Iwans Doktor - Will Berthold - E-Book

Iwans Doktor E-Book

Will Berthold

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Beschreibung

Breslau, Mai 1945. Nach 83 Tagen kapituliert die schlesische Metropole. Die Zerstörung ist enorm, der Krieg hat allein hier vierzigtausend Menschen das Leben gekostet. Dem Versprechen des sowjetischen Generalleutnants, in der Stadt für Ordnung und Frieden zu sorgen, mag niemand so recht zu trauen. Dr. Arno Brenner, einen Rechtsanwalt, verschlägt es auf eine Dienststelle des Innenministeriums der UdSSR. Hier sorgt sein Doktortitel für einige Verwirrung. Major Soslow ordnet unmissverständlich an: "Du Doktor, Du operieren". Widerstand ist zwecklos, denn Soslow arbeitet an der Idee, mit Hilfe deutscher Ärzte ein russisches Lazarett aufzubauen. Mitgefangen, mitgehangen, heißt es ab jetzt für den verzweifelten Brenner ...-

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Will Berthold

Iwans Doktor

Roman

Saga Egmont

Iwans Doktor

Genehmigte eBook Ausgabe für Lindhardt og Ringhof Forlag A/S

Copyright © 2017 by Will Berthold Nachlass,

represented by AVA international GmbH, Germany (www.ava-international.de).

Originally published 1978 by Heyne Verlag, Germany.

All rights reserved

ISBN: 9788711727195

1. Ebook-Auflage, 2017

Format: EPUB 3.0

Dieses Buch ist urheberrechtlich geschützt. Kopieren für andere als persönliche Nutzung ist nur nach Absprache mit Lindhardt og Ringhof und Autors nicht gestattet.

SAGA Egmont www.saga-books.com und Lindhardt og Ringhof www.lrforlag.dk – a part of Egmont www.egmont.com

An der Stadt klebt der Geruch des Untergangs: Brand und Verwesung. Der Himmel ist schmutzig rot von Feuer und Rauch. Ascheteilchen tanzen durch die Luft wie Mückenschwärme im Hochsommer. Der Qualm beizt die Augen.

Hunderte von Katzen und Hunden streunen auf den Ruinenfeldern umher. Im verdämmernden Licht des Tages starren die ausgebrannten Fenster auf die leergefegten Straßen wie tote schwarze Augenhöhlen.

Die Menschen der deutschen Stadt Breslau, die monatelang einen Kampf ohne Beispiel durchgestanden haben, kauern in den Kellern, tatenlos und ergeben. Sie warten auf das Ende des Krieges, der Not, der Furcht, des Schreckens, des Sterbens.

Denn zu dieser Stunde rücken die Sowjets ein.

Arno Brenner starrt auf seine Armbanduhr. Er lehnt an der Tür des Bunkers. Er trägt eine Offiziersuniform ohne Rangabzeichen, ist mittelgroß, hat helle Augen und anliegendes sandfarbenes Haar. An seiner Oberlippe hat ein Granatsplitter eine dünne rote Narbe hinterlassen.

Brenner war Hauptmann der Reserve. Obwohl er erst vor kurzem an der Galle operiert Worden war, flüchtete er heute morgen aus dem Feldlazarett, um der russischen Gefangenschaft zu entgehen.

Er fand Unterschlupf in einem Bunker im Westteil der Stadt, den sich ein längst geflüchteter Fabrikant im Garten seiner Villa hatte erbauen lassen. Aber dieser kam nicht mehr dazu, ihn zu benutzen. Er brachte sich rechtzeitig nach Westen in Sicherheit.

Im Keller sind vierzehn Menschen: vier Männer, sieben Frauen, drei Kinder. Die Frauen machen mit Lumpen und alten Kleidungsstücken ihre Körper unförmig, entstellen die Gesichter mit Ruß, verbergen die Haare unter häßlichen, verschmutzten Kopftüchern. Eine Neunzehnjährige weint, weil sie sogar noch mit Rußflecken im Gesicht und zotteligem Haar schön ist.

Die anderen Frauen nehmen sie in ihre Mitte, als könnten sie das Mädchen dadurch vor der Gier der Eroberer schützen. Auf einer Pritsche liegt ein vierjähriger Junge mit großen blauen Augen. Er summt mit geschlossenen Lippen vor sich hin.

Im Hintergrund, auf einer Holzbank, sitzt eine kranke Greisin, deren Atem rasselt. Und in diesem Rhythmus hebt und senkt sich auf ihrer Brust der gelbe Stern, das Kennzeichen der Juden. Der Mut eines Pfarrers hat die alte Frau im letzten Augenblick vor der sicheren Vernichtung bewahrt.

Nur ein paar Meter von dem Hauptmann entfernt steht ein Bunkerinsasse, den Arno Brenner etwas genauer mustert. Ein dürrer, kleiner Mann mit einem rötlichblonden Seehundbart, dessen Enden feucht sind und ständig zittern. Seine Augen flackern, während er spricht. Und er spricht ununterbrochen.

»Glauben Sie, daß die Russen alle, die in der Partei waren, verschleppen?« Er fragt die Leute im Bunker, auch die Greisin, die links von ihm sitzt. Aber er verstummt, als er den gelben Judenstern sieht, und kaut eine Minute lang hastig an seinen Schnurrbartenden.

»Ich habe nur Beiträge kassiert.« Er sieht zu Brenner hinüber, spricht zu ihm mit gehobener Stimme: »Ich habe bestimmt nur Beiträge kassiert. Daraus kann man mir doch keinen Strick drehen.«

»Ich an Ihrer Stelle würde nicht so viel darüber reden«, antwortet Brenner unter dem zustimmenden Gemurmel der Leute im Bunker. Der Mann lächelt kläglich. Brenner lächelt nicht zurück.

Von draußen dringen vereinzelte Gewehrschüsse in den Bunker, dazwischen Feuerstöße von Maschinengewehren und das Ratsch-Bumm russischer Kanonen. Der Kampf geht los, denkt Brenner.

»Wir müssen uns bemerkbar machen«, sagt er. »Wenn wir hier warten, werfen die uns noch Handgranaten in den Bunker. Ich kann ein paar Brocken Russisch. Ich geh’ raus. Wer von den Männern macht mit?«

Brenner schwenkt den Stahlarm hinunter, der die Bunkertür verriegelt.

»Das ist ja Selbstmord«, stammelt der Seehundbart. Er ist aufgestanden. Im flackernden Schein des Talglichtes glänzt der Schweiß auf seiner Stirn.

Hauptmann Brenner fühlt sich angewidert. Wie erbärmlich ist der Kerl, denkt er.

Der Hauptmann geht hinaus. Der Seehund winselt hinter ihm her.

Sie gehen in den Garten. Das Eckhaus an der Straße brennt wie Zunder. Die Flammen schlagen aus den Fenstern wie aus riesigen Auspuffschlünden. Sie sind gelb und haben bläuliche Kränze.

»Ich heiße Düster, Gottwald Düster«, flüstert der Mann. »Ich habe wirklich nur Beiträge kassiert. Das wissen alle.«

Brenner winkt ärgerlich ab.

Düster murmelt weiter: »Kann ich mich Ihnen anschließen? Bitte, helfen Sie mir. Ich war nie Soldat. Ich weiß nicht, wie man sich in solchen Situationen verhält.«

»Dann halten Sie vor allem einmal die Schnauze hier draußen«, faucht Brenner. »Das habe ich Ihnen schon einmal geraten.« Brenner wendet sich von ihm ab. Seine Augen bleiben an dem brennenden Eckhaus haften, unverrückbar, wie gebannt.

Von dort her müssen sie kommen.

Aber sie lassen sich Zeit. Viel zuviel Zeit.

Am Morgen war Brenner durch die Straßen von Breslau geirrt, über rauchende Trümmer, über verwesende Leichen hinweg. Er hatte von der Kapitulation erfahren. Jeden Tag, jahraus, jahrein, hatte er das Ende des Krieges herbeigesehnt. Aber jetzt, da es soweit war, konnte er keine Erleichterung, geschweige denn Freude empfinden.

Er weiß: Das Los der Besiegten ist immer hart.

»Da vorn … ein paar Russen«, flüstert der Seehundbart.

Brenner hat sie schon gesehen. Drei Soldaten kommen gemächlich um eine Ecke. Brenner erkennt sie an der Form der Stahlhelme. So ist das also, denkt er, so selbstverständlich, so banal. Da kommen die Sowjets um die Ecke, als gingen sie spazieren.

Er hat sich die Besetzung, die Eroberung von Breslau viel dramatischer vorgestellt. Aber er weiß ja noch nicht, was alles kommen wird. In dieser Sekunde begreift der Hauptmann nicht, wie er jemals von der durch die Propaganda geschürten Russenpsychose angesteckt werden konnte.

»Towarischtschi!« ruft Brenner laut, als die Soldaten auf fünfzig Meter herangekommen sind. Aus den Augenwinkeln sieht er, daß dieser Düster die Arme hochgenommen hat.

Die Russen bleiben stehen. Dann gehen zwei von ihnen langsam auf den Garten zu. Der dritte im Hintergrund hat die Maschinenpistole im Anschlag.

»Nicht schießen!« ruft Brenner. »Hier im Bunker sind Frauen und Kinder.«

»Karascho!« antwortet der vorderste Russe.

Im gleichen Augenblick stürzt an der Ecke krachend der brennende Dachstuhl des Hauses ein. Im Schein des Funkenregens sieht Brenner die Russen ganz deutlich. Und jetzt erst erschrickt er. Die Rotarmisten sehen nicht aus wie Soldaten, sondern wie Bandenmitglieder. Der eine trägt einen völlig zerrissenen Uniformrock, der andere hat die Hose mit einem Strick am Leib festgebunden. Seine Füße stecken in Halbschuhen, an deren Seite die Zehen herausschauen.

»Geh voraus!« sagt der eine Soldat zu Brenner. Er deutet mit dem Lauf der Maschinenpistole auf die Bunkertür.

Brenner und Düster treten vor den Russen in den Bunker. Die Frauen springen auf und schreien. Die Kinder weinen. Die Soldaten grinsen.

»Wirr nix tun!« erklärt der Russe in den Halbschuhen. Er stößt Düster die Maschinenpistole gegen die schmale Brust und fragt: »Schnaps?«

Der Seehundbart zittert vor Angst. »Nein«, sagt er.

»Aber wirr«, erwidert der Rotarmist.

Dann verlassen die Soldaten wieder den Bunker. Nach zehn Minuten kommen sie zurück. Nicht mehr zu dritt, sondern zwanzig. Sie treten die Tür mit den Füßen auf, weil sie in den Armen Flaschen halten.

Ein wüstes Gelage beginnt. Die Russen haben in der Nähe einen Weinkeller entdeckt. Sie entkorken die Flaschen nicht, sondern schlagen ihnen an der Bunkertür die Hälse ab. Sie nötigen die Frauen zum Mittrinken. Es ist schwerer Rotwein.

Die Frauen greifen aus Angst zu.

Eine schreit auf. Sie hat sich an dem scharfen Flaschenrand den Mund zerschnitten. Blut tropft ihr dunkelrot von den Lippen. Der eine Russe, der ein Auge auf sie geworfen hat, lacht schallend.

Brenner hat sich in die äußerste Ecke des Bunkers zurückgezogen. Neben ihm steht Düster und sagt: »Die sind ja gar nicht so schlimm.«

Plötzlich geraten sich zwei Russen in die Haare. Sie schlagen mit leeren Weinflaschen aufeinander los. Glas splittert.

Brenner begreift sofort: Sie streiten sich um die Neunzehnjährige. Das Mädchen lehnt fahl, mit geweiteten Augen an der Bunkerwand.

Der eine Russe bricht zusammen, bleibt am Boden liegen. Sein Blut vermischt sich mit dem verschütteten Wein zu einem dünnen Rinnsal, das dem Abfluß in der Mitte des Bunkers zuläuft.

Der Sieger stürzt sich auf die Neunzehnjährige. Sie schreit gellend um Hilfe. Jeder hört es. Keiner wagt einzugreifen. Hauptmann Brenner schließt die Augen.

Die verzweifelten Schreie des Mädchens wirken wie ein Signal. Die Jagd auf die Frauen beginnt. Brutal und gierig greift ein Dutzend Hände zu. Wer sich wehrt, wird erbarmungslos niedergeschlagen.

Die Russen haben ihre Waffen einfach auf den Boden geworfen. Eine Sekunde überlegt Haüptmann Brenner, ob er nach einer Maschinenpistole greifen soll.

Plötzlich endet der Spuk.

Eine scharfe Stimme übertönt das Geschrei der Frauen, das Gejohle der Soldaten, das Geheul der Kinder. In der offenen Bunkertür steht ein russischer Major, hinter ihm sechs Soldaten.

»Aufhören!« schreit der Offizier auf russisch. Er sieht auf die Wand, an der die vier Männer lehnen. Auf sie geht er zu.

»Du Soldat?« fragt er den ersten Deutschen.

»Nein«, antwortet der Mann gepreßt.

»Du wie alt?« fragt der Offizier und schlägt dem Mann mit dem Pistolenknauf auf das Handgelenk.

»Fünfunddreißig.«

»Du Soldat!« brüllt der Offizier. Dann sagt er etwas zu den begleitenden Mannschaften.

Der Mann wird mit Fußtritten aus dem Bunker befördert.

Dem zweiten geht es genauso. Als dritter ist Düster an der Reihe. »Du Soldat?«

Der Mann schüttelt den Kopf.

»Wie alt?«

»Einundsechzig«, lügt der Seehund ohne Zögern. In Wirklichkeit ist er fünfzig. Aber er hat gehört, daß die Russen alle Männer bis zu sechzig Jahren als Zwangsarbeiter verschleppen.

»Du lügen!« schreit der Russe.

Düster schaltet schnell. Er deutet auf die alte, schwerkranke Jüdin.

»Das ist meine Mutter«, sagt er leise.

Der Major reagiert wie fast alle Russen: Wenn eine Matka ins Spiel kommt, werden sie weich.

»Dein Sohn?« fragt er die Alte.

Sie bewegt mühsam die Lippen, nickt schließlich, keucht: »Ja.« In ihre runzelige Haut schießt die Röte.

Jetzt wendet sich der Major an Brenner.

»Ich war Soldat«, entgegnet der Hauptmann ruhig. Seine ehrliche Antwort erspart ihm Fußtritte, aber er wird ebenfalls mitgenommen.

Als einziger bleibt Düster im Bunker zurück, der Parteigenosse, der eine Jüdin zur Rettung mißbrauchte.

Hauptmann Brenner wird auf einen Platz getrieben, wo schon mehr als hundert Deutsche von sowjetischen Posten bewacht werden. Er rechnet sich keine Chancen mehr aus. Im besten Falle geht es nach Rußland. Seine Operationsnarbe schmerzt.

Und an diesem Tag, vierundzwanzig Stunden nach der Kapitulation, beginnt für Dr. jur. Arnold Brenner, den Juristen und Hauptmann der Reserve, ein wahnwitziges Abenteuer.

Arno Brenner wird mit anderen Gefangenen in ein Haus gebracht, in dem sich das Nkwd niedergelassen hat. Er bekommt einen brutalen Tritt ins Kreuz. Stöhnend fällt er die Kellerstufen hinunter, landet in einem Haufen halbverfaulter, stinkender Kartoffeln. Für Sekunden verliert er das Bewußtsein.

Sein Schädel dröhnt. Vor seinen Augen tanzen feurige Kreise, als er wieder zu sich kommt. Mein Gott, ich lebe ja noch, denkt er, und seine Hand fährt an den Nacken, wo der Genickschuß sitzen müßte.

Die letzten Stunden waren fürchterlich. Aus allen Häusern der Straße hatten die Sowjets die Männer zusammengetrieben. Wer aus der Reihe trat, wer nicht mehr mitkam, wurde niedergeschossen. Die Soldaten fluchten, weil sie die Deutschen bewachen mußten, statt den Sieg bei Schnaps, Weib und Gesang zu feiern.

Immer wieder knallten die Schüsse. Die Soldaten veranstalteten ein wildes Scheibenschießen auf Menschen. Links und rechts von Arno Brenner brachen die Männer zusammen. Seine Rückenmuskeln verkrampften sich. Er wartete darauf, daß die Kugeln auch seinen Körper zerfetzten.

Aber er kam davon. Er taumelte mit bleiernen Füßen vorwärts, stolperte und stürzte.

»Dawai, dawai!« schrie der Posten und jagte ihn mit einem Fußtritt vom Boden hoch.

Der Zug der gemarterten deutschen Kriegsgefangenen kroch vorwärts, durch das Gewühl der einmarschierenden Russen, an Panzern und Panjewagen, an Kanonen und Kamelen vorbei.

Kamele? Ja, diese zähen, anspruchslosen Tiere hatten während des Vormarschs der Roten Armee Nachschub nach vorn gebracht.

Hauptmann Brenner kam in den Keller für die politischen Gefangenen. Der Major hatte den Auftrag gehabt, zweihundert Nazis zu verhaften. Die Zahl stimmte, das war aber auch alles.

Am zweiten Tag beginnen die Verhöre. Die eingepferchten Männer sind abgestumpft und ausgehungert. Sie können sich kaum mehr auf den Beinen halten.

Sie werden von den Russen einzeln herausgeholt und die Treppe hochgezerrt. Wenn sie nach Stunden zurückkommen, fehlen dem einen die vorderen Zähne, beim anderen ist die Nase eingeschlagen, der dritte muß sich übergeben.

Arno Brenner weiß, was er zu erwarten hat.

Der Nkwd-Kapitän hält einen breiten Ehrendolch der Nsdap spielerisch in der Hand. Er hat einen dicken, runden Schädel und eine zu kurz geratene Oberlippe, die den Blick auf die schlechten Zähne freigibt. Er hat einen Dolmetscher bei sich, obwohl er gut Deutsch sprechen kann.

»Du sprechen Russisch?« beginnt der Offizier das Verhör.

»Ich kann nur ein paar Sätze«, erwidert Brenner.

»Du lügen … zeig Papiere!«

Brenner zieht sein Soldbuch hervor.

Der Kapitän steht langsam auf. Als ihm der Hauptmann die Papiere in die Hand geben will, zuckt der Parteidolch ganz kurz durch die Luft. Mit der Breitseite trifft er Brenners Hand. Die Haut über den Knöcheln platzt, Blut tropft zu Boden. Das Soldbuch flattert auf den Schreibtisch.

»Aus deinen dreckigen Fingern nehme ich nichts«, sagt der Kapitän. »Warum du sprechen Russisch?« fragt er zum zweitenmal.

»Ich war Soldat … in Rußland«, antwortet Brenner. Da trifft ihn die Breitseite des Dolches zum zweitenmal. Diesmal quer über das Gesicht.

Brenner wischt sich mit dem Handrücken das Blut vom Mund. Sein Unterkiefer zittert.

Der Kapitän neigt den Kopf zur Seite.

»Du SS!« brüllt er unvermittelt.

»Nein.«

»Du SS!« Dabei tritt er Brenner mit seinen Stiefeln aus Juchtenleder gegen das Schienbein. Der nächste Tritt sitzt scharf auf der Kniescheibe.

Brenner sinkt langsam zu Boden.

»Du Faschist! Du SS!« sagt der Kapitän befriedigt. »Du jetzt sagen Geil Gitlär!«

Brenner taumelt.

Der Dolmetscher brüllt ihn an: »Steig auf den Stuhl und schrei Heil Hitler!«

Halb bewußtlos, versucht der Hauptmann, auf dem Stuhl das Gleichgewicht zu halten. Seine Gedanken rinnen wie zähflüssiges Öl.

»Dawai, dawai!« faucht der Offizier.

Brenner setzt an, aber den Hitlergruß schafft er nicht.

Da wird es dem Kapitän zu dumm. Er tritt gegen das Stuhlbein, und der Hauptmann schlägt krachend mit dem Hinterkopf gegen die Holzlehne eines Sessels. Dann werfen sie ihn die Kellertreppe hinab.

Und wieder zerrt man Arno Brenner zum Verhör aus dem Kartoffelkeller. Er bricht auf dem Weg zusammen. Die Soldaten fassen ihn einfach am Kopf und an den Beinen und werfen ihn dem Nkwd-Kapitän vor die Füße.

Das Verhör ist von der gleichen Art wie das gestrige. Der Kapitän ist betrunken. Er schlägt Brenner noch mehr als tags zuvor. Und immer wieder brüllt er: »Du SS? Du Faschist?«

Die Schläge gibt es heute mit der Hundepeitsche. Der Hauptmann sieht verschwommen die bösen kleinen Augen des Nkwd-Mannes, die wie Druckknöpfe in den Speckfalten stecken. Er riecht den füseligen Atem. Und er begreift, daß es ewig so weitergehen wird.

Er weiß aber auch, daß er am Ende ist, daß er nicht mehr durchhalten kann. Dann schon lieber gleich Schluß, redet er sich ein.

Die kalte Wut steigt in ihm hoch. Die Verzweiflung treibt ihn an. Der letzte Rest von Stolz, von Mut reißt ihn mit.

Soll er doch schießen, denkt er.

Und er brüllt los, mitten in das feiste, lauernde Gesicht des Nkwd-Offiziers.

»Du Drecksau!« schreit er. »Du Faschistenschwein! Sag doch selbst: Heil Hitler … Das steht dir gut … ausgezeichnet. Ihr seid ja die gleichen Menschenschinder wie die von der Gestapo! Du Scheißkerl, du stinkiger!«

Der Kapitan verfärbt sich, greift nach der Pistole.

Jetzt schießt er, denkt Brenner und schließt die Augen.

Er sieht nicht, wie sich die Tür zum Nebenraum öffnet, wie sich ein Major mit einem kahlen, kugeligen, rasierten Schädel über eisgrauen buschigen Augenbrauen in den Türrahmen lehnt, die Arme ineinander verschränkt.

Und Brenner brüllt weiter: »Knall mich doch nieder, du Genickschußartist!«

Seine Stimme überschlägt sich. »Erst die braune Pest und jetzt die rote … das halte ich nicht aus. Dann lieber krepieren. Los, drück ab, du Sau!«

»Stoj!« sagt eine dunkle Stimme ruhig.

Brenner fährt herum. Er sieht, wie der Kapitän die Pistole sinken läßt. Er sieht den Major, der auf ihn zugeht und lacht. Leise und tief.

Der Major bleibt zwei Schritte vor Brenner stehen.

»Guttt!« sagt er, immer noch lächelnd. »Sehrrr guttt … Dialektik … sehrrr guttt … Dialektik wie bei Marxist, klassisches!«

Er schnalzt mit zwei Fingern und betrachtet Brenner von Kopf bis Fuß. Es sieht aus, als ob er überlege, wie dieses zusammengedroschene Menschenbündel früher einmal ausgesehen hat.

Er hebt die buschigen Brauen. Seine Augen sind bleigrau wie der Himmel Rußlands im November.

»Du kein Faschist?« fragt er.

Brenner schüttelt den Kopf.

»Nix SS?«

»Nein.«

Der Major nickt.

»Du in mein Büro«, befiehlt er und dreht sich um, ohne den Kapitän zu beachten.

Brenner folgt ihm wie im Traum. Er fühlt, wie seine Knie zittern.

Der Major stellt sich mit einer angedeuteten Beugung des Oberkörpers vor, bevor er sich auf die Kante des Schreibtisches setzt. »Major Soslow«, sagt er.

»Brenner«, erwidert der ehemalige deutsche Hauptmann. »Dr. Arno Brenner.« In seiner Stimme flackert noch die Erregung. Er weiß selbst nicht, warum er seinen ganzen Namen samt akademischem Titel so pedantisch ausbreitet.

»Oh … du Doktor?« fragt der Major Soslow. Sein Gesicht hellt sich auf. Er kramt in einem Stoß von Papieren, wühlt im Eingangskorb, zieht einen Zettel hervor, liest, denkt nach.

»Ja, ich bin Rechtsanwalt«, ergänzt Brenner.

Der Major achtet nicht darauf, legt den Zettel beiseite, schlingt die Hände um das übergeschlagene Knie.

»Wie kommen du hierher? Was haben du getan?«

Brenner erzählt kurz seine Geschichte seit der Festnahme im Bunker.

Major Soslow grinst.

»Geschichten«, sagt er strahlend. »Geschichten in dieser Zeit: tragisch wie bei Dostojewskij … komisch wie bei Gogol. Karascho!«

Er steht auf.

»Du kein Faschist«, bemerkt er unvermittelt. »Ich dir glauben. Aber wir Russen auch nix Faschist.« Er bricht ab, lächelt breit über das Gesicht. »Also … du Doktor!«

»Ja.« Brenner will ihm zum zweitenmal erklären, daß er Rechtsanwalt ist.

Der Major winkt mit der Hand ab.

»Du für uns arbeiten. Du Doktor, du operieren … Du wirst haben ganze Krankenhaus …«

Brenner verschluckt sich, hustet. »Ich bin Rechtsanwalt«, erwidert er eindringlich. »Jurist, Herr Major. Ich bin kein Arzt …«

»Du Doktor?« Major Soslow sieht über ihn hinweg.

Brenner stöhnt:«Ja, natürlich, aber …«

»Nix aber.« Wieder schneidet eine Handbewegung jeden weiteren Einwand ab.

Major Soslow gleitet von seinem Schreibtisch. »Nu … du dir überlegen, ob du operieren. Sofort … Eine Minut, zwei Minut, nu, sagen wir drei Minut …«

Er sieht auf seine Armbanduhr, hält sie gegen das Ohr, um zu hören, ob sie geht.

Das ist ja Wahnsinn, heller Wahnsinn, möchte Brenner herausbrüllen. Ich bin doch kein Arzt. Wenn ich operieren soll … das wäre doch Mord, reiner Mord.

Er starrt auf die lackglänzenden Stiefel des Majors, die knarrend über den Boden wandern. Er gibt sich einen Ruck. Sein Gesicht wirkt entschlossen, als er sagt: »Herr Major, das geht nicht. Ich bin kein Arzt.«

Der Offizier hat auf einmal ein eisiges Gesicht. Die grauen Augenbrauen ziehen sich zusammen.

»Noch eine Minut zum Überlegen«, knurrt er. In seinen Augen wetterleuchtet ein Gewitter. »Wenn du nicht Arzt, dann du nicht Doktor. Wenn du nicht Doktor, dann du gelogen. Wenn einmal gelogen, dann alles gelogen … Wenn alles gelogen, dann du auch Faschist. Wenn du Faschist, dann …«

Der Major dreht sich zu Brenner um und deutet mit dem Arm auf die Tür, hinter der der Kapitän seine Opfer zusammenschlägt.

Brenner steht am Fenster. Er muß sich am Brett festhalten. Seine Zähne graben sich in die Unterlippe.

»Nu?« fragt der Major und bleibt neben Brenner am Fenster stehen. »Minut vorbei …«

Auf einmal sieht Arno Brenner, was auf der Straße vor sich geht. Ein Mädchen wird von zwei betrunkenen russischen Soldaten gejagt. Sie schreit gellend, denn die Verfolger sind schon auf zwei, drei Schritte an sie herangekommen. Und das Mädchen ist schön, sehr schön.

Der eine Russe hat Hände, unter denen ihr schmaler Körper zerbrechen muß, wenn diese Pranken zugreifen. Der andere Russe, klein und untersetzt, versucht, der Flüchtenden den Weg abzuschneiden. Seine Stiefel dröhnen über die Straße.

Das Mädchen weicht ihm aus, läuft im Zickzack, hetzt dann genau auf das Haus zu, an dessen Fenster Arno Brenner steht.

Er sieht ihre aufgerissenen Augen. Ihre aufgelösten rotblonden Haare flattern wie eine Flamme.

Jetzt hat der erste Soldat das Mädchen eingeholt.

Da fährt Brenner hastig zu dem Major herum. Er überlegt nicht, was er in diesem Augenblick sagt, er weiß nur, daß er sofort handeln muß.

»Das Mädchen!« schreit er. »Bringen Sie das Mädchen in Sicherheit … ich arbeite als Arzt.«

Der Major lächelt breit. Er geht selbst hinaus auf die Straße, ohne Eile.

Die beiden Russen haben inzwischen das Mädchen zu Boden geworfen. Die Überfallene schlägt wild um sich, beißt, kratzt, schreit gellend um Hilfe.

Der eine Soldat mit den Pranken eines Bären beugt sich keuchend über sie.

Da erhält er einen wuchtigen Tritt, daß er zur Seite fliegt. Er fährt hoch und … nimmt militärische Haltung an. Major Soslow steht vor ihm.

»Ihr Hundesöhne, schert euch weg«, sagt Soslow auf russisch.

Dann packt er das Mädchen fest am Arm und reißt sie hoch. Sie schluchzt, sie schreit, sie schlägt nach ihm, weil sie glaubt, daß nur die Hand, die nach ihr greift, gewechselt hat, nicht aber die Absicht.

Der Major schleift sie ins Hauptquartier des Nkwd, schleppt sie die Treppe hoch, stößt sie durch die Tür in sein Zimmer, Dort fällt sie wie ein Sack zu Boden.

Brenner tritt schnell auf sie zu. »Keine Angst«, sagt er, »Sie sind in Sicherheit. Bedanken Sie sich beim Major.«

Jetzt erst sieht Brenner dieses ausdrucksvolle Gesicht mit der schmalen mädchenhaften Stirn deutlich. Er sieht die Augen, die langsam den starren Ausdruck der Angst verlieren, und sie sind so blau wie der Flieder, der bald blühen muß.

»Wie heißen Sie?« fragt Brenner.

»Gabert … Irene Gabert.«

»Ich bin Dr. Brenner.« Er wirft einen Blick auf den Major.

Soslow steht am Schreibtisch. Er kramt in seinen Papieren, beginnt zu schreiben.

»Ich kann Ihnen jetzt nicht alles erklären«, fährt Brenner hastig fort. »Was sind Sie von Beruf?«

»Studentin.«

»Medizin?« fragt Brenner so leise, daß sie ihm das Wort vom Mund ablesen muß.

»Jura«, haucht sie zurück.

»Sie studieren Medizin, verstanden?« zischt Brenner.

»Ja«, erwidert Irene Gabert erschrocken.

Um Gottes willen, denkt Brenner, jetzt sitze ich in der Falle. In einer Stunde oder in zwei soll ich vielleicht schon operieren, und ich habe keine Ahnung. Ich weiß gerade, wie man ein Verbandpäckchen anlegt. Ich kann nicht einmal eine Kanüle in die Vene einführen. Und ich habe keinen, der mir hilft, der mir ins Ohr flüstert, was ich zu machen habe.

»Wirrr gleich fahren in Lazarett«, sagt Soslow. »Fein Haus.«

»Haben Sie denn überhaupt Personal?« fragt Brenner.

Der Major schüttelt den Kopf. »Wirr nehmen Fräulein.« Er deutet auf Irene Gabert.

»Aber das genügt doch nicht.«

»Wirr gleich fahren.«

Vor dem Haus steht ein alter Opel. Er springt erst beim dritten Versuch an. Vorn sitzen der Fahrer und der Major, dahinter Arno Brenner und Irene Gabert.

Das Mädchen will wiederholt Fragen stellen, aber Brenner winkt ab.

Gibt es das? denkt er. Ist so etwas möglich? Weiß ein offensichtlich gebildeter höherer russischer Offizier denn nicht, daß es verschiedene akademische Grade gibt?

Die müssen doch sofort merken, daß ich ein blutiger Laie bin.

Und dann: ab in den Kartoffelkeller.

Der Wagen hält vor der Landwirtschaftlichen Hochschule in Kraftsborn vor Breslau. Die Schule ist geräumt.

»Das ist das Krankenhaus«, erklärt der Major.

Das Lazarett existiert nur auf dem Papier der sowjetischen Verwaltungsbürokratie. Es gibt keine Türen, keine Betten, keine Medikamente, keine Schwestern, keine Behandlungsräume, keinen Operationstisch. Nichts als dreckige Korridore und ausgeräumte Zimmer.

Und vor dem Haus stehen russische Posten.

Dr. Arno Brenner ist nicht nur der ›Chefarzt‹ dieses seltsamen Lazaretts, sondern auch sein Gefangener.

Der Major geht mit ihm von Raum zu Raum. Das Mädchen folgt ihnen. Überall das gleiche Bild. Überall Schmutz, umherliegendes Papier, Pappscheiben in den Fensterkreuzen.

Unten, in einem Schulsaal, liegen auf einem Strohhaufen in der Ecke sieben verwundete russische Soldaten im Fieberdelirium. Einer von ihnen hat einen zerrissenen, durchbluteten Hemdsärmel um die Stirn gewunden. Das Gesicht ist wachsbleich, wie das eines Toten. Vielleicht ist er auch schon tot.

»Du viel Zeit«, sagt Major Soslow zu Brenner. »Russische Soldat guttt, tapfere Soldat. Und sehrrr gesund … Du laß liegen, noch.«

Bin ich denn in einem Irrenhaus? überlegt Dr. Brenner. Er sieht in das fahle Gesicht des zwanzigjährigen Mädchens. Er sieht den kahlgeschorenen Schädel des Majors. Der poltert zufrieden: »Guttt Haus, schöne Haus … Du Doktor, du operieren … Morgen ich komme wieder.«

Dann dreht sich Soslow um und verläßt das ›Lazarett‹.

Dr. Brenner ist allein mit Irene Gabert und sieben verwundeten russischen Soldaten. Das Mädchen hat begriffen, daß der Mann hier ein Lazarett einrichten soll.

»Ich habe mich noch gar nicht bei Ihnen bedankt«, sagt sie.

Arno Brenner winkt müde ab.

»Was soll ich denn jetzt tun?« fährt das Mädchen fort. »Sie wissen doch … ich bin keine Medizinstudentin.«

»Macht nichts«, antwortet Brenner grimmig. »Ich bin auch kein Arzt.« Er lehnt sich an die Wand und starrt auf die Soldaten, die er behandeln, auf Befehl operieren soll. Und es wird ihm schlecht, wenn er sie nur ansieht.

Dr. Arno Brenner geistert ruhelos durch das Schulgebäude. Seine Schritte hallen hohl in den leeren Räumen.

Sooft er stehenbleibt, hört er das Wimmern der schwerverwundeten russischen Soldaten aus dem Erdgeschoß. Ich hätte es ablehnen müssen, hier den Arzt zu spielen … denkt er. Hätten sie mich doch wieder in den Keller gesteckt, zusammengedroschen, an die Wand gestellt.

Die kaum verheilte Operationswunde schmerzt. Arno Brenner möchte weglaufen. Aber vor dem Haus stehen Posten mit Maschinenpistolen.

Vor seinen Gedanken gibt es keine Flucht. Ich habe mein Leben gerettet, denkt er verbittert, aber den ungeheuerlichen Preis dafür müssen andere bezahlen, Verwundete, arme Teufel. Immer häufiger hört er die Rotarmisten stöhnen. Er soll helfen, ohne es zu können. Mein Gott, was ist das für eine Situation.