Schlachtbank.« Owens Kiefer mahlt. Das sieht meinem sonst so unbekümmerten Bruder so gar nicht ähnlich, dass ich die Stirn runzle.
»Seit wann machst du dir solche Sorgen um mich?«
»Warum tust du das?«
»Ein Bündnis mit den Werwölfen ist notwendig, um …«
»Vaters Worte. Das ist bestimmt nicht der Grund, warum du dich darauf eingelassen hast.«
Damit hat er völlig recht, was ich aber nicht zugeben werde. »Vielleicht unterschätzt du Vaters Überzeugungskraft.«
Er senkt die Stimme zu einem Flüstern. »Tu es nicht. Das ist ein Todesurteil. Sag, du hättest deine Meinung geändert – gib mir sechs Wochen.«
»Was wird sich in sechs Wochen geändert haben?«
»Oder einen Monat. Ich …«
»Stimmt etwas nicht?« Beim Klang von Vaters schneidender Stimme zucken wir beide zusammen. Für den Bruchteil einer Sekunde sind wir wieder Kinder, die allein für ihre Existenz gemaßregelt werden. Wie immer erholt sich Owen schneller.
»Nein, alles bestens.« Sein nichtssagendes Lächeln ist zurück. »Ich habe Misery nur ein paar Tipps gegeben.«
Vater bahnt sich einen Weg durch das Sicherheitspersonal und klemmt meine Hand in seine Armbeuge, als wäre es nicht über ein Jahrzehnt her, dass wir zuletzt Körperkontakt hatten. Ich zwinge mich, nicht zurückzuschrecken. »Bist du bereit, Misery?«
Ich neige den Kopf. Mustere sein strenges Gesicht. Frage, hauptsächlich aus Neugier: »Spielt das eine Rolle?«
Offenbar nicht, denn er geht nicht auf die Frage ein. Owen sieht uns mit ausdruckslosem Blick nach, dann ruft er: »Ich hoffe, du hast einen Fusselroller eingepackt. Ich hab gehört, Werwölfe haaren.«
Einer der Agenten stoppt uns vor den Flügeltüren, die zum Hof führen. »Ratsmitglied Lark, Miss Lark, einen Moment noch. Es ist noch nicht alles bereit.« Seite an Seite warten wir ein paar unbehagliche Minuten, dann wendet Vater sich mir zu. In den High Heels, die mir der Stylist verpasst hat, bin ich fast so groß wie er, und er sieht mir direkt in die Augen.
»Du musst lächeln«, befiehlt er in der Alten Sprache. »Den Menschen zufolge ist eine Hochzeit der schönste Tag im Leben einer Braut.«
Meine Lippen zucken. Die ganze Situation ist so grotesk, dass es schon wieder lustig ist. »Und was ist mit dem Vater der Braut?«
Er seufzt. »Du warst schon immer unnötig trotzig.«
Meine Unzulänglichkeiten machen eben vor niemandem halt.
»Es gibt kein Zurück mehr, Misery«, fügt er nicht unfreundlich hinzu. »Nach dem Handfasting wirst du seine Frau sein.«
»Ich weiß.« Ich brauche keine Beruhigung oder Ermutigung. Nicht ein einziges Mal ist mein Entschluss, diesen Bund einzugehen, ins Wanken geraten. Ich neige weder zu Panik noch zu Angst oder einem Sinneswandel in letzter Minute. »Ich hab das schon einmal gemacht, schon vergessen?« Er mustert mich, bis die Türen sich für das öffnen, was wohl der Rest meines Lebens sein wird.
Die Nacht ist perfekt für eine Zeremonie im Freien: Lichterketten, eine sanfte Brise, funkelnde Sterne. Ich atme tief ein, halte kurz die Luft an und lausche Mendelssohns Hochzeitsmarsch, gespielt von einem Streichquartett. Der sehr gesprächigen Hochzeitsplanerin zufolge, die mein Handy mit Links bombardiert hat, auf die ich natürlich nicht geklickt habe, spielt die Bratschistin im Städtischen Philharmonieorchester der Menschen. Eines der drei besten der Welt, textete sie mir, gefolgt von mehr Ausrufezeichen, als ich in all meinen schriftlichen Korrespondenzen seit meiner Geburt benutzt habe. Doch ich muss zugeben, dass die Musik wirklich schön ist. Auch wenn die Gäste keine Ahnung haben, was sie tun sollen, und sich irritiert umblicken, bis ein gestresster Angestellter ihnen bedeutet aufzustehen.
Das ist nicht ihre Schuld. Hochzeitszeremonien sind seit etwa einem Jahrhundert nur noch bei den Menschen Brauch. Die Vampirgesellschaft hat sich weiterentwickelt und die Monogamie hinter sich gelassen, und die Werwölfe … Ich habe keine Ahnung, was bei den Werwölfen abgeht, da ich noch nie einem begegnet bin.
Wenn ich es wäre, wäre ich nicht mehr am Leben.
»Jetzt komm.« Vater fasst mich am Ellbogen und führt mich zum Altar.
Die Brautgäste kommen mir bekannt vor, wenn auch nur vage. Ein Meer gertenschlanker Gestalten mit starren violetten Augen und spitzen Ohren. Fangzähne hinter missbilligend zusammengepressten Lippen und halb mitleidige, größtenteils angeekelte Blicke. Ich erkenne mehrere Leute aus dem engsten Bekanntenkreis meines Vaters: Ratsmitglieder, die ich seit meiner Kindheit nicht mehr getroffen habe, einflussreiche Familien und ihre Nachkommen, von denen die meisten Owen vergötterten und sich mir gegenüber wie kleine Scheißer benahmen, als wir noch klein waren. Niemand hier geht auch nur ansatzweise als Freund durch, aber zur Verteidigung desjenigen, der die Gästeliste erstellt hat, muss ich anmerken, dass mein Mangel an tiefer gehenden Beziehungen die Platzvergabe zu einem schwierigen Unterfangen gemacht haben mag.
Und dann sind da noch die Angehörigen des Bräutigams, die eine mir völlig fremde Hitze ausstrahlen. Die mich tot sehen wollen.
Die Herzen der Werwölfe pochen schneller, lauter, ihr Blut riecht nach Kupfer und völlig unvertraut. Sie sind größer als Vampire, stärker als Vampire, schneller als Vampire, und keiner von ihnen scheint besonders angetan von der Vorstellung zu sein, dass ihr Alpha eine von uns heiratet. Sie mustern mich, wütend, herausfordernd, und ihre Lippen verziehen sich vor Abscheu. Ihre Feindseligkeit ist so zäh, dass ich sie auf der Zunge schmecken kann.
Ich kann es ihnen nicht verübeln. Ich verüble es niemandem, nicht hier sein zu wollen. Ich verüble ihnen nicht einmal das Getuschel oder die bissigen Kommentare oder dass ein Großteil der Gäste offensichtlich nie gelernt hat, dass Schall weiter trägt als der Gestank von Scheiße.
»Sie war zehn Jahre als Absicherung bei den Menschen, und jetzt das?«
»Ich wette, ihr gefällt die Aufmerksamkeit …«
»… spitzohriger Parasit …«
»Ich gebe ihr zwei Wochen.«
»Eher zwei Stunden, wenn diese Tiere …«
»… die Region entweder endgültig stabilisieren oder einen neuen Krieg …«
»… meinst du, sie werden heute Nacht tatsächlich ficken?«
Zu meiner Linken habe ich keine Freunde und zu meiner Rechten nur Feinde. Ich recke also das Kinn, stelle mich aufrecht und blicke starr geradeaus.
Zu meinem zukünftigen Ehemann.
Er steht am Ende des Gangs, von mir abgewandt, und hört sich an, was ihm jemand – vielleicht sein Trauzeuge – ins Ohr flüstert. Zwar kann ich sein Gesicht nicht richtig sehen, aber ich weiß von einem Bild, das mir vor Wochen gezeigt wurde, was mich erwartet: attraktiv, auffallend, scheint nie zu lächeln. Seine kastanienbraunen Haare sind kurz geschnitten, und sein schwarzer, maßgeschneiderter Anzug sitzt perfekt an seinen breiten Schultern. Er ist der einzige Mann im Raum, der keine Krawatte trägt, und dennoch elegant.
Vielleicht haben wir den gleichen Stylisten. Nicht die schlechteste Ausgangsbasis für eine Ehe, zumindest nicht schlechter als andere, schätze ich.
»Nimm dich vor ihm in Acht«, flüstert mein Vater, wobei sich seine Lippen kaum bewegen. »Er ist mehr als gefährlich. Bring ihn nicht gegen dich auf.«
Was jede Braut drei Meter vor dem Altar so hören will eben, besonders, wenn ihr Bräutigam ohnehin schon angespannt wirkt. Ungeduldig. Genervt. Im Gegensatz zu mir macht er sich nicht die Mühe, in meine Richtung zu sehen, als wäre ich völlig bedeutungslos, als hätte er Besseres zu tun. Was ihm sein Trauzeuge wohl ins Ohr flüstert? Vielleicht das gespiegelte Gegenstück der Warnung, die ich bekommen habe.
Misery Lark? Kein Anlass zur Sorge. Sie ist nicht sonderlich gefährlich, also bring sie ruhig gegen dich auf. Was soll sie schon machen? Dich mit ihrem Fusselroller bewerfen?
Ich lache schnaubend, und das ist ein Fehler. Denn mein zukünftiger Ehemann hört es und wendet sich endlich zu mir um.
Mein Magen wird bleischwer.
Ich gerate ins Stolpern.
Das Getuschel verstummt.
Auf dem Foto, das mir gezeigt wurde, sahen seine Augen ganz gewöhnlich blau aus. Doch als sie meinem Blick begegnen, werden mir zwei Sachen klar. Erstens lag ich falsch, denn sie sind eigentlich blassgrün, fast weiß. Und zweitens hat mein Vater recht: Dieser Mann ist zweifelsohne sehr, sehr gefährlich.
Sein Blick schweift über mein Gesicht, und mich überkommt der Verdacht, dass ihm keine Fotos gegeben wurden. Oder vielleicht hatte er einfach nicht genug Interesse an seiner zukünftigen Braut, um sie sich anzusehen? Tja, unglücklicherweise für ihn habe ich mir die Zähne daran stumpf gebissen, Leute zu enttäuschen, und ich werde jetzt nicht anfangen, mich um so etwas zu scheren. Wenn ihm nicht gefällt, was er sieht, ist das sein Pech.
Ich straffe die Schultern. Uns trennen nur noch wenige Meter, und ich erwidere seinen Blick, während ich die Distanz überbrücke, und so sehe ich alles in Echtzeit.
Seine Pupillen weiten sich. Seine Augenbrauen ziehen sich zusammen.
Seine Nasenflügel blähen sich. Er sieht mich an, als bestünde ich aus Maden, und atmet einmal tief durch. Und noch einmal, als ich an den Altar trete. Einen kurzen Moment nimmt sein Gesicht einen erschütterten Ausdruck an, und ich mag zwar gewusst haben, dass Werwölfe uns nicht mögen, ich wusste es wirklich, aber das hier fühlt sich nach mehr an. Nach purer, harter, persönlicher Verachtung.
Pech gehabt, Kumpel, denke ich und recke das Kinn höher. Noch ein Schritt, dann stehen wir uns gegenüber, definitiv zu nah.
Zwei Fremde, die sich zum ersten Mal begegnen. Die gleich heiraten werden.
Die Musik verklingt. Die Gäste setzen sich. Mein Herz schlägt träge, noch langsamer als üblich – weil der Bräutigam in voller Größe über mir aufragt. Weil er mich mustert, als wäre ich ein abstraktes Gemälde. Seine Brust hebt und senkt sich stoßweise, als wolle er mich … einatmen. Dann zieht er sich zurück, leckt sich die Lippen und starrt mich einfach nur an.
Er starrt und starrt und starrt.
Die Stille zieht sich schier unendlich in die Länge. Der Liturg räuspert sich. Verwundertes Gemurmel bricht aus und steigert sich rasch zu einer brenzligen, vertrauten Spannung. Der Trauzeuge hat die Klauen ausgefahren. Hinter mir fletscht Vania, die Anführerin der Leibgarde meines Vaters, die Zähne. Und die Menschen greifen natürlich nach ihren Pistolen.
Mein zukünftiger Ehemann indes starrt mich immer noch an.
Also trete ich näher an ihn heran und flüstere: »Es ist mir egal, wie sehr dir das missfällt, aber wenn du eine zweite Aster vermeiden willst …«
Blitzschnell schließt sich seine Hand um meinen Oberarm, und die Wärme seiner Haut versetzt mir selbst durch den festen Stoff meiner Ärmel einen Schock. Seine Pupillen ziehen sich zusammen, und auf einmal wirkt er wirklich wie eine Bestie. Instinktiv versuche ich, mich aus seinem Griff zu befreien, und … das ist ein Fehler.
Mein Absatz bleibt an den Pflastersteinen hängen, und ich verliere das Gleichgewicht. Der Bräutigam fängt mich mit einem Arm um meine Taille auf, und dank einer Mischung aus Schwerkraft und purer Entschlossenheit werde ich zwischen dem Altar und ihm eingeklemmt, seine Brust an meiner. Er starrt mich an, eingesperrt, wie ich bin, als hätte er vergessen, wo er ist, und sähe in mir nichts als Fressen.
Als wäre ich seine Beute.
»Das ist höchst … ach du meine Güte«, keucht der Liturg, als der Bräutigam ihn anknurrt. Hinter mir höre ich die Alte Sprache und Englisch – Panik, Schreie, Chaos, eine heftige Auseinandersetzung zwischen meinem Vater und dem Trauzeugen, Drohungen, Schluchzen. Wenn das so weitergeht, steht uns eine weitere Aster bevor, schießt es mir durch den Kopf. Und ich sollte etwas unternehmen, ich werde etwas unternehmen, um das zu verhindern, aber …
Der Geruch des Bräutigams dringt mir in die Nase.
Alles verschwimmt.
Gutes Blut, faucht eine Stimme in meinem Hinterkopf völlig unsinnigerweise. Er würde so gutes Blut abgeben.
Er atmet mehrmals in rascher Folge ein, füllt seine Lunge und zieht mich an sich. Seine Hand gleitet von meinem Arm zu meiner Kehle und legt sich auf eine meiner Markierungen. Ein kehliger Laut steigt aus den Tiefen seiner Brust auf, und meine Knie werden weich. Dann öffnet er den Mund, und ich weiß, dass er mich in Stücke reißen wird, dass er mich zerfleischen wird, dass er mich verschlingen wird …
»Du«, sagt er, seine Stimme so tief und leise, dass ich ihn kaum verstehen kann. »Wie zur Hölle kannst du so riechen?«
Weniger als zehn Minuten später steckt er einen Ring an meinen Finger, und wir schwören einander, uns bis ans Ende unseres Lebens zu lieben.
Es stürmt seit drei Tagen, als er endlich von seinem Meeting mit dem Anführer der Big-Bend-Rotte zurückkommt. Zwei seiner Seconds, seiner engsten Vertrauten, erwarten ihn bereits zu Hause, sichtlich angespannt.
»Die Vampirfrau – sie hat einen Rückzieher gemacht.«
Mit einem Knurren wischt er sich das Gesicht ab. Schlau von ihr, denkt er.
»Aber sie haben schon Ersatz gefunden«, meint Cal und schiebt einen Aktenordner über den Tisch. »Da steht alles drin. Sie wollen wissen, ob sie zu deiner Zufriedenheit ist.«
»Wir machen weiter wie geplant.«
Cal lacht. Flor runzelt die Stirn. »Willst du sie dir gar nicht …?«
»Nein. Das ändert nichts.«
Sie sind sowieso alle gleich.
*
Sie taucht an einem Donnerstagabend in dem Start-up auf, für das ich arbeite, als die Sonne bereits untergegangen ist und das gesamte Großraumbüro gerade einen Mord in Erwägung zieht.
An mir.
Dieses Maß an Feindseligkeit habe ich nicht verdient, aber ich verstehe, dass sie wütend sind. Deshalb mache ich auch keinen Aufstand, als ich nach einem kurzen Meeting mit dem Manager an meinen Schreibtisch zurückkomme und sehe, wie sie meinen Tacker zugerichtet haben. Ganz ehrlich, ist schon okay. Ich bin sowieso die meiste Zeit im Homeoffice und drucke kaum je was aus, das ich zusammenheften müsste. Wen kümmert es da schon, dass jemand Vogelscheiße daraufgeschmiert hat?
»Nimm’s nicht persönlich, Missy.« Pierce lehnt an der Trennwand meines Arbeitsplatzes. Sein Lächeln erinnert weniger an einen besorgten Freund als an einen schmierigen Gebrauchtwagenverkäufer – sogar sein Blut riecht ölig.
»Werde ich nicht.« Anerkennung ist eine starke Droge. Zum Glück hatte ich nie Gelegenheit, davon abhängig zu werden. Wenn ich in etwas gut bin, dann darin, die Geringschätzung, mit der mich die Leute um mich herum behandeln, zu rationalisieren. Schon seit meiner frühesten Kindheit arbeite ich unermüdlich daran.
»Lass dir deswegen keine grauen Haare wachsen.«
»Tue ich nicht.« Einer der Vorteile meines Vampirdaseins.
»Und achte nicht auf Walker. Er hat das nicht gesagt, was du denkst.«
Ich bin mir ziemlich sicher, dass er »blödes Miststück« und nicht »schönes Kunststück« durch den Konferenzraum gebrüllt hat, aber wer weiß?
»Das gehört einfach dazu. Du wärst auch wütend, wenn jemand eine Firewall, an der du wochenlang gearbeitet hast, innerhalb von … was – einer Stunde? … überbrücken würde.«
Eigentlich war es höchstens eine Viertelstunde, selbst wenn man die Pause dazurechnet, die ich eingelegt habe, nachdem mir klar geworden war, wie schnell ich das System durchbrechen kann. Die habe ich genutzt, um online nach einem neuen Wäschekorb zu suchen, da Serenas verdammter Kater immer in meinem schläft, wenn ich waschen will. Ich schickte ihr ein Foto von der Rechnung mit der Bildunterschrift: Du und deine Katze schuldet mir sechzehn Dollar. Dann wartete ich wie immer geduldig auf eine Antwort.
Es kam keine. Wie nicht anders zu erwarten war.
»Die Leute kommen schon darüber hinweg«, labert er in typischer Pierce-Manier weiter. »Und hey, du bringst sowieso nie was zum Mittagessen mit, also musst du dir auch keine Sorgen machen, dass dir jemand in die Tupperdose spuckt.« Er bricht in Gelächter aus. In der Hoffnung, dass er mich endlich in Ruhe lassen wird, wende ich mich meinem Monitor zu. Allerdings lag ich damit leider falsch. »Und ehrlich gesagt hast du dir das im Grunde selbst zuzuschreiben. Wenn du mehr Kontakte knüpfen würdest … Ich verstehe ja, dass du gern diese mysteriösen Loner-Vibes sendest, aber das empfinden manche eben als abweisend – als hältst du dich für was Besseres. Wenn du dir mehr Mühe geben würdest …«
»Misery.«
Als ich meinen Namen höre – meinen richtigen Namen –, bin ich einen kurzen, unfassbar dämlichen Moment erleichtert, dass dieses Gespräch beendet ist. Dann recke ich den Hals und sehe die Frau, die auf der anderen Seite der Trennwand steht. Ihr von schwarzen Haaren umrahmtes Gesicht kommt mir vage bekannt vor, aber erst als ich mich auf ihren Herzschlag konzentriere, erkenne ich, wen ich vor mir habe. So langsam schlägt nur das Herz eines Vampirs, und …
Scheiße.
»Vania?«
»Du bist schwer zu finden«, sagt sie, ihre Stimme tief und melodisch. Kurz spiele ich mit dem Gedanken, meinen Kopf auf die Tastatur zu hauen. Doch stattdessen antworte ich ruhig:
»Das ist Absicht.«
»Dachte ich mir.«
Ich massiere mir die Schläfen. Was für ein Tag. Was für ein beschissener Tag. »Und trotzdem, da bist du.«
»Da bin ich.«
»Na, hallöchen!« Pierces Lächeln wird tatsächlich noch schleimiger, als er sich mit einem anzüglichen Grinsen Vania zuwendet. Sein Blick gleitet von ihren High Heels über ihren dunklen Hosenanzug und verharrt auf ihren prallen Brüsten. Ich kann keine Gedanken lesen, aber er denkt so offensichtlich MILF, dass ich es quasi hören kann. »Sind Sie eine Freundin von Missy?«
»Kann man so sagen, ja. Schon seit ihrer Kindheit.«
»O mein Gott. Wie war die kleine Missy denn so?«
Vanias Mundwinkel zuckt. »Sie war … seltsam und schwierig, wenn auch oft nützlich. Aber nicht so schwierig wie in letzter Zeit.«
»Moment – seid ihr zwei verwandt?«
»Nein, ich bin eine Vollstreckerin ihres Vaters, die Anführerin seiner Garde«, erklärt sie, ohne den Blick von mir abzuwenden. »Und sie wurde einbestellt.«
Ich richte mich auf meinem Stuhl auf. »Wohin?«
»Das Nest.«
So etwas kommt nicht einfach nur selten vor – es ist noch nie vorgekommen. Abgesehen von sporadischen Telefonaten und noch sporadischeren Treffen mit Owen habe ich seit Jahren mit keinem Vampir mehr geredet. Weil niemand sich bei mir gemeldet hat.
Ich sollte Vania sagen, dass sie sich getrost verpissen kann. Ich bin kein Kind mehr, das wegen eines irrsinnigen Plans in der Menschenwelt gefangen ist. Und mir ist nur allzu bewusst, wie komplett sinnlos es ist, in der Hoffnung zu meinem Vater zurückzukehren, dass er und seine Leute sich nicht total arschig verhalten werden. Aber offensichtlich genügt diese halbherzige Ouvertüre schon, mich all das vergessen zu lassen, denn ich höre mich fragen: »Warum?«
»Wenn du mitkommst, findest du es raus.« Vanias Lächeln erreicht nicht ihre Augen. Ich mustere sie forschend, als wäre ihr die Antwort ins Gesicht tätowiert.
Währenddessen erinnert uns Pierce an seine bedauerliche Existenz. »Ladys, wovon redet ihr denn da? Vollstrecker? Einbestellt?« Er lacht laut. Obwohl ich ihm immer noch am liebsten so fest gegen die Stirn schnipsen würde, dass es wehtut, spüre ich einen Anflug von Sorge um diesen armen Idioten. »Steht ihr auf Rollenspiele, oder was?«
Endlich hält er den Mund. Denn als Vania sich ihm zuwendet, könnte keine optische Täuschung als Erklärung für das strahlende Violett ihrer Augen herhalten. Oder ihre langen, makellos weißen Fangzähne, die im Licht aufblitzen.
»D-du …« Schockiert sieht Pierce zwischen uns hin und her und murmelt irgendetwas Unverständliches.
In diesem Moment beschließt Vania, mein Leben zu ruinieren, und schnappt mit den Zähnen nach ihm.
Ich seufze tief.
Pierce wirbelt auf dem Absatz herum, rennt aus meinem Bürowürfel und wirft bei seiner kopflosen Flucht den Benjamini um. »Vampire! Vampire – da ist … ein Vampir greift uns an, jemand muss die Sicherheitsbehörde verständigen, na los, ruft die …«
Vania holt ihre laminierte Karte mit dem Logo des Human-Vampire-Relations-Bureau heraus, die ihr in der Menschenwelt Immunität gewährt. Aber niemand achtet auf sie – in dem Großraumbüro ist Panik ausgebrochen, und die meisten meiner Kollegen rennen schreiend die Fluchttreppe hinunter. In ihrer Eile, zum nächsten Ausgang zu kommen, trampeln sie übereinander. Als ich Walker, gefolgt von einer Rolle Klopapier, die sich in seiner Kakihose verfangen hat, aus der Toilette hasten sehe, stoße ich ein resigniertes Seufzen aus.
»Ich mochte diesen Job«, sage ich zu Vania, nehme das eingerahmte Foto von Serena und mir und stopfe es in meine Tasche. »Er war leicht. Sie haben mir abgekauft, dass ich eine Tag-Nacht-Rhythmusstörung habe, und mich nachts arbeiten lassen.«
»Tut mir leid«, sagt sie in einem Ton, der alles andere als schuldbewusst klingt. »Jetzt komm.«
Ich sollte ihr wirklich sagen, dass sie sich verpissen soll, und das werde ich. In der Zwischenzeit gebe ich meiner Neugier nach und folge ihr, doch auf dem Weg nach draußen richte ich immerhin den armen Benjamini wieder auf.
*
Das Nest ist noch immer das größte Gebäude im Norden der Stadt und vielleicht auch das bemerkenswerteste: ein blutrotes Podium, das sich über hundert Meter unter der Erde erstreckt, darauf ein Wolkenkratzer aus Glas, der bei Sonnenuntergang zum Leben erwacht und in den frühen Morgenstunden wieder in Schlaf versinkt.
Einmal, als Serena mich gebeten hatte, ihr das Herz der Vampirwelt zu zeigen, habe ich sie hergebracht, und sie starrte das Gebäude mit offenem Mund an, verblüfft von den eleganten Linien und dem ultramodernen Design. Wahrscheinlich hatte sie Kerzenleuchter, schwere Samtvorhänge, die das mörderische Sonnenlicht fernhalten, und von der Decke baumelnde Leichen unserer Feinde erwartet, ihr Blut bis auf den letzten Tropfen ausgesaugt. Gemälde von Fledermäusen zu Ehren unserer geflügelten Vorfahren. Und natürlich Särge.
»Echt hübsch. Ich dachte nur, es wäre vielleicht eher … aus Metall?«, überlegte sie, nicht im Geringsten eingeschüchtert von der Vorstellung, der einzige Mensch in einem Aufzug voller Vampire zu sein. Die Erinnerung daran bringt mich noch fünf Jahre später zum Lächeln.
Flexible Räumlichkeiten, automatisierte Systeme, integrierte Gerätschaften – das macht das Nest aus. Es ist nicht nur das Kronjuwel unseres Territoriums, sondern auch das Zentrum unserer Gemeinschaft. Ein Komplex aus Läden und Büros, wo alles, was einer der Unseren benötigen könnte – von nicht akuter Gesundheitsversorgung über Baugenehmigungen bis zu fünf Litern AB positiv –, leicht zu bekommen ist. Und in den obersten Etagen wurde Platz für ein paar Apartments geschaffen, in denen die einflussreichsten Familien unserer Gemeinschaft wohnen.
Allen voran meine Familie.
»Mir nach«, sagt Vania, als die Tür aufgleitet, und ich folge ihr, flankiert von zwei uniformierten Wachmännern, die ganz bestimmt nicht hier sind, um mich zu beschützen. Dass ich an meinem Geburtsort wie ein Eindringling behandelt werde, ist nicht nett, besonders in Anbetracht dessen, dass wir an einer Wand entlanglaufen, an der lauter Porträts meiner Vorfahren hängen. Im Lauf der Jahre gehen sie von Ölgemälden zu Aquarellen und schließlich zu Fotos über, von grau zu mehrfarbig zu digital. Was immer gleich bleibt, sind die Gesichtsausdrücke: distanziert, arrogant, unglücklich. Macht ist nichts Erstrebenswertes.
Der einzige dieser Larks, den ich persönlich getroffen habe, ist der Mann, der dem Büro meines Vaters am nächsten hängt. Mein Großvater war schon alt und ein bisschen dement, als Owen und ich geboren wurden, und meine lebhafteste Erinnerung an ihn ist, wie ich eines Nachts davon aufwachte, dass er in meinem Schlafzimmer stand, mit zitternden Händen auf mich zeigte und in der Alten Sprache schrie, dass mir ein grausamer Tod bevorstünde.
Zu seiner Verteidigung muss gesagt werden, dass er nicht unrecht hatte.
»Hier drin«, sagt Vania und klopft leise an die Tür. »Der Ratsherr wartet auf dich.«
Ich halte kurz inne und studiere ihr Gesicht. Vampire sind nicht unsterblich, wir werden alt genau wie jede andere Spezies, aber … wow. Sie sieht aus, als wäre sie keinen Tag gealtert, seit sie mich zu dem zeremoniellen Geiselaustausch eskortiert hat. Es ist siebzehn Jahren her.
»Ist was?«, fragt sie.
»Nein.« Ich drehe mich um und greife nach der Türklinke, zögere jedoch. »Ist er krank?«
Vania wirkt amüsiert. »Du denkst, er würde nach dir schicken, wenn es so wäre?«
Ich zucke die Achseln. Mir fällt kein anderer Grund ein, warum er mich sehen wollen würde.
»Wozu? Um euch in Mitleid zu ergehen? Oder Trost in eurer Zuneigung zu finden? Du warst zu lange unter Menschen.«
»Ich dachte eher, dass er eine Niere braucht.«
»Wir sind Vampire, Misery. Wir handeln für das Wohl der Gemeinschaft, oder gar nicht.«
Sie ist weg, bevor ich die Augen verdrehen oder das »Fick dich« anbringen kann, das mir auf der Zunge liegt. Mit einem Seufzen und einem kurzen Blick zu den Wachen, die sie zurückgelassen hat, betrete ich das Büro meines Vaters.
Das Erste, was mir auffällt, ist die Fensterfront, die genau die Wirkung hat, die Vater erzielen möchte. Jeder Mensch, mit dem ich je gesprochen habe, denkt, dass Vampire Licht hassen und Dunkelheit bevorzugen, aber damit liegen sie völlig falsch. Zwar ist Sonnenlicht schädlich und in hoher Intensität sogar tödlich für uns, aber genau deswegen begehren wir es umso mehr. So werden Fenster zum Luxus, weil sie wahnsinnig teure Prozeduren durchlaufen müssen, um alles herausfiltern zu können, was uns schaden könnte. Und so große Fenster sind in erster Linie ein bombastisches Statussymbol, eine Zurschaustellung herrschaftlicher Macht und obszönen Reichtums. Und dahinter …
Der Fluss, der die Stadt in Nord und Süd – uns und sie teilt. Kaum hundert Meter trennen das Nest vom Territorium der Werwölfe, und das Flussufer ist mit Wachtürmen und Checkpoints übersät, die rund um die Uhr streng bewacht werden. Auf der einzigen Brücke zwischen unserem Territorium und dem ihren gibt es zu beiden Seiten scharfe Kontrollen, und soweit ich weiß, ist seit meiner Geburt kein Fahrzeug darübergefahren. Jenseits davon befinden sich weitere Sicherheitszonen der Werwölfe und ein sattgrüner Eichenwald, der sich meilenweit nach Süden erstreckt.
Ich fand schon immer, dass es ziemlich clever von ihnen war, an einer der am härtesten umkämpften Grenzen des Südwestens keine Siedlungen zu bauen. Als Owen und ich noch klein waren, bevor ich fortgeschickt wurde, ertappte Vater uns einmal dabei, wie wir uns darüber unterhielten, warum die Vampire ihr Hauptquartier bloß so nah am Revier ihrer tödlichsten Feinde errichtet hatten. »Als Erinnerung«, erklärte er. »Und als Mahnung.«
Ich weiß ja nicht. Selbst zwanzig Jahre später erscheint mir das noch ziemlich abgefuckt.
»Misery.« Vater hört auf, auf seinen Touchscreen-Monitor zu tippen, und steht von seinem polierten Mahagonitisch auf. »Es ist schön, dich zu sehen«, sagt er, ohne Lächeln, aber nicht kühl.
»Es ist jedenfalls was Besonderes.« Die letzten Jahre sind so gut wie spurlos an Henry Lark vorbeigegangen. Beim Anblick seiner hochgewachsenen Statur, seines kantigen Gesichts und der weit auseinanderstehenden Augen muss ich daran denken, wie sehr ich ihm ähnele. Seine blonden Haare sind zwar ein bisschen grauer, aber noch genauso perfekt frisiert wie eh und je. Alles andere würde mich auch sehr wundern – Vater war immer absolut tadellos gepflegt. Heute trägt er seine Hemdsärmel zwar hochgekrempelt, jedoch mit pingeliger Sorgfalt. Sollte er mir vormachen wollen, das hier wäre ein informelles Meeting, ist er kläglich gescheitert.
Und als er nun auf den Ledersessel vor seinem Schreibtisch zeigt und sagt: »Setz dich«, entschließe ich mich stattdessen, mich lässig an die Tür zu lehnen.
»Vania meint, du stirbst gar nicht.« Ich bemühe mich um einen möglichst unhöflichen Ton. Leider klinge ich nur neugierig.
»Ich hoffe, auch du erfreust dich guter Gesundheit.« Er lächelt leicht. Beinahe freundlich. »Wie ist es dir die letzten sieben Jahre ergangen?«
Hinter seinem Kopf hängt eine wunderschöne antike Uhr. Ich sehe zu, wie der Zeiger acht Sekunden weiterwandert, bevor ich antworte: »Richtig klasse.«
»Wirklich?« Er mustert mich flüchtig. »Du solltest sie besser rausnehmen, Misery. Sonst hält dich noch jemand für einen Menschen.«
Natürlich meint er meine braunen Kontaktlinsen. Im Auto habe ich kurz überlegt, sie rauszunehmen, mich dann aber entschieden, mir nicht die Mühe zu machen. Das Problem ist, dass sie nicht der einzige Hinweis darauf sind, dass ich unter Menschen gelebt habe, und der Rest ist nicht so leicht rückgängig zu machen. Die spitzen Zähne, die ich Woche für Woche abfeile, werden wohl kaum seiner Aufmerksamkeit entgangen sein. »Ich komme direkt von der Arbeit.«
»Ach ja. Vania hat erwähnt, dass du einen Job hast. Irgendwas mit Computern, wie ich dich kenne.«
»So was in der Art.«
Er nickt. »Und wie geht es deiner kleinen Freundin? Gesund und munter, hoffe ich?«
Ich erstarre. »Woher weißt du, dass sie …«
»O Misery. Du hast doch nicht wirklich geglaubt, dass deine Telefonate mit Owen nicht abgehört werden, oder?«
Ich balle die Fäuste hinter dem Rücken und ziehe ernsthaft in Erwägung, die Tür hinter mir zuzuknallen und einfach nach Hause zu gehen. Aber es muss einen Grund geben, warum er mich sehen wollte, und den muss ich erfahren. Also hole ich mein Handy aus der Tasche, setze mich ihm gegenüber und lege es mit dem Display nach oben auf den Tisch.
Ich stelle einen Timer von genau zehn Minuten ein, drehe das Handy zu ihm herum und lehne mich dann lässig zurück. »Warum bin ich hier?«
»Ich habe meine Tochter seit Jahren nicht mehr gesehen.« Ein harter Zug liegt um seinen Mund. »Ist das nicht Grund genug?«
»Noch neun Minuten und dreiundvierzig Sekunden.«
»Misery. Meine Tochter.« Die Alte Sprache. »Warum bist du so wütend auf mich?«
Ich ziehe die Augenbrauen hoch.
»Du solltest nicht wütend, sondern stolz sein. Die richtige Entscheidung ist jene, die das Glück der meisten Leute verbürgt. Und du warst das Mittel, mit dem wir diese Entscheidung in die Tat umsetzen konnten.«
Ich mustere ihn ruhig. Er glaubt diesen Schwachsinn tatsächlich, davon bin ich überzeugt. Er denkt, er gehöre zu den Guten. »Neun Minuten und zweiundzwanzig Sekunden.«
Einen kurzen Augenblick wirkt er aufrichtig betrübt. Dann sagt er: »Es wird eine Hochzeit geben.«
Erschüttert starre ich ihn an. »Eine Hochzeit? Wie … bei den Menschen?«
»Eine Trauungszeremonie. Wie bei den Vampiren früher.«
»Wer heiratet? Du? Wirst du etwa …?« Ich mache mir nicht die Mühe, den Satz zu beenden – schon allein der Gedanke ist absolut lächerlich. Nicht nur Hochzeiten sind seit Jahrhunderten aus der Mode, sondern das ganze Konzept der langfristigen Beziehungen. Wenn deine Spezies so richtig scheiße darin ist, Kinder in die Welt zu setzen, haben Sex und die Suche nach reproduktiv kompatiblen Partnern nun einmal Vorrang vor jeglicher Romantik. Wobei ich bezweifle, dass Vampire je sonderlich romantisch veranlagt waren. »Wer heiratet?«, frage ich noch einmal.
Vater seufzt. »Die Entscheidung steht noch aus.«
Das gefällt mir ganz und gar nicht, aber ich weiß nicht genau, warum. Eine leise Stimme flüstert mir ins Ohr, dass ich schnellstmöglich abhauen sollte, doch als ich gerade aufstehen will, sagt Vater: »Da du beschlossen hast, unter den Menschen zu leben, verfolgst du sicher ihre Nachrichten.«
»Meistens«, lüge ich. Wir könnten Krieg gegen Eurasien führen und kurz davor stehen, Einhörner zu klonen, und ich hätte keine Ahnung. Ich war zu beschäftigt mit meiner Suche. »Warum?«
»Bei den Menschen gab es vor Kurzem eine Wahl.«
Davon habe ich nichts mitbekommen, dennoch nicke ich. »Ich frage mich, wie das wohl sein mag.« Nicht von einem Rat regiert zu werden, dessen Mitglieder ausschließlich aus einer Handvoll einflussreicher Familien stammen und die ihren Sitz von Generation zu Generation weitergeben wie ein angeschlagenes Porzellanservice.
»Nicht ideal, da Arthur Davenport nicht wiedergewählt wurde.«
»Governor Davenport?« Die Stadt ist zwischen den Vampiren und Werwölfen aufgeteilt, aber der Rest der südöstlichen Region wird fast ausschließlich von Menschen bewohnt. Und die letzten paar Jahrzehnte haben sie als ihren Repräsentanten immer Arthur Davenport gewählt – soweit ich mich erinnern kann, ohne jeden Zweifel. Dieses Arschloch. »Wer ist der Neue?«
»Eine Frau. Maddie Garcia wurde zur Gouverneurin gewählt, und ihre Amtszeit beginnt in ein paar Monaten.«
»Und deine Meinung über sie …« Er muss eine haben. Vaters Kollaboration mit Governor Davenport hat die einvernehmliche Beziehung zwischen unseren Spezies überhaupt erst möglich gemacht.
Wobei einvernehmlich womöglich ein zu starker Begriff ist. Die meisten Menschen denken noch immer, dass wir uns danach verzehren, ihr Vieh auszusaugen und ihre Liebsten mittels Gedankenmanipulation zu kontrollieren, und die meisten Vampire denken noch immer, dass Menschen durchtrieben, aber zu nichts zu gebrauchen sind und dass ihre Hauptbegabung darin besteht, auf der faulen Haut zu liegen und das Universum mit noch mehr Menschen zu bevölkern. Es ist nicht so, als würden unsere Spezies zusammen abhängen, mal abgesehen von sehr seltenen, sehr inszenierten diplomatischen Events. Aber wir ermorden einander schon seit einer ganzen Weile nicht mehr kaltblütig, und nicht zuletzt haben wir uns gegen die Werwölfe verbündet. Ein Sieg ist ein Sieg, oder?
»Ich habe keine Meinung über sie«, sagt er teilnahmslos. »Und ich werde in nächster Zeit auch keine Gelegenheit haben, mir eine zu bilden, denn Ms. Garcia hat all meine Anfragen bezüglich eines Treffens abgelehnt.«
»Ah.« Ms. Garcia ist wohl klüger als ich.
»Allerdings obliegt es noch immer mir, für die Sicherheit meiner Leute zu sorgen. Und wenn Governor Davenport fort ist, wird neben der andauernden Bedrohung durch die Werwölfe eine weitere aus dem Norden dazukommen. Von den Menschen.«
»Ich bezweifle, dass sie Ärger will, Vater.« Ich knibbele an meinem abgeblätterten Nagellack herum. »Sie will wahrscheinlich einfach die bestehende Allianz aufrechterhalten und den zeremoniellen Schwachsinn abschaffen.«
»Ihr Team hat uns informiert, dass es, sobald sie das Amt übernimmt, das Absicherungsprogramm nicht mehr geben wird.«
Ich erstarre. Dann blicke ich langsam auf. »Was?«
»Wir wurden offiziell aufgefordert, die Absicherung der Menschen zurückzugeben. Und sie werden das Mädchen zurückschicken, das momentan als Absicherung der Vampire dient …«
»Den Jungen«, korrigiere ich ihn. Meine Fingerspitzen sind taub. »Die derzeitige Absicherung der Vampire ist ein Junge.« Ich habe ihn einmal getroffen. Er hatte dunkle Haare, runzelte ständig die Stirn und sagte: »Nein, danke«, als ich ihn fragte, ob er Hilfe beim Tragen seiner Bücher brauche. Inzwischen ist er wahrscheinlich so groß wie ich.
»Wie auch immer, der Austausch wird nächste Woche stattfinden. Die Menschen haben entschieden, nicht zu warten, bis Maddie Garcia ihr Amt antritt.«
»Ich verstehe nicht …« Ich schlucke schwer. Reiße mich zusammen. »Eigentlich ist es doch besser so. Das ist ein blöder Brauch.«
»Er hat über hundert Jahre für Frieden zwischen den Vampiren und Menschen gesorgt.«
»Mir erscheint das ziemlich grausam«, entgegne ich ruhig. »Einen Achtjährigen zu zwingen, sich allein in feindliches Gebiet zu begeben, um als Geisel zu dienen.«
»Geisel ist so ein plumpes, allzu simples Wort.«
»Ihr haltet ein Menschenkind zehn Jahre lang als Abschreckung hier fest und einigt euch darauf, dass die Vampire, sofern die Menschen gegen die Vereinbarung verstoßen, das Kind auf der Stelle töten werden. Das erscheint mir auch ziemlich plump und allzu simpel.«
Vaters Augen werden schmal. »Es ist nicht einseitig.« In seiner Stimme schwingt ein harter Unterton mit. »Die Menschen halten aus demselben Grund ein Vampirkind …«
»Ich weiß, Vater.« Ich beuge mich vor. »Ich war die Absicherung der Vampire, falls du das vergessen haben solltest.«
Das würde ich ihm durchaus zutrauen – aber nein. Vielleicht erinnert er sich nicht daran, wie ich versucht habe, seine Hand zu halten, als die gepanzerte Limousine uns nach Norden fuhr, oder wie ich mich hinter Vanias Beinen versteckt habe, als ich zum ersten Mal die merkwürdig gefärbten Augen der Menschen sah. Vielleicht hat er keine Vorstellung davon, wie es sich anfühlte, in dem Wissen aufzuwachsen, dass dieselben Aufpasser, die mir eben noch das Fahrradfahren beibrachten, sobald der Konflikt zwischen uns und den Menschen neu entflammt wäre, in mein Zimmer gekommen wären und mir ein Messer ins Herz gestoßen hätten. Vielleicht hat er sich nie den Kopf darüber zerbrochen, dass er seine Tochter als elfte Absicherung in Feindesgebiet geschickt hat, wo sie zehn Jahre lang gefangen unter Leuten lebte, die ihresgleichen hassten.
Und doch erinnert er sich. Denn die erste Regel beim Prinzip der Absicherung lautet, dass sie eine enge Verbindung zu den Mächtigen haben müssen. Zu jenen, die über Krieg und Frieden entscheiden. Und wenn Maddie Garcia im Namen der öffentlichen Sicherheit kein Familienmitglied opfern will, respektiere ich sie dafür umso mehr. Als ich als Absicherung gedient habe, war mein menschliches Gegenstück der Enkel von Governor Davenport. Und der Junge, der meinen Platz einnahm, als ich achtzehn wurde, ist der Enkel von Ratsmitglied Ewing.
Damals habe ich mich oft gefragt, ob Governor Davenports Enkel sich genauso fühlt wie ich – manchmal wütend, manchmal resigniert. Vor allem jedoch entbehrlich. Ich würde zu gern wissen, ob er sich nun, da ein paar Jahre vergangen sind, besser mit seiner Familie versteht als ich mit meiner.
»Alexandra Boden. Erinnerst du dich noch an sie?« Jetzt redet Vater wieder in lockerem Plauderton. »Ihr seid im selben Jahr geboren.«
Ich lehne mich zurück, nicht überrascht von dem abrupten Themenwechsel. »Rote Haare?«
Er nickt. »Vor gut einer Woche ist ihr Bruder Abel fünfzehn geworden. In jener Nacht haben er und seine Freunde ausgiebig gefeiert und sich irgendwann in der Nähe des Flusses wiedergefunden. Dank Jugend und Gedankenlosigkeit haben sie einander herausgefordert, ihn zu überqueren, das andere Ufer zu berühren, das zum Territorium der Werwölfe gehört, und dann schnell zurückzuschwimmen. Eine Mutprobe, wenn man so will.«
Obwohl mich das Schicksal von Alexandra Bodens leichtsinnigem Bruder nicht sonderlich interessiert, überläuft es mich eiskalt. Denn allen Vampiren wird von klein auf beigebracht, wie gefährlich die südliche Grenze ist. Noch bevor wir sprechen können, lernen wir alle, wo unser Territorium endet und das der Werwölfe anfängt. Und wir wissen alle, dass wir uns auf gar keinen Fall mit den Werwölfen anlegen sollten.
Alle außer diesen Idioten.
»Sie sind tot«, murmle ich.
Vaters Lippen verziehen sich zu einem Ausdruck, der kein Mitgefühl, sondern nur Verärgerung ausdrückt. »Meiner Meinung nach haben sie nichts anderes verdient. Natürlich mussten wir vom Schlimmsten ausgehen, als die Jungen nicht gefunden wurden. Ansel Boden, der Vater des Jungen, hat enge Verbindungen zu einigen der Familien im Rat und hat einen Vergeltungsschlag gefordert. Er ist der Ansicht, das Verschwinden der Jungen würde das rechtfertigen. Natürlich haben wir ihn daran erinnert, dass das Wohl aller das Wohl eines Einzelnen überwiegt – das Grundprinzip, auf dem unsere Gesellschaft beruht. Die Geburtsraten sind so niedrig wie nie zuvor, und wir sind vom Aussterben bedroht. Das ist keinesfalls die Zeit, einen solchen Konflikt anzuzetteln. Aber in einem unwürdigen Anfall der Schwäche hat er weiter darum gefleht.«
»Widerlich. Wie kann er es wagen, um seinen Sohn zu trauern.«
Vater wirft mir einen vernichtenden Blick zu. »Wegen seiner guten Beziehungen zum Rat wäre er beinahe damit durchgekommen. Erst letzte Woche, während du so getan hast, als wärst du ein Mensch, waren wir einem Krieg näher als je zuvor im ganzen letzten Jahrhundert. Und dann, zwei Tage nach dieser törichten Aktion …« Vater steht auf, geht um den Tisch herum und lehnt sich dagegen, der Inbegriff der Gelassenheit. »… sind die Jungs wiederaufgetaucht. Unversehrt.«
Ich blinzle verblüfft, eine Angewohnheit, die ich mir zugelegt habe, während ich vorgegeben habe, ein Mensch zu sein. »Ihre Leichen?«
»Sie sind am Leben. Natürlich ziemlich mitgenommen. Sie wurden von den Werwolfwachen verhört – zuerst wie Spione behandelt, dann wie ungezogene Störenfriede. Aber letztlich wurden sie nach Hause zurückgeschickt, gesund und munter.«
»Wie …?« In den letzten zwanzig Jahren gab es unzählige Vorfälle, bei denen die Grenzen überschritten wurden, meist außerhalb der Stadt, in den entmilitarisierten Wäldern. Und die Überreste der Täter wurden in der Regel in Einzelstücken zurückgeschickt. Die Wölfe waren uns gegenüber immer erbarmungslos, und wir waren ihnen gegenüber ebenso erbarmungslos. Was bedeutet, dass … »Was hat sich geändert?«
»Eine kluge Frage. Die meisten Ratsmitglieder nehmen an, dass Roscoe auf seine alten Tage weich geworden ist.« Roscoe. Der Alpha des Südwestrudels. Von ihm habe ich Vater schon seit frühester Kindheit reden hören. »Allerdings bin ich Roscoe einmal begegnet. Nur dieses eine Mal – wobei er keinen Hehl aus seinem Desinteresse an Diplomatie gemacht hat. Und Leute wie er sind wie Schädelknochen. Mit der Zeit werden sie immer härter.« Er wendet sich dem Fenster zu. »Die Werwölfe sind so verschwiegen wie eh und je. Aber wir haben unsere Methoden, an Informationen zu kommen, und nachdem wir einige Erkundigungen eingeholt haben …«
»Sie haben einen neuen Anführer.«
»Sehr gut.« Er wirkt erfreut, als wäre ich eine Schülerin, die früher als erwartet das Konzept transitiver Verben gemeistert hat. »Vielleicht hätte ich dich zu meiner Nachfolgerin ernennen sollen. Owen zeigt wenig Engagement für diese Rolle. Er scheint mehr an Geselligkeit interessiert zu sein.«
Ich winke ab. »Sobald du deinen Rücktritt verkündest, wird er sicher aufhören, sich mit seinen Ratsmitgliedererbenfreunden auf Partys herumzutreiben, und zu dem perfekten Vampirpolitiker werden, den du dir immer erträumt hast.« Wohl kaum. »Also, die Werwölfe: Was ist passiert?«
»Anscheinend hat vor ein paar Monaten jemand … Roscoe herausgefordert.«
»Herausgefordert?«
»Ihre Methode, einen neuen Anführer zu bestimmen, ist nicht gerade kultiviert. Aber schließlich sind die nächsten Verwandten der Werwölfe die Hunde. Wie nicht anders zu erwarten, ist Roscoe tot.«
Ich verkneife es mir, ihn darauf hinzuweisen, dass unsere dynastische Erbfolge je nach Standpunkt noch primitiver erscheinen mag, während sich Hunde immerhin großer Beliebtheit erfreuen. »Hast du ihn kennengelernt? Den neuen Alpha?«
»Nachdem die Jungen wohlbehalten zurückgeschickt wurden, habe ich um ein Treffen mit ihm gebeten. Zu meiner Überraschung hat er angenommen.«
»Wirklich?« Ich hasse es, wie gespannt ich bin. »Und, wie ist es gelaufen?«
»Ich war neugierig. Gnade ist nicht immer ein Zeichen von Schwäche, kann es jedoch sein.« Sein Blick schweift erst in die Ferne und richtet sich dann auf ein Bild an der östlichen Wand – eine simple Malerei in kräftigem Violett, die an das Blutvergießen der Aster erinnert. Ein ähnliches Gemälde findet sich an den meisten öffentlichen Orten. »So wie auch Verrat der Schwäche entspringt, Misery.«
»Ach ja?« Ich dachte immer, Verrat wäre schlicht Verrat, aber was weiß ich schon?
»Der neue Alpha ist nicht schwach. Ganz im Gegenteil. Er ist …« Vater zieht sich in sich zurück. »Etwas anderes. Etwas Neues.« Sein Blick richtet sich auf mich, wartend, geduldig, und ich schüttle den Kopf, weil ich mir nicht erklären kann, warum er mir das alles erzählt. Was habe ich damit zu tun?
Bis sich ein äußerst unschöner Gedanke einschleicht. »Warum hast du diese Hochzeit erwähnt?«, frage ich, ohne auch nur zu versuchen, den Argwohn in meiner Stimme zu verbergen.
Vater nickt. Anscheinend habe ich die richtige Frage gestellt, denn er antwortet nicht. »Du bist unter den Menschen aufgewachsen und hast nicht die Vorzüge der Bildung eines Vampirs genossen, daher ist dir womöglich nicht die ganze Geschichte unseres Konflikts mit den Werwölfen bewusst. Ja, dieser Konflikt besteht schon seit Jahrhunderten, aber es wurden immer wieder diplomatische Bemühungen unternommen. Fünf Ehen wurden zwischen den Werwölfen und uns geschlossen, während derer kam es zu keinen gewalttätigen Auseinandersetzungen an den Grenzen, auch wurden keine durch Werwölfe bedingten Todesfälle verzeichnet. Die letzte dieser Ehen liegt zweihundert Jahre zurück – zwischen einem Vampir und seiner Werwolfbraut, die fünfzehn Jahre andauerte. Als sie starb, wurde ein neues Bündnis arrangiert, eines, das jedoch nicht gut ausging.«
»Die Aster.«
»Die Aster, in der Tat.« Die sechste Hochzeitszeremonie endete in einem Massaker, als die Werwölfe die Vampire angriffen, die nach Jahrzehnten des Friedens ein bisschen zu vertrauensselig geworden waren und den Fehler begingen, weitgehend unbewaffnet auf der Hochzeit zu erscheinen. Die überlegene Stärke der Werwölfe und das Überraschungsmoment führten zu einem Blutbad – größtenteils unser Blut. Lila, mit ein paar Sprenkeln Grün. Wie eine Aster. »Wir wissen nicht, warum die Werwölfe sich gegen uns gewandt haben, aber seit unsere Beziehung zu ihnen unwiederbringlich zerstört wurde, gab es stets diese eine Konstante: Wir hatten ein Bündnis mit den Menschen, die Werwölfe nicht. Es gibt zehnmal mehr Werwölfe als Vampire und hundertfach mehr Menschen als unsere beiden Spezies zusammengenommen. Ja, die Menschen haben nicht die Fähigkeiten der Vampire, genauso wenig wie die Schnelligkeit und Stärke der Werwölfe, aber ihre Macht liegt in ihrer Überzahl. Sie auf unserer Seite zu haben war … beruhigend.«
Vaters Kiefer verkrampft sich, entspannt sich erst nach einem Moment wieder. »Sicher kannst du verstehen, warum mir Maddie Garcias Weigerung, sich mit mir zu treffen, Sorgen bereitet. Besonders in Anbetracht ihrer vergleichsweise freundlichen Einstellung den Werwölfen gegenüber.«
Meine Augen werden groß. Zwar bin ich nicht wirklich auf dem Laufenden, was die Politik der Menschen angeht, aber ich hätte nicht gedacht, dass diplomatische Beziehungen zu den Werwölfen zurzeit auf ihrer staatlichen To-do-Liste stehen. Soweit ich weiß, haben sie sich immer gegenseitig ignoriert – was nicht schwer ist, da sie keine gemeinsamen Grenzen haben. »Menschen und Werwölfe. In diplomatischen Verhandlungen.«
»Korrekt.«
Ich bleibe skeptisch. »Hat dir das der Alpha erzählt, als ihr euch getroffen habt?«
»Nein, das sind Informationen, die wir selbst beschafft haben. Der Alpha hat mir anderes berichtet.«
»Zum Beispiel?«
»Zuerst solltest du wissen, dass er noch jung und aus anderem Holz geschnitzt ist. Etwa in deinem Alter. Womöglich genauso unzivilisiert wie Roscoe, aber deutlich aufgeschlossener. Er glaubt, dass Frieden in der Region möglich ist. Dass ein Bündnis zwischen allen drei Spezies angestrebt werden sollte.«
Ich stoße ein raues Lachen aus. »Viel Glück damit.«
Vater taxiert mich mit durchdringendem Blick. »Weißt du, warum ich dich als Absicherung ausgewählt habe und nicht deinen Bruder?«
O nein. Nicht dieses Gespräch. »Du hast eine Münze geworfen?«
»Du warst so ein eigenartiges Kind, Misery. Völlig desinteressiert an allem, was um dich herum vorging, in deinem eigenen Kopf eingesperrt, schwer zu erreichen. Zurückgezogen. Die anderen Kinder versuchten, sich mit dir anzufreunden, aber du hast sie stur abblitzen lassen …«
»Die anderen Kinder wussten, dass ich zu den Menschen geschickt werden würde, und haben mich als zahnlose Verräterin beschimpft, sobald sie vollständige Sätze bilden konnten. Oder hast du schon vergessen, wie die Söhne und Töchter deiner Ratskollegen mir mit sieben die Klamotten gestohlen und mich zur Mittagszeit hinaus in die pralle Sonne gestoßen haben? Und dieselben Leute haben mich verspottet und angespuckt, als ich zehn Jahre später zurückgekommen bin, nachdem ich als ihre Absicherung gedient hatte, also bin ich nicht …« Ich atme langsam aus und rufe mir in Erinnerung, dass alles gut gegangen ist. Mir geht es gut. Ich bin unantastbar. Ich bin fünfundzwanzig, und ich habe meinen gefälschten Menschenpass, meine Wohnung, meine Katze (fick dich, Serena), meinen … Okay, offensichtlich habe ich im Moment keinen Job mehr, aber ich werde bald einen neuen finden, mit hundert Prozent weniger Vollidioten wie Pierce. Ich habe Freunde – eine Freundin. Wahrscheinlich.
Vor allem habe ich gelernt, mich nicht darum zu scheren. Um nichts und niemanden.
»Die Hochzeit, die du erwähnt hast. Wessen Hochzeit soll das sein?«
Vater presst die Lippen aufeinander. Einige Sekunden verstreichen, bevor er wieder das Wort ergreift. »Wenn ein Werwolf und ein Vampir sich gegenüberstehen, sehen sie nur …«
»Die Aster.« Ungeduldig schaue ich auf mein Handy. »Drei Minuten und siebenundvierzig Sekunden …«
»Eine Hochzeit. Eine Hochzeit zwischen einem Vampir und einem Alpha, die für Frieden sorgen sollte, doch zu einem Massaker geführt hat. Die Werwölfe sind Tiere, und das werden sie immer bleiben, aber unsere Art steht vor der Ausrottung, und wir müssen zum Wohle der meisten handeln. Wenn wir jedoch zulassen, dass die Menschen und Werwölfe ein Bündnis eingehen, das uns nicht mit einschließt, könnten sie uns vollständig vernichten …«
»O mein Gott.« Plötzlich wird mir der ganze verrückte, lächerliche Plan klar, auf den er hinauswill, und ich greife mir an die Stirn. »Das ist … Du machst Witze, oder?«
»Misery.«
»Nein.« Ich stoße ein bitteres Lachen aus. »Du … Vater, wir können diesen Krieg nicht durch eine Heirat verhindern.« Ich weiß selbst nicht, warum ich in die Alte Sprache gewechselt habe, aber das bringt ihn aus dem Konzept. Und vielleicht ist das gut, vielleicht braucht er genau das. Einen Moment, um diesen Wahnsinn zu überdenken. »Wer würde sich darauf einlassen?«
Vater sieht mich direkt an, und mit einem Mal weiß ich es. Ich weiß es einfach.
Und ich breche in Gelächter aus.
Nur mit Serena habe ich je laut gelacht, daher weiß ich, dass das letzte Mal über einen Monat her ist. Vor Schreck über dieses neumodische, mysteriöse Geräusch, das meine Stimmbänder produzieren, gerät mein Gehirn regelrecht aus dem Tritt. »Hast du verdorbenes Blut getrunken? Denn du bist vollkommen durchgeknallt.«
»Mir obliegt es, für das Wohl der meisten zu sorgen, und das Wohl der meisten beinhaltet das Fortbestehen unserer Leute.« Meine Reaktion scheint ihn aus irgendeinem Grund zu kränken, aber ich kann nichts gegen das hemmungslose Lachen tun, das aus meiner Kehle aufsteigt. »Es wäre ein Job, Misery. Mit Vergütung.«
Das ist … o mein Gott, das ist zum Totlachen. Und völlig irre. »Alles Geld der Welt würde mich nicht dazu … – Sind es zehn Milliarden Dollar?«
»Nein.«
»Tja, für weniger Geld mache ich es nicht.«
»Du hättest dein Leben lang ausgesorgt. Du weißt, welche finanziellen Mittel dem Rat zur Verfügung stehen. Und natürlich erwarten wir nicht, dass eine echte Ehe geführt wird. Du wärst nur dem Namen nach seine Ehefrau. Du wirst ein einziges Jahr bei den Werwölfen leben und damit ein Zeichen setzen, dass wir als Vampire nichts von ihnen zu befürchten …«
»Aber das haben wir!« Ich springe auf, laufe unruhig im Zimmer auf und ab und massiere mir die Schläfe. »Warum fragst du mich? Ich kann unmöglich deine erste Wahl sein.«
»Bist du nicht«, gesteht er freiheraus. Er hat seine Fehler, aber ein Mangel an Ehrlichkeit gehörte nie dazu. »Und auch nicht die zweite. Der Rat ist sich einig, dass wir so schnell wie möglich handeln müssen, und mehrere Mitglieder haben ihre Verwandten angeboten. Ursprünglich hatte die Tochter von Ratsherr Essen eingewilligt, aber dann hatte sie einen Sinneswandel …«
»O Gott.« Ich bleibe abrupt stehen. »Ihr werdet das genauso handhaben wie die Absicherung.«
»Natürlich. Und die Werwölfe ebenfalls. Der Alpha wird einen Werwolf zu uns schicken. Eine junge Frau, die ihm wichtig ist. Sie wird bei uns bleiben, solange du bei ihm bist. So werdet ihr gegenseitig für eure Sicherheit sorgen.«
Das ist doch der reinste Wahnsinn.
Ich atme tief durch, um mich zu beruhigen. »Also, ich …« Ich glaube, dass alle Beteiligten den Verstand verloren haben und dass jeder, der bei dieser Hochzeit auftaucht, abgeschlachtet werden wird, und ich fasse es nicht, dass du mich um so etwas bittest. »Ich fühle mich geehrt, dass du endlich mal an mich denkst, aber: nein. Danke.«
»Misery.«
Ich trete an seinen Schreibtisch, um mein Handy zu nehmen – noch eine Minute und dreizehn Sekunden –, und einen kurzen Augenblick bin ich Vater so nah, dass ich den Rhythmus seines Blutes tief im Innern spüren kann. Langsam, gleichmäßig, schmerzhaft vertraut.
Herzschläge sind wie Fingerabdrücke, einmalig, unverwechselbar, die einfachste Art, Leute auseinanderzuhalten. Der meines Vaters wurde mir schon bei meiner Geburt ins Gedächtnis eingebrannt, denn er war der Erste, der mich in den Armen hielt, der Erste, der sich um mich kümmerte, der Erste, der mich kannte.
Und dann hat er mich verstoßen.
»Nein«, sage ich. Zu ihm. Zu mir selbst.
»Roscoes Tod ist eine Chance.«
»Roscoes Tod war ein Mord«, entgegne ich ruhig. »Verübt von dem Mann, mit dem du mich verheiraten willst.«
»Weißt du, wie viele Vampirkinder dieses Jahr im Südwesten geboren wurden?«
»Das ist mir egal.«
»Weniger als dreihundert. Wenn die Werwölfe und Menschen sich gegen uns verbünden, könnten sie uns auslöschen. Vollständig. Das Wohl der meisten …«