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Der erste Teil der "Inferno"-Reihe schildert auf sehr eindrückliche Weise den Kriegsalltag zu Zeiten der Blitzkriege von 1939 bis Sommer 1940: Beginnend mit dem kriegsauslösenden Polenfeldzug spannt der Zeitzeuge Will Berthold den Bogen vom Angriff des U-Boots U 49 unter Kapitänleutnant Prien auf eine britische Flotte über die verlustreiche Besetzung des norwegischen Narvik bis hin zur Maas-Überquerung bei Dinant unter Rommel.In seiner aus drei Bänden bestehenden "Inferno"-Serie beschreibt Will Berthold sehr eindringlich aus eigener Erfahrung als ehemaliger Soldat die Gräuel des Zweiten Weltkriegs. Er hatte sich bei Kriegsende geschworen, einen Beitrag zu leisten, dass solch ein Krieg nie wieder geschehen würde und entschied sich dabei für die Schriftstellerei, mit der er viele Menschen erreichte.
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Seitenzahl: 341
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Will Berthold
Saga
Inferno. Die ersten Blitzsiege - TatsachenromanCoverbild / Illustration: Shutterstock Copyright © 1982, 2020 Will Berthold und SAGA Egmont All rights reserved ISBN: 9788726444698
1. Ebook-Auflage, 2020
Format: EPUB 2.0
Dieses Buch ist urheberrechtlich geschützt. Kopieren für gewerbliche und öffentliche Zwecke ist nur mit Zustimmung von SAGA Egmont gestattet.
SAGA Egmont www.saga-books.com und Lindhardt og Ringhof www.lrforlag.dk
– a part of Egmont www.egmont.com
Die Sonne brennt vom Himmel, als ginge es nicht auf den Herbst zu. An diesem späten Augusttag 1939 verwandelt die drückende Hitze das mit deutschen Soldaten vollgepfropfte Land ostwärts der mittleren und oberen Oder mit seinen Stromniederungen, Wiesengründen und Waldparzellen in ein riesiges Treibhaus, das ununterbrochen Gerüchte ausbrütet, aber sie verwelken noch schneller als das Laub, mit dem die jungen Panzersoldaten ihre Kampfwagen tarnen.
Ein Fahrzeug versperrt dem anderen den Weg. Die Soldaten mit den Milchgesichtern leben in Platznot, zusammengepfercht auf Stoppelfeldern, in Feldscheunen und in Kiefernwäldern, Einheiten ineinandergeschachtelt wie zum Beispiel die 46. Infanteriedivision und das Panzerregiment 35, die Waffengattungen durcheinandergemischt wie Pflaumen, Birnen und Äpfel beim »Schlesischen Himmelreich«, dem Stammgericht aus der Feldküche, das sie schon nicht mehr riechen können.
Die Verpflegung wurde üppiger, die Ausbilder, die ihre Gruppen vor kurzem noch geschliffen hatten, daß ihnen das »Wasser im Arsch kochte«, freundlicher, und selbst die Offiziere geben sich ansprechbar. »Und das«, sagt Kudritzki, der fixe Junge aus Essen, »läßt darauf schließen, daß es nun doch bald Krieg geben wird.«
»Wie’s kommt, so kommt’s«, erwidert der sommersprossige Haselmann, »Hauptsache, wir brauchen keine Gewehrgriffe mehr kloppen.«
»Und diesen Polen gehört längst das Maul gestopft«, schaltet sich Kienbaum, der Offiziersanwärter und frühere HJ-Gefolgschaftsführer, ein. »Von mir aus kann’s morgen schon losgehn.«
Aber morgen ist wie heute und übermorgen wie vorgestern. Nichts ändert sich.
Vorläufig kämpfen die Soldaten mehr gegen Verdauung und Fliegenschwärme. Die meisten Angehörigen dieser Panzerpionierkompanie haben sechs Monate Arbeitsdienst und zwei Jahre Wehrdienst hinter sich. Sie wären reif für die Entlassung, aber daran ist nicht zu denken, denn der Führer macht Geschichte.
Das Land zwischen den Karpaten und den Masuren ist ein einziges feldgraues Heereslager: In Ostpreußen macht sich die 3. Armee bereit, mit der 4., die aus Pommern hervorbrechen wird, in den Korridor einzufallen und von dort gemeinsam weiterzumarschieren. Im Süden bereiten die 8., die 10. und die 14. Armee in Mittel- und Oberschlesien und der Slowakei den Angriff vor. Ihre beiden Panzerdivisionen sollen im Kriegsfalle über die Weichsel vorstoßen und bis Warschau heranpreschen.
Die voll betankten und munitionierten Kampfwagen stehen herum wie gestrandete Schiffe, von ihren Besatzungen mit den Augen gehütet, als könnte sie einer stehlen. Nebenan werden Waffenappelle veranstaltet und Splittergräben ausgehoben, alles ziemlich pomadig, kein Druck, keine Schikane mehr. Ein paar Hitzköpfe sabbern vom Krieg, den sie noch nicht kennen. Die meisten haben die sechs Tage, die sie hier schon herumlungern, abstumpfen lassen. Erst am Abend klopfen sie wieder einen Skat, und wenn es gegen Mitternacht etwas abkühlt, werden sie wieder über ihre Mädchen sprechen.
Sie liegen im Aufmarschgebiet der 10. Armee, nur wenige Kilometer von der polnischen Grenze entfernt, zu der sie aufschließen werden, sowie der Befehl ergeht, in die Bereitstellungsräume einzurücken, und zwar so stumm und unauffällig wie möglich, damit die Polen nicht vorzeitig gewarnt werden. Die Bevölkerung ist aus den Grenzdörfern evakuiert. Ihr Vieh wird von Spezialkommandos der Wehrmacht versorgt. Die Soldaten leben wie am Ende der Welt, wo es keine Zivilisten und schon gar keine Weiberröcke gibt, in einer Art chaotischer Ordnung. Ausgangssperre für alle. Die einzige Abwechslung ist das Essen, und das ist eintönig, reichlich und phantasielos.
»Wieder Eintopf«, mault der Gefreite Haselmann und deutet angewidert auf die riesigen Behälter, in denen das Essen angeschleppt wird.
»Erbsen mit Schweinebauch«, erwidert Kienbaum, der Zakkige.
»Und dabei muffelt ihr schon wie die Waldesel«, schaltet sich Feldwebel Sagorski ein. Er mischte sich unter die Männer seines Zuges und winkte schon von weitem ab, bevor einer »Achtung!« rufen konnte. Er hat ein breites, gutmütiges Gesicht, das schnell umschlagen kann, denn er, der Zwölfender, der schon in Spanien dabei war, hat mitunter unberechenbare Wutanfälle. Es gibt Schlimmere als ihn; Sagorski ist nicht unbeliebt. Die jungen Vaterlandsverteidiger drängen sich um ihn wie Küken um die Henne, denn seine Erfahrung stammt nicht von Platzpatronen.
»Hülsenfrüchte«, stellt Haselmann verächtlich fest, »die Trompeten des kleinen Mannes.«
»Möchten Sie lieber Eisbein mit Sauerkohl, Haselmann?« fragt Sagorski.
»Jawohl, Herr Feldwebel.«
»Dann schnappen Sie sich einen Wagen und zwei Mann und kommen Sie mit mir.«
Ein paar gluckern schadenfroh, andere beneiden den Gefreiten und seine Kumpels Kudritzki und Kienbaum um die Abwechslung, denn der Kübelwagen, mit dem sie losbrausen werden, fährt bestimmt nach hinten, in die Etappe, wo es Kneipen, Kinos und Kellnerinnen gibt. Es spricht sich herum, daß Sagorski, der wieder einmal beweist, in Spanien mehr gelernt zu haben, als zu töten oder sich totschießen zu lassen, irgendwo spottbillige Marketenderwaren organisieren will. Vielleicht ist es nur eine Latrinenparole, aber jedenfalls kommen Kudritzki, Kienbaum und Haselmann ein paar Stunden weg vom großen Haufen, von Skat und Mief und Thema eins.
Thema eins sind die Frauen. Ein unerschöpfliches Gebiet für Männer in rauher Zahl, erstens reizvoll, zweitens Ersatzbefriedigung, und zum dritten ist die sexuelle Freiheit die einzige, die man den jungen Soldaten läßt, sofern sie die Sanierungsvorschriften einhalten.
»Falle«, sagt Sagorski, als die drei außer Hörweite sind. »Kein Eisbein, keine Marketenderwaren.« Er grinste einen Moment schadenfroh: »Ich wollte nur nicht, daß die anderen etwas spannen.« Er spricht wie der große Zauberer, der die weiße Taube aus dem Zylinder flattern läßt: »Ich suche Freiwillige für einen Geheimeinsatz.«
»Es gibt also Krieg«, entgegnet Kudritzki.
»Was weiß ich«, erwidert der Feldwebel. »Bin ich Jesus?« Er bietet Zigaretten an. »Ich suche Kerle«, lockt er. »Keine Weichmänner.«
»Alles klar«, antwortet Kienbaum. »Und vielen Dank, daß Sie auf uns gekommen sind, Herr Feldwebel.«
»Na ja«, Sagorski grinst anzüglich und deutet auf das Leistungsabzeichen der Hitler-Jugend in Silber auf der Feldbluse des Offiziersanwärters: »Sie wollen ja nicht ewig mit diesem Dingsda auf der kahlen Heldenbrust herumlaufen.«
»Jawohl, Herr Feldwebel«, versetzt der Hundertprozentige stramm und wird rot.
Sie fahren los.
»Wohin eigentlich?« fragt Haselmann.
»Fragen stelle ich«, erwidert Sagorski und setzt, nicht gerade logisch, hinzu: »Zunächst nach Kreuzburg. Dort melden wir uns bei Leutnant Leimer. Schon mal was gehört von dem Mann?«
»Nein, Herr Feldwebel«, antworten alle drei.
»Ein Draufgänger«, erklärt Sagorski. »Kalt wie eine Hundeschnauze. War mit ihm bei der ›Legion Condor‹ zusammen.«
»Müssen wir uns nicht bei der Kompanie abmelden, Herr Feldwebel?« fragt Kienbaum.
»Nicht nötig«, entgegnet Sagorski. »Ich hab’ eure Freiwilligenmeldung der Einfachheit halber gleich unterschrieben.«
Zunächst sieht es aus, als würden sie nie ans Ziel kommen; sogar die Feldwege sind noch verstopft. Mit der 1. und 4. Panzerdivision wird die 10. Armee im Falle eines Angriffs die Speerspitze des 16. Korps sein, und das heißt, daß sie zu den bestausgerüsteten Verbänden der Wehrmacht gehört. Immer wieder stehen die Männer vom Fußlappengeschwader um die Panzer I – die ihre Zwei-Mann-Besatzungen selbst »Sardinen-Büchsen« nennen – herum und bestaunen sie, als wären sie noch aus Pappe und Leinwand wie bei den früheren Manövern der Reichswehr, wo sie wie Zirkusattrappen gehandhabt worden waren.
Die sechs Tonnen schweren, schwachgepanzerten Kampfwagen sind im Grunde nicht viel mehr als fahrbare MG-Stände. Mit ihnen ist nicht viel Krieg zu machen, aber sie stellen unter den 3195 Stahlkästen mit dem Balkenkreuz am Turm fast die Hälfte aller Kampfwagen dar. Ihr Ruf ist nicht der beste. Beim Einmarsch in Österreich ist jeder dritte Panzer I ohne Feindeinwirkung ausgefallen, aber für diese Polen mit ihren müden Gäulen wird’s ja wohl reichen, trösten sich die Besatzungen.
Zwischen flachwelligen Hügelketten sind Artilleriestellungen angelegt. Aus niedrigen Fichtenwäldchen ragen die Antennen gepanzerter Spähwagen hervor. Es dunkelt schon, bis die drei in Kreuzburg ankommen und sich zur Kaserne durchfragen.
»Merkt euch, ihr Anfänger«, sagt Feldwebel Sagorski, »nichts ist so eilig, daß es nicht noch eiliger werden könnte. Und mit leerem Bauch kommt man nicht weit.«
Sie landen in der Kantine. Eisbein gibt es nicht, dafür aber Schmorbraten, sogar mit Salzkartoffeln, die bei der großdeutschen Wehrmacht dem Sonntag vorbehalten sind.
Kudritzki kommt auf einmal mit einem Kochgeschirrdeckel, randvoll mit Schnaps, an.
»Saufen im Dienst?« sagt Sagorski streng. »Lassen Sie sich nicht erwischen!« Er nimmt ihm das Blechding aus der Hand und genehmigt sich ein paar ordentliche Schlucke. Aus den Augenwinkeln verfolgt er eine pralle Rothaarige, die Zigaretten und belegte Brötchen verkauft.
»Rothaarig und geil«, stellt Kienbaum fest, »sonst aber nicht besonders.«
»Blödmann«, kontert Sagorski gut gelaunt. »Sie können sich den Rotfuchs ja schönsaufen.« Er greift wieder nach dem Kochgeschirrdeckel, als wollte er damit beginnen.
»Wie war denn das in Spanien?« riskiert Haselmann eine Lippe.
»Heiß«, antwortet der Feldwebel, »und staubig.«
»Und die Mädchen?«
»Oben toll«, entgegnet der Portepeeträger und grinst. »Und unten zugenäht.«
»Zugenäht?« fragt Kudritzki, um ihn zum Weitersprechen zu ermuntern.
»Jedenfalls hast du dir dort unten leichter ‘nen Kopfschuß geholt als ‘nen Tripper«, öffnet Sagorski den prallen Sack seiner Erfahrungen.
Die Rote an der Kasse macht Schluß. Sie setzt sich an den Nebentisch und zündet sich einen Glimmstengel an.
»Die deutsche Frau raucht nicht«, riskiert Sagorski als Annäherung.
»Stimmt«, erwidert sie und bläst Wölkchen in die Luft. »Sie treibt’s auch nicht«, setzt sie hinzu, »und schon gar nicht mit Ihnen, Herr Feldwebel.«
Sagorski zeigt, daß er unerschrocken ist wie ein Mann, der dem Feind die abgezogene Handgranate zurückwirft: »Keine Zeit«, brummelt er. »Außerdem sind Sie nicht mein Fall, verdrossene Dame.« Er gibt seinen Begleitern einen Wink sitzenzubleiben und steht auf; es wird ja auch Zeit, sich beim Einsatzleiter zu melden. »Und dann halten die Blonden, was die Roten versprechen«, sagt er und hat einen gelungenen Abgang.
Nach zwanzig Minuten kommt er zurück. »Wir sind hier ganz falsch. Hoffentlich finden wir das Kaff«, sagt er und starrt auf die Generalstabskarte.
Das Kommandounternehmen Leimer ist im Schulhaus eines grenznahen Ortes untergebracht. Als sie sich bei dem Leutnant melden, stellt sich heraus, daß der Feldwebel einen Freiwilligen zu viel mitgebracht hat: Ein Offizier und neunundzwanzig Mann sind gefragt. Und keiner mehr.
Einer muß zurück.
Sie knobeln.
Kudritzki verliert. Er kann den Kübelwagen gleich zu seiner Einheit zurückfahren, auf Umwegen natürlich, denn das weiß selbst ein Anfänger, daß man beim Barras die Feste feiern muß, wie sie fallen.
Als erste Auszeichnung erhalten die Helden auf Vorschuß einen Händedruck des Einsatzleiters. Leutnant Leimer ist groß, hager; sein eingefallenes Gesicht wirkt unterernährt, und unterernährt ist offensichtlich auch seine Gefühlswelt.
»Nun hört mal gut zu, Herrschaften«, beginnt er. »Geheime Kommandosache. Wenn ich euch eröffnet habe, um was es geht, gibt’s kein Aussteigen mehr. Ich will aber nicht unfair sein«, fährt er fort. »Ihr habt fünf Minuten Zeit, es euch zu überlegen.« Er unterbricht sich kurz: »Zigarettenpause.«
Manche schaffen zwei Glimmstengel in diesen fünf Minuten, aber keiner tritt zurück, der eine oder andere vielleicht nur, weil ihm der Mut fehlt, ein Weichmann zu sein.
Nach der Pause entrollt der Leutnant an der Tafel eine vergrößerte Generalstabskarte. »Es handelt sich um die Bunker von Lublinitz«, erläutert er. »Sie stehen gleich hinter der Grenze.« Sein Stab wandert auf der Karte entlang: »Ungefähr hier. Keine sehr tolle Befestigungslinie, aber sie steht dem Vormarsch unserer Panzer im Weg. Wir haben den Auftrag, diese Scheißdinger rechtzeitig auszuräuchern, mit Flammenwerfern, Rauchgranaten, geballten Ladungen, Handgranaten, Haftladungen und so weiter«, betet er seine unchristliche Litanei herunter. »Sie sind ja alle ausgebildete Sturmpioniere und kennen das Programm.« Er unterbricht sich kurz, wartet vergeblich auf Einwände und fährt dann fort: »Wenn wir diese Bunker knacken – und das werden wir –, können unsere Panzerspitzen ungehindert weiterrollen, Tschenstochau umfahren und«, der Zeigestab wandert weiter, »hier bei Radamsko über die Warthe setzen und dann gleich bis Warschau durchbrechen. Einverstanden?« fragt er.
»Jawohl, Herr Leutnant«, brüllen sie im Chor begeistert, als hätten sie die Bunker schon in die Luft gejagt.
»Haben Sie noch Fragen?« sagt der Einsatzleiter und sieht seine Leute an. Er ist sicher, daß er sie gebrauchen kann, denn sie wurden von ihren Einheiten vorgeschlagen und nicht nur nach der Parole: »Hart wie Kruppstahl, zäh wie Leder, flink wie Windhunde« gedrillt, sondern darüber hinaus auch noch im Knacken von Betonbunkern ausgebildet.
»Wann soll denn der Einsatz stattfinden, Herr Leutnant?« fragt Kienbaum.
»Das weiß keine Sau«, antwortet der Offizier. »Jedenfalls eine Minute, bevor das große Remmidemmi losgeht. Wir schleichen uns schon Stunden zuvor an die Bunker ‘ran, schleppen an Waffen und Munition mit, was wir nur tragen können, erledigen unseren Auftrag, und dann ist für uns der Polenfeldzug auch schon gelaufen.«
»Der Einsatz findet also schon vor der Kriegserklärung statt?« fragt Haselmann naiv.
»Das ist doch der Witz an der Sache«, erwidert Leutnant Leimer. »Sie haben’s erfaßt, Mann.«
»Und wenn die uns schnappen?« fragt der sommersprossige Junge weiter.
»Erstens ziehen wir uns Windblusen über die Uniform, zweitens färben wir uns die Gesichter schwarz. Und dann gilt für das ganze Kommando-Unternehmen das elfte Gebot«, zitiert der junge Offizier. »Du sollst dich nicht erwischen lassen.«
Sie lachen geschlossen, auch wenn sie nichts zu lachen haben werden.
»Noch Einwände?« fragt Leimer.
»Kein Einwand, Herr Leutnant«, entgegnet Kienbaum. »Nur ‘ne Frage: Wie kommen wir dann aus dem Schlamassel wieder heraus?«
»Von selbst«, versetzt der Offizier. »Mensch, Sie haben siebenundfünfzig deutsche Divisionen im Rücken. Meinen Sie, daß die den Angriffsbefehl verschlafen?«
»Und wenn sie aufgehalten werden?« fragt der Gefreite Haselmann.
»Mensch, Haselmann«, schaltet sich Sagorski ein, »Sie sind doch so gut im Verpissen. Sie hauen sich in Deckung und warten, bis Ihnen der Kommandeur zu Ihrer Heldentat gratuliert.«
»Jawohl, Herr Feldwebel«, brüllt der Junge mit den Sommersprossen, und sie freuen sich alle, als stünde ihnen eine KdF-Reise bevor.
»Noch etwas, Herrschaften«, sagt der Leutnant: »Wir halten Funkstille. Während des ganzen Einsatzes herrscht absolutes Redeverbot. Ich möchte kein Wort hören. Kein Niesen und kein Rülpsen, keinen Fluch und noch nicht mal ‘nen Furz. Das ist doch wohl klar?«
»Jawohl, Herr Leutnant!«
Feldwebel Sagorski stellt die letzte Frage, als er mit dem Kommandoführer allein ist: »Die Polen haben doch sicher Vorposten um ihre Befestigungsanlagen aufgestellt?«
»Anzunehmen«, erwidert Leimer. »Die müssen wir natürlich erledigen. Lautlos, Sagorski«, erklärt er, »Messerarbeit. Arschbacken zusammenkneifen und daran denken, was diese Polakken unseren armen Volksdeutschen alles antun.«
Die Freiwilligen des Zwangs werden in zwei Trupps eingeteilt; den ersten wird Leimer selbst führen, den zweiten übernimmt Sagorski. Sie lernen den Weg auf der Generalstabskarte auswendig, prägen ihn sich ein, gehen ihn hundertmal und kommen immer wieder lebend zurück. Sie haben Zeit. Sehr viel Zeit, denn nichts rührt sich in diesen heißen Augusttagen, die den Verstand einzutrocknen drohen. Sie haben Munition gefaßt, Waffen und Sprengmaterial, halten ihr Räuberzivil griffbereit. Sie klopfen Skat, und sie klopfen Sprüche, sie schimpfen über den Fraß und schlagen sich den Wanst voll.
Und dann kommt Leutnant Leimer, ganz gemächlich, wie auf eine Plauderstunde. »Quasselt euch auf Vorrat aus, Sportsfreunde«, rät er. »Heute nacht geht’s los.«
Am Nachmittag hat Adolf Hitler in der Berliner Reichskanzlei den »Fall Weiß« ausgelöst.
Hinter dem lapidaren Funkspruch »X-ZEIT: 26. AUGUST 39, 4 UHR 30« verbirgt sich die erwartete Gewißheit, daß der Führer das Polen-Problem gewaltsam lösen will.
Funker hauen in die Tasten. Melder flitzen hin und her. Panzer werden angeworfen. Staub wird aufgewirbelt, vereinigt sich zu einer Hunderte von Kilometern langen Wolke. Panzer rumpeln in die frontnahen Bereitstellungen. Der Wald nordöstlich von Oppeln saugt sich mit Infanteristen voll wie ein Schwamm mit Wasser.
Im Aufmarschgebiet des 16. Armeekorps rings um die Kreisstadt Rosenberg rückt Einheit für Einheit in die geplanten Bereitstellungsräume. Es dauert Stunden, und die Vollzugsmeldungen bleiben irgendwo hängen. Das Telefonnetz bricht zusammen. Der Funkverkehr bleibt eingeschränkt, um den Feind nicht vorzeitig zu warnen. Häufig kommen die Befehle nicht durch. Die Kommandeure wetzen selbst los, um ihre Einheiten einzuweisen, in der Zwischenzeit sind sie natürlich nirgends aufzufinden.
Die 46. Infanteriedivision schließt im Südabschnitt dicht zur Grenze auf. Ihre Spitzen können die polnischen Patrouillen auf der anderen Seite mit bloßem Auge sehen. Die Staffeln der deutschen Luftwaffe rücken aus ihren hinteren Einsatzhäfen auf Behelfsflugplätze auf. Die Besatzungen fluchen um die Wette. Keine Vorbereitung, die Tankwagen sind weiß Gott wo. Nicht einmal Splittergräben wurden angelegt, und kein Mensch weiß, wie die Bomben herangekarrt werden sollen.
Es geht drunter und drüber. Alles ist improvisiert. Und der alberne Befehl, sich so unsichtbar wie möglich zu machen, schluckt Zeit. Aber irgendwie klappt es doch, wenn auch oft erst in letzter Stunde. Mit Hunderttausenden von Statisten bereiten die deutschen Generale eine nie dagewesene Masseninszenierung vor: den Blitzkrieg.
Der Stoßtrupp Leimer wird in einem Laster, mit einer Plane vor den Blicken Neugieriger abgeschirmt, von Lotsen durch die Bereitstellungsräume der 46. ID geschleust. Schon Stunden vor dem Einsatz erreicht das Himmelfahrtskommando die Absprungstelle an der Grenze. Gut getarnt warten die Männer unmittelbar vor dem Stacheldraht die Dunkelheit ab. Sie haben sich die Windblusen übergestreift und die Gesichter schwarz angestrichen. An zwei Stellen schneiden sich die ersten mit Scheren vorsichtig durch den Stacheldraht.
Leimer erreicht an der Spitze die andere Seite, sondiert, winkt dem Mann hinter ihm, der sofort durch das Loch robbt. Der nächste, der übernächste, der fünfte, der sechste.
Einer hinter dem anderen – ein Gänsemarsch der Wölfe.
Der Leutnant sieht auf die Uhr: In fünf Minuten muß in etwa 800 Meter Luftlinie das Ablenkungsmanöver einsetzen: eine Schießerei. Noch vier, noch drei, noch eine Minute.
Fast auf die Sekunde hämmert ein MG los.
Handgranaten werden abgezogen. Scheinwerfer flammen auf. Die wilde Schießerei erleichtert das stumme Einsickern.
Der erste Trupp hastet im geschlossenen Sprung vorwärts. Feldwebel Sagorski sichert mit seinen Männern, schiebt sich langsam nach. Die Verwegenen schleppen schwer an ihrer Last. Sie atmen keuchend und befehlswidrig, aber ihre Lungen trotzen der Order.
Pferdegetrampel.
Sie hauen sich in Deckung. Ihre Silhouetten verweben sich mit den Schatten der Nacht. Eine polnische Reiterpatrouille galoppiert an ihnen vorbei, so nah, daß ihnen der Sand in die Augen fliegt. Ein Schimmel bäumt sich auf und wiehert. Dann endet der Spuk. Die Männer rappeln sich hoch und ziehen weiter.
Leutnant Leimer sieht wieder auf die Uhr. Im Wettlauf mit dem Kriegsausbruch liegt er blendend in der Zeit. Er gönnt seinen Leuten eine kurze Rast; dann treibt er sie wieder an. Sie sind jetzt schon drei Kilometer tief nach Polen eingedrungen. Sie wagen kaum aufzutreten. Haselmann stolpert, fällt auf das Gesicht und flucht halblaut. Sagorski tritt ihn in den Hintern und reißt ihn hoch.
Weiter.
Noch drei Kilometer. Ein Wassergraben. Ein Hund bellt in einem einsamen Gehöft. Irgendwo randalieren ein paar Betrunkene. Dann ist es wieder so still, daß man den eigenen Atem hört. Schnaufend sichert der Leutnant nach allen Seiten. Es ist jetzt weit nach Mitternacht; er wird sein Ziel pünktlich erreichen. Genau nach Plan – und doch fünf Tage zu früh.
Der junge Haudegen hat keine Ahnung, was sich hinter ihm, jenseits der Grenze, abspielt.
Die Angriffsspitzen waren längst noch nicht alle in ihren Bereitstellungen, als völlig überraschend kurz nach 20 Uhr, zunächst beim Generalmajor der Luftwaffe und Fliegerführer z. b. V. Wolfram von Richthofen – er hat unter einem Dach mit dem Oberbefehlshaber der 10. Armee, General Walter von Reichenau, in Schloß Schönwald bei Rosenberg, nur zehn Kilometer vom Grenzübergang Grunsruh entfernt, Quartier bezogen – die Meldung eingeht, daß der »Ostmarkflug« abgesetzt sei. Es kann nur bedeuten, daß der Kriegsausbruch morgen früh nicht stattfindet.
Der General handelt sofort. Er läßt seine vorgerückten Staffeln und Gruppen durch verschlüsselte Funksprüche, durch improvisierte Feldleitungen und noch zusätzlich durch Melder von der überraschenden Wendung verständigen. Die Luftwaffe hat bereits zu dieser Zeit eine eigene, sehr gut eingespielte Nachrichtentruppe. Nach aufregenden Stunden weiß Richthofen, daß seine fliegenden Nahkampfverbände im Morgengrauen nicht starten werden.
»Na, mein Lieber, dann werden wir morgen die Schlacht wohl ohne Luftwaffe schlagen müssen«, sagt der Oberbefehlshaber der 10. Armee zu dem Fliegerführer. General von Reichenau hat der Anhaltebefehl nicht erreicht. Er läßt seine Truppen weiter vorrücken, denn Heer ist Heer, Luftwaffe ist Luftwaffe, und Befehl ist Befehl.
Um 21 Uhr 30 rollen noch immer Panzer an die Grenze. Erst eine Stunde vor Mitternacht wird die 10. Armee vom OKW verständigt, daß auch für sie der Überfall auf Polen vorläufig ausfällt. Reichenau muß die Kriegsmaschine anhalten. Das ist leichter befohlen als getan. Dutzende von Meldern schwirren aus, um die Kommandeure zu verständigen. Einheit nach Einheit kann von der Liste abgehakt werden, aber in den Bergen der Tatra rollt ein motorisiertes, einsames Regiment auf die Polen zu. Die Funkverbindung ist ausgefallen. Melder kommen zu spät. Wenn nicht in letzter Minute noch ein Wunder geschieht, wird ein einziges Regiment gegen die gesamte polnische Armee antreten.
Der Ia setzt sich in einen »Fieseler-Storch«, kurvt in den Bergen herum, landet mit dem letzten Sprit gerade noch rechtzeitig auf einer schmalen, staubigen Straße zwischen der Grenze und der Kolonne. Im ersten Moment sieht es aus, als würde das Fahrzeug an der Spitze das unerwartete Flugzeug rammen.
Macht es schon Schwierigkeiten, die regulären Verbände noch anzuhalten, so ist es fast unmöglich, die schon während der Nacht eingedrungenen Kommandotrupps zu stoppen. Einige werden von Meldern noch zurückgeholt. Aber von der Slowakei aus ist ein Stoßtrupp unterwegs, um einen wichtigen Eisenbahntunnel auf polnischem Gebiet zu sichern.
Die Männer halten sich nicht so pedantisch an die Uhrzeit wie weiter nördlich Leutnant Leimer. Im Handstreich nehmen sie den Tunnel, durch den Stunden später der Nachschub für die Panzer und motorisierten Verbände rollen soll.
Plötzlich kommt der Befehl, ihn unverzüglich aufzugeben. Sie schlagen sich zu den deutschen Linien zurück, bevor die Polen zum Gegenstoß antreten – aber sie sind jetzt gewarnt und jagen den Tunnel in die Luft.
Leutnant Leimer ist am Ziel.
Die Bunker sind schon in Sicht. Sagorski wird den linken nehmen, er den rechten. Zuvor muß er noch die Feldwachen erledigen. Er übernimmt die Dreckarbeit selbst, setzt zu einem Hechtsprung an.
Im gleichen Moment, da er sich auf den Mann am MG stürzen will, erhebt sich der Wachtposten zufällig. Er läßt den Angreifer ins Leere laufen. Durch das Geräusch alarmiert, kommt der Pole an die Waffe, bevor der Leutnant wieder auf den Beinen ist, und feuert einen Warnschuß ab.
Leutnant Leimer springt ihn an, reißt ihn zu Boden, setzt ihm das Messer an die Kehle – und dann ist der Teufel von der Kette.
Scheinwerfer flammen auf. Die Lichtarme vereinen sich, und dagegen helfen auch keine schwarzen Gesichter. Ein Leutnant und 29 Mann liegen auf dem Präsentierteller: Agenten, Saboteure, Spione. Durch kein Kriegsrecht geschützt – außerdem herrscht ja noch Friede.
Sagorski, der perfekte Soldat, sieht, daß er in der Falle sitzt. Kein Ausweg mehr, und so will er sein Leben so teuer wie möglich verkaufen. »Zielansprache. Dreihundert Meter links!« brüllt er. »Ein MG-Nest«, fährt er Kienbaum an. »Los! Die drehen wir durch den Wolf!«
Sie folgen dem Feldwebel mechanisch, wie auf dem Kasernenhof, gelernt ist gelernt: Einer springt, einer schießt.
Querschläger zischen ihnen um die Köpfe, aber sie kommen voran. Noch 70 Meter, noch 40. Sagorski zieht die Handgranate, springt hoch. In diesem Moment erfaßt ihn die MG-Garbe, zersägt ihn in zwei Teile.
Haselmann sieht es und haut sich in die Erde. Feuerstöße fetzen über ihn hinweg. Handgranaten krepieren. Der Gefreite ist geblendet, aber irgendwie schafft er es, sich im Gebüsch zu verkriechen. Der Schweiß rinnt von seiner Stirn. Er will sie mit dem Handrücken abwischen, da merkt er, daß es Blut ist. Dann sieht er, daß sich auch die Windbluse rot färbt, und begreift erst jetzt, daß es ihn erwischt hat.
Während der Gefreite darauf wartet, daß sie ihn aufstöbern und ihm den Fangschuß geben, muß er dem Untergang seiner Kumpels zusehen. Es wimmelt jetzt von Polen. Sie kommen aus den Wäldern und aus Bunkern. Sie stellen fest, daß die Angreifer unter den Windblusen deutsche Uniform tragen. Der Haß schießt hoch wie eine Stichflamme. Zu dritt greifen sie Kienbaum, den Offiziersanwärter.
Sie lehnen ihn gegen einen Baum, legen auf ihn an.
»Das könnt ihr doch nicht machen«, brüllt er. »Ihr Schweine, das ist gegen das –« Weiter kommt Kienbaum nicht. Die Polen schießen ihn in Fetzen.
Drei, vier Mann entkommen zunächst, werden verfolgt und auf der Flucht erschossen. Leutnant Leimer sieht auf der anderen Seite, daß er keine Chance mehr hat. Wie ein gefangener Skorpion tötet er sich selbst: Er setzt die Pistole an die Schläfen, drückt ab, er will den Polen nicht lebend in die Hände fallen.
Es macht keinen großen Unterschied. Sie töten, was ihnen vor den Gewehrlauf kommt, ob die Männer nun die Hände heben, verwundet sind oder versuchen, aus der Falle zu entkommen. Es gibt keine Überlebenden, bis auf den kleinen Haselmann, der noch immer unentdeckt in einem Dickicht liegt, aber verbluten muß, wenn er nicht schleunigst Hilfe erhält.
Leutnant Leimer und seine Männer sind die ersten Toten eines Krieges, der noch gar nicht ausgebrochen ist.
In Berlin kauerten in diesen bleiernen Stunden die Minister der Reichsregierung so bewegungslos auf ihren Sesseln wie die Infanteristen in den zur polnischen Grenze vorgeschobenen Dekkungslöchern. Im Palais Göring klingelte der heiße Draht, die Direktverbindung zur Reichskanzlei.
»Ich habe«, sagte Hitler zu seinem ersten Paladin, »die ›Operation Weiß‹ verschoben.«
»Endgültig?« fragte der Oberbefehlshaber der Luftwaffe hastig.
»Nein«, erwiderte sein Führer, »ich will nur versuchen, ein Eingreifen der Engländer zu vermeiden.«
Göring war erleichtert. Der Aufschub gab ihm Zeit, über seine schwedischen Verbindungen mit den Briten zu verhandeln.
Den Angriffsstopp in letzter Stunde hatte Benito Mussolini durch die Mitteilung ausgelöst, daß die italienische Armee noch längst nicht kampfbereit sei. Hitler nahm sie unwillig zur Kenntnis.
Einen endlosen, heißen Sommer lang hatten alle vom Frieden geredet, aber er war ausgelaugt, stranguliert, am Ende. Es war, als hätte der Krieg Europa geschwängert und als müßte täglich mit einer Sturzgeburt des Infernos gerechnet werden – wie im Vorjahr während der Sudetenkrise. Die Stimmung war gespannt, aber irgendwie setzten die meisten darauf, daß Hitler auch das Polen-Problem unblutig lösen könnte.
Von einer Minderheit gewählt, war er an die Macht gekommen. Fraglos hatte er nach seinen ersten sechs Regierungsjahren die absolute Mehrheit der Deutschen hinter sich gebracht. Die Arbeitslosigkeit war beseitigt und der unsinnige und ungerechte Vertrag von Versailles Punkt für Punkt revidiert worden. Statt Reparationen für den Ersten Weltkrieg zu bezahlen, rüstete der Diktator für den zweiten – zunächst heimlich, dann offen. Die Wiedereinführung der allgemeinen Wehrpflicht. Die Rheinlandbesetzung. Der Blumenfeldzug in Österreich. Das Abkommen von München, bei dem die Engländer und Franzosen, die Tschechen und Slowaken opfernd, zu Hakenkreuze gekrochen waren.
Drei Millionen Sudetendeutsche kehrten heim ins Reich. Die Begeisterung der Massen für ihren Führer näherte sich dem Siedepunkt. Er wurde vergötzt, nicht, weil er mit dem Feuer gespielt, sondern weil er – wie sie fälschlich annahmen – durch sein diplomatisches Geschick den Kriegsausbruch verhindert hatte. Daß die Alliierten des Ersten Weltkriegs dem Diktator immer wieder den Bruch internationaler Abkommen erlaubten, während sie seinen demokratischen Vorgängern, den so geschmähten Erfüllungspolitikern, jede noch so kleine Erleichterung und Korrektur abgeschlagen hatten, war ihre unübersehbare Teilschuld am Zweiten Weltkrieg.
Hitler, der Hasardeur und Heuchler, hatte bereits am 5. November 1937 bei einer Geheimbesprechung in der Reichskanzlei seinen bestürzten Generalen eröffnet, daß die Erweiterung des deutschen Lebensraums nur durch eine konsequente Eroberungspolitik zu erreichen sei, weshalb unverzüglich der Krieg im Osten vorbereitet werden müsse. In der Öffentlichkeit spielte er – trotz aller Drohgebärden – den Staatsmann, der in schier übermenschlicher Anstrengung um den Frieden rang. Die Generale mußten schweigen, und die Bevölkerung fiel auf die verlogenen Friedensbeteuerungen herein.
Im Gegensatz zu 1914 fehlte den Deutschen dieses Mal jede Kriegsbegeisterung. Nach knapp 25 Jahren war ihnen der Erste Weltkrieg noch in zu schmerzlicher Erinnerung. Hitler war gezwungen, seine Volksgenossen langsam an die Katastrophe heranzuführen.
»Im Vorjahr hatte er einen Versuch gemacht«, beschreibt der französische Autor Raymond Cartier die Situation, »den er in diesem Jahr nicht zu wiederholen wagte: die Parade einer Panzerdivision in Berlin. Er hatte einen Sturm der Begeisterung erwartet, aber das Resultat war nur Niedergeschlagenheit. Drei Stunden lang waren Panzer durch die Hauptstadt gerollt, inmitten einer schweigenden Menge; es war, als zöge eine feindliche Armee in eine eroberte Stadt ein. Hitler, der auf dem Balkon der Reichskanzlei die Parade abgenommen hatte, warf sich anschließend in seinem Arbeitszimmer in einen Clubsessel und beschimpfte das deutsche Volk – genauso, wie er sechs Jahre später, besiegt und sterbend, am gleichen Ort das deutsche Volk beschimpfte – das er verführt und entehrt hatte.«
Mit den Worten »Peace for our time« hatte sich der britische Premierminister Neville Chamberlain für seine Unterwerfung von München entschuldigt – Hitler bemerkte bei seiner Rückkehr nach Berlin zu seinen SS-Wachen: »Der Kerl hat mich um meinen Einzug in Prag gebracht« – aber sechs Monate später mußte der »Mann mit dem Regenschirm und dem langen, dünnen Hals« (Raymond Cartier) erkennen, daß er keinen »Frieden für unsere Zeit« erreicht hatte: Der Usurpator war nach Erfüllung der »letzten territorialen Forderung, die er an Europa zu stellen hatte« durch die Zerschlagung der tschechoslowakischen Republik erneut vertragsbrüchig geworden.
»Die Zugeständnisse, die Frankreich und Großbritannien Hitler in München gemacht hatten«, schreibt in seinem Buch »Blitzkrieg« der britische Autor Len Deighton, »ließen ihn zu der Überzeugung kommen, daß er die Schraube seiner territorialen Forderungen ruhig noch etwas stärker anziehen könne, ohne einen Krieg mit den Ländern jener Politiker befürchten zu müssen, die er geringschätzig ›alte Kaffeetanten‹ nannte.«
Einige Anzeichen sprachen dafür, daß Hitler endgültig den Bogen überspannt hatte und das Ende der verhängnisvollen Apeasement-Politik gekommen war. Großbritannien führte die allgemeine Wehrpflicht ein und garantierte erstmals Warschau die Existenz des polnischen Staates. Der britische Generalstab kalkulierte die Dauer des drohenden Krieges auf drei Jahre. Während in Paris der Defätismus umging (»Mourir pour Danzig?«), richtete sich die Insel auf eine mörderische Zukunft ein: An die Bewohner nichtunterkellerter Häuser wurden Schutzbehälter verteilt; die zwei Meter hohen, splittersicheren Stahlkästen, von denen 2,5 Millionen benötigt wurden, waren im Garten oder auf Hinterhöfen zu vergraben. Gleichzeitig ordnete die Regierung die Massenfertigung billiger Pappmaché-Särge für künftige Opfer des Luftkriegs an. Eine ebenso vorsorgliche wie herzlose Bürokratie ließ in Erwartung der Bevölkerungsverluste eine Million Sterbeurkunden auf Vorrat drucken.
Die Franzosen, längst mit den Polen verbündet, begannen sich jetzt doch ihrer Verpflichtungen zu erinnern und zogen Reservisten ein. In ihren Schulen gab es ein neues Pflichtfach: Luftschutz. Am Himmel über Frankreich erschienen britische Bombergeschwader, um für die Waffenbrüderschaft zu demonstrieren.
Die gesteuerte deutsche Presse empörte sich einstimmig über die Provokation. Die eigenen Schritte an den Abgrund wurden nach der Sprachregelung von Propagandaminister Dr. Joseph Goebbels verniedlicht oder vertuscht: Kriegsvorbereitungen wurden Friedensbeschwörungen, die Mobilmachung in Wellen wurde als Reservistenschulung bezeichnet, der Aufmarsch an der polnischen Grenze als Sommerübung.
Während der Oberbefehlshaber der Luftwaffe, Hermann Göring, »Hermann Maier heißen wollte, wenn es einem Feindflugzeug gelänge, die Grenzen des deutschen Reiches zu überfliegen«, wurden dreizehn- bis vierzehnjährige Hitler-Jungen als Melder bei feindlichen Luftangriffen ausgebildet. Gauleiter besichtigten den in größter Eile errichteten Westwall; zwischen Aachen und Lörrach waren 22 000 Betonbunker in einer Tiefe bis zu 50 Kilometern entstanden. Die »Siegfried-Linie« – so nannten die Engländer den Westwall, wurde in der deutschen Presse als uneinnehmbare Festung gefeiert; die Militärs freilich hielten ihn eher für ein Propagandabollwerk.
Am 22. Mai 1939 hatten Deutschland und Italien ein militärisches Beistandsabkommen geschlossen, den »Stahlpakt«. Während Hitler weiterhin den Frieden beschwor, wie ein Gaukler die Schlange, wurde die Wehrmacht auf eine Stärke von 102 Divisionen gebracht – die Reichswehr hatte vor sechs Jahren über zehn Divisionen verfügt. 1914 waren im deutschen Kaiserreich 25 Jahrgänge ausgebildeter Reservisten verfügbar gewesen; 1939 waren es nur fünf, und nur etwa die Hälfte der auf dem Papier stehenden Streitkräfte war voll einsatzfähig. Aber die neue Wehrmacht hatte als »Legion Condor« in Spanien Kriegserfahrung gesammelt und ihre Waffen erprobt, insbesondere das taktische Zusammenspiel von Flugzeugen mit Panzern, aus dem die Rezeptur der Blitzkriege entstehen sollte.
Die deutschen Generale hatten sich Hitler gegenüber fast geschlossen gegen den Krieg ausgesprochen, den sie ihm ermöglichten. Einige waren inzwischen abgesetzt oder in den Ruhestand befördert worden. Die meisten aber waren nicht so sehr gegen die blutige Auseinandersetzung selbst als vielmehr gegen den verfrühten Zeitpunkt, an dem sie ausgelöst werden sollte. Hitler ließ sich nicht von seiner Absicht abbringen, die Kriegsvorbereitungen gingen weiter, offen oder getarnt, gefährlich und mitunter auch lächerlich.
Durch die überstürzte Wiederaufrüstung und die Einberufung vieler Zivilisten waren Arbeitskräfte in Deutschland knapp geworden; eine staatliche Verordnung schaffte deshalb die Berufe der Hotelpagen, Türsteher, Bauchladenverkäufer und Eintänzer ab. Das »Reichsamt deutscher Kleingärtner« forderte in einem Erlaß die Blumenfreunde auf, neue Schrebergärten anzulegen, um die Versorgung der Bevölkerung mit Kartoffeln, Gemüse und Kleintieren sicherzustellen. Jede Hausgemeinschaft mußte insgesamt zwölf Luftschutzgeräte vorweisen; die Luftschutzwarte hatten die Volksgasmasken zu kontrollieren. Weniger sichtbare Kriegsvorbereitungen waren die soeben erfolgte Stiftung des »Mutterkreuzes« – ab dem vierten Kind – und die Gründung des »Lebensborns«, der die Zeugung lediger Kinder im gigantischen Ausmaß förderte; beide NS-Errungenschaften sollten den zu erwartenden Blutverlust ausgleichen.
Im August erreichte die Greuelhetze gegen Polen den Siedepunkt. Der Nervenkrieg droht zu einem Schießkrieg zu werden.
Am 19. schloß das Nachbarland den kleinen Grenzverkehr mit Deutschland. Eine Teilmobilmachung im Korridor, der Ostpreußen vom übrigen Reichsgebiet abtrennte, war längst erfolgt. Drohungen, Gegendrohungen, Greueltaten der Polen gegen eine Million Volksdeutscher in ihrem Land füllten seit Wochen den größten Teil der Nachrichtensendungen des Reichsrundfunks. Tagtäglich wurden mit sadistischer Ausführlichkeit Kinder mißhandelt, Frauen geschändet und Männer erschlagen. Es war nicht alles Lüge, was tönte. Die Polen – sie hatten sich im Vorjahr durch den Raub des Territoriums von Teschen am Ausverkauf der tschechoslowakischen Republik beteiligt – zeigten einen unbändigen Nationalstolz, der gelegentlich in Chauvinismus ausarten konnte. Dadurch war es nicht selten zu Gewalttätigkeiten und Exzessen gegen die deutsche Minderheit gekommen. Aber das Propagandaministerium des Dr. Joseph Goebbels übertrieb maßlos, machte aus angeblich 6000 Toten der antideutschen Pogrome 60 000, aus jeder Ohrfeige einen Totschlag, aus jedem Fußtritt einen Mord.
Nacht für Nacht kam es jetzt im Korridor und im Grenzgebiet zu deutsch-polnischen Zusammenstößen und Schießereien. An der 2000 Kilometer langen Grenze fielen fortgesetzt Funken in ein Pulverfaß. Dabei hatte Hitler bereits 1934 mit dem Nachbarland einen Nichtangriffspakt geschlossen. Göring, der es schätzte, zur Jagd nach Polen zu fahren, ließ nach jedem Bock, den er geschossen hatte, die deutsch-polnische Freundschaft hochleben. Noch am 25. und 26. Januar 1939 war Warschau beim Besuch des deutschen Reichsaußenministers Joachim von Ribbentrop ein einziges Flaggenmeer mit vielen Hakenkreuzfahnen gewesen. Bei der Sudetenkrise hatten sich die Polen offen auf die Seite Hitlers gestellt, der sie kurze Zeit später mit seiner Forderung auf die Rückkehr der internationalisierten Stadt Danzig in das Reichsgebiet und exterritoriale Verkehrsstränge im Korridor verärgerte.
Die Propagandawalze war angeworfen worden. In Diplomatenkreisen kolportierte man die vertrauliche Äußerung des Diktators: »Polen erobere ich mit meinen motorisierten Verbänden in drei Wochen.« Die Polen fanden die Bemerkung lächerlich und sprachen ihrerseits von einer Schlacht bei Berlin, die sie mit ihren aus dem Korridor hervorbrechenden Reiterverbänden schlagen wollten. Das hielten auch die westlichen Verbündeten für Großsprecherei, aber der französische und englische Generalstab waren übereinstimmend der Ansicht, daß sich die polnische Armee ein halbes Jahr lang gegen die deutschen Invasoren halten könnte.
Inzwischen waren 57 Division, und damit fast alle aktiven Wehrmachtsverbände, an der polnischen Grenze zu einer, wie man auf beiden Seiten hoffte, »Operation Bluff« aufmarschiert. Hitler hatte der Luftwaffe versprochen, daß ein kriegsmäßiger Einsatz erst ab 1943 in Betracht käme und seiner Kriegsmarine sogar erst 1944. Der Westwall war nicht viel mehr als eine riesige Baustelle, und der Bombenvorrat deutscher Kampfflugzeuge reichte für genau 30 Tage.
An Rohstoffen war die Rüstung zu 25 Prozent bei Zink, zu 50 bei Blei, zu 70 bei Kupfer, zu 90 bei Zinn, zu 95 bei Nickel, zu 99 bei Bauxit, zu 65 bei Mineralöl und zu 80 bei Kautschuk von Einfuhren aus dem Ausland abhängig. Man hatte in aller Eile Vorratslager angelegt. Sie reichten bei Naturkautschuk für zwei, bei Magnesium für vier, bei Kupfer für sieben, bei Aluminium und Manganerzen für 19 Monate. Die Frage, wie Hitler unter diesen Umständen Krieg führen wollte, erhielt am 23. August 1939 eine furchtbare Antwort.
Großdeutschland und die Sowjetunion hatten sich verbündet. Die Welt stand kopf.
Stalin und Hitler, die Erzfeinde, Arm in Arm!
Rußland hatte am 18. April Großbritannien und Frankreich einen Dreierbund gegen Hitler angeboten und am 24. Juli einen entsprechenden Beistandsvertrag abgeschlossen. Er wurde jedoch nicht ratifiziert, weil die westlichen Alliierten der Roten Armee kein Durchmarschrecht durch Polen und Rumänien zugestehen wollten.
Während Stalin, Chamberlain und Daladier lustlos weiterverhandelten, erfolgte ein Blackout durch Partnertausch. Auf einmal standen die Nationalsozialisten und die Kommunisten, die man bisher wie Gift und Gegengift eingeschätzt hatte, in einer Linie.
Entsetzen in Polen, Verwirrung in Paris, Bestürzung in London, Erleichterung in Deutschland. Polen stand allein. Die Gefahr eines Zwei-Frontenkrieges schien gebannt, und die Russen würden künftig 52 Prozent ihrer gesamten Ausfuhr nach Deutschland liefern: monatlich 58 545 Tonnen Mineralöl, 10 625 Tonnen Phosphate, 6900 Tonnen Manganerze, 700 Tonnen Kupfer, 88 877 Tonnen Getreide, 6104 Tonnen Baumwolle, 2624 Tonnen Ölkuchen und fast 100 000 Tonnen Holz. Es war ein Gegengeschäft: Die Sowjetunion, die Hitler wirtschaftlich den Kriegsantritt ermöglichte, erhielt dafür deutsche Waffen – die nicht einmal zwei Jahre später auf die deutschen Eindringlinge gerichtet sein würden.
Der Diktator schickte sich an, den Schock der Alliierten auszunutzen, um über Polen herzufallen. »Diesmal wollte Hitler keinen neuen Blumenkrieg«, stellt der britische Autor Len Deighton fest. »Er wollte einen echten Krieg und einen militärischen Sieg in Polen. Doch er wollte Frankreich und England nicht in einen solchen Konflikt verwickeln.« Am Nachmittag des 25. August war an das Oberkommando der Wehrmacht der Angriffsbefehl für den kommenden Morgen, 4 Uhr 30, ergangen.
Stunden später war der Aufmarsch angelaufen. Göring hatte das Stichwort »Ostmarkflug« ausgelöst, und seine fliegenden Verbände rückten auf frontnahe Plätze auf. Von fünf deutschen Armeen, verteilt auf die Heeresgruppe Nord und Süd, gingen laufend Vollzugsmeldungen ein.
Dann kam Mussolinis Intervention, der Hitlers Angriffsstopp folgte; er glaubte noch immer nicht, daß die Franzosen und Engländer nach Abschluß des deutsch-sowjetischen Nichtangriffspaktes in den Krieg eintreten würden; er sah eine Chance, sie durch nichtssagende Versprechungen und hinhaltende Verhandlungen aus dem Konflikt herauszuhalten, und er hatte seinen Befehl zum Angriff widerrufen, als der Aufmarsch in die Bereitstellungen in vollem Gange war.
Europa hatte eine letzte Gnadenfrist: sechs Tage voller Hektik, Panik, Angst und Hoffnung. In Paris rotteten sich die Reservisten zusammen und tranken in den Straßencafés lärmend auf den Frieden. »Diese Narren«, quittierte der französische Premierminister Edouard Daladier die Demonstration, »wenn sie wüßten, was sie hochleben lassen!«
Am 26. August ließ der Politiker in einem Brief Hitler eine persönliche Botschaft überreichen; Daladier beschwor den »Führer« »von Frontkämpfer zu Frontkämpfer«, den Frieden zu erhalten, darauf hinweisend, daß Frankreich verständigungsbereit bleibe, aber im Kriegsfall seine Verpflichtung gegenüber den Polen einhalten müsse.
Am gleichen Tag erhielten die Schiffe der deutschen Handelsmarine von der Regierung den Befehl, in ihre Häfen zurückzukehren oder nicht auszulaufen. Gleichzeitig wurde der zivile Luftverkehr über Deutschland gesperrt. Am nächsten Tag schränkte die Reichsbahn ihren Fahrplan erheblich ein. Ab 28. August rollten von Frankreich aus keine Eisenbahnzüge mehr nach Deutschland. Wer – legal oder illegal – in das Nachbarland einreisen wollte, wurde an der Grenze zurückgewiesen.
Paris begann mit der Evakuierung der Schulkinder. Die Schweiz, Belgien und die Niederlande ordneten zum Schutz ihrer Neutralität eine Teilmobilmachung an. Deutschland führte die Bezugscheinpflicht ein.
Am 28. August wurde der britische Botschafter Neville Henderson bei Hitler vorstellig: Großbritannien bot ein letztes Mal seine guten Dienste an und erklärte sich bereit, Direktgespräche zwischen Deutschland und Polen zu vermitteln. Hitlers Antwort erfolgte einen Tag später und bestand aus erneuten Forderungen und neuerlichen Friedensbeteuerungen. Danzig und den Korridor bezeichnete er wieder einmal als seine »letzten territorialen Ansprüche«. Aber sein Gegenspieler fiel auf die heuchlerischen Zusicherungen nicht mehr herein.
Chamberlain, den der frühere Premierminister Lloyd George als einen »Dummkopf« bezeichnet hatte, »ein nüchterner, ehrenhafter und sehr fleißiger Mann, mit der Mentalität eines Büroangestellten« (Len Deighton), war als Bürgermeister der Stadt Birmingham ein bewährter Kommunalpolitiker gewesen, der mehr oder weniger zufällig in die große Politik geschwemmt worden war und bei der Bevölkerung durch die Kürzung des Wehretats einigen Rückhalt gefunden hatte. Der alte Herr, der erstmals auf dem Weg nach München in einem Flugzeug gereist war, zeigte sich nunmehr ergrimmt über die Wortbrüche des braunen Diktators; noch erboster war er auf sich selbst, weil er auf einen politischen Betrüger hereingefallen war. Bedrängt von seinen eigenen Parteifreunden wie Winston Churchill, war er entschlossen, sich auf verbale Unverbindlichkeiten nicht mehr einzulassen.
Hitler, bestärkt von Ribbentrop, den der Diktator für einen »zweiten Bismarck« hielt, wiewohl er nur ein arroganter Sektverkäufer war, traute dem englischen Staatschef noch immer keine harte Haltung zu; er trieb sein altes Spiel weiter, erklärte sich bereit, einen polnischen Unterhändler zu empfangen, ließ ihn jedoch nicht vor und behauptete, von ihm versetzt worden zu sein.
»Als am 31. August die Sonne unterging, schien es noch eine winzige Möglichkeit für Verhandlungen zu geben«, schildert Raymond Cartier die Situation am Tag, an dem der Friede in der Agonie lag. »Hitler erklärte sich bereit, einen Bevollmächtigten Polens zu empfangen, nachdem Mussolini kurz zuvor eine internationale Konferenz zur Regelung aller europäischen Streitfälle vorgeschlagen hatte. In dieser Nacht schlief Europa ruhiger als in den vorangegangenen Nächten. Man war überzeugt, daß der kritische Punkt der Krise überschritten und der Friede noch einmal gerettet sei.«
Aber der selbsternannte Oberbefehlshaber der Wehrmacht hatte zu diesem Zeitpunkt den »Fall Weiß« zum zweiten Mal ausgelöst. Der Angriffsbefehl auf Polen war gegen 17 Uhr bei den militärischen Oberbefehlshabern eingegangen. In der Direktive Nummer 1, der ersten von 75, die er während des Zweiten Weltkriegs erlassen würde, hieß es: »Der Angriff gegen Polen ist nach den für den ›Fall Weiß‹ getroffenen Vorbereitungen zu führen mit den Abänderungen, die sich beim Heer durch den inzwischen fast vollendeten Aufmarsch ergeben. Aufgabenverteilung und Operationsziel bleiben unverändert. Angriffstag: 1. 9. 39.«