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Ein weiteres düsteres Kapitel des Zweiten Weltkriegs wird in diesem Tatsachenroman von Will Berthold in den Fokus gerückt: Die SS-Sondereinheit Dirlewanger bestand aus Mördern, Zuhältern, Dieben und Vorbestraften aller Art, die nicht nur Angst und Schrecken verbreiteten, sondern Kriegsverbrechen in großem Ausmaß begingen. Ihr namensgebender Befehlshaber hatte eine ähnlich dunkle Vergangenheit wie seine Truppe. Nur Paul Vonwegh wagte es, sich gegen ihn und seine Brigade aufzulehnen...-
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Seitenzahl: 392
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Will Berthold
Saga
Brigade Dirlewanger - TatsachenromanCoverbild / Illustration: Shutterstock Copyright © 1961, 2020 Will Berthold und SAGA Egmont All rights reserved ISBN: 9788726444704
1. Ebook-Auflage, 2020
Format: EPUB 2.0
Dieses Buch ist urheberrechtlich geschützt. Kopieren für gewerbliche und öffentliche Zwecke ist nur mit Zustimmung von SAGA Egmont gestattet.
SAGA Egmont www.saga-books.com und Lindhardt og Ringhof www.lrforlag.dk
– a part of Egmont www.egmont.com
Die Baracken ducken sich stumm in der Kälte. Auf den Dächern liegt ein Meter Schnee. Die Gegend wirkt endlos und verlassen. Gottverlassen. Durch das Waldlager geistert die Unruhe. Es ist Februar 1943, und das Hauptquartier des Sonderkommandos Dirlewanger liegt in Lahuisk bei Minsk. Die B(ewährungs)-Soldaten sind gerade dabei, sich im Mittelabschnitt der Ostfront bei Freund und Feind einen eindeutigen Ruf zu erwerben.
Die Baracke links ist trostlos, wenn auch geheizt. Der Stubenälteste hat Urlaub vom Fallbeil. Er heißt Petrat, stammt aus Ostpreußen und ist von Beruf Dirnenmörder. Als schwerster Junge der Baracke wurde er zugleich zum beliebtesten B-Soldaten des ersten Zugs. Bei Vorgesetzten bloß. Petrat ist verschlagen wie ein Fuchs und gefährlich wie eine Sandviper. Er betrachtet mit tückischen Augen Kordt, den Jüngsten. Der verkrachte Student schiebt ihm gleich freiwillig seinen Schnaps zu.
Petrat nickt und grunzt.
»Und wo bleib’ ich, Doktor?« fragt Kortetzky, der Gorilla.
»Das nächste Mal«, erwidert der kleine Kordt erschrocken.
»Merk’ ich mir, Doktor«, brummelt der Gorilla verärgert, »verlaß dich drauf . . .«.
Mit seiner fliehenden Stirn, den wulstigen Lippen, dem zu wuchtigen Kinn und den winzigen Augen wirkt Kortetzky tatsächlich wie ein Menschenaffe. Dabei gilt er als harmlos, fast gutmütig. Mit acht Jahren Zuchthaus wegen Einbruchs im Rückfall steht er auch in der Rangliste des Dirlewanger-Haufens ganz hinten.
Die Männer tragen SS-Uniform ohne Kragenspiegel, ohne Rangabzeichen, ohne Schulterstücke, selbst ohne das Emblem des Totenkopfes. Ihre Verpflegung ist erbärmlich. Die Klamotten auf dem Leib sind kaum mehr als Lumpen. Ihr Ersatztruppenteil ist das Zuchthaus. Drei an einem Tisch haben zusammen mindestens zwanzig Jahre Knast hinter sich, und das ist erst die Hälfte. Der Rest wurde zur Bewährung ausgesetzt. Viele sehnen sich nach der Strafanstalt zurück. Jeder Einsatz bedeutet Mord, jede Weigerung, an ihm teilzunehmen, Selbstmord …
»Such dir’s aus«, sagt Kirchwein, der Epileptiker. Er ist blaß und mickrig. Jeder weiß, daß er längst auf der Abschußliste steht. Fast vor jedem Einsatz bricht er zusammen, Schaum vor dem Mund, Verrenkungen in den Gliedern. Die Chefs werten die Anfälle als Feigheit vor dem Feind.
»Weiß nicht, was ihr wollt«, lacht der Stubenälteste Petrat, »ist doch prima, so ’ne Aktion . . . was zum Saufen, was zum Fressen . . .«
»Wenn uns die Partisanen erwischen, legen sie uns um«, erwidert Kordt.
»Wär’ schade um dich, Doktor . . .« Der Gorilla klopft ihm derb auf die Schulter.
Links von ihm sitzt Fleischmann, vor ein paar Wochen noch SS-Hauptsturmführer, jetzt degradiert zum Schützen Arsch, etwas mit Frauen, Zigeunerinnen oder Jüdinnen, munkelt man. Aumeier, der bullige Oberbayer, liegt schon auf dem Strohsack. Er hat leicht schlafen. Als bestrafter Schwarzschlächter hat er hier eine Lebensversicherung als Metzger; solange kein Rivale auftaucht, gehört er zum persönlichen Troß des Sturmbannführers und weiß damit am Morgen, daß er den Abend überlebt. Bis auf weiteres.
»Auf jedem Baum ein sibirischer Scharfschütze», sagt Kordt, »wie wir da vorbeikommen . . .«
»Die Hälfte wird draufgehen«, stellt der Gorilla sachlich fest.
Kirchwein betrachtet ihn starr. Sein Gesicht wird grün. Einen Moment fürchten die anderen, daß der nächste Epilepsieanfall kommt.
»Und für was«, ruft der kleine, rundliche Müller plötzlich, »für was verrecken wir?« Er springt auf. »Damit der . . .«, er deutet über die Schulter, Richtung Schloß, »weitersäuft und rumhurt!«
»Halt’s Maul!« versetzt Petrat.
Er müßte den Mann melden. Aber das verstößt gegen den Kodex der Kriminellen. Was er nicht macht, besorgt ein anderer. Jeder gegen jeden, oft weniger aus Gemeinheit als aus Selbsterhaltungstrieb. Horchgeräte nennt man die Spione Dirlewangers.
»Wir können ja verrecken . . . und er hockt hinten bei seinem Harem!« Der kleine Mann – früher Buchhalter einer Metallfabrik, Familienvater, Pferdewetten, Griff in die Kasse, hunderttausend Mark, vier Jahre Gefängnis – wird mit der Erregung nicht fertig. »Aber dieser Krieg geht zu Ende«, schreit er, »das sag’ ich euch . . . Und dann hängen die diesen Dirlewanger auf! So hoch sie können!«
Keiner sagt ein Wort, jeder betrachtet den anderen. Wer wird den rundlichen Müller denunzieren? Wer wird ihn ausliefern? Wenn es keiner tut, sind sie alle dran, falls es doch herauskommt.
»Glaubt ihr das nicht?« brüllt der aufgebrachte Müller zitternd vor Zorn in die entsetzte Runde hinein.
»Ich schon«, entgegnet der junge Kordt.
»Halten Sie den Mund!« erwidert der drahtige Paul Vonwegh aus dem Hintergrund.
Alle anderen starren den mittelgroßen Mann mit dem straffen, männlichen Gesicht an, der die Lumpen wie ein Herr trägt. Sie hassen ihn, weil sie den Außenseiter wittern. Den vornehmen Hund. Den feinen Pinkel. Einen, der sich einbildet, etwas Besseres zu sein.
Er schweigt, spricht nie ein unnötiges Wort, sagt zu keinem du, zeigt keinen Hunger, und wenn sie alle vor Kohldampf wahnsinnig werden. Er wirkt nicht dreckig, wenn es keine Seife gibt. Er wird nie müde von der Schleiferei, und er hat keine Angst vor dem Einsatz. Dieser Paul Vonwegh wird nie von den Gruppenführern zur Minna gemacht, obwohl er nicht katzbuckelt. Er ist erst ein paar Wochen da, aber sie alle haben von ihm die Schnauze voll, weil sie unbewußt spüren, daß sie ihm heimlich folgen.
»Dich Hund leg’ ich eines Tages um«, knurrt Petrat, der Lustmörder.
Der Gorilla nickt tiefsinnig. Seine Stecknadelaugen sind schon glasig.
Ein Pfiff! Licht aus, heißt das. Sie pferchen sich auf ihrem Strohlager zusammen. Draußen heult der Wind. Es klingt schaurig. Sie liegen da und rechnen sich ihre Chance aus: Kommen sie morgen durch, werden sie übermorgen fallen. Und überleben sie den Einsatz, dann genügt ein Wink Dirlewangers, um sie auszulöschen. Weil sie schlecht rasiert sind, weil der Stahlhelm schräg sitzt, weil das ausgeleierte russische Maxim-MG mit der uralten Wasserkühlung eine Rostnarbe zeigt, weil einer dieser Folterknechte zu viel Schnaps oder zu wenig Weiber hatte, weil man einen Furz ließ oder eine alte Russin nicht umlegen konnte. Kein Grund ist zu nichtig, kein Zufall zu ausgefallen.
Paul Vonwegh liegt schlaflos auf seiner Matte und starrt angestrengt ins Dunkel. Wer hat den kleinen Weber verpfiffen, der gestern gehängt wurde? Wer ist das Schwein, das sie alle gefährdet? Wer verläßt jetzt die Baracke und schleicht sich zu Dirlewangers Trabanten?
Sie haben den ganzen Tag Holz gehackt. Dann gab’s Graupensuppe. Dann in den leeren Magen Schnaps, den er wegschüttete. Er wollte ihn nicht trinken, die anderen sollten ihn nicht haben. Die Dirlewangers leisten keinen Eid und erhalten keinen Sold. Nur Schnaps, zwecks Anfeuerung. Der Mann auf der Strohmatte stemmt sich gewaltsam gegen die Ermüdung. Nicht einschlafen, befiehlt er sich! Ich muß den Kerl feststellen, bevor er uns alle der Reihe nach ans Messer liefert . . .
Als in den Mannschaftsbaracken die Lichter ausgingen, zündete man in Dirlewangers Hauptquartier im Schloß die Kerzen an. Sie stecken in massiven Silberleuchtern, Raubgut aus einer polnischen Kirche. Fünfzehn geladene Gäste sitzen um den ovalen Tisch herum, Günstlinge der eigenen Einheit oder Kumpane aus der Etappe Kiew, wohin Dirlewanger mit seinem Fieseler Storch fliegt, so oft ihn die Langeweile überkommt.
Davor steht Tag und Nacht die Leibwache. Ein Führer und sechs Mann. Burggendarmen nennt man die Posten, die Dirlewanger weniger gegen die Partisanen aufstellte als zum Schutz gegen seine eigenen Leute. Denn er hat Phantasie genug, sich auszurechnen, wie sie ihn hassen.
Sturmbannführer Dirlewanger sitzt am Kopfende der Tafel, halb zusammengesunken und ganz zusammengetrunken. Wie immer. Manche seiner Leute haben ihn in Monaten nicht einmal nüchtern gesehen. Oberscharführer Weise, seine rechte Hand, betrachtet ihn abschätzend. Der Chef hat schlechte Laune, denkt er, höchste Zeit, etwas dagegen zu tun.
Er steht auf, tritt an das Grammophon heran, legt die Lieblingsplatte auf. Er gibt den Gästen ein Zeichen. Das Gespräch flaut ab. Und dann dröhnt breit und voll das Lied in den Raum: »Alle Tage ist kein Sonntag . . .«.
Die Rechnung des Oberscharführers Weise geht auf. Dirlewanger hört fasziniert zu. Der Ausdruck, den seine Raubvogelvisage vor Rührung annimmt, macht sie noch schrecklicher. Er klopft ans Glas. »Meine Herren«, sagte er, »ich darf Ihnen zum Dessert eine besondere Überraschung ankündigen.« Er zwinkert mit den Augen. Wer ihn kennt, weiß, was das bedeutet.
Es gilt selbst in Kreisen der SS-Führer als unfein, mit Dirlewanger zu verkehren. Gauleiter Kube in Kiew, ein nicht gerade zimperlicher Ost-Besatzer, mobilisiert alle Verbindungen, um Dirlewanger aus seinem Revier zu vertreiben. Alfred Rosenberg interveniert fast jeden Monat im Reichssicherheitshauptamt bei Obergruppenführer Gottlob Berger. Dieser ist der Erfinder Dirlewangers und eigentlich der einzige, der voll zu ihm steht. »Der Mann hat nur ’nen sittlichen Knacks«, argumentiert Berger wörtlich, »er ist der letzte Landsknecht . . . womit ich Georg von Frundsberg nicht beleidigen will.«
Immer, wenn man Dirlewanger für seine Greueltaten stellen will, präsentiert man in der Prinz-Albrecht-Straße einen Erfolgsbericht: Tausend Personen liquidiert, drei Dörfer niedergebrannt, zweitausend russische Fremdarbeiter nach Deutschland verschleppt, Planquadrat XYZ von Partisanen restlos gesäubert.
Und Oskar Dirlewanger erhält Aufschub und Orden . . .
Wer ist dieser Mann, dessen Verbrechen Kommandanten von Vernichtungs-KZs und Leiter von Einsatzgruppen in den Schatten stellen? Gegen den die Partei, die Wehrmacht und selbst die SS Sturm laufen? Den das RSHA als notwendiges Übel erachtet, das russische Land durch Terror niederzuhalten?
Als Oberleutnant der Reserve aus dem ersten Weltkrieg zurückgekehrt, schloß er sich einem Freikorps an und ging mit einem selbstgebastelten Panzerzug gegen die Roten vor. Aus dieser Zeit stammt die Freundschaft mit Gottlob Berger. Dann studierte Dirlewanger Volkswirtschaft und promovierte zum Dr. rer. pol. Er fand keine richtige Arbeit und wurde »Alter Kämpfer«. Zur Belohnung avancierte er 1933 zum Direktor des Arbeitsamts Heilbronn. Er verkrachte sich mit dem dortigen Kreisleiter und beschuldigte ihn der Unterschlagung von Geldern der Winterhilfe.
Mittlerweile aber saß Dirlewanger selbst auf der Anklagebank wegen eines Notzuchtverbrechens, verübt an einer Fünfzehnjährigen. Der Vorsitzende, auch ein Nationalsozialist, schickte ihn dafür zweieinhalb Jahre ins Zuchthaus. Die braune Karriere Dirlewangers schien beendet.
Aber Gottlob Berger ließ den Mann mit dem »sittlichen Knacks« nicht aus den Augen, schickte ihn zur Legion Condor nach Spanien, betrieb ein fadenscheiniges Wiederaufnahmeverfahren, das den Freund unter Druck wegen Mangels an Beweisen freisprach. Es genügte, um Dirlewanger, wenn auch in bescheidener Stellung, wieder in den Orden der SS aufzunehmen.
Im Rahmen des Partisanenkriegs bringt Gönner Berger seinen Kumpanen wieder ins Geschäft. Im KZ Oranienburg wird ein Kommando von hundertachtzig Wilddieben zusammengestellt, die das RSHA in seiner Wildwest-Mentalität für kundige Waldgänger hält. Dirlewanger »bewährt« sich blendend, rottet die ersten Dörfer aus und verheizt seine Wilddiebe fast bis zum letzten Mann. Sein Vorschlag, die B-Soldaten künftig aus Berufsverbrechern zu rekrutieren, wird angenommen. Damit ernennt man erstmals in der Geschichte eine Verbrecherbande zur regulären Soldateneinheit. Unter Führung eines Kriminellen. Aus einem geborenen Verbrecher wird ein lizenzierter Mörder, den man aus Gründen der Disziplin mit eigener Gerichtsbarkeit »ohne Papierkrieg« ausstattet.
»Wo sind die Mädchen?« fragt Dirlewanger jetzt.
»Gleich«, entgegnet Weise. Er kaut die Worte vor: »Eine unangenehme Sache, Sturmbannführer . . .«
»Und?«
»Aumeier hat sich an einer Rotkreuzschwester vergriffen . . . in Kiew, wo er organisieren sollte . . .«.
»Der schon wieder . . . Dem Hammel zieh’ ich die Beine lang!«
»Befehl vom Reichsführer SS«, antwortet der Adjutant, »er ist zu erschießen . . .«
»Quatsch!« erwidert Dirlewanger. Die Hand, die nach dem Schnapsglas greift, zittert leicht.
»Vollzugsmeldung binnen achtundvierzig Stunden . . . Morgen läuft die Frist ab . . . Wir müssen ihn umlegen.«
»Und dann verhungern, was?« brummelt Dirlewanger. »Der Mann bleibt so lange am Leben, bis Sie Ersatz für ihn gefunden haben, klar?«
»Jawohl, Sturmbannführer.«
»Dann machen Sie sich gefälligst auf die Socken, morgen . . . Suchen Sie mir einen neuen Fleischer . . .« Dann lächelt er.
Weise sieht ihn bedeutungsvoll an. Drei blutjunge Russenmädchen, heute morgen aus einem angeblichen Partisanenhaus verschleppt, servieren mit gehetzten, verängstigten Gesichtern Buttercremetorte und Likör.
Der Gastgeber steht auf und sagt mit großartiger Geste zu seinen Gästen: »Bitte, meine Herren, greifen Sie zu.«
Minuten später hören Burggendarmen vor dem Schloß die schrillen Schreie der drei Russenmädchen.
Mitten in der Nacht fährt der B-Soldat Paul Vonwegh erschrokken hoch. Zu spät. Trotz aller Anstrengung ist er eingeschlafen. Er weiß, daß der Schatten, der lautlos in die Baracke zurückhuschte, der Verräter ist. Der Mörder des kleinen Weber. Das Horchgerät des Sturmbannführers . . .
Wer? fragt sich Vonwegh immer wieder und ergebnislos. Dreißig kauern in der Stube. Jedem ist es zuzutrauen. Fast jeden können die Umstände dazu bringen. Ein Leben . . . Hinter uns das Zuchthaus, vor uns die Partisanen, über uns die Knute Dirlewangers und unter uns Wanzen, Ratten und Mörder . . .
Liebe lockte ihn in die Falle. Haß hält ihn am Leben. Er weiß nicht, wo sie ist, aber er sieht sie ständig. Er besitzt kein Bild von ihr, aber er könnte sie malen. Alles riskierte Paul Vonwegh für sie; dafür geht er jetzt vor die Hunde.
Er würde ein zweites Mal alles wagen, wenn er Karen wiedersähe. Wie lange ist das her, daß er so dachte? Einen Monat? Ein Jahr? Eine Ewigkeit? An Gefühlen ändert sich nie etwas, glaubt er, nur an den Umständen . . .
Und in dieser Stunde beginnt Paul Vonwegh wieder von vorne, passiert die Grenze und weiß, was das heißt. Nur ein Narr handelt so, ein Selbstmörder . . . oder ein Liebender. Wenn er seinen Gefühlen folgt, wagt er seinen Kopf. Seine Verfolger geben kein Pardon. Ihm bestimmt nicht.
Sprung in den Bodensee, vom Boot aus. Als der Lichtarm des Zollscheinwerfers auf ihn zukam, tauchte er unter. Zehnmal, fünfzehnmal. Die Erregung flaute ab. Das Abenteuer wurde zum Kinderspiel. Vorläufig. Er erreichte das Ufer und war wieder in der Heimat. Im Reich der perfekten Polizeimaschine, die ihn suchte; in einem Land, das ihn als Verbrecher jagte.
Die erste Station war Hannover. Hier lebte sie. Diesmal fuhr er direkt. Er sah nur Karens Bild vor sich. Sie zog ihn an wie ein Magnet. Er hatte sie Jahre nicht gesehen. Aber sie würde sich nicht verändert haben. Karen veränderte sich nie. Vonweghs kantiges Gesicht wurde weich, so oft er an sie dachte. Sie lächelte ihm zu. Helle Augen, helle Haare, hochgewachsene Figur, zarte, fast transparente Haut, Erbgut der schwedischen Mutter; dann die Sicherheit, die Geradlinigkeit, die Hartnäckigkeit, Mitgift des deutschen Vaters.
Vonwegh hatte Karen im Süden kennengelernt und sie sofort erfaßt. Nie brauchte er das Bild zu korrigieren. Sie sahen einander an, und es stimmte. Sie hatten keine Zeit zu verschwenden, und sie verloren auch keine. Karen bat Vonwegh mitzukommen. Er mußte ablehnen. Und das hieß: Trennung.
Seitdem war brutal die Walze der Zeit über die Gefühle hinweggegangen, ohne sie zertrampeln zu können.
»Hannover, Hauptbahnhof«, rief die Stimme.
Das Einwohnermeldeamt war die nächste Station.
»Karen Bäumler?« Eine mürrische Beamtin schüttelte den Kopf. Dann betrachtete sie sich den Mann genauer und suchte bereitwillig. Es dauerte zehn Minuten.
Wieder schätzte Vonwegh den Fluchtweg ab.
»Nach Berlin verzogen«, sagte die Beamtin dann, »heißt jetzt Maybach.«
»Wieso?« fragte er betroffen.
»Verheiratet«, erwiderte die Frau.
Berlin. »Maybach« stand auf einem viel zu großen Blechschild. Es las sich kalt und fremd, unwirklich.
Was soll’s schon? Die Haustüre war offen. Vonwegh nahm die beiden Treppen langsam. Er drückte auf den Knopf, hörte Schritte. Die Scharniere müßten geölt werden, dachte er noch.
Dann stand sie vor ihm. Wie beim erstenmal. »Du?« sagte Karen.
»Ja«, erwiderte er.
Die Überraschung machte die junge Frau wortlos.
»Überrascht?« fragte er und ärgerte sich über das dumme Wort.
»Ich hab’ auf dich gewartet, Paul . . .«, erwiderte sie. Jetzt erst bat sie ihn einzutreten.
»So«, antwortete Vonwegh und verwünschte sich zum zweitenmal.
»Ich hab’ gewußt, daß du kommst.«
»Es ist meine Schuld, Karen«, erwiderte er.
Sie lächelte.
Jetzt sah er sie voll an. Ihre Augen waren noch immer hell, ihre Haare noch immer blond, ihr Gesicht noch immer jung und ihr Mund noch immer weich.
»Kann ich dir etwas anbieten, Paul?« fragte Karen.
Jetzt ist sie töricht, stellte Paul Vonwegh automatisch fest und spürte festen Boden unter den Füßen. »Ja, Cognac«, antwortete er. »Weißt du noch, wie wir zum erstenmal . . . damals, Karen . . . in . . .«
»Ich habe es nie vergessen können, Paul«, erwiderte sie.
»Ich auch nicht«, entgegnete er und betrachtete seine Fußspitzen. »Du hast geheiratet?« fragte er.
Karen nickte.
»Liebst du ihn?« fragte Vonwegh weiter und musterte die Einrichtung feindselig.
»Nicht so . . .«
»Wie?«
»Wie dich . . .«, versetzte sie und sah zu ihm auf.
»Versteh’ ich nicht«, antwortete Vonwegh.
»Er ist tot«, erwiderte Karen hart, »in Polen gefallen.«
Er ging auf sie zu. Sie sahen sich an. Er griff nach ihr . . .
Der Pfiff reißt Paul Vonwegh wieder in die Wirklichkeit zurück. Der Wachtraum ist zu Ende. Der Appell beginnt. Draußen fluchen die Ausbilder. Wer nicht läuft, kriegt einen Tritt in den Hintern. Irgendwo knallt’s schon wieder. Daß der Oberscharführer besoffen ist, hört ein Tauber.
»Abzählen!« brüllt er. Dann kommt er näher heran, die rechte Hand des Chefs, der Schinder Weise, der seine »Bewährung« im Salon Dirlewangers hinter sich bringt, Günstling, Zuträger und Schweinehund Nummer eins. »Halbkreis!« ruft er. »Müller!«
»Hier«, schreit der Rundliche.
»Kordt!«
»Hier«, antwortet der Student.
Der Spitzel hat sie geliefert, überlegt Vonwegh.
»Mal herhören!« brüllt Weise. »Ihr Schweine seid hier, weil euch der Führer in seiner großen Güte noch eine Chance gewährt, die ihr nicht verdient . . . Statt daß ihr dem Sturmbannführer auf den Knien dankt, daß er Gnade vor Recht ergehen läßt, hetzt ihr gegen ihn . . . Hinlegen! Ihr gehört aufgehängt! Erstochen! In den Arsch getreten! . . .«
Sie fielen um wie die Kegelkeile, in den Schnee hinein.
»Und keiner macht Meldung!« schreit Weise weiter. »Ich reiß’ euch den Arsch auf bis zum Hals! . . . Achtung!«
Sie springen wieder auf die Beine.
Sturmbannführer Dirlewanger hat befohlen, ein Exempel zu statuieren. Der Oberscharführer sieht den käsebleichen Kirchwein. »Fall nicht um, Junge«, fährt er ihn an, »sonst bleibst du liegen . . .« Er lacht grell.
Alle starren Kirchwein an. Wenn er jetzt in epileptische Krämpfe verfällt, ist er erledigt. Ein paar Sekunden kämpfen sie alle gegen einen Anfall, wie sie ihn nie hatten.
Der Adjutant drückt dem jungen Kordt seine Pistole in die Hand. »Du hast ihm zugestimmt«, sagt er, »das nächstemal bist du reif.«
Kordt steht da wie ein Gespenst.
»Los«, befiehlt der Oberscharführer, »leg ihn um!«
Der Junge begreift nicht.
»Ja, du hast schon verstanden . . . Wird’s bald?«
Kordt hält die Waffe unschlüssig in der Hand, schüttelt den Kopf.
»Ach so, das kannst du nicht . . . Humanitätsduselei und so . . . Na, prima . . . Dann gib Müller das Ding, vielleicht schafft’s er bei dir . . .«.
»Nein«, heult der Junge plötzlich.
»Siehst du, mein Sohn«, sagt Weise gönnerhaft, »also, los!«
Langsam hebt Kordt den zitternden Arm mit der Waffe und richtet sie auf den biederen, rundlichen Müller, aus dessen Gesicht ihn fünfundvierzig Jahre Leben, eine Frau, die viel mitmachte, und zwei Söhne, die trotz allem auf ihn warten, anbetteln . . .
»Ich zähl’ bis drei!« schreit der Oberscharführer. »Eins . . .«
Kortetzky, der Gorilla, starrt in stumpfsinniger Wut vor sich hin. Kirchweins Zähne klappern aufeinander. Seine Augen treten aus den Höhlen. Aber er hält durch, diesmal noch. Petrat, der Stubenälteste, fletscht die Zähne, grinst wie ein Idiot. Fleischmann wird sich gleich übergeben. Nur Vonwegh steht ruhig da, gelassen, kalt. Auf Draht gehalten von einem Haß, den ihm keiner ansieht.
Der Gorilla schlägt Müller in die Rippen. »Du Sau hast ihn verpfiffen!« quetscht er zwischen den Zähnen hervor.
»Zwei . . .«
»Nein!« brüllt Müller. Seine Stimme überschlägt sich. Er heult wie ein Tier: »Nein . . . Das dürft ihr . . .«
»Drei!« ruft Oberscharführer Weise.
»Nein!« stöhnt Müller wie im Fieber. »Bitte, nein! . . . Das darfst du nicht!« Seine Stimme steigt schrill an: »Kordt, hör doch . . . Ich bin dein Kumpel . . . dein Freund!« stößt er keuchend hervor. »Hörst du?«
»Los, Beeilung!« ruft Oberscharführer Weise überraschend unbeteiligt.
Kordt, der morden muß, um nicht selbst ermordet zu werden, kommt mit taumeligen, lahmen Schritten näher auf sein Opfer zu. Die Waffe in seiner Hand zittert wie Gras im Wind. Der Finger am Abzug schmerzt im Krampf.
»Bitte, Kordt . . . bitte . . . bitte nicht!« Müller dreht sich zu dem Oberscharführer um und sprudelt hastig, wie eine überdrehte Platte, herunter: »Ich sag’ nie mehr ein Wort . . . Ich will nie mehr trinken! . . . Der Sturmbannführer . . . ist ein feiner Kerl . . . Führ’ jeden Befehl aus . . . jeden . . . Ich . . . ich . . .«
Weise nickt Kordt, dem zögernden Jungen, zu und verlängert die Gemeinheit, holt sich gemächlich eine Zigarette aus der Tasche, zündet sie in manierierter Pose an, lächelt fahl. »Na, wird’s bald?« sagt er fast gemütlich.
»Ja . . . jawohl, Oberscharführer«, erwidert der Junge gequält. Seine Stimmbänder werden vom Grauen gequetscht. Er streckt den Arm aus, um zu zielen, aber er kann den wimmernden Kumpel, der ihm gestern noch eine Zigarette schenkte, nicht ansehen dabei. Dafür starren Müllers flehende, aus den Höhlen tretende Augen jeden an. Es ist der letzte Blick eines Verdammten . . .
»Ich . . . ich«, sagt Kordt tonlos.
»Wollen Sie den Befehl ausführen?« fragt Weise träge. »Ja oder nein?«
»Jawohl, Oberscharführer.«
»Dann würde ich Ihnen aber raten, sich dabei etwas zu beeilen«, fährt Dirlewangers Günstling im Plauderton fort. Er kommt einen Schritt auf den Jungen zu und tritt ihn unvermittelt mit der Stiefelspitze in das Gesäß.
Jetzt, denken die Umstehenden. Sie horchen. Sie stehen wie angefroren. Über ihren Rücken gruselt die Angst. In den Poren ihrer Haut spüren sie schmierig das Grauen. Es ist nichts Neues für sie. Sie haben jede Gelegenheit, sich daran zu gewöhnen.
Der russische Winter bläst ihnen frostkalte Polarluft in die Gesichter, aber es ist ihnen heiß, siedendheiß. So abgestumpft sie längst sein müssen, ein paar endlose, hundsgemeine Sekunden lang spüren sie ihr Herz wieder in den klammen Fingerspitzen.
Einige verfolgen wie unter Zwang, daß Kordt an sein Opfer bis auf drei Meter herangekommen ist, daß er wieder den Arm ausstreckt, daß über Müllers Gesicht der Irrsinn flackert, daß der Oberscharführer die Zigarette halb aufgeraucht hat, daß der Junge keinen Aufschub mehr herausschinden kann. Und sie wissen nicht, ob sie diesen Schweinehund Weise mehr hassen oder fürchten . . .
Andere Augen lernen den Boden auswendig oder starren nach oben, zum trüben, bleischweren Himmel, dessen Horizont sich irgendwo wie ein schmutziges Bettuch auf die endlose Schneewüste legt. Selbst Kortetzky, der Gorilla, senkt den Kopf. Selbst Petrat, der Frauenmörder, grinst nicht mehr. Fleischmann, der degradierte SS-Hauptsturmführer, knallt vornüber, schlägt wie ein Holzklotz auf. Keiner kümmert sich um ihn. Aber jeder hört Müllers Gewimmer und Kordts keuchenden Atem. Der Epileptiker Kirchwein stützt sich schwer auf Paul Vonwegh, von dem wieder alles spurlos abgleitet, wie Regenwasser von der Steinmauer.
In diesem Moment fällt endlich der Schuß.
Dünn, ärmlich. Der Schall bricht sich an den Barackenwänden. Es hört sich an, als ob Kordt gleich das ganze Magazin leergeschossen hätte. Müller, sein Opfer, fällt mit von sich gestreckten Armen auf den Rücken. Gott sei Dank, denken ein paar, die sich längst das Beten abgewöhnt hatten. Im ersten Impuls wirken sie alle erleichtert, fast erlöst. Alle, bis auf Kordt, den Jungen, der aussieht wie ein Kind mit einem Greisenkopf: so alt, so zerlebt, so abgestorben. Er starrt fassungslos die Pistole an. Er fuchtelt kraftlos mit ihr herum.
Oberscharführer Weise tritt an Müller heran, dessen Augen groß sind und dunkel wirken, wie die Pupillen eines mißhandelten Tieres. Nur allmählich begreift der Mann mit der Nickelbrille, daß er noch lebt, daß ihn Kordts Schuß nur an der Stirne streifte.
Ein zweites Mal will er sich nicht hinrichten lassen. Plötzlich wachsen dem Mann ungeahnte Kräfte, staut der Lebenswille Energie. Von Müllers linker Schläfe rinnt eine dünne, hellrote Blutspur über das Gesicht, über den Mund, das Kinn hinunter.
»Sie Schlumpschütze!« brüllt der Oberscharführer. »Sie Trottel! . . . Sie feiger Hund!« Weise wirft seine Zigarette im hohen Bogen weg und mustert Kordt gehässig. Er sieht die Todesangst im Gesicht des Jungen und nickt befriedigt. Das genießt er hier, jeden Tag, jede Stunde! Die Macht, ein Menschenleben zum Fliegenschicksal zu erniedrigen. In dreißig Jahren Leben hat es Weise nie zu etwas gebracht, aber jetzt liegen sie auf den Knien vor ihm und zittern, hoffen, betteln . . .
»Sie wollen die Sache wohl in Raten erledigen«, sagt Weise und lächelt schief. »Das ist Munitionsverschwendung«, brüllt er plötzlich, »Sabotage, Wehrkraftschädigung! . . . Nehmen Sie gefälligst den Gewehrkolben, Mann!«
Müller handelt. Plötzlich springt er hoch, kommt an dem fluchenden Weise vorbei, läuft dem entsetzten Kordt davon, keucht um sein Leben, trippelt, so schnell er kann. Er spürt Schmerz an der Schläfe, sieht rot vor den Augen und stolpert weiter. Seine Lungenflügel stechen wie Messer, seine Kniekehlen zittern, sein Herz klopft wild. Aber stärker als alles andere ist die Angst, die ihn vorwärtsjagt, obwohl er kaum mehr Chancen hat als ein Tier im Schlachthof, das sich im letzten Moment noch einmal losreißen konnte.
Dreißig, vierzig Meter Vorsprung gewinnt Müller.
Hinter ihm ist Kordt.
Die Männer des ersten Zuges stehen da und verfolgen die Jagd auf Leben und Tod aus schrägen Augenwinkeln. Einige sehen weg, um ja keine Regung in ihren Gesichtern aufkommen zu lassen. Sie haben sich längst daran gewöhnt, ihre Gefühle so sorgfältig zu verstecken wie ihre Brotration.
Kortetzky, der Gorilla, blinzelt Weise mit seinen kleinen Knopfaugen ergeben zu. Petrat weiß, daß er hoch in Gunst steht. Fleischmann liegt noch am Boden. Kirchwein schlottert vor Angst.
Nur Paul Nonwegh steht wieder auf Distanz. Seine Miene ist unbeteiligt, fast arrogant, als wollte sie ausdrücken: Was geht mich das an? Was habe ich damit zu tun? Wer wie ich vom Haß für den Haß lebt, kennt kein Mitleid. Wozu auch? Wer Fehler macht, ist selbst daran schuld . . .
Inzwischen hat Oberscharführer Weise sein neues Opfer gefunden. »Ach, seh’ mal einer an«, sagt er und baut sich vor dem am Boden liegenden Fleischmann auf. »Wohl noch nicht ausgeschlafen, Herr Hauptsturmführer?«
Fleischmann steht stramm.
»Schönen guten Morgen«, fährt der Oscha gefährlich leise fort. »Vortreten!« brüllt er dann.
Der Mann folgt mechanisch.
»Schiß, was?« fragt Weise lauernd.
»Jawohl, Oberscharführer«, antwortet Fleischmann beflissen.
»Erzählen Sie doch mal den anderen, was Sie ausgefressen haben.«
Der Degradierte zögert keine Sekunde: »Ich bin auf eine Luftwaffenhelferin losgegangen . . . mit der Pistole . . . Ich wollte . . .«
Weise wird es zu langweilig. Kordt und Müller fallen ihm ein. Er dreht sich um. Nichts mehr zu sehen. Gleich wird’s knallen, überlegt er, mir kommt keiner aus . . . Er wendet sich wieder seinem Haufen zu. »Kirchwein«, ruft er den Epileptiker auf, »was ist ein Offizier, der auf eine deutsche Luftwaffenhelferin mit der Pistole losgeht?«
»Ein Schwein.«
»Warum so bescheiden?«
»Eine Sau«, ruft Kirchwein, so laut er kann.
»Haben Sie gehört, was Sie sind?« fährt Weise den ehemaligen Hauptsturmführer an.
»Eine Sau«, wiederholt Fleischmann ergeben. Aus einem bulligen Herrenmenschen wurde ein beschissener Bewährungssoldat.
»Selbsterkenntnis ist der erste Weg zur Besserung«, versetzt der Oberscharführer. Er schaut wieder in die Fluchtrichtung Müllers, spuckt aus, zuckt die Schultern. »Schade . . .«, wendet er sich wieder an Fleischmann, »ich wollte Sie beim nächsten Einsatz zum Zugführer ernennen . . . Aber Sie sind mir zu schlapp . . .«
»Jawohl, Oberscharführer.«
Weise überlegt. Es gibt bei Dirlewanger keine festen Gruppenund Zugführer. Selbst die Kompaniechefs werden nur jeweils für eine Aktion ernannt. Sie bleiben gewöhnliche B-Soldaten, nur durch einen weißen Streifen am Ärmel als Unterführer für die Dauer eines Einsatzes erkennbar.
Der Oberscharführer geht ganz dicht an die Männer des ersten Zugs heran, bleibt vor Paul Vonwegh stehen. »Hm«, sagt er und starrt dem mittelgroßen, drahtigen Mann in die Augen; er bemerkt keine Angst und wundert sich flüchtig. »Ich mache einen Versuch mit Ihnen«, sagt er, »Sie übernehmen den Zug.«
Vonwegh nickt.
»Los!« befiehlt Weise. »Rücken Sie mit dem Haufen ab zur Holzarbeit . . . Muß mich jetzt um die beiden Vögel kümmern.«
Vonwegh tritt vor. Seine Stimme ist ruhig, klar, als sei sie das Kommandieren gewohnt. Der Gorilla mustert ihn tückisch. Aber Vonwegh starrt ihn nur an, und Kortetzky trottet geduckt weiter. Eine Minute später erreichen sie den Arbeitsplatz.
Der neue Zugführer sieht ihnen scharf auf die Finger, schenkt ihnen nichts. Das Soll wird erfüllt, Vonwegh läßt keinen Zweifel daran aufkommen. Weder ist er ein Streber noch ein Schinder. Aber im Gegensatz zu den anderen hat er ein Ziel, das über Essen, Trinken, einen Druckposten und am Leben bleiben hinausgeht. Haß ist das Korsett, das ihn aufrichtet, der Motor, der ihn antreibt, und die Kraft, die ihn stützt.
Paul Vonwegh verlor schon damals, in Spanien, die letzte Illusion. Er kennt seine Gegner wie ihre Opfer. Er kommt frontal nicht gegen sie an, aber er kämpft weiter, im kleinen. Er baut auf. Er kontert seine Gefühle nieder. Er verschwendet seine Energie nicht an dem rundlichen Müller oder dem schmächtigen Kordt. Viel wichtiger ist, wer die beiden denunzierte; zu klären bleibt, wer der Schuft, der Verräter ist. Wer? lautet die Lebensfrage. Wer? denkt Vonwegh, während er sie leise, aber bestimmt antreibt. Dabei sieht er mechanisch zurück, wo sich das Schicksal Müllers erfüllen muß. Aber er sieht nur eine Baracke, aus deren Schornstein dunkle Schwaden quellen, die schwarz, dreckig und schwer zu Boden sinken, wie Kains, des Brudermörders, Opferrauch . . .
Dann stöbert er Petrat auf, der sich verkrümelt hat, und tritt ihn in die Seite. Er liest des Gorillas Widerstand im Gesicht und schlägt ihm in die Fresse. Er bemerkt den Epileptiker Kirchwein, der unter der Last zusammenbricht. Aber er greift nicht zu. Hilfe ist hier bestenfalls Schwäche oder Feigheit, wenn sie nicht überhaupt als Verschwörung gewertet wird . . .
Er vergleicht Zeit und Soll. Es stimmt. Der erste Zug hat sein Kontingent bis jetzt sogar leicht übererfüllt. Vonwegh geht an seinen Leuten vorbei, sieht durch sie hindurch. Er beobachtet, wie sie den Haß verschlucken oder schon um seine Gunst betteln. Beides läßt ihn kalt. Nichts ritzt ihm die Haut. Er ist der beste Führer, den der erste Zug je hatte. Dabei ermuntert er nicht, brüllt nicht zusammen, verspricht nichts, droht nicht einmal . . .
Seit Minuten erst führt er den Zug, aber er hat die Leute schon im Griff. Er wird die Untauglichen vernichten und die anderen benutzen. Er wird sie beobachten und dann sortieren . . .
Vonwegh hört Schritte und richtet sich auf. Er sieht eine Russin, die man vorbeiführt, und ganz schnell verwandelt sich sein Gesicht. Eine Sekunde nur. Einen Atemzug lang. Die Gefangene ist noch jung. Sie wirkt kleiner als Karen, ihr Gesicht ist breiter, und ihre Haare sind dunkler. Aber etwas ist da, was sie Karen so ähnlich macht: Jede Frau ist eine Karen, denkt Vonwegh, die man wegreißt und so abführt. Jede Frau trägt ihr Gesicht, wenn das Leid es formt.
Karen . . . denkt er sehnsüchtig und sieht der Russin nach.
Damals, in Berlin, nach Jahren hielt er sie endlich im Arm. Sie sah zu ihm auf. Es war wie beim erstenmal und doch ganz anders. Sie gehörten zusammen, auch wenn die Zeit sie auseinandergerissen hatte. Seine Hand, die in den letzten Jahren nur verstanden hatte, sich um einen Gewehrkolben zu legen, streichelte Karen behutsam wie blattfeines, kostbares Porzellan.
»Ich träume . . .«, sagte sie leise.
»Ich habe Jahre geträumt . . .«, erwiderte er.
Paul ließ sie los. Nur seine Augen hielten sie fest. Sie sahen sich unverwandt an. Sie spürten plötzlich Angst. Nicht vor der Umwelt, nicht vor den Nachbarn, nicht vor der Polizeimaschine, die Vonwegh erbarmungslos jagen, stellen und vernichten würde.
Die beiden hatten nur Angst um sich selbst, Angst, daß sich etwas geändert haben könnte, daß ein falsches Wort käme, daß ihre Zärtlichkeit fremd wirkte.
»Und jetzt?« begann Karen wieder.
»Du wohnst allein hier?« fragte er.
Sie nickte.
Paul sah an ihr vorbei, betrachtete die Möbel, die ihm zuerst so feindselig erschienen waren. Was bin ich für ein Dummkopf, überlegte er. Das ist doch Karen, ihr Geschmack, ihr Wesen, ihre Art zu leben. Jedes Stück ist doch ein Teil Karens, so sicher, so fein, so fest dabei, wie sie selbst. Kein Zuviel und kein Zuwenig, schön und sachlich, schlicht und doch ein klein wenig verspielt, so daß man ihr Lächeln erkennen kann . . .
»Sind sie immer noch hinter dir her?« fragte die junge Frau unvermittelt.
»Ja.« Es klang scharf und endgültig.
Sie sah zu ihm auf. In einem hatten sie sich nie verstanden: Karen wollte nichts mit Politik zu tun haben. Dabei wehrte sie sich instinktiv gegen flatternde Fahnen und lärmende Lautsprecher. Es erschien ihr so geschmacklos, daß es sich für sie automatisch erledigt hatte. War das auch nicht unwesentlich?
Karen wollte lieben und geliebt werden.
Mehr gab es für sie nicht. Weniger wollte sie nicht haben. So begriff sie nie, was Paul in Spanien zu suchen hatte. Für was ein Krieg auch immer geführt wird, in jedem Fall erschien er Karen widerwärtig und zwecklos. Deshalb mußten ihr beide Parteien gleichgültig sein; deshalb blieb ihr auch die Paul Vonweghs fremd, ja feindlich. Weil sie ihn so sehr liebte, glaubte sie, ihn später wegen seines spanischen Abenteuers zu hassen. Aber mit der Zeit lief sich ihr Zorn an ihren Gefühlen wund, denn sie begriff allmählich: Ein Mann seines Schlages würde niemals einen Abenteurer abgeben . . . Es mußte etwas dahinterstecken, das groß, stark und schön war, das sie eifersüchtig machte, weil sie es nicht begreifen konnte.
»Ich wollte dich nur sehen«, sagte Paul leise, »einmal nur noch . . . eine Minute bloß . . . eine Frage lang . . .«
»Du hast . . . zuviel gewagt«, antwortete Karen.
»Kein Zuviel«, erwiderte er, »wenn es um uns geht . . . Sind Träume nicht schön?«
»Sollten wir uns nicht an die Wirklichkeit gewöhnen?« fragte Karen leise.
Er nickte, trat von ihr weg und sah zum Fenster hinaus. Es war schön und töricht gewesen, nach Berlin zu kommen. Töricht nicht nur wegen der Polizei, sondern wegen Karen. Denn er konnte nicht mehr erreichen als einen zweiten Abschied.
Karen stellte sich neben ihn. Sie zog ihn sanft an sich. Ihre Haare waren so hell wie ihre Augen und ihre Haut fein, ohne blaß zu wirken. »Würdest du wieder . . . nach Spanien gehen?« fragte sie leise.
»Ich . . . ich weiß nicht«, antwortete Paul stockend.
Er kann immer noch nicht lügen, dachte sie.
Sie setzten sich nebeneinander. Zwischen ihnen kauerte wieder die Befangenheit.
»Nein«, sagte Vonwegh plötzlich, »ich würde bei dir bleiben und nie mehr einen Schritt beiseite gehen.« Er wurde sofort mit dem Ausbruch fertig. »Wenn«, setzte er resigniert hinzu, »wenn ich könnte . . .«
»Und du kannst nicht?« fragte die junge Frau.
»Nein.«
»Und warum?«
»Weil ich . . . weil ich nur dich gefährden würde.«
»Kennst du mich noch?«
»Wie kannst du nur fragen?« erwiderte er sofort.
»Weil du wissen mußt, daß mir das nichts ausmacht.«
Er nahm ihre Hand. »Nein«, versetzte er unruhig.
»Du bleibst«, erwiderte Karen fast schroff.
Und dann kam der Abend. Langsam. Sie machten kein Licht. Sie ließen die Dämmerung auf sich zukommen, und sie war hell für sie und strahlend. Karen zündete eine Kerze an. Sie begannen zu reden, Pläne zu schmieden, Luftschlösser zu bauen, sie wieder einzureißen und auf ein solideres Fundament zu stellen: Erst abwarten, dann auf einem Bauernhof in Mecklenburg untertauchen, schließlich falsche Papiere besorgen und den Sprung nach Norden wagen, nach Schweden, wo Karens mütterliche Verwandte auf sie warten würden . . .
»Aber das ist heute alles unwesentlich«, sagte sie abschließend.
Die Kerze flackerte. Das feierliche Licht warf ihre Schatten übergroß an die Wand. Sie sahen lächelnd, wie es ein Schatten wurde, ein Stück, ein Guß, ein Gefühl, eine Zukunft . . .
Laut und durchdringend schlug die Glocke an. Die beiden fuhren auseinander.
Wahrscheinlich war es nur ein nebensächlicher Besucher.
Aber er zeigte Paul Vonwegh und Karen brutal, welche Zukunft sie erwartete . . .
Benommen sieht Vonwegh jetzt um sich. Er hat sich nicht von der Stelle gerührt. Aber Stimmen machen ihn sofort hellwach. Er unterscheidet sie gleich: Es sind der Frauenmörder Petrat und der Gorilla.
»Ich habe selbst gesehen«, lügt Kortetzky, »wie Vonwegh ins Schloß geschlichen ist . . . um Müller zu verpfeifen.«
»Dann ist er reif«, zischt Petrat. »Morgen . . . beim Einsatz . . .«
Der Gorilla meckert laut: »Ich lenk’ ihn ab . . . und du legst ihn um.«
»Verlaß dich drauf.«
Vonwegh wechselt unbemerkt den Standort. Es hat keinen Sinn, sich an die Vergangenheit zu verlieren, wenn die Gegenwart aus Mordabsprachen der eigenen Leute besteht.
Der kleine Kordt spürte selbst das Grauen im Nacken und jagte seinen Kumpel Müller über Stock und Stein. Es war keine Treibjagd, sondern ein Amoklauf.
Er ging quer durch Dirlewangers Hauptquartier, vorbei an geschundenen B-Soldaten, die mit einer Gasmaske durch den Schnee robbten; vorbei an der Metzgerei des Stabes, die Aumeier betreute, der heute exekutiert werden mußte, vom Reichsführer SS persönlich zum Tode verurteilt; vorbei an zwei nackten Russinnen, die im Schnee lagen und mit Wasser übergossen wurden, damit sie den Schlupfwinkel der Partisanen preisgaben; vorbei an dem Bock, auf dem man menschliche Haut zu Fetzen prügelte; vorbei an den Bunkern, die der Sturmbannführer persönlich erfunden hatte und in denen man gerade stehen konnte, tagelang, und im Verhungern dick wurde, weil die Gelenke anschwollen.
Kordt hatte Müller aus den Augen verloren.
Jetzt sieht er ihn plötzlich wieder vor sich und stürzt ihm nach. Er holt auf. Er ist der Jüngere, und die Angst frißt die letzte Hemmung. Dreißig Meter noch. Er bleibt stehen, zielt mit der 08. Aber sooft er abdrücken will, verwackelt das Ziel, und Müller springt aus der Schußlinie. Kordt sieht, wie der Verfolgte über einen Eisbrocken fällt. Jetzt, denkt er und drückt den Abzug durch, einmal, zweimal, dreimal.
Die Querschläger zischen am Schloß vorbei, wo Sturmbannführer Dirlewanger das Fenster aufreißt und seine Burggendarmen anbrüllt: »Wer ballert denn da so sinnlos durch die Gegend? . . . Los, schnappt euch die Burschen! . . . Alle beide!«
Der Sturmbannführer sieht ihnen mit kleinen, rotgeränderten Augen entgegen. Der Schnaps von gestern hatte ihm heute zunächst die Laune verdorben. Sein Waffenrock steht noch offen. Er sieht vom Tisch auf, auf dem Papiere herumliegen, darunter eine Beschwerde des Reichsleiters Rosenberg gegen die Art seiner Einsätze, eine rückwirkende Beförderung zum Obersturmbannführer und gleichzeitige Ernennung zum SS-Standartenführer. Vor zehn Minuten hatte man sie ihm ausgehändigt, und die Freude vertrieb die Nebel des Alkohols aus seinem Kopf.
Der Junge steht schwankend vor dem neuernannten Standartenführer. Er zittert wie eine Vogelscheuche im Gewitter. Müllers Gesicht ist häßlich, blutverschmiert. Sein Mund zuckt. Aber er ist ruhig auf einmal. Er hat nichts mehr zu verlieren. Für ihn ist es gleich aus. Er braucht nicht mehr um seinen Kopf zu kämpfen wie Kordt. Seine Energie weicht so plötzlich wie die Luft aus einem im Überdruck geplatzten Pneu.
»Wo kommt die Waffe her?« fährt Dirlewanger den Jungen scharf an.
»Vom . . . vom Oberscharführer . . .«
»Von welchem?« unterbricht ihn der Chef des Sonderkommandos.
»Oscha Weise . . .«
»Und warum?«
»Ich . . . ich habe den Befehl . . . ihn umzulegen . . .« Er deutet auf Müller.
»So«, antwortete Dirlewanger gereizt, »und warum lebt er dann noch?«
»Ich . . . nicht getroffen . . .«, versetzt Kordt und glaubt zu spüren, wie der Boden unter seinen Füßen nachgibt.
»Bringen Sie mir den Oberscharführer Weise«, wendet Dirlewanger sich an einen seiner Leute.
Der Standartenführer ist blaß. Seine ungesunde Gesichtshaut zieht sich wie eine dünne Schicht direkt über die Knochen. Seine Wangen wirken eingefallen, obwohl der Mann ein Schlemmerleben führt. Er ist erst siebenundvierzig, aber er sieht zehn Jahre älter aus. Seine Augen haben keine Ruhe. Ein Lid zuckt leicht.
Keiner sagt ein Wort im Raum.
Ein paar Gäste von gestern stecken vorsichtig den Kopf herein.
»Kommen Sie doch näher, meine Herren«, sagt Dirlewanger freundlich und faßt die Gelegenheit, sich zu produzieren.
In diesem Moment betritt Oberscharführer Weise den Raum. Er weiß, daß er den Zwischenfall überleben wird, falls Dirlewangers Gunst standhält. Und er zweifelt nicht daran, daß er erledigt sei, falls sie wankt . . .
»Weise . . . was ist denn das?« fährt ihn Dirlewanger an. »Sie geben diesem Kerl da eine Waffe in die Hand, und er schießt damit vor meiner Haustür herum . . . «
»Er hat aus zwei Meter Entfernung das Ziel verfehlt«, erwidert der Oberscharführer und steht stramm. »Absichtlich . . . Eine glatte Befehlsverweigerung!«
Dirlewanger zieht seinen Intimus auf die Seite.
»Das ist der Mann, der gegen Sie gehetzt hat, Standartenführer«, sagt Weise hastig.
»Ja, ich weiß«, entgegnet Dirlewanger. Seine Handbewegung setzt hinzu: Wer tut das nicht!
»Bei mir gibt es nur zwei Dinge«, erwidert der ehemalige Freikorpskämpfer, der als Altparteigenosse in Heilbronn zum Direktor des Arbeitsamts avanciert war und den Parteiverkehr mit der Reitpeitsche abgewickelt hatte. »Entweder diese Burschen werden lautlos umgelegt . . . oder öffentlich, zur Abschrekkung . . . vor dem ganzen Haufen . . .« Seine Raubvogelvisage verzieht sich zu einem Feixen.
»Jawohl, Standartenführer«, versetzt Weise ergeben.
»Erledigt«, sagt der Chef gönnerhaft. »Weise . . . ich brauche jetzt jeden Mann . . . Wir können nicht mehr so ins volle Menschenleben greifen, solange man uns keinen Ersatz schickt.«
»Jawohl, Standartenführer.«
»Gehen Sie wieder zu Ihrem Haufen zurück«, fährt Dirlewanger mit einem versöhnten Lächeln fort. Dann dreht er sich nach seinen Gästen um. »Entschuldigen Sie, meine Herren . . . Ich muß noch diese Sache in Ordnung bringen.«
Die Offiziere wollen gehen, aber Dirlewanger fordert sie auf: »Bleiben Sie doch bitte . . . Vielleicht ist es für Sie ganz interessant, mal unsere Methoden kennenzulernen . . .« Dann gießt er sich ein Wasserglas voll Wodka ein. Er mustert Kordt und Müller und schmeckt ihre Angst. »Sie trübe Tasse!« sagt er zu Kordt. Dann wendet er sich an Müller. »Und Sie haben was gegen mich?« fragt er fast belustigt.
»Nein . . . nein . . . Sturmbannführer«, antwortet Müller hastig.
»Haben Sie nicht gesagt, daß ich aufgehängt werden soll, nach dem Krieg?«
»Be . . . be . . . Ich war betrunken, Sturmbannführer.«
»Standartenführer, seit heute . . . Wieviel haben Sie getrunken?«
»Einen halben Liter Schnaps . . . Standartenführer.«
»Und vertragen tun Sie auch nichts . . .«Er nickt. »Daß Sie etwas gegen mich haben, nehm’ ich Ihnen nicht übel«, versetzt Dirlewanger, »aber daß Sie an unserem Endsieg zweifeln, das ist Verrat, Defätismus! . . . Was steht darauf?« dreht er sich zu Kordt um.
»Der Tod«, entgegnet der Junge sofort.
»Erraten«, sagt der Chef des Sonderkommandos und geht ein paar Schritte auf und ab, lächelt dabei seinen Gästen zu. »Und Sie haben dem Kerl zugestimmt? . . . Sie sind doch auch dafür, daß man mich hängt?«
»Nein, Sturmba . . . Standartenführer«, verbessert sich der Junge, wie gerädert von der Angst.
»Daß Sie mir einen Strick um den Hals legen wollen, verzeih’ ich Ihnen«, erwidert Dirlewanger launig, »aber daß Sie viermal danebenschießen, dafür gibt es kein Pardon . . . Kommen Sie, meine Herren . . .«, winkt er seinen Gästen und Günstlingen zu, »machen wir einen kleinen Spaziergang zum Appellplatz . . .«Er nimmt einen Wehrmachtsoberst beiseite und kommentiert: »Ein altes Steckenpferd von mir . . . Truppenführung, angewandte Psychologie . . . Passen Sie mal auf, wie wir solche Dinge hier erledigen.«
Der rundliche Müller folgt den Burggendarmen willig. Kordt muß erst mit einem Fußtritt zur Raison gebracht werden. Er sieht wie tot aus, als er den Stehbunker erreicht.
»So . . .«, sagt Dirlewanger, »und jetzt werden wir Ihre Wehrkraft etwas heben.« Er lacht und deutet auf Kordt. »Los, ausziehen!« fährt er ihn an.
Wenigstens nicht Erschießung, denkt der Junge und reißt sich beflissen die lumpigen Klamotten vom Körper. Alles ist besser als das, überlegt er, während sie ihn auf dem Bock anschnallen.
»Ich verurteile Sie lediglich zu fünfundzwanzig«, sagt Dirlewanger sachlich, »meine Beförderung ist Ihr Schwein . . .« Er läßt sich die Peitsche geben und reicht sie Müller. »Mal sehen, wie es mit Ihrem Mumm steht«, sagt er. »Sparen Sie mit nichts, mein Lieber.« Er lacht albern. »Stellen Sie sich vor, ich wäre das.« Er deutet auf den angeschnallten Kordt. »Wenn Sie Ihre Sache ordentlich machen«, setzt er hinzu und poliert seine Toleranz, »lasse ich noch einmal Gnade vor Recht ergehen, und Sie kommen mit Bau davon . . .«
Müller begreift. Er holt weit mit der Lederknute aus. Kordt muß laut mitzählen. Er kommt bloß bis sieben. Aber jeder im Waldlager hört das entfesselte Geschrei, spürt entfernt die Schläge auf seinem Rücken, numeriert sie, zieht den Kopf ein, fragt sich, ob der Junge die anderen achtzehn überlebt. Bei acht geht Kordts Geheul in Wimmern über. Bei vierzehn ist er bewußtlos und röchelt.
»Nur weiter so«, sagt Dirlewanger zu Müller, »bin zufrieden mit Ihnen . . . bis jetzt . . .« Er wendet sich an einen der Burggendarmen: »Schmeißt ihn hernach in den Bau . . . bis auf weiteres . . .«
Kordt wimmert wieder, und Müller holt aus, so fest er kann. Weder ist er ein Sadist, noch will er sich an dem Kumpel rächen, aber er kämpft wieder um sein Leben.
Jeder gegen jeden, das ist hier System, das bricht das Rückgrat, das macht Menschen zu Tieren.
Dabei wertet jeder im Lager es als einmaligen Glücksfall, daß Dirlewanger die beiden nicht auf der Stelle hängen ließ. Die Beförderung, denken die Männer. Befördert wird der Standartenführer nicht alle Tage, aber geprügelt, erschossen und gehängt wird hier siebenmal in der Woche . . .
Mitten in der Nacht reißt sie der Pfiff von ihren Strohlagern hoch. Alarm! Ausrücken! Rufe schwirren durcheinander. Die Vollzähligkeit wird gemeldet.
Paul Vonwegh führt den ersten Zug. Sie marschieren stundenlang. Durch Wald. Über Schneefelder. Der neue Tag bricht an. Fahl und unlustig. Irgendwo am Horizont steht eine Rauchsäule. Schwächlich bricht die Sonne durch. Der erste Zug kommt näher.
Neben dem Haus liegt eine Mutter und hält zärtlich ihr Kind im Arm. Mutter und Kind sind tot. Genickschuß. Der zweite Zug ist schon vorher durchgekommen.
Ausschwärmen nach links . Sumpf. Gefroren. Einer hinter dem anderen. Beschuß.
»Volle Deckung!« befiehlt Paul Vonwegh.
Erste Feindberührung. Scharfschützen. Sie müssen hindurch.
Paul Vonwegh steckt im Sumpf wie im Dilemma: Ist er an der Spitze, wird er von hinten umgelegt; hält er sich am Schluß seiner Lumpeneinheit auf, geht keiner nach vorne.
Weiter. Zwei Tote, ein Schwerverletzter. Paul Vonwegh weist das MG ein. Baumbeschuß.
»Da drüben sind sie!« zischt der Gorilla und deutet nach rechts, wohin sich Petrat, der Berufsmörder, verkrümelt hat, Gewehr im Anschlag, das Auge über Kimme und Korn auf den Zugführer Vonwegh gerichtet.
Paul Vonwegh springt hoch und bricht bis zur Hälfte in das Schneeloch ein. Die Kugel zischt knapp über seinen Kopf hinweg. Der nachgebende Boden hat ihm das Leben gerettet. Der Schuß kam von rechts . . .
Der Zugführer robbt ganz schnell weiter. Die Kugeln, die links und rechts von ihm in den Schnee wuchten, kommen diesmal von vorne. Vonwegh hat einen Baumstumpf erreicht, der ihn nach rechts deckt. Bevor er mit dem Glas die Bäume absucht, dreht er sich um und befiehlt Kortetzky, an seine Seite zu kommen. Er weiß, warum er den Gorilla lieber neben als hinter sich hat.
Der Mann zögert. Paul Vonwegh greift nach seiner Pistole, legt auf ihn an, in der sicheren Art eines Mannes, der ohne Lust wie ohne Hemmung gleich abdrücken wird.
So schafft Kortetzky schweratmig den Sprung durch die Visiere der sibirischen Scharfschützen. Dann duckt er sich neben den Zugführer in den Schnee. Er zittert vor Haß. Mit seinem wuchtigen Kinn, seinen tiefliegenden Augen und den verwachsenen Brauen sieht er wieder aus wie ein plumper Menschenaffe. Ein Blick Vonweghs lähmt ihn.
»Fleischmann!« ruft der Zugführer, ohne die Augen von den Baumwipfeln zu nehmen.
Der degradierte SS-Hauptsturmführer braucht länger als der Gorilla, aber auch er schafft es.
Vonwegh sieht nach rechts. Nichts zu sehen von Petrat. Er wartet darauf, daß ich hinter dem Klotz hervorkomme, überlegt er; er schießt nicht so genau wie die Partisanen, aber er hat nur fünfzig Meter Distanz.
»Stellungswechsel nach rechts!« ruft er jetzt dem Trupp mit dem alten, ausgeleierten Maxim-Maschinengewehr zu.
Es können nicht viele Partisanen sein, taxiert Paul Vonwegh. Ihre Taktik ist einfach: Sie halten uns eine Weile auf, knallen ein paar Leute ab und ziehen sich dann nach hinten zurück, bevor wir das Ziel richtig ansprechen. Sie tragen weiße Schneehemden und sind erst dann auszumachen, wenn sie zugeschlagen haben. Sie haben ein präzises Zielfernrohr, ein scharfes Auge und eine todsichere Hand.
Der Zugführer setzt das Glas ab, weil seine Augen vor Anstrengung tränen. »Zielansprache!« sagt er dann, ohne sich zu der MG-Bedienung umzudrehen. »Entfernung: Vierhundert Meter . . . zweiter Baum links . . . hochhalten! . . .« Mechanisch setzt er hinzu: »Sie feuern erst auf Befehl, verstanden?«
Seine Leute horchen auf. Ein Fachmann? fragen sie sich. Sie alle haben ihre Grundausbildung in der Unterwelt abgelegt; zwar können sie stehlen, betrügen, rauben und morden auch hier gebrauchen, aber im regulären Kampf fallen sie wie die Fliegen.