Check & Mate – Zug um Zug zur Liebe - Ali Hazelwood - E-Book
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Check & Mate – Zug um Zug zur Liebe E-Book

Ali Hazelwood

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Beschreibung

Enemies to Lovers auf dem Schachbrett. Noch nie war Schach so cool und flirty ...

Mallory Greenleaf hat sich geschworen, nie wieder Schach zu spielen. Denn das Spiel, das sie jahrelang geliebt hat, hat ihr zu viel genommen. Doch als ihre beste Freundin sie überredet, bei einem Wohltätigkeitsturnier einzuspringen, kann Mallory nicht ablehnen. Ein letztes Mal spielt sie – und besiegt versehentlich den amtierenden Weltmeister Nolan Sawyer. Nolan, der Schach auf ein ganz neues Level gehoben hat. Nolan, der dafür bekannt ist, dass er mit Niederlagen nicht gut umgehen kann. Nolan, der wahnsinnig gut aussieht. Mallory tut das Erste, was ihr in den Sinn kommt: Sie läuft weg. Doch Nolan spürt sie auf und lässt nicht locker. Er will unbedingt erneut gegen Mallory spielen. Doch sie kann nicht riskieren, sich noch einmal ins Schachspielen zu verlieben. Und in Nolan schon gar nicht …

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Seitenzahl: 474

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Das Buch

Mallory Greenleaf hat sich geschworen, nie wieder Schach zu spielen. Denn das Spiel, das sie jahrelang geliebt hat, hat ihre Familie zerstört. Doch als sie widerwillig bei einem Wohltätigkeitsturnier einspringt, besiegt sie versehentlich den amtierenden Weltmeister und berüchtigten »Kingkiller« Nolan Sawyer. Nolan, der Schach auf ein ganz neues Level gehoben hat. Nolan, der dafür bekannt ist, dass er mit Niederlagen nicht gut umgehen kann. Nolan, der wahnsinnig gut aussieht. Mallory tut das Erste, was ihr in den Sinn kommt: Sie läuft weg. Doch Nolan spürt sie auf und lässt nicht locker. Er will unbedingt erneut gegen Mallory spielen. Was für eine Strategie verfolgt er? In jedem Fall kann sie es nicht riskieren, sich noch einmal ins Schachspielen zu verlieben. Und in Nolan schon gar nicht …

Die Autorin

Ali Hazelwood ist die Autorin des internationalen Bestsellers »The Love Hypothesis« (»Die theoretische Unwahrscheinlichkeit von Liebe«) und Verfasserin von Fachartikeln über Hirnforschung, die leider nicht immer ein Happy End vorweisen können. Ursprünglich stammt sie aus Italien und lebte in Deutschland und Japan, bevor sie in die USA zog, um in Neurowissenschaften zu promovieren. Seit Kurzem ist sie Professorin, was ihr eine Heidenangst einjagt. Wenn Ali nicht arbeitet, geht sie joggen, isst Cake Pops oder sieht sich Science-Fiction-Filme an.

ALI HAZELWOOD

Zug um Zug zur Liebe

Roman

Aus dem Amerikanischen vonMelike Karamustafaund Bettina Hengesbach

WILHELM HEYNE VERLAGMÜNCHEN

Die Originalausgabe CHECK & MATE erschien erstmals 2023 bei G. P. Putnam’s Sons, einem Imprint von Penguin Random House LLC, New York.

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.

Der Verlag behält sich die Verwertung der urheberrechtlich geschützten Inhalte dieses Werkes für Zwecke des Text- und Data-Minings nach § 44 b UrhG ausdrücklich vor. Jegliche unbefugte Nutzung ist hiermit ausgeschlossen.

Deutsche Erstausgabe 11/2023

Copyright © 2023 by Ali Hazelwood

Translation rights arranged by The Sandra Dijkstra Literary Agency

All Rights Reserved

Copyright © 2023 der deutschsprachigen Ausgabeby Wilhelm Heyne Verlag, München,in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH,Neumarkter Straße 28, 81673 München

Redaktion: Anita Hirtreiter

Umschlaggestaltung: Nele Schütz Design,unter Verwendung einer Illustration von lilithsaurnach dem Original-Coverdesign von Vikki Chu

Satz: Schaber Datentechnik, Austria

ISBN 978-3-641-30366-2V003

www.heyne.de

  

Für S. A. und H.

Prolog

»Ich weiß aus verlässlicher Quelle, dass du ein Sexsymbol der Gen Z bist.«

Beinahe lasse ich mein Handy fallen.

Okay, ich lasse tatsächlich mein Handy fallen, doch ich fange es auf, bevor es in einem Becherglas mit Ammoniak landet. Dann sehe ich mich im Chemieraum um und frage mich, ob es sonst noch irgendjemand gehört hat.

Die anderen in der Klasse texten entweder auf ihrem Smartphone oder werkeln an ihren Geräten herum.

Mrs. Agarwal sitzt an ihrem Schreibtisch und tut so, als würde sie Tests benoten, liest aber wahrscheinlich erotische Fan-Fiction über Bill Nye.

Eine hoffentlich nicht tödliche Geruchswolke aus Ethansäure steigt von meinem Tisch auf, doch meine AirPods stecken noch in meinen Ohren. Niemand beachtet mich oder das Video auf meinem Handy, also tippe ich auf Play, um es weiterlaufen zu lassen.

»Es war vor zwei Wochen im Time Magazine. Auf dem Cover. Ein Bild von dir, und daneben stand: ›Ein Gen-Z-Sexsymbol‹. Wie fühlt sich das an?«

Ich hätte mit Zendaya gerechnet. Harry Styles. Billie Eilish. Den Jungs von BTS, die sich auf die Couch von irgendeiner Late-Night-Show quetschen, die der Autoplay-Algorithmus von YouTube mir nach Ende der Experimentierstunde zum pH-Wert anzeigt. Aber stattdessen ist es ein Typ. Ein Junge sogar. Er sieht fehl am Platz aus in dem roten Samtsessel mit seinem dunklen Hemd, der dunklen Hose, dem dunklen Haar und der finsteren Miene, die vollkommen undurchdringlich ist, als er mit ernster Stimme antwortet: »Es fühlt sich falsch an.«

»Wirklich?«, fragt der Moderator namens Jim oder James oder Jimmy.

»Das mit Gen Z stimmt«, erwidert der Gast. »Das mit dem Sexsymbol weniger.«

Das Publikum ist begeistert. Es wird geklatscht und gejohlt, und in diesem Moment beschließe ich, die Bildunterschrift zu lesen. Nolan Sawyer steht dort. Dazu gibt es eine Erklärung, wer er ist, doch die brauche ich nicht. Das Gesicht erkenne ich vielleicht nicht, aber ich kann mich an keinen Zeitpunkt in meinem Leben erinnern, zu dem mir sein Namen nichts gesagt hätte.

Darf ich vorstellen, der Kingkiller: der beste Schachspieler der Welt.

»Lass mich dir eins sagen, Nolan: Schlau ist das neue Sexy.«

»Ich weiß trotzdem nicht so recht, ob das auf mich zutrifft.« Sein Tonfall ist derart trocken, dass ich mich frage, wie ihn sein Publicity-Manager überhaupt zu diesem Interview überreden konnte.

Doch das Publikum lacht, und der Talkmaster auch. Er beugt sich vor, offensichtlich vollkommen angetan von dem jungen Mann, der den Körperbau eines Athleten, den Verstand eines Physikers und das Vermögen eines Entrepreneurs aus dem Silicon Valley hat. Ein außergewöhnlich gut aussehender, talentierter Typ, der nicht zugeben will, dass er etwas Besonderes ist.

Ich frage mich, ob Jim/James/Jimmy das gehört hat, was ich gehört habe. Den Gossip. Die Storys über ihn. Die dunklen Gerüchte über den Goldjungen des Schachsports.

»Dann sagen wir einfach, Schachspielen ist das neue Sexy. Und das haben wir dir zu verdanken – Schach hat ein Revival erlebt, seitdem du auf der Bildfläche erschienen bist. Jemand hat deine Spiele live kommentiert und damit einen TikTok-Hype ausgelöst – ChessTok heißt es, wie mein Team mir berichtet hat –, und jetzt wollen mehr Leute als jemals zuvor Schach lernen. Aber erst mal von vorne: Du bist Großmeister und hast damit den höchsten Rang, den man als Schachspieler erreichen kann. Gerade hast du zum zweiten Mal die Weltmeisterschaft gewonnen, und zwar gegen …«, der Talkmaster muss auf seine Karte schauen, weil die meisten anderen Großmeister nicht so berühmt sind wie Sawyer, »Andreas Antonov. Herzlichen Glückwunsch.«

Sawyer nickt – knapp und nur einmal.

»Und du bist gerade achtzehn geworden. Wann noch mal genau?«

»Vor drei Tagen.«

Vor drei Tagen bin ich sechzehn geworden.

Vor zehn Jahren und drei Tagen habe ich mein erstes Schachspiel bekommen – mit Plastikfiguren in Pink und Lila – und vor Freude geweint. Ich habe den ganzen Tag damit gespielt, es überall mit hingeschleppt und es nachts im Bett an mich gedrückt.

Mittlerweile kann ich mich nicht mal mehr daran erinnern, wie sich eine Figur in meiner Hand anfühlt.

»Du hast sehr früh angefangen. Haben es dir deine Eltern beigebracht?«

»Mein Großvater«, erwidert Sawyer.

Der Talkmaster gerät kurz aus dem Konzept, als hätte er nicht damit gerechnet, dass Sawyer dieses Thema anschneiden würde, fängt sich aber schnell wieder. »Wann ist dir klar geworden, dass du gut genug bist, um professionell zu spielen?«

»Bin ich das denn?«

Wieder lacht das Publikum.

Ich verdrehe die Augen.

»Wusstest du von Anfang an, dass du das Schachspielen zum Beruf machen willst?«

»Ja. Ich wusste die ganze Zeit, dass ich nichts so sehr liebe, wie ein Schachspiel zu gewinnen.«

Der Moderator zieht die Augenbrauen hoch. »Nichts?«

Sawyer antwortet, ohne zu zögern. »Nichts.«

»Und …«

»Mallory?« Jemand legt mir eine Hand auf die Schulter.

Ich zucke zusammen und ziehe mir einen AirPod aus dem Ohr.

»Brauchst du Hilfe?«

»Nein!« Ich lächele Mrs. Agarwal an und schiebe mein Smartphone in die hintere Hosentasche. »Ich habe mir gerade das Anleitungsvideo angesehen.«

»Oh, perfekt. Vergiss nicht, Handschuhe anzuziehen, bevor du die saure Lösung dazugibst.«

»Alles klar.«

Der Rest der Klasse ist fast fertig mit dem Experiment. Ich runzele die Stirn, beeile mich aufzuholen, und ein paar Minuten später, als ich den Trichter nicht finden kann und mein Natron verschütte, höre ich auf, an Sawyer zu denken, und an die Art, wie seine Stimme klang, als er gesagt hat, er wollte nie etwas so sehr wie Schach zu spielen. Und dann denke ich gut zwei Jahre nicht mehr an ihn. Bis zu dem Tag, an dem wir zum ersten Mal gegeneinander spielen.

Und ich ihn fertigmache.

Teil eins

Eröffnungszüge

Kapitel 1

Zwei Jahre später

Easton ist clever, denn sie lockt mich nach draußen, indem sie mir Bubble Tea verspricht. Auf der anderen Seite ist sie dumm, denn sie wartet nicht, bis ich beginne, meinen Bubble Tea mit Schokolade und Cream Cheese Foam zu trinken, bevor sie sagt: »Du musst mir einen Gefallen tun.«

»Nope.« Ich grinse sie an, nehme zwei Strohhalme aus dem Behälter und biete ihr einen an, aber sie ignoriert die Geste.

»Mal, du hast dir doch noch gar nicht angehört, was …«

»Nein.«

»Es geht um Schach.«

»Wenn das so ist …« Ich lächele zum Dank, als mir das Mädchen hinter der Theke meine Bestellung reicht. Wir waren letzten Sommer auf zwei, vielleicht drei Dates zusammen, und ich habe verschwommene, aber angenehme Erinnerungen an sie. Himbeer-Chapstick-Lippen; Musik von Bon Iver in ihrem Hyundai Elantra; eine weiche Hand, kühl unter meinem Tanktop. Leider enthält keine dieser Erinnerungen ihren Namen. Aber sie hat Melanie auf meinen Bubble Tea geschrieben, also ist das okay.

Wir schenken uns ein kurzes, heimliches Lächeln, ehe ich mich wieder Easton zuwende. »Wenn das so ist, dann doppelt nein.«

»Mir fehlt eine Spielerin. Für ein Teamturnier.«

»Ich spiele nicht mehr.« Ein Blick auf mein Handy verrät mir, dass es neun Minuten nach zwölf ist – ich habe noch zwanzig Minuten, bis ich wieder in der Werkstatt sein muss. Bob, mein Chef, ist nicht gerade der freundlichste, versöhnlichste Mensch. Manchmal bezweifele ich, dass er überhaupt ein Mensch ist. »Lass uns draußen weitertrinken, bevor ich den Nachmittag unter einem Chevy Silverado verbringen muss.«

»Komm schon, Mal.« Sie sieht mich finster an. »Es ist Schach. Du kannst es noch.«

Als die Lehrerin der sechsten Klasse meiner Schwester Darcy verkündet hatte, dass sie ein Klassenmeerschweinchen auf eine Farm im nördlichen Teil des Staates schicken würde, und Darcy nicht herausfinden konnte, ob diese Farm tatsächlich existierte, hat sie sich für eine Entführung entschieden. Des Meerschweinchens, nicht der Lehrerin. Mittlerweile lebe ich mit Goliath, dem Gekidnappten, schon seit einem Jahr zusammen – ein Jahr, in dem wir ihm Reste unseres Abendessens verwehren müssen, denn der Tierarzt, den wir uns eigentlich nicht leisten konnten, hat uns angebettelt, Goliath auf Diät zu setzen. Leider hat er die gruselige Angewohnheit, mich jedes Mal so lange anzustarren, bis ich nachgebe.

Genau wie es Easton jetzt tut. In ihrem Blick liegt die gleiche reine, unerschütterliche Starrsinnigkeit.

»Ne-ein.« Ich sauge an meinem Strohhalm. Der Tee ist göttlich. »Ich habe alle Regeln vergessen. Was macht man noch mal mit diesem Pferdchen?«

»Sehr witzig.«

»Nein, im Ernst, was war Schach noch gleich? Die Dame überspringt den Start und erobert Catan …«

»Ich erwarte nicht, dass du das tust, was du früher getan hast.«

»Und was habe ich früher getan?«

»Du weißt schon, als du dreizehn warst und alle anderen Kinder, dann alle Teenager und schließlich alle Erwachsenen im Paterson-Schachclub besiegt hast? Und man Leute aus New York bestellt hat, damit du sie in Grund und Boden spielen kannst? Das erwarte ich nicht.«

Tatsächlich war ich erst zwölf, als das passiert ist. Daran erinnere ich mich noch gut, weil Dad neben mir stand, mir seine warme Hand auf die Schulter legte und stolz verkündete: »Ich habe seit ihrem elften Geburtstag vor einem Jahr kein Spiel mehr gegen Mallory gewonnen. Sie ist außergewöhnlich, nicht wahr?«

Aber das erwähne ich nicht, sondern lasse mich neben einem Blumenbeet aus fast vertrockneten Zinnien ins Gras fallen. Im August gibt es schönere Gegenden als New Jersey.

»Weißt du noch, als ich nach der Hälfte meiner Testspiele beinahe ohnmächtig geworden bin und du allen gesagt hast, sie sollen zurücktreten …«

»Und ich dir mein Trinkpäckchen gegeben habe?« Sie setzt sich neben mich.

Ich betrachte den perfekten Schwung ihres Eyeliners und dann meinen ölbefleckten Overall und denke, wie schön es ist, dass sich manche Dinge nie ändern. Die Perfektionistin Easton Peña, die immer einen Plan hat, und ihre chaotische Kumpanin Mallory Greenleaf. Wir waren von Anfang an in einer Jahrgangsstufe, hatten aber nicht viel miteinander zu tun, bis sie mit zehn Mitglied im Paterson-Schachclub wurde. Damals war sie in gewisser Weise schon genauso wie jetzt – die tolle, starrsinnige Person, die sie heute ist.

»Und du spielst diesen Mist wirklich gern?«, fragte sie mich, als wir einmal gegeneinander antreten mussten.

»Du nicht?«, erwiderte ich schockiert.

»Natürlich nicht. Ich brauche nur möglichst viele unterschiedliche AGs. Ein Stipendium fürs College bekommt man schließlich nicht einfach so.«

Ich schlug sie in vier Zügen und vergöttere sie seitdem.

Witzig, dass Easton sich nie so für Schach interessierte wie ich, aber viel länger am Ball geblieben ist. Was für eine merkwürdige Dreiecksbeziehung.

»Für das Trinkpäckchen von damals bist du mir immer noch was schuldig – also komm zum Turnier«, drängt sie mich. »Ich brauche ein Team aus vier Personen. Alle sind entweder im Urlaub oder verstehen nicht den Unterschied zwischen Schach und Dame. Du musst nicht mal gewinnen – und es ist für einen guten Zweck.«

»Für welchen denn?«

»Spielt das eine Rolle?«

»Natürlich. Ist es für eine rechte Denkfabrik? Für den nächsten Woody-Allen-Film? Für eine erfundene Krankheit wie Hysterie oder Glutenunverträglichkeit?«

»Glutenunverträglichkeit ist nicht erfunden.«

»Ach nein?«

»Nein. Und das Turnier ist für …« Sie tippt hektisch etwas in ihr Handy ein. »Ich kann es nicht finden, aber können wir die Sache abkürzen? Wir wissen beide, dass du Ja sagen wirst.«

Ich sehe sie finster an. »Das wissen wir nicht.«

»Du vielleicht nicht.«

»Ich habe meinen Stolz, Easton.«

»Klar.« Sie kaut aggressiv und provokant auf ihren Tapioka-Kugeln herum.

Sie erinnert sich noch an die neunte Klasse, als sie mich dazu überredet hat, ihre Stellvertreterin zu werden, während sie ihre Kampagne für die Wahl zur Klassensprecherin geführt hat. (Wir haben verloren. Haushoch.) Und an die zehnte Klasse, als Missy Collins Gossip verbreitet und sie mich dazu bewegt hat, ihren Twitter-Account zu hacken. Und an die elfte Klasse, als ich in der Musicalversion von Stolz und Vorurteil Mrs. Bennett gespielt habe – obwohl ich ganz genau wusste, dass meine Stimme nur eine halbe Oktave umfasst. Wahrscheinlich hätte ich mich auch im Abschlussjahr auf etwas Bescheuertes eingelassen, wenn es bei uns zu Hause … was die Finanzen betrifft … nicht so katastrophal aussehen würde. Und ich nicht jede freie Sekunde damit verbringen würde, in der Werkstatt zu arbeiten.

»Wir alle wissen, dass du nicht Nein sagen kannst«, behauptet Easton. »Also sag einfach Ja.«

Ich werfe einen Blick auf mein Handy – noch zwölf Minuten, bis meine Pause vorbei ist. Da es heute unerträglich heiß ist, habe ich meinen Bubble Tea bereits ausgetrunken und betrachte nun interessiert ihren Becher. Honigmelone – eine meiner liebsten Geschmacksrichtungen. »Ich habe schon was vor.«

»Und was?«

»Ein Date.«

»Mit wem? Dem Typ mit den fleischfressenden Pflanzen? Oder der Doppelgängerin von Paris Hilton?«

»Weder noch. Aber ich werde jemanden finden.«

»Komm schon. Auf diese Weise können wir noch mehr Zeit miteinander verbringen, bevor wir aufs College gehen.«

Ich setze mich auf und stoße ihren Ellbogen mit meinem an. »Wann ziehst du um?«

»In knapp zwei Wochen.«

»Was? Wir haben gerade unseren Abschluss gemacht. Vor ungefähr …«

»Vor ungefähr drei Monaten? Ich muss Mitte August zur Orientierungswoche in Colorado sein.«

»Oh.« Es fühlt sich an, als wäre ich aus einem viel zu langen Mittagsschlaf erwacht und würde feststellen, dass es bereits dunkel ist. »Oh«, sage ich noch einmal, ein wenig schockiert. Ich wusste, dass es passieren würde, aber da meine Schwester Pfeiffersches Drüsenfieber hatte, meine Mutter eine Woche im Krankenhaus lag, dann meine andere Schwester Pfeiffersches Drüsenfieber bekommen hat und ich so viele zusätzliche Arbeitsschichten geschoben habe, muss ich die Zeit vergessen haben. Es ist erschreckend: Ich habe noch nie nicht in derselben Stadt gelebt wie Easton. Ich habe sie noch nie nicht einmal in der Woche gesehen, um Dragon Age zu spielen, über Dragon Age zu reden oder Dragon Age-Playthroughs zu schauen.

Vielleicht brauchen wir neue Hobbys.

Ich versuche zu lächeln. »Die Zeit vergeht wie im Flug, wenn man Spaß hat.«

»Hast du überhaupt Spaß, Mal?« Sie sieht mich mit zusammengekniffenen Augen an, und ich lache. »Hör auf zu lachen. Du arbeitest die ganze Zeit. Und wenn nicht, kutschierst du deine Schwestern herum oder bringst deine Mutter zu Arztterminen und …« Sie fährt sich mit einer Hand durch ihre dunklen Locken, ohne sich darum zu kümmern, dass sie verstrubbelt sind – ein klares Anzeichen dafür, dass sie wütend ist. Sieben auf einer Skala von eins bis zehn, würde ich schätzen. »Du warst die Beste in unserer Klasse. Du bist ein Mathegenie und kannst dir alles merken. Du hattest drei Angebote für ein Stipendium – eins davon, um mit mir nach Boulder zu gehen. Doch du hast dich dagegen entschieden, und jetzt sitzt du hier fest, ohne dass ein Ende in Sicht wäre, und … weißt du was? Es ist deine Entscheidung, und ich respektiere sie, aber du kannst zumindest eine Sache tun, die Spaß macht. Eine Sache, an der du Freude hast.«

Ich starre auf ihre geröteten Wangen – eine, zwei, drei Sekunden – und öffne fast den Mund, um ihr zu erklären, dass Stipendien die Collegegebühren abdecken, allerdings nicht die Hypothek auf unser Haus oder das Roller-Derby-Camp meiner Schwester oder das mit Vitamin C angereicherte Futter für das entführte Haustier meiner anderen Schwester oder was auch immer die Schuldgefühle in meiner Magengrube bekämpfen würde. Fast. In letzter Sekunde schaue ich weg, und weg bedeutet zufällig auf mein Handy.

12:24 Uhr. Scheiße. »Ich muss los.«

»Was? Mal, bist du sauer? Ich wollte nicht …«

»Nope.« Ich schenke ihr ein Grinsen. »Aber meine Pause ist vorbei.«

»Du bist gerade erst gekommen.«

»Ja. Bob ist kein Fan von humanen Arbeitszeiten und einer Work-Life-Balance. Besteht zufällig die Chance, dass du deinen Bubble Tea nicht austrinkst?«

Sie verdreht die Augen so stark, dass ich befürchte, sie könnte sich einen Muskel zerren, hält mir aber trotzdem ihren Becher hin. Ich stoße triumphierend meine Faust in die Luft, während ich weggehe.

»Sag mir wegen dem Turnier Bescheid«, ruft mir Easton hinterher.

»Das habe ich doch schon.«

Ein Ächzen. Und dann ein betont ernstes »Mallory«, was mich dazu bewegt, mich umzudrehen, obwohl ich damit riskiere, dass mich Bob mit seinem Mundgeruch anschreit, weil ich zu spät komme. »Pass auf, ich will dich zu nichts zwingen, aber Schach war früher dein Lebensinhalt. Und jetzt willst du nicht mal für einen guten Zweck spielen.«

»Für Glutenunverträglichkeit zum Beispiel?«

Sie verdreht wieder die Augen, und ich jogge lachend zurück zur Arbeit. Ich schaffe es gerade noch rechtzeitig. Schnell suche ich meine Werkzeuge zusammen, um unter dem Chevy Silverado zu verschwinden. In diesem Moment vibriert mein Handy.

Es ist ein Screenshot von einem Flyer, auf dem steht: Clubs Olympic Team Tournament. Region NYC. In Zusammenarbeit mit Ärzte ohne Grenzen.

Ich lächele.

Mallory: Okay, das ist wirklich ein guter Zweck.

Easton: Habe ich dir doch gesagt. Und außerdem …

Sie schickt mir einen Link zu einem WebMD-Artikel über Glutenunverträglichkeit, die offenbar tatsächlich existiert.

Mallory: Okay, also gibt es sie wirklich.

Easton: Habe ich dir doch gesagt.

Mallory: Du weißt, dass das dein Lieblingssatz ist, oder?

Easton: Nee, das ist: ›Ich hatte recht.‹ Also bist du beim Turnier mit am Start?

Ich schnaube und tippe beinahe Nein. Beinahe erinnere ich sie daran, warum ich kein Schach mehr spiele.

Aber dann stelle ich mir vor, dass sie monatelang weg sein wird, wenn sie aufs College geht – und wie ich hier allein sein und versuchen werde, mit irgendeinem Date über das neueste Dragon Age-Playthrough zu reden, die andere Person allerdings nur rummachen will. Ich denke daran, dass Easton zu Thanksgiving nach Hause kommen wird. Vielleicht hat sie dann einen Undercut, ist Veganerin und trägt Kleidung mit Kuhfleckenmuster. Vielleicht wird sie ein vollkommen neuer Mensch sein. Wir werden uns an unseren üblichen Orten treffen, unsere übliche Serie schauen, über die üblichen Leute tratschen, doch es wird nicht mehr das Gleiche sein, weil sie neue Freundinnen hat, neue Dinge gesehen und neue Erinnerungen geschaffen hat.

Angst sticht in meiner Brust. Angst davor, dass sie sich verändern und aufblühen und nie wieder dieselbe sein wird. Wohingegen ich noch dieselbe sein und hier in Paterson auf der Stelle treten werde. Wir werden es nicht aussprechen, aber dennoch wissen.

Also antworte ich ihr.

Mallory: Okay. Ein letztes Mal.

Easton: Siehst du? Ich hatte recht.

Mallory:

Mallory: Du kannst dich revanchieren, indem du meine Schwestern nächste Woche zum Camp fährst, damit ich noch mehr Schichten übernehmen kann.

Easton: Mal, nein.

Easton: Mal, bitte. Ich mache alles andere.

Easton: Mal, sie machen mir ANGST.

Mallory:

»Hey, Greenleaf! Ich bezahl dich nicht, damit du auf Instagram rumscrollst oder Avocado-Sandwiches isst. Mach dich an die Arbeit.«

Ich verdrehe die Augen. Innerlich. »Falsche Generation, Bob.«

»Wie auch immer. Mach. Dich. An. Die. Arbeit.«

Ich schiebe mein Handy in den Overall, seufze und folge seiner Anweisung.

»Mal, Sabrina hat mich gerade in den Arm gekniffen und behauptet, ich hätte Penisatem!«

»Mal, Darcy hat mir gerade mit ihrem ekelhaften Penisatem ins Gesicht gegähnt.«

Ich seufze und fahre damit fort, meinen Schwestern Haferflocken zu machen. Zimt, fettarme Milch, kein Zucker, sonst »ersteche ich dich, Mal. Schon mal was von gesunder Ernährung gehört?« (Sabrina); Erdnussbutter, Nutella von der Hausmarke des Supermarkts, Banane und »kannst du ein bisschen mehr Nutella dazutun, bitte? Ich will noch dreißig Zentimeter wachsen, bevor ich in die achte Klasse komme!« (Darcy).

»Mallory, Darcy hat mich gerade angepupst!«

»Nein – Sabrina ist ein Pimmelgesicht. Warum kommt sie überhaupt in die Nähe meines Hinterns?«

Geistesabwesend lecke ich Discounter-Nutella vom Löffel und male mir aus, Nagellackentferner in die Haferflocken zu schütten. Nur einen Spritzer. Vielleicht auch zwei.

Es spricht aber auch einiges dagegen, zum Beispiel das frühzeitige Ableben der beiden Menschen, die ich auf dieser Welt am allermeisten liebe. Doch das, was dafürspricht, ist ebenfalls nicht zu verachten. Keine höchstwahrscheinlich tollwütigen Bisse an den Zehen von Goliath mehr mitten in der Nacht. Keine boshaften Beschimpfungen, weil ich Sabrinas rosa BH gewaschen, Sabrinas rosa BH verlegt, Sabrinas rosa BH angeblich gestohlen habe oder mich nicht zu jedem Zeitpunkt darüber auf dem Laufenden halte, wo Sabrinas rosa BH gerade ist. Keine Poster von Timothée Chalamet, der mich von Postern an der Wand creepy anstarrt.

Bloß ich, die ihr Klappmesser in der friedlichen Stille ihrer Zelle in einem Gefängnis in New Jersey schärft.

»Mallory, Darcy ist so ein Kackfleck …«

Ich lasse den Löffel fallen und marschiere ins Badezimmer. Dazu brauche ich nur drei Schritte – das Greenleaf-Anwesen ist klein und steht kurz vor dem finanziellen Ruin.

»Wenn ihr zwei nicht die Klappe haltet«, drohe ich im strengsten Tonfall, zu dem ich morgens um acht in der Lage bin, »fahre ich mit euch zum Bauernmarkt und tausche euch gegen Weintrauben ein.«

Etwas Merkwürdiges ist letztes Jahr passiert: Fast über Nacht wurde aus meinen süßen kleinen Schwestern, die bis dahin die besten Freundinnen waren, rivalisierende Hexen. Sabrina ist vierzehn geworden und hat begonnen, sich aufzuführen, als sei sie zu cool, um mit uns verwandt zu sein; Darcy ist zwölf geworden und … na ja. Darcy ist dieselbe geblieben. Immer lesend, immer altklug, immer zu aufmerksam, als gut für sie ist. Und das ist, glaube ich, auch der Grund dafür, dass Sabrina sich von ihrem Taschengeld ein neues Türschloss gekauft und sie aus dem bis dahin gemeinsamen Zimmer verbannt hat. (Ich habe Darcy aufgenommen – daher Timothée Chalamets Mona-Lisa-Effekt-Augen und die bevorstehende Tollwut.)

»Oh mein Gott.« Darcy verdreht die Augen. »Chill mal, Mallory.«

»Ja, Mallory. Zieh mal den Stock aus deinem Arsch.«

Ach ja: Diese beiden undankbaren Menschen kommen bloß dann miteinander aus, wenn sie sich gegen mich verschwören. Mom sagt, das sei die Pubertät. Ich habe eher die Theorie, dass sie von Dämonen besessen sind, aber wer weiß das schon. Was ich ganz sicher weiß, ist, dass Flehen, Weinen oder sogar logische Argumente bei ihnen keine effektiven Methoden sind. Sobald man Schwäche zeigt, wird das ausgenutzt und endet immer damit, dass ich dazu erpresst werde, ihnen lächerliche Sachen zu kaufen, zum Beispiel Ed-Sheeran-Seitenschläferkissen oder Highschool-Abschluss-Hüte für Meerschweinchen. Mein Motto ist: Herrschaft durch Angst. Und: Verhandle niemals mit diesen hormonell instabilen, anarchistischen, blutrünstigen Haien.

Großer Gott, ich liebe sie so sehr, dass ich heulen könnte!

»Mom schläft noch«, zische ich. »Ich schwöre, wenn ihr nicht still seid, schreibe ich euch mit Edding Penisatem und Pimmelgesicht auf die Stirn und schicke euch damit raus in die Welt.«

»Das solltest du dir besser noch mal überlegen«, merkt Darcy an und wedelt mit der Zahnbürste in meine Richtung, »sonst hetzen wir dir das Jugendamt auf den Hals.«

Sabrina nickt. »Vielleicht sogar die Polizei.«

»Kann sie sich die Anwaltskosten leisten?«

»Auf keinen Fall. Viel Glück mit deinem überarbeiteten, unterbezahlten, vom Gericht bereitgestellten Strafverteidiger, Mal!«

Ich lehne mich gegen den Türrahmen. »Ach, auf einmal seid ihr euch einig.«

»Wir waren uns schon immer einig darin, dass Darcy Penisatem hat.«

»Nein, habe ich nicht. Du bist ein Pimmelgesicht.«

»Wenn ihr Mom weckt«, drohe ich, »spüle ich euch beide die Toilette runter.«

»Ich bin wach! Kein Grund, die Rohre zu verstopfen, Liebling.« Ich drehe mich um.

Mom kommt auf zittrigen Beinen den Flur entlang, und mein Magen zieht sich zusammen. Morgens ist es seit dem vergangenen Monat für sie besonders schlimm. Eigentlich bereits den ganzen Sommer lang. Ich schaue mich wieder zu Sabrina und Darcy um, die zumindest den Anstand haben, zerknirscht auszusehen.

»Wo ich schon einmal so früh wach bin, kann ich bitte eine Umarmung von meinen liebsten Drillingen bekommen?«

Mom scherzt gern darüber, dass meine Schwestern und ich mit unseren weißblonden Haaren, tiefblauen Augen und rosigen ovalen Gesichtern einander sehr ähnlich sehen. Vielleicht hat Darcy alle Sommersprossen, und Sabrina hat die VSCO-Ästhetik vollkommen verinnerlicht, und ich … Wenn es nicht so viele Boho-Outfits für fünf Dollar im Secondhandladen gäbe, würde ich nicht aussehen wie ein Alexis-Rose-Verschnitt. Dennoch lässt sich nicht leugnen, dass die drei Greenleaf-Mädchen miteinander verwandt sind – und nicht viel von Mom haben, denn die hat schwarze Haare, die zwar mittlerweile grau werden, und einen olivfarbenen Teint. Falls es sie stört, dass wir so viel Ähnlichkeit mit Dad haben, hat sie es zumindest nie erwähnt.

»Warum seid ihr schon auf?«, fragt sie an Darcys Stirn, ehe sie zu Sabrina geht. »Habt ihr Training?«

Sabrina versteift sich. »Meins fängt erst nächste Woche an. Oder besser gesagt fange ich gar nicht an, wenn mich nicht jemand beim Roller-Derby-Verband anmeldet. Die Frist läuft am Freitag ab …«

»Bis dahin zahle ich die Gebühr«, beruhige ich sie.

Sie wirft mir einen skeptischen, misstrauischen Blick zu. Als hätte ich ihr mit meinem armseligen Mechanikerinnengehalt bereits zu oft das Herz gebrochen. »Wieso kannst du nicht jetzt gleich zahlen?«

»Weil es mir Spaß macht, dich zu quälen.« Und weil ich ein paar zusätzliche Schichten übernehmen muss, um es mir leisten zu können.

Ihre Augen verengen sich. »Du hast nicht genug Geld, oder?«

Mein Herz setzt einen Schlag aus. »Doch, natürlich.«

»Denn ich bin so gut wie erwachsen. Und McKenzie arbeitet in diesem Frozen-Yoghurt-Laden, also könnte ich sie fragen …«

»Du bist keine Erwachsene.« Der Gedanke, dass Sabrina Geldsorgen hat, bereitet mir körperliche Schmerzen. »Tatsächlich geht das Gerücht um, du seist ein Pimmelgesicht.«

»Da wir gerade davon sprechen, was wir erledigen müssen«, wirft Darcy mit dem Mund voller Zahnpasta ein. »Goliath ist immer noch einsam und deprimiert und braucht eine Freundin.«

»Mmm.« Kurz gehe ich in Gedanken durch, wie viele kleine Nervensägen zwei Goliaths wohl produzieren könnten. Igitt. »Übrigens hat Easton freundlicherweise angeboten, euch zwei nächste Woche zum Camp zu fahren. Und ich werde euch nicht darum bitten, nett zu sein oder normal oder auch nur halbwegs höflich, weil es mir genauso viel Spaß macht, sie zu quälen. Gern geschehen.«

Ich trete aus dem Badezimmer und schließe die Tür hinter mir, wobei mir nicht entgeht, dass meine Schwestern große Augen machen und einen Blick wechseln. Sie lieben Easton heiß und innig.

»Du siehst heute gut aus«, sagt Mom in der Küche zu mir.

»Danke.« Ich zeige ihr meine Zähne. »Ich habe Zahnseide benutzt.«

»Grandios. Hast du auch geduscht?«

»Hey, mach mal halblang. Ich bin keine Fashion-Influencerin.«

Sie lacht. »Du trägst nicht deinen Jumpsuit.«

»Die Dinger heißen Overalls – aber danke, dass du so ein schickes Wort dafür verwendest.« Ich schaue auf mein weißes T-Shirt hinab, das ich in einen knallgelben bestickten Rock gesteckt habe. »Ich arbeite heute nicht in der Werkstatt.«

»Hast du ein Date? Ist ’ne Weile her.«

»Nein. Ich habe Easton versprochen, dass ich …« Ich halte inne.

Mom ist klasse. Der netteste, geduldigste Mensch, den ich kenne. Es würde ihr wahrscheinlich nichts ausmachen, wenn ich ihr erzählen würde, dass ich an einem Schachturnier teilnehme. Aber sie benutzt heute einen Gehstock. Ihre Gelenke wirken geschwollen und entzündet. Und ich habe das Sch-Wort schon drei Jahre nicht mehr in den Mund genommen. Warum sollte ich jetzt wieder damit anfangen?

»Sie zieht in zwei Wochen nach Boulder, also hängen wir heute zusammen in New York ab.«

Ihre Miene wird finster. »Ich wünschte, du würdest noch mal darüber nachdenken, ob du nicht doch aufs College willst …«

»Mom«, jammere ich so gequält wie möglich.

Nach vielen erfolglosen Versuchen habe ich endlich den besten Weg gefunden, Mom davon abzuhalten, mich zu nerven: Ich muss so tun, als hätte ich überhaupt keine Lust, aufs College zu gehen, und als wäre ich jedes Mal, wenn sie das Thema anschneidet, fürchterlich verletzt, weil sie meine Lebensentscheidungen nicht respektiert. Es entspricht zwar nicht der Wahrheit, und ich lüge sie nicht gern an, aber es ist nur zu ihrem Besten. Ich will nicht, dass irgendjemand aus meiner Familie glaubt, er sei mir etwas schuldig oder müsse sich wegen meiner Entscheidungen schlecht fühlen. Sie sollte keine Schuldgefühle haben, da es nicht ihre Schuld ist.

Es ist ganz allein meine.

»Stimmt. Ja, tut mir leid. Nun, es ist schön, dass du dich mit Easton triffst.«

»Findest du?«

»Natürlich. Ihr seid jung und tut all die Dinge, die Achtzehnjährige tun sollten.« Sie wirft mir einen wehmütigen Blick zu. »Ich bin einfach froh, dass du dir einen Tag freinimmst – du weißt schon, YALO und so weiter.«

»Es heißt YOLO, Mom.«

»Bist du dir sicher?«

Ich lache, greife nach meiner Tasche und küsse sie auf die Wange. »Heute Abend bin ich wieder zurück. Kommst du allein mit deinen beiden undankbaren Töchtern klar? Ich habe drei Optionen zum Essen in den Kühlschrank gestellt. Übrigens war Sabrina letzte Woche meganervig, also wenn McKenzie oder eine andere Freundin sie zu sich einlädt, verbiete es ihr.«

Mom seufzt. »Du weißt, dass du auch mein Kind bist, oder? Du solltest dich nicht aufführen wie ein Elternteil.«

»Hey!« Ich runzele scherzhaft die Stirn. »Mache ich meine Sache etwa nicht gut? Soll ich den Nervensägen noch mehr verschreibungspflichtiges Benadryl ins Frühstück mischen?«

Ich will, dass Mom noch einmal lacht, doch sie schüttelt bloß den Kopf. »Es gefällt mir nicht, dass ich überrascht bin, wenn du dir einen Tag lang Zeit für dich nimmst. Oder dass Sabrina dich anspricht, wenn sie Geld braucht. Das ist nicht …«

»Mom. Mom.« Ich lächele so ernst, wie ich kann. »Ich versichere dir, dass es in Ordnung ist.«

Das ist es aber wahrscheinlich nicht. In Ordnung, meine ich.

Es ist sogar alles andere als in Ordnung, dass alle Familienmitglieder den Wikipedia-Artikel über rheumatoide Arthritis auswendig kennen. Dass wir anhand der Fältchen um Moms Mund erkennen können, ob es ein schlechter Tag werden wird. Dass ich Darcy letztes Jahr erklären musste, chronisch hieße für immer. Unheilbar. Es würde nie weggehen.

Mom hat einen Master in Biologie und schreibt medizinische Texte – verdammt gute sogar. Sie hat Material für Studierende der Medizin angefertigt, Dokumente im Auftrag der Behörde für Lebens- und Arzneimittel verfasst und Finanzierungsanträge erstellt, die ihren Kunden mehrere Millionen Dollar eingebracht haben. Doch sie ist Freelancerin. Als Dad noch da war und sie regelmäßig Projekte übernehmen konnte, war es kein großes Problem. Leider ist das heute nicht mehr möglich. An manchen Tagen sind die Schmerzen so stark, dass sie kaum aufstehen kann, ganz zu schweigen von arbeiten. Ihr fürchterlich verschachtelt formulierter Versicherungsantrag für einen Arbeitsunfähigkeitszuschuss wurde mittlerweile viermal abgelehnt. Aber wenigstens bin ich hier. Wenigstens kann ich ihr das Leben ein bisschen leichter machen.

Also vielleicht, nur vielleicht, wird es das bald doch sein. In Ordnung, meine ich.

»Ruh dich aus, okay?« Ich umfasse ihr Gesicht. Sie hat tiefe Augenringe. »Geh wieder ins Bett. Die Nervensägen kommen allein zurecht.«

Als ich das Haus verlasse, höre ich, wie Sabrina und Darcy herumnörgeln, während sie in der Küche ihre Haferflocken essen. Ich nehme mir vor, Nagellackentferner auf Vorrat zu kaufen, und als ich sehe, dass Eastons Auto um die Ecke biegt, winke ich ihr zu und jogge in Richtung Straße.

Und das ist vermutlich der Beginn vom Rest meines Lebens.

Kapitel 2

»Das Turnier wird nach dem Schweizer System gespielt. In gewisser Weise. Aber nicht wirklich.« Easton versammelt unser Team um sie herum, als wäre sie Tony Stark, der die Avengers instruiert. Doch statt passender Einzeiler verteilt sie Pins des Paterson-Schachclubs. In der ersten Etage des Fulton Market müssen dreihundert Leute versammelt sein, und ich bin offenbar die Einzige, die nicht darüber informiert wurde, dass der Dresscode business casual lautet.

Ups.

»Jeder von uns muss zu vier Spielen antreten«, fährt sie fort. »Weil es für einen guten Zweck ist und weil auch Amateure am Turnier teilnehmen dürfen, werden die Spielpartner nach ihrer eigenen Einschätzung ihrer Fähigkeiten zusammengestellt statt auf Basis der FIDE-Rankings.«

FIDE ist der Internationale Schachverband – warum die Abkürzung nicht ISV lautet, ist mir schleierhaft, aber ich vermute, dass Französisch im Spiel ist. Die Organisation hat ein kompliziertes System, zu bestimmen, wie gut die Spielerinnen und Spieler sind, und stufen sie dementsprechend ein. Man hat dann eine sogenannte Elo-Zahl. Mit sieben Jahren, als ich verrückt nach Schach war und Meerjungfrau und Großmeisterin werden wollte, wusste ich alles darüber. Mittlerweile habe ich jedoch alles Bürokratische vergessen, wahrscheinlich, um Platz für nützlichere Informationen zu schaffen – zum Beispiel für die beste Methode, Kabelklemmen zu lösen oder für den Plot der ersten drei Staffeln von How to Get Away with Murder. Ich weiß nur noch, dass man sich bei Turnieren anmelden muss, die von der FIDE gesponsert werden, wenn man eingestuft werden will. Und das habe ich natürlich seit einer Ewigkeit nicht mehr getan – weil ich seit einer Ewigkeit nicht mehr gespielt habe.

Seit vier Jahren, fünf Monaten und zwei Wochen – und nein, ich werde mich nicht dazu herablassen, auch die Tage zu zählen.

»Dann müssen wir uns also selbst einschätzen?«, fragt Zach. Er ist ein Freshman von der Montclair, ist dem Paterson-Schachclub erst beigetreten, als ich schon aufgehört hatte, und hätte nichts dagegen, Profi zu werden.

Einmal habe ich ihn auf einer Party getroffen und bin kein Fan von ihm, unter anderem wegen seiner Vorliebe dafür, in Unterhaltungen völlig ohne Zusammenhang seine Elo-Zahl (2546) zu erwähnen, wegen seiner Fähigkeit, stundenlange Monologe über seine Elo-Zahl (2546) zu halten, und wegen seinem Mangel an Verständnis dafür, dass ich nicht daran interessiert bin, ihn zu daten, trotz seiner Elo-Zahl (2546).

Aber er ist immer noch besser als unser viertes Mitglied Josh, der nicht müde wird, zu wiederholen, dass Easton ein bisschen weniger lesbisch sein würde, wenn sie nur einmal mit ihm rummachen würde.

»Da ich die Teamleaderin bin, habe ich eine Wertung für euch abgegeben«, erklärt uns Easton. »Ich habe …«

»Warum bist du die Teamleaderin?«, fragt Zach. »Ich erinnere mich nicht daran, dass wir gewählt hätten.«

»Dann bin ich eben die Team-Diktatorin«, versetzt sie.

Ich stecke mir den Pin an mein T-Shirt, um ein Schmunzeln zu verbergen.

»Mallory habe ich in die höchste Kategorie eingetragen.«

Ich lasse die Arme fallen. »Easton, ich habe kaum gespielt seit …«

»Zach ist auch in der höchsten Kategorie. Ich bin in der dritthöchsten«, fährt sie fort, ohne auf meine Einwände einzugehen. Dann schaut sie Josh an und macht eine effektvolle Pause. »Dich habe ich in die niedrigste eingetragen.«

Josh bricht in sein betont herzhaftes Goldjungen-Gelächter aus. »Aber mal im Ernst, in welche Kategorie hast du …«

Easton starrt ihn weiter ernst an, ohne mit der Wimper zu zucken.

Schließlich schaut er zu Boden.

»Kennt der Paterson-Schachclub deinen Browserverlauf?«, frage ich Easton, als wir zwei allein sind und in Richtung Saal gehen.

»Wieso?«

»Du kannst auf keinen Fall freiwillig hier sein, nicht mit diesen beiden. Also entweder ist man dir wegen den Alien-Pornos auf die Schliche gekommen oder …«

»Ich schaue keine Alien-Pornos.« Sie wirft mir einen wütenden Blick zu. »Der Leiter des Clubs hat mich gebeten, ein Team zusammenzustellen. Ich konnte nicht Nein sagen, weil er mir ein Empfehlungsschreiben fürs College ausgestellt hat. Er hat einfach die Tatsache ausgenutzt, dass ich ihm einen Gefallen schulde.« Sie drängt sich an zwei älteren Männern in Anzügen vorbei, um zum Turniersaal zu gelangen. »Genauso wie du mir deine Schwestern aufgehalst hast.«

»Das hast du verdient, nachdem du Zach und den Turm mitgebracht hast, den er sich in den Arsch geschoben hat.«

»Ah, Zach. Wenn wir doch nur wüssten, was seine Elo-Zahl ist.«

Ich lache. »Vielleicht sollten wir ihn fragen und …«

Als wir durch die Tür gehen, verliert sich meine Stimme.

Der Lärm in dem überfüllten Saal ebbt ab, und schließlich herrscht vollkommene Stille.

Leute laufen um mich herum, an mir vorbei, stoßen mich an, aber ich stehe wie angewurzelt da und kann mich nicht bewegen.

Es gibt Tische. Viele Tische, die zusammengeschoben wurden und lange parallele Reihen bilden – unzählige Reihen mit weiß-blauen Tischdecken und Plastikklappstühlen auf jeder Seite, und zwischen den beiden Stühlen …

Schachbretter.

Dutzende davon. Hunderte. Und zwar keine guten – ich kann schon vom Eingang aus sehen, dass sie alt und billig sind. Die Farbe splittert von den schlecht geschnitzten Figuren ab, die Felder sind schmutzig und verfärbt. Hässliche zusammengewürfelte Spielbretter überall um mich herum. Der Geruch im Saal ist wie eine Kindheitserinnerung aus vertrauten, einfachen Noten: Holz und Filz und Schweiß und abgestandener Kaffee, Bergamotte von Dads Aftershave, Heimat, Zugehörigkeit, Betrug, Glück und …

»Mal? Alles okay?« Easton zieht stirnrunzelnd an meinem Arm. Ich vermute, es ist nicht das erste Mal, dass sie mich gefragt hat.

»Ja. Ja, ich …« Ich schlucke, was hilft. Der Moment ist gebrochen, mein Herzschlag beruhigt sich, und ich bin wieder im Hier und Jetzt – wenn auch ein wenig aufgewühlt. Es ist nur ein Raum, in dem ich stehe. Die Schachfiguren sind nur Gegenstände. Einige davon weiß, andere schwarz. Einige können sich über beliebig viele freie Felder bewegen, andere nicht. Wen kümmert das schon? »Ich brauche was zu trinken.«

»Ich habe Crystal Light. Erdbeere.« Sie reicht mir ihre Camelbak-Flasche. »Es ist widerlich.«

»Leute«, Zach nähert sich uns von hinten, »flippt jetzt nicht aus, aber ich habe ein paar ziiiemlich große Namen entdeckt. Internationale Stars.«

Easton schnappt übertrieben nach Luft. »Harry Styles?«

»Was? Nein.«

»Malala?«

»Nein.«

»Oh mein Gott, Michelle Obama? Meinst du, sie signiert meine Pocket Constitution?«

»Nein – Rudra Lal. Maxim Alexeyev. Andreas Antonov. Yang Zhang. Berühmte Schachleute.«

»Ah.« Sie nickt. »Also normale Leute, die kein bisschen berühmt sind?«

Ich liebe es, dabei zuzusehen, wie Easton Zach verarscht, aber ich habe diese Namen tatsächlich schon einmal gehört. Ich würde sie vielleicht bei einer Gegenüberstellung nicht erkennen, doch als ich noch besessen von Schach war, habe ich ihre Spiele mithilfe von Büchern, Simulations-Software und YouTube-Tutorials studiert. Alte Erinnerungen keimen in mir auf, als würden Synapsen, die lange Zeit nicht genutzt wurden, langsam zum Leben erwachen.

Lal: flexible Eröffnungen, positionell.

Antonov: raffiniert, aber technisch.

Zhang: kalkulierend, langsam.

Alexeyev: noch jung, unbeständig.

Ich zucke mit den Schultern, um die Erinnerungen zu vertreiben, und frage: »Was machen die denn auf einem Turnier für Amateure?«

»Die Direktorin hat gute Connections in der Schachwelt – sie ist die Besitzerin eines angesehenen New Yorker Schachclubs. Außerdem bekommt das Siegerteam zwanzigtausend Dollar für eine wohltätige Organisation seiner Wahl.« Zach reibt sich die Hände wie ein Cartoon-Bösewicht. »Ich hoffe, ich muss gegen die ganz Großen antreten.«

»Du glaubst, du kannst sie besiegen?« Easton hebt skeptisch die Augenbrauen. »Sind das keine Profis?«

»Na ja, ich habe viel trainiert.« Zach streicht sich ein paar nicht existente Krümel von seinem Sakko. »Meine Elo-Zahl ist 2546«, wir verdrehen alle die Augen, »und Lal ist derzeit nicht in Form. Habt ihr gesehen, wie er vor zwei Wochen beim Ubud International gegen Sawyer verloren hat? Es war peinlich.«

»Jeder wirkt neben Sawyer peinlich«, merkt Josh an.

»Na ja, viele Leute wirken auch neben mir peinlich.«

Eastons Auge zuckt. »Willst du dich mit Sawyer vergleichen?«

»Die Leute sagen, wir haben einen ähnlichen Stil …«

Ich huste, um ein Lachen zu überspielen. »Wissen wir denn schon, gegen wen wir antreten?«

»In gewisser Weise schon.« Easton entsperrt ihr Handy und schickt jedem von uns einen Screenshot der Mail, die sie von den Organisatoren erhalten hat. »Wir wissen nicht, gegen wen wir spielen, weil es ein Teamturnier ist. Aber, Mal, du bist Spielerin eins unseres Clubs, und du wurdest Spieler eins aus dem Marshall-Schachclub zugeteilt. Reihe fünf, Spielbrett vierunddreißig. Gute Nachrichten: Du spielst weiß. Runde eins beginnt in fünf Minuten. Das Zeitlimit beträgt neunzig Minuten, dann fängt Runde zwei an. Also los.« Easton zieht an meiner Hand. »Wir wollen doch Lal nicht auf den gehörigen Arschtritt warten lassen, den er gleich bekommt, oder, Zach?«

Ich weiß nicht, ob Zach den Diss verstanden hat. Er plustert sich auf und marschiert zu seinem Spielbrett.

Ich bleibe zurück und frage mich, wie schnell das schwarze Loch aus Antimaterie, das sein Ego darstellt, das Sonnensystem verschlucken wird.

»Hör zu«, flüstert Easton, bevor wir getrennte Wege gehen, »ich habe mich in eine zu hohe Kategorie eingetragen. Wahrscheinlich werde ich in fünf Zügen plattgemacht, aber das ist okay. Dem Club war es einfach wichtig, dass wir mitmachen, und dafür habe ich gesorgt. Soll heißen, wenn du dich schnell von deinem Gegner – wer immer es auch sein mag – schlagen lässt, können wir einen Abstecher zu Dylan’s Candy Bar machen und vor Runde zwei wieder zurück sein.«

»Geht das auf dich?«

»Na schön.«

»Eins von diesen Macarons, die in einem Cookie stecken?«

»Klar.«

»Abgemacht.«

Es wird nicht schwer sein, mich besiegen zu lassen wie eine komplette Loserin, so wenig Übung, wie ich momentan habe. Ich nehme an Tisch vierunddreißig auf der weißen Seite Platz und sehe zu, wie sich die Stühle um mich herum füllen, Leute einander die Hände schütteln, sich vorstellen und miteinander plaudern, während alle auf den Start warten. Niemand schenkt mir Beachtung, also … tue ich es einfach.

Ich greife nach dem König. Nehme ihn vom Brett. Er fühlt sich leicht an – das perfekte Gewicht in meiner Hand –, und ich lächele, während ich die Ecken der Krone nachfahre.

Der dumme, nutzlose König, der für nichts gut ist. Er kann sich auf dem Spielbrett kaum fortbewegen, huscht über die Felder, um sich hinter dem Turm zu verstecken. Und er ist so leicht zu umzingeln. Er ist nicht annähernd so mächtig wie die Dame. Er ist nichts, absolut nichts ohne sein Königreich.

Mein Herz zieht sich zusammen. Wenigstens kann man sich mit ihm identifizieren.

Ich stelle den König zurück auf sein Feld und betrachte die Skyline, die die Figuren bilden – eine belanglose und doch monumentale Landschaft des Schachs. Der Anblick ist mir vertrauter als die Aussicht aus dem Fenster meines früheren Kinderzimmers (unspektakulär: ein ramponiertes Trampolin, viele streitlustige Eichhörnchen, ein Aprikosenbaum, der nie Früchte trug). Er ist mir vertrauter als mein eigenes Spiegelbild, und ich kann den Blick nicht abwenden, nicht einmal, als der Stuhl mir gegenüber über den Boden scharrt, nicht einmal, als einer der Spielleiter den Beginn der ersten Runde ausruft.

Der Tisch bewegt sich leicht, als mein Gegner Platz nimmt. Eine große Hand schiebt sich in mein Sichtfeld. Und gerade als ich mich zwingen will, aus meinen Tagträumen zu erwachen, höre ich eine tiefe Stimme.

»Marshall-Schachclub Spieler eins. Nolan Sawyer.«

Kapitel 3

Er sieht mich nicht an.

Er streckt die Hand aus, aber sein Blick ist auf das Spielbrett geheftet, und für den Bruchteil einer Sekunde begreife ich nicht, was geschieht, wo oder warum ich hier bin. Selbst mein Name ist mir entfallen.

Nein. Moment. Den weiß ich noch.

»Mallory Greenleaf«, stammele ich und ergreife seine Hand. Sie schließt meine komplett ein. Sein Händedruck ist knapp, warm und sehr, sehr fest. »PSC. Das steht für Paterson-Club. Äh, Schachclub.« Ich räuspere mich. Wow. Wahnsinnig eloquent. Sehr redegewandt. »Freut mich, dich kennenzulernen.«

Er reagiert mit einem gelogenen »Mich auch«, noch immer ohne aufzusehen. Stützt lediglich die Ellbogen auf den Tisch, während er die Figuren fixiert, als ob meine Person, mein Gesicht, meine Identität vollkommen irrelevant wären. Als ob ich nichts weiter sei als eine Verlängerung der weißen Seite des Spielbretts.

Unmöglich. Der Typ kann auf keinen Fall Nolan Sawyer sein. Zumindest nicht der Nolan Sawyer. Der berühmte. Das Sexsymbol – was auch immer das genau heißen soll. Der Mann, der vor ein paar Jahren die Nummer eins der Weltrangliste war und jetzt …

Keine Ahnung, was Nolan Sawyer derzeit so treibt, aber es ist ausgeschlossen, dass er mir gegenübersitzt. Die Leute links und rechts von uns mustern ihn wenig unauffällig, und ich will sie anschreien, dass es sich nur um einen Doppelgänger handelt. Von denen laufen jede Menge in der Gegend rum. Doppelgänger, wo man hinschaut, heutzutage.

Es würde erklären, warum er dasitzt und nichts tut. Nolan Sawyer in bizarr hat eindeutig keinen blassen Schimmer, wie man spielt, und dachte wahrscheinlich, das hier wäre ein Mah-Jongg-Turnier. Gerade fragt er sich vermutlich, wo die kleinen Plättchen sind und …

Jemand räuspert sich. Der Spieler neben mir: ein Mann mittleren Alters, der seine eigene Partie vernachlässigt, um meine zu beobachten. Er lässt den Blick vielsagend zwischen mir und meinen Schachfiguren hin und her wandern.

Die weiß sind.

Mist, ich eröffne. Was soll ich tun? Wo fange ich an? Welche Figur bewege ich zuerst?

Bauer auf e4. Bitte schön. Erledigt. Der häufigste, langweiligste …

»Meine Uhr«, murmelt Sawyer zerstreut. Sein Blick klebt an meinem Bauern.

»Wie bitte?«

»Du musst meine Uhr starten, sonst kann ich meinen Zug nicht machen.« Er klingt gelangweilt, gewürzt mit einer Prise Verärgerung.

Ich werde knallrot. Verlegen sehe ich mich um. Ich kann die blöde Uhr nicht finden, bis jemand – Sawyer – sie einen Zentimeter zu mir rüberschiebt. Sie steht direkt neben meiner linken Hand.

Großartig. Ganz toll. Dies wäre der perfekte Zeitpunkt für den Boden, sich unter mir aufzutun. Um mich zu verschlucken.

»Tut mir leid. Ähm … Ich weiß Bescheid, wegen der Uhr, meine ich, aber ich hatte vergessen, dass … Und …« Und ich denke darüber nach, mir den Bleistift da drüben ins Auge zu rammen. Ist das deiner? Kann ich mir den kurz ausleihen?

»Alles bestens.« Er macht seinen Zug. Bauer auf e5. Startet meine Uhr.

Dann bin ich wieder dran, und … verdammt, ich muss mehr als einen Zug machen. Gegen Nolan Sawyer. Das ist ungerecht. Der pure Hohn. Vielleicht den Bauern auf d4? Und nachdem er den geschlagen hat, setze ich einen anderen auf c3. Moment mal, was tue ich hier? Ich plane doch nicht etwa gerade ein … Nordisches Gambit gegen Nolan Sawyer, oder?

Das Nordische Gambit ist eine der aggressivsten Eröffnungen im Schach, höre ich Dads Stimme in meinen Ohren hallen. Innerhalb der ersten beiden Züge opferst du zwei Figuren – anschließend gehst du schnell zum Angriff über. Die meisten guten Spieler wissen, wie man sich dagegen verteidigt. Falls du diese Art der Eröffnung verwenden willst, dann brauchst du einen soliden Plan, wie es danach weitergehen soll.

Ich verschwende einen kurzen Gedanken an meinen eklatanten Mangel an geeigneten Folgezügen. Also gut. Ich könnte wirklich eine Kotztüte gebrauchen, aber stattdessen seufze ich nur und schiebe meinen Läufer resigniert mitten ins Getümmel.

Das hier ist eine Katastrophe. Jemand möge mich erlösen!

Als Nächstes mache ich fünf Züge. Und dann noch zwei weitere – bevor Sawyer beginnt, mich unter Druck zu setzen, mich mit seiner Dame und dem König zu verfolgen und ich mir vorkomme wie einer der Käfer, die sich manchmal in Goliaths Käfig verirren. Festgenagelt. Zerquetscht. Erledigt. Mein Magen zieht sich zusammen, und ich verbringe ergebnislose Minuten damit, auf das Brett zu starren, während ich nach einem Ausweg suche, den es einfach nicht gibt.

Bis sich einer auftut.

Ich benötige drei Züge und verliere dabei meinen armen angeschlagenen Läufer, aber ich schaffe es, mich aus der Fesselung zu befreien. Die Angst bei der Eröffnung verwandelt sich langsam in das vertraute, altbekannte Gefühl: Ich spiele Schach, und ich weiß, was ich tue. Nach jedem Zug drücke ich Sawyers Uhr und sehe neugierig zu ihm auf; etwas, das er kein einziges Mal tut.

Er ist nicht zu lesen. Undurchsichtig. Ich habe keine Zweifel, dass er die Partie ernst nimmt, doch er bleibt distanziert, als würde er aus weiter Entfernung spielen, aus einer Zelle hoch oben auf einem seiner Türme. Er ist anwesend, aber nicht wirklich hier. Die Bewegungen, mit denen er seine Figuren verschiebt, sind präzise, sparsam, nachdrücklich. Ich hasse es, dass mir das auffällt. Er ist größer als der Mann, der neben ihm sitzt, eine weitere Feststellung, für die ich mich hasse. Seine Schultern und Bizepse füllen das schwarze Shirt genau auf die richtige Art und Weise aus, und als er seine Ärmel hochschiebt, fällt mein Blick auf seine Unterarme, und ich bin froh, dass wir Schach spielen und nicht Armdrücken. Für diese Feststellung hasse ich mich am meisten.

Die Mallory-Hassparty erreicht gerade ihren Höhepunkt – als Sawyer seinen König setzt. Worauf ich zu sehr damit beschäftigt bin, mir in Erinnerung zu rufen, wie man richtig atmet, um mich weiter selbst zu verfluchen.

Es geht nicht darum, dass der Zug falsch wäre. Ganz und gar nicht. Um genau zu sein, handelt es sich um einen perfekten Zug. Mir ist klar, was er vorhat. Den König erneut setzen, meine Flanke öffnen, mich zwingen zu rochieren. Schach in vier oder fünf Zügen. Die Klinge an meiner Kehle, und ich wäre erledigt. Allerdings …

Allerdings glaube ich, dass es eine Möglichkeit gibt, ihn an anderer Stelle …

Wenn ich ihn zwinge …

Und er sich nicht mit der Figur zurückzieht …

Mein Herz macht einen aufgeregten Satz. Ich gebe mich nicht geschlagen. Stattdessen ziehe ich – aufgekratzt und gleichzeitig ein wenig benommen – meinen eigenen König vor, und zum ersten Mal seit … Oh mein Gott, spielen wir wirklich schon seit fünfundfünfzig Minuten? Wie ist das möglich?

Warum fühlt sich Schachspielen immer so an?

Zum ersten Mal, seit wir unsere Partie begonnen haben, erkenne ich eine Regung an Sawyer, als ich ihn ansehe. In der Art, wie er ganz leicht die Schultern bewegt und seine Finger gegen die vollen Lippen drückt, liegt der Hauch einer Ahnung, dass er endlich richtig hier ist. Dieses Spiel spielt. Mit mir.

Na ja, eigentlich gegen mich.

Ein Blinzeln, und der Augenblick ist verstrichen. Er setzt seine Dame. Schlägt meinen Läufer. Stoppt die Uhr.

Ich bewege meinen König. Schlage seinen Bauern. Stoppe die Uhr.

Dame. Uhr.

Wieder der König. Mein Mund ist trocken. Uhr.

Turm. Uhr.

Bauer. Ich schlucke. Zweimal. Uhr.

Turm schlägt Bauer. Uhr.

König.

Sawyer braucht einige Sekunden, um zu realisieren, was gerade passiert ist. Ein paar Herzschläge, um alle möglichen Szenarien durchzugehen, alle Wege, die das Spiel nehmen könnte. Das weiß ich, weil er die Hand hebt, um seine Dame zu setzen, als würde es irgendeinen Unterschied machen. Als könnte er sich noch aus meinem Angriff herauswinden. Und ich weiß es, weil ich mich räuspern muss, bevor ich sage: »Ich … Schachmatt.«

In diesem Moment hebt er zum ersten Mal den Blick, um meinem zu begegnen. Seine Augen sind dunkel und klar. Und ernst. Und sie erinnern mich an einige wichtige, lange vergessene Dinge.

Mit zwölf Jahren hat Nolan Sawyer bei einem Turnier aufgrund einer wahrscheinlich unfairen Entscheidung des Schiedsrichters den dritten Platz belegt, woraufhin er mit dem Arm sämtliche Spielfiguren vom Brett gefegt hat. Mit dreizehn wurde er beim gleichen Turnier Zweitplatzierter. Dieses Mal warf er einen ganzen Tisch um. Mit vierzehn lieferte er sich einen lauten Streit mit Antonov wegen eines Mädchens oder eines verweigerten Remis (die Gerüchte gehen auseinander); ich kann mich nicht erinnern, wie alt er damals war, aber bei einer Gelegenheit hat er einen ehemaligen Weltmeister als Scheißkerl bezeichnet, der während eines Aufwärmspiels versucht hatte, einen unerlaubten Zug zu machen.

Bei jeder dieser Vorfälle wurde Sawyer mit einer Strafe belegt. Verwarnt. Das Objekt vernichtender Kommentare in sämtlichen Schach-Medien. Und jedes Mal wurde er aufs Neue mit offenen Armen in der Schachwelt begrüßt. Und das ist der Grund: Über ein Jahrzehnt lang hat Nolan Sawyer die Geschichte des Schachspiels neu geschrieben, Standards umdefiniert, dem Sport Aufmerksamkeit eingebracht. Wo bleibt der Spaß beim Spielen, wenn man den Besten ausschließt? Und wenn sich der Beste ab und zu wie ein Idiot aufführt … nun ja, alles vergeben.

Aber nicht vergessen. Jeder in der Schachwelt weiß, dass Nolan Sawyer der Inbegriff furchtbarer, launischer, mürrischer toxischer Männlichkeit ist. Dass er der schlechteste Verlierer der Schach-Geschichte ist. In der Geschichte des Sports. In der Geschichte an sich.

Was es eventuell zu einem Problem machen könnte, dass er gerade gegen mich verloren hat.

Zum ersten Mal, seit wir die Partie eröffnet haben, bemerke ich, dass mindestens ein Dutzend Leute um uns herumstehen, die sich flüsternd miteinander unterhalten. Ich möchte sie fragen, was so interessant ist, ob ich vielleicht Nasenbluten habe, mein Hosenstall offen steht, eine Tarantel auf meinem Ohr sitzt, aber ich bin viel zu beschäftigt damit, Sawyer anzustarren. Seine Bewegungen zu verfolgen. Sicherzugehen, dass er nicht gleich die Schachuhr nach mir wirft. In der Regel lasse ich mich nicht besonders leicht einschüchtern, trotzdem hätte ich nichts dagegen, ein Schädel-Hirn-Trauma zu vermeiden, sollte er sich entscheiden, mir einen der Klappstühle über den Kopf zu ziehen.

Überraschenderweise scheint er sich jedoch damit zufriedenzugeben, mich zu mustern. Mit leicht geöffneten Lippen und wachem Blick, als würde es sich bei mir um etwas gleichzeitig Seltsames und Vertrautes und Rätselhaftes und Überlebensgroßes handeln und …

Er sieht mich an. Nachdem er mich fünfundzwanzig Züge lang ignoriert hat, sieht er mich einfach bloß an. Ruhig. Neugierig. Erstaunlicherweise nicht wütend. Auf einmal kommt mir etwas Witziges in den Sinn: Die Presse verpasst den Topspielern immer irgendwelche niedlichen Spitznamen. Der Künstler. Picasso des Schachs. Gambit-Mozart.

Und was ist Nolans Spitzname?

Kingkiller.

Der Kingkiller beugt sich vor, nur ganz leicht. Sein intensiver, ehrfurchtsvoller Gesichtsausdruck wirkt sehr viel bedrohlicher als die Vorstellung, einen Klappstuhl über den Schädel gezogen zu bekommen.

»Wer …«, beginnt er, und ich ertrage es nicht.

»Vielen Dank für die Partie«, platze ich heraus und springe auf. Obwohl ich ihm eigentlich die Hand schütteln, den Spielberichtsbogen unterschreiben und weitere drei Partien spielen sollte.

Es ist keine Schande, seine Figuren zurückzuziehen, wenn man gefesselt ist und noch eine Chance hat, sich zu befreien, hat Dad immer gesagt. Es ist keine Schande, die Grenzen des eigenen Spiels zu kennen.

Bei meiner Flucht kippt mein Stuhl nach hinten um, doch ich bleibe nicht stehen, um ihn wieder aufzurichten.

Kapitel 4

»Mal?«

»Mal.«

»Maaaaal!«

Blinzelnd schlage ich die Augen auf. Darcy drückt ihre Nase gegen meine, ihre Augen leuchten im morgendlichen Licht Galápagos-Blau.

Ich gähne. »Was ist?«

»Iiih!« Sie schüttelt sich übertrieben. »Du stinkst aus dem Mund!«

»Ich … Ist alles in Ordnung?«

»Ja. Ich habe mir heute Morgen selbst Haferflocken gemacht. Wir haben kein Nutella mehr.«

Ich setze mich auf – zumindest handelt es sich um eine gewisse Annäherung an aufrechtes Sitzen – und reibe mir den Schlaf aus den Augen. »Gestern war das Glas noch halb voll …«

»Und heute ist es leer. Das nennt man Kreislauf des Lebens, Mal.«

»Ist mit Mom und Sabrina alles okay?«

»Jup. McKenzie und ihr Vater haben Sabrina abgeholt. Mom geht’s gut. Sie ist aufgestanden und dann wieder ins Bett gegangen, weil sie einen harten Morgen hatte. Aber es steht jemand für dich vor der Tür.«

»Vor der Tür …?«

Die Erinnerungen an gestern bahnen sich langsam einen Weg an die Oberfläche.

Sawyers König, der meine Dame in Schach hält. Wie ich auf dem Bürgersteig stolpere, während ich zum Zug renne. Easton eine Nachricht mit irgendeinem erfundenen Notfall schreibe, das Handy danach ausschalte. Die trostlose Landschaft, die vor den Zugfenstern zu einem Schachbrett verschwimmt. Dann der Rest des Abends – ein Veronica Mars-Marathon mit meiner Schwester, mein Kopf leer.

Ich will ja nicht angeben, doch ich bin sehr gut im Verdrängen. Das ist neben der Tatsache, dass ich mich im Restaurant immer für das richtige Gericht entscheide, mein größtes Talent. So habe ich es vor Jahren geschafft, das Schachspielen hinter mir zu lassen. Und so bringe ich es fertig, Tag für Tag zu überleben, ohne wegen aller möglichen Sachen hyperventilierend in Panik zu geraten. Entweder ich verdränge, oder ich gehe pleite, weil ich mir ständig Inhalatoren kaufen muss.

»Sag Easton, dass …«

»Das ist nicht Easton.« Darcy wird rot. »Aber du könntest sie einladen. Vielleicht heute Nachmittag …«

Nicht Easton? »Wer dann?«

»Irgendjemand.«

Ich stöhne auf. »Ich habe dir schon hundertmal gesagt, du sollst irgendwelche Vertreter christlicher Glaubensgemeinschaften …«

»… freundlich darauf hinweisen, dass die ewige Erlösung für uns nicht mehr zu erreichen ist, weiß ich doch, aber das ist keine von denen. Die Frau hat nach dir gefragt, nicht nach dem Familienoberhaupt.«

»Okay.« Ich kratze mich an der Stirn. »Okay … Sag ihr, ich bin gleich da.«