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Madeleine verdient sich ihren Lebensunterhalt als Callgirl. Einen gewissen Lebensstandard will sie sich einfach leisten, sie ist verrückt nach der Anerkennung und dem Luxus, den ihr Job ihr sichert. Sie hat auch keine Skrupel, sogar auf Erpressung zurückzugreifen, um noch ein bisschen mehr Geld einzuheimsen.Das ändert sich jedoch schlagartig, als sie ihr Herz an den jungen Ingenieur Gert verliert. Gert kommt aus einer ganz anderen Welt und kann Madeleine keinen Luxus bieten, doch sie erkennt durch ihn, dass es da noch etwas anderes gibt, wonach sie sich sehnt. Doch als Madeleine ihr altes Leben hinter sich lassen und einen Neuanfang wagen will, machen dunkle Mächte aus ihrer Vergangenheit ihr einen Strich durch die Rechnung. Madeleine gerät immer tiefer in ein Netz aus Lügen, Erpressung und Intrigen.-
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Seitenzahl: 267
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Will Berthold
Roman
SAGA Egmont
Madeleine Tel. 136211
Genehmigte eBook Ausgabe für Lindhardt og Ringhof Forlag A/S
Copyright © 2017 by Will Berthold Nachlass,
represented by AVA international GmbH, Germany (www.ava-international.de).
Originally published 1959 by Aktueller Buchverlag, Germany.
All rights reserved
ISBN: 9788711727034
1. Ebook-Auflage, 2017
Format: EPUB 3.0
Dieses Buch ist urheberrechtlich geschützt. Kopieren für andere als persönliche Nutzung ist nur nach Absprache mit Lindhardt og Ringhof und Autors nicht gestattet.
SAGA Egmont www.saga-books.com und Lindhardt og Ringhof www.lrforlag.dk – a part of Egmont www.egmont.com
Der sanfte, laue Frühlingsabend schluckte den Tag. Sein Lärm und seine Hast wichen dem ersten Aperitif. Wo man Zeit, ein wenig Geld und einen breiten Boulevard hatte, traf man sich zum Cocktail: auf den Champs Elysées in Paris, auf der Via Veneto in Rom, oder hier, am Kurfürstendamm von Berlin.
Der Vorbeimarsch der Eleganz riß nicht ab. Mannequins von Horn. Schauspielschülerinnen der Ufa. Hübsche, gekonnt aufgemachte Mädchen, vom Boulevard zum Schick erzogen.
Karin Kardell ließ sich im Strom der Passanten treiben. Sie übersah die bewundernden Blicke der Männer. Ihr Selbstbewußtsein stakste unbekümmert auf mittelhohen Stöckelschuhen. Sie war hübsch und blond. Ihre Haare wanden sich wie eine zierliche Girlande um den schmalen Kopf. Der helle, leichte Sommermantel verriet eine Figur, nach der man sich an diesem linden, wogenden Frühlingsabend umdrehte.
Karin ging langsam weiter, blieb ab und zu vor den üppigen Angeboten der Auslagen stehen. Der Geldmangel bremste ihre Neugier. Der Luxus hatte sich in dieser Straße der zweigeteilten, deutschen Hauptstadt angesiedelt. Das deutsche Wunder. lächelte, lauerte, lockte.
Karin suchte nicht Luxus, sondern Luft. Sie war Studentin im Examenssemester, und man sah ihr nicht an, daß sie mehr mit Paragraphen als mit Modefragen umging. Sie war bewußt adrett und unbewußt kokett. Wer sie kannte, mochte sie, und wer sie mochte, kannte sie. Sie stand vor der letzten Hürde zu ihrem Beruf. Wenn alles klappte, würde sie bald den schwarzen Talar einer Strafverteidigerin mit der gleichen natürlichen Anmut um ihre schmalen Schultern werfen wie jetzt den hellen Trenchcoat. Aber vorher mußte sie noch ihren Doktor bauen. Heute, an diesem sonnigen Maitag, hatte Karin Kardell erfahren, daß das vorbereitete Thema aus dem strafrechtlich-soziologischen Grenzgebiet schon besetzt war. Sie mußte sich deshalb an eine neue Aufgabe machen. Und so ging sie jetzt zerstreut über den Ku-Damm, als ob sie hier das Ersatz-Thema finden könnte.
Plötzlich schreckte Karin hoch. Ein Auto bremste am Straßenrand mit lautem, häßlichen Geräusch. Am Gehsteig stoppte ein offener, schwarzer Sportwagen mit einer hübschen jungen Frau am Steuer, die fahrig ausstieg und weiterhastete. Im Vorbeigehen streifte sie die Studentin, drehte sich um, entschuldigte sich flüchtig … und im gleichen Moment erkannte Karin die alte Schulfreundin wieder: Madeleine Petrowitt, deren frühe Schönheit und ausgefallener Name einst ständiges Gesprächsthema des Lyzeums waren.
»Mein Gott«, sagte Karin lachend, »du?«
»Ja«, antwortete Madeleine. Ihr blasses Gesicht weitete sich zu einem mechanischen Lächeln. Vier Sekunden übersprangen vier Jahre. Die früheren Freundinnen gaben sich fast verlegen die Hand, standen unschlüssig in der Flut der Passanten.
Madeleine Petrowitt hielt selbst hier, am verwöhnten Ku-Damm, noch jedem Vergleich stand. Sie war schöner als hübsch, eleganter als notwendig und kühler als erfreut. Bei ihrem direkt auf die Haut geschneiderten Kleid assistierte das Geld dem Geschmack. Ihre kurzgeschnittenen Harre hatten den natürlichen, blauschwarzen Metallschimmer, den der geschickteste Coiffeur nicht künstlich zaubern kann.
»Du, Madeleine?« wiederholte Karin. »… Und so in Eile?«
»Ja, leider.«
»Reicht es wenigstens zu einer Tasse Kaffee?«
»Ja«, entgegnete die Freundin zögernd.
Sie gingen ein paar Schritte zum Espresso zurück.
»Wir haben uns ja völlig aus den Augen verloren«, begann Karin, »du hast dich aber herausgemacht … ich hörte vor langer Zeit, daß du nach dem Westen verzogen bist. Nach Frankfurt.«
»Das war ich.«
»Und jetzt?«
»… bin ich wieder in Berlin.«
»Für immer?«
»Ich denke.«
Sie setzten sich an die hufeisenförmige Theke. Ein ältliches Büfett-Mädchen erhob sich träge, nahm die Bestellung entgegen. Karin betrachtete Madeleine von der Seite. Du bist älter geworden, dachte sie, aber das steht dir gut, und nervöser, das kleidet dich schlecht.
»Sag mal«, begann Karin, »dein Mann ist wohl Millionär?«
»Ich bin nicht verheiratet.«
»Dann gratuliere ich zu deinem Beruf.«
»Ich hab’ eigentlich … keinen«, versetzte Madeleine unwillig.
»Im Lotto gewonnen?«
»Nein«, antwortete Madeleine noch knapper. Sie fuhr sich mit der Hand über die gepflegten Haare, als ob sie die Fragen wegwischen wollte. »Wir haben uns wirklich lange nicht gesehen«, sagte sie dann mit steifem Lächeln.
»Ja, vier Jahre. Gehört der schwarze Sportwagen dir?«
»Ja.«
Karin lächelte.
»Ich habe immer gewußt, daß du es weit bringen wirst.« Alle an der Schule hatten Madeleine eine große Zukunft vorausgesagt: Filmstar, Schönheitskönigin, Chefstewardeß, Starmannequin, und dann später Frau eines Industriekönigs, eines Bankiers oder eines Großaktionärs. Die jungen Lehrer waren immer rot und die älteren immer unsicher geworden, wenn die Schülerin Petrowitt sie ansah. Schon als Teenager hatte Madeleine die überlangen Beine, den federnden Gang, die kühlen Augen, die sicheren Hände. Und die Gewohnheit, Komplimente so gelassen hinzunehmen wie Zensuren.
Madeleine kritzelte hastig ihre Adresse auf einen Zettel.
»Du mußt mich mal besuchen«, sagte sie fahrig. »… aber ruf mich in jedem Fall vorher an, ja?«
»So viele Gäste?«
»Viele«, erwiderte Madeleine mit ausdruckslosem Gesicht. »Und was machst du?« fragte sie dann schnell.
»Ich studiere noch.«
»Studieren …« Ein paar Sekunden lang schien die Freundin ihrer Stimme nachzuhorchen.
Das Büfett-Mädchen hielt sich in der Nähe, verfolgte das Gespräch, lächelte bissig. Was hat sie denn, überlegte Karin, kennt sie Madeleine? Warum benimmt sie sich so auffällig?
»Ich muß gehen«, sagte die Freundin. Sie wandte Karin ihr Gesicht zu. »Also«, setzte sie hinzu, »du kommst bald? Auf Wiedersehen.«
Karin sah ihr nach, schüttelte den Kopf. Geld allein, dachte sie … und drängte den Gemeinplatz zur Seite. Sie spürte, daß mit Madeleine etwas nicht stimmte. Aber es sah aus, als ob es ihr gut ginge. Liebeskummer? Bestimmt nicht. Geldverlegenheit? Der Solitär an ihrer linken Hand verneinte die Frage. Sicher nur Langeweile, vornehme Migräne oder so etwas Ähnliches.
»Bitte«, sagte die Kellnerin und schob Karin eine zweite Tasse Espresso zu.
Die Studentin merkte, daß sie etwas sagen wollte, lächelte ihr zu. Es war nicht ihre Art, sich mit Büfett-Mädchen über ihre Freunde zu unterhalten, aber die seltsame Wiederbegegnung mit Madeleine erzwang eine Ausnahme.
»Kannten Sie die Dame?« fragte sie.
»Und ob.«
»Kommt sie öfter hierher?«
»Ja«, versetzte das ältliche Mädchen, »und nie alleene.«
»Mit einem Herrn?«
»Mit einem?« Die Kellnerin lachte derb und gewöhnlich. »Na hören Se, Fräulein, jeden Tach’n anderer … mir jeht’s ja nischt an … aber mit so wat würd’ ich nich verkehr’n.«
»Wieso?« fragte Karin, ärgerlich über die eigene Neugier.
»Wenn Sie wüßten, wat die alles treibt …«
Die Studentin lächelte über die Erregung des Büfett-Mädchens. Wer unbeschränkt Männergunst erntet, sät reichlich Frauenhaß, überlegte sie belustigt.
»Det is eine, die den janzen Tach am Telefon hockt und wartet … Call-girl heeßt det!«
»Was … was sagen Sie da?« fragte Karin erschrocken.
»Na, so’n Rufmädchen … wissen Se, man wirft ’nen Groschen in den Apparat, und denn kommt se … zu jedem, der blecht für det Vajnüjen …«
»Erlauben Sie mal!« brauste Karin auf.
»Mir jeht’s ja nischt an«, antwortete das Büfett-Mädchen hartnäckig, »aber da können Se Jift druf nehmen. Wat meenen Se, wieviel von der Sorte sich hier am Ku-Damm herumtreiben? Und die große Dame spielen … Und nischt dahinter …! Außen hui, und innen pfui!«
Karin schwieg. Die Kellnerin wertete es als Aufforderung.
»Ick kenn se alle, diese Dämchen … Da ist ’ne Villa in Grunewald, da sind se zu Hause … da lernen se det Jewerbe von der Pike uff.«
Karin zahlte und ging. Irgendwie fühlte sie instinktiv, daß die Kellnerin die Wahrheit gesagt hatte. In ihren Ohren dröhnte es nach: Call-girl … Rufmädchen … Villa in Grunewald … Vergnügen … bezahlen … Gewerbe.
Und dann rekonstruierten Karins Gedanken den schwarzen Sportwagen, das teure Kleid, das müde Gesicht, die schleppenden Worte.
Mein Gott, dachte sie, Madeleine Petrowitt! Das war also die große Zukunft, der Glanz, der Reichtum, die Karriere?
Soll ich sie aufsuchen? Kann ich ihr helfen? Lacht sie mich nicht aus, wenn ich es versuche?
An diesem Abend begann die seltsame Geschichte der Karin Kardell. Das junge, hübsche Mädchen ging ahnungslos, mit sicheren Schritten, der Verwirrung der nächsten Wochen entgegen …
Madeleine fährt langsam den Ku-Damm auf und ab. Knapp am Randstein. Sieht und wird gesehen, bildet auf der Prachtstraße ein Stück Glanz und tarnt eine Portion Elend. Die Neonlichter huschen über ihr Gesicht, malen es rot, grün, blau an. Sie lächelt pin-up. Ihre Augen tasten sich an den Gesichtern der Passanten entlang. Sie lernte, im Wagen sitzend, im ersten Gang fahrend, aus zehn Schritt Entfernung, sie zu taxieren. Sie lebt davon, daß sie die Brieftaschen richtig einschätzt.
An der Gedächtniskirche wendet Madeleine. Noch einmal will sie den Ku-Damm entlangfahren. Sie braucht hier keine Bekannten aufzulesen. In der Regel hört Madeleine zuerst ihre seltsamen Freunde, bevor sie sie sieht. Dann, wenn das Telefon anschlägt.
Sie parkt ihren Wagen auf der Höhe von ›Kempinski‹, zieht die Blicke auf sich. Ihr Lächeln verstärkt sich. Sie betrachtet Auslagen, nimmt einen Cocktail, sieht auf die Uhr. Zeit, daß ich nach Hause komme, denkt sie, geht langsam zu ihrem Wagen zurück, schaltet die Zündung ein, gibt Gas. Der Motor springt nicht an. Sie versucht es wieder und wieder. Die Batterie orgelt sich leer. Die Passanten bleiben stehen und lachen schadenfroh. Madeleine zuckt die Schultern, will aussteigen, eine Werkstatt anrufen.
Da kommt ein Mann auf sie zu. Er ist groß, hat breite Schultern und schmale Lippen, zieht den Hut, lächelt.
»Kann ich Ihnen helfen?«
»Bitte.«
Er hebt die Kühlerhaube.
»Treten Sie bitte auf den Anlasser«, ruft er Madeleine zu.
Sie tut es. Vergeblich.
»Gleich, wo ist das Werkzeug?« Er nimmt den Schlüssel, schraubt die Zündkerzen heraus, macht sich die Hände schmutzig, kümmert sich nicht um die Neugierigen und arbeitet mit der Sicherheit eines Automechanikers unter der Motorhaube. Die Kerzen sind verölt. Der Helfer schafft es in zehn Minuten.
Madeleine lächelt ihn an.
»Vielen Dank.«
Er nickt und will gehen.
»Darf ich mich erkenntlich zeigen?« fragt sie.
»Und wie wollen Sie das?« erwidert der Mann lächelnd.
»Vielleicht … ein Drink?«
»Dagegen hätte ich nichts.« Er steigt ein, betrachtet Madeleine von der Seite, spürt auf einmal den Schmutz an seinen Händen.
»Berliner?« fragt das Mädchen.
»Ja.«
»Und was machen Sie?«
»Ingenieur.«
»Autos?«
»Nein … Hochbau.«
»Es war sehr nett von Ihnen, mir zu helfen.«
Sie fahren Richtung Halensee.
»Wohin?« beginnt Madeleine wieder.
»Wohin Sie wollen«, antwortet der Mann. »Übrigens … ich heiße Klaiber. Gert Klaiber … Aber Sie brauchen den Abend nicht an mich zu verschwenden.«
»Ich habe nichts vor«, erwidert Madeleine … und gibt einer Laune nach.
»Ich auch nicht«, entgegnet der junge Ingenieur.
Madeleine fährt Richtung Wannsee zu einem Terrassenlokal.
»Waren Sie schon einmal hier?« fragt das Mädchen.
»Nein«, antwortet Gert Klaiber. Er überlegt angestrengt, wieviel Geld er bei sich hat.
Das Mädchen durchschaut seine Gedanken und lächelt.
Der Ingenieur entschuldigt sich und wäscht sich die Hände. Jetzt wäre mir viel wohler, denkt er, wenn ich die Zündkerzen in einem alten Gefährt montiert hätte, statt in einem Luxuskabriolett.
Die Ober dienern in Linie zu drei Gliedern. Gert Klaiber bestellt etwas anderes, als er will. Seine Augen haben mehr Appetit auf Madeleine als sein Gaumen auf die Krebssuppe. Ein paar Herren grüßen vom Nebentisch. Madeleine dankt reserviert. Nach dem Essen zieht sie ihre Lippen nach, obwohl das Rot auf Taille sitzt. Gert starrt sie an. Sie lacht laut auf.
»Was haben Sie denn?« fragt sie.
»Sie sind wohl oft hier?«
»Manchmal.«
»Also – sehr reich.«
»Und Sie – sehr arm?« fragt Madeleine spöttisch.
Er nickt. Sie streift ihn mit einem Seitenblick.
»Aber Ihr Schuhwerk ist noch gut?« antwortet sie.
»Was heißt das?«
»Es würde den Slowfox überstehen?«
Der junge Ingenieur steht auf und verbeugt sich. Madeleine läßt ihre Nerzstola lässig auf den Stuhl gleiten und nimmt seinen Arm. Bis zur Tanzfläche laufen sie Spießruten. Man flüstert hinter Madeleine her. Alle kennen sie, denkt Gert. Aber er wird noch lange nicht wissen, warum einige Gäste sie kennen.
Sie tanzen gut. Trotz ihrer bleistiftdünnen, überhohen Stökkelschuhe ist der Ingenieur noch ein paar Zentimeter größer. Die als Spanier verkleideten Musiker spielen fast pausenlos, Melodien, denen Gert sonst am Radio den Ton abdreht. Heute gehen ihm die Schnulzen unter die Haut.
Madeleine hat die Augen halb geschlossen.
»Wenn Sie einmal etwas angefangen haben«, sagt sie, »hören Sie so schnell wohl nicht wieder auf.«
Gert bleibt lachend stehen. Sie gehen zurück. Der Sekt hat mittlerweile die richtige Temperatur.
»Ich meine«, beginnt er, »daß Sie Ihre Dankesschuld nun abgetanzt haben.«
Madeleine lächelt. Weiß gar nicht, was ich von ihm will, denkt sie dabei. Er gehört ganz bestimmt nicht zu den Männern, um die ich mich sonst kümmere. Aber er ist eine Erholung, weil er so offen, so sympathisch und so bescheiden ist. Weil er nicht die sezierenden Blicke, die feuchten Hände und die kurzatmige Wichtigkeit der anderen hat. Warum soll ich mich nicht auch einmal zwei Stunden amüsieren?
»Warum denn so bescheiden«, erwidert sie.
»Ich weiß nicht recht«, antwortet der Ingenieur, »ich bin sonst gar nicht so. Aber das hier … die Gäste, die Autos, und diese Verschwendung an Kellnern … und Tellern … und Sie …«
»Aparte Reihenfolge.«
»Entschuldigung … wahrscheinlich schon der Sekt … Das Ganze kommt mir vor wie das Märchen von der Prinzessin und dem Schweinehirten.«
Sie gehen. Der Ingenieur bezahlt die Zeche. Er sah Madeleines zögernden Blick nach der Handtasche und wurde ärgerlich. Dann bemerkt sie, wie sein Blick vom Lenkrad ihres Autos gefangen wird.
»Wollen Sie fahren?« fragt Madeleine.
»Darf ich das?«
»Vielleicht …noch mehr.«
»So schnell?« fragt er spöttisch.
»Der Wagen?« antwortet sie ironisch.
Der junge Ingenieur lacht laut, startet, nimmt sich vor, langsam zu fahren. Dann erobert ihn das Gaspedal. Es siegt die alte Freude des Mannes am Auto, besonders des Mannes, der keinen eigenen Wagen besitzt.
Madeleine lehnt sich zurück, dreht am Radio. Für Gert Klaiber setzt sich der Reigen plötzlich geschätzter Schlagermelodien fort. Vielleicht kommt er deshalb vom kürzesten Weg ab, fährt quer durch den Grunewald, sieht wenig nach den Bäumen und viel nach seiner Begleiterin. Die Musik, die Frühlingsnacht, der Duft ihres Parfüms fangen ihn ein, streicheln ihn, nehmen seinen Fuß vom Gashebel, schwenken das Steuer nach rechts, lassen ihn anhalten.
Das Mädchen beobachtet ihn, ein wenig neugierig, ein wenig mitleidig.
»Was haben Sie denn vor?« fragt Madeleine kokett.
»Das«, erwidert er, zieht sie an sich, küßt sie.
Sie wehrt sich nicht, lächelt mit geschlossenen Augen. Ganz hübsch mitunter, ein bißchen Romantik, denkt sie. Und sicher ist er netter als die Männer, in deren Notizbüchern meine Telefonnummer steht. Aber bloß keine Sentimentalität! Damit hättest du es nicht so weit gebracht. Jetzt besitzt du einen Wagen, eine Wohnung, einen Nerz, ein Bankkonto, und kein Gert Klaiber hätte dir das je bieten können.
Hinter ihnen blinken die Lichter eines Polizeiwagens auf und ab. Das Auto stoppt. Ein Polizist mit weißer Mütze geht auf den Sportwagen zu.
»Wissen Se, wo Sie stehen, Mann?« fragt er.
»Im Grünen«, antwortet Gert.
»Denkste«, erwidert der Polizist. »Mitten auf dem Radfahrweg … zahlen Se zehn Mark und jeben Se Jas … Nach dreihundert Meter kommt ’n Parkplatz.« Er kassiert, tippt an seine Mütze und geht lachend zu seinem Wagen zurück.
»Schade«, sagt der junge Ingenieur.
»Um die zehn Mark?«
»Um die Stimmung«, entgegnet er lächelnd.
Dann gibt er Gas, übersieht ihren verwunderten Blick und fährt zurück in die Stadt. Der Abend war schön, denkt er. Sehr schön sogar. Und er wird sich nicht wiederholen. Soll er auch gar nicht … denn du, Gert Klaiber, Diplomingenieur für Hochbau, mit dem ersten großen Auslandsauftrag in Sicht, stehst mit beiden Beinen auf dem Boden … auch wenn du mitunter gern in einem fremden Auto sitzt.
Unvermittelt stoppt er den Wagen.
»Ich steige hier aus«, sagt er knapp.
»Warum denn?« fragt das Mädchen lockend.
Gert zuckt die Schultern, lächelt. Es soll flott aussehen und wirkt doch ein wenig wehmütig.
Madeleine wechselt zum Lenkrad hinüber.
»Sehen wir uns wieder?« ruft sie ihm nach und ärgert sich, daß sie ihm nachruft.
»Vielleicht«, versetzt er knapp.
»Wo?«
»Am Ku-Damm.«
Sie tritt so ärgerlich auf das Gaspedal, daß sie den Motor abwürgt. Madeleine wölbt die Unterlippe nach vorne. Arm aber ehrlich, denkt sie. Aber verdammt noch mal, ich will reich sein.
Der Professor sprach wie immer frei. Seine Studenten schrieben wie immer mit. In der zweiten Reihe Karin Kardell, mit ungewohnter Zerstreutheit. Sie saß unter den Worten des Professors wie unter einer Glasglocke, und sah hindurch auf ein Leben, das Madeleine führte. Die ehemalige Freundin hatte auf einmal zwei Gesichter: das vertraute von früher und das gezwungene von heute. Seltsam, dachte die Studentin, da hörte ich nun Vorlesungen, machte juristische Übungen, schrieb Kommentare, präparierte mich für das Examen, beschäftigte mich theoretisch mit diesem makabren Fachgebiet … und auf einmal kommt die Praxis auf mich zu. Und das ausgerechnet in der Gestalt von Madeleine Petrowitt.
Karin versuchte, sich zu konzentrieren, schrieb ein paar Zeilen mit. Ihr Leben war 23 Jahre alt. Und sie blieb mit ihm zufrieden, ohne viel erlebt zu haben, die Flirts mit den Studenten endeten meistens mit dem Austausch der Scripte. Einladungen gelangten selten über ein Abendbrot hinaus. Karin kam, aß und ging.
Mitten in der Vorlesung richtete sich die Studentin plötzlich auf. Call-girls, dachte sie, das wäre doch ein Thema! Bestimmt neu, groß und unerschlossen! Im Laufe der letzten Jahre hatten sich in einigen deutschen Großstädten Call-girl-Zentren gebildet, denen die Polizei hilflos gegenüberstand. Mädchen, deren Leben Schmutz und deren Zahl Legion war. Welch eine Aufgabe, überlegt Karin. Versuch einer Therapie an Hand einer Analyse! ich muß mit dem Professor sprechen …
Sie wartete nach der Vorlesung am Gang und fing den Dozenten kurz vor seinem Zimmer ab. Er lächelte seine Lieblingsstudentin an.
»Schade«, sagte er, »daß Ihr Thema geplatzt ist, aber machen Sie sich nichts daraus, Karin, wie finden ein ähnliches.«
»Ich habe mir schon Gedanken darüber gemacht, Herr Professor«, antwortete sie hastig.
Er nickte.
»Was hielten Sie von einer Dissertation über … über Callgirls?«
»Call … was?« fragte der Dozent verblüfft. Er lächelte auf den Boden. »O ja«, fuhr er dann fort, »ich weiß, was Sie meinen … Kuppelei, unter Berücksichtigung moderner, technischer Hilfsmittel.«
»Ja«, sagte Karin.
»Das Thema ist gut«, erwiderte der Professor, »aber vermutlich unmöglich. Wissenschaftliche Literatur, Unterlagen, Erfahrungen? Wohl kaum, wie?«
»Eben«, entgegnete Karin.
Der Dozent zuckte die Schultern.
»Ich würde Ihnen ja gerne helfen … haben Sie schon einmal bei der Polizei nachgefragt?«
»Nein.«
»Versuchen Sie es.« Er holte eine Visitenkarte aus seiner Brieftasche, schrieb eine Empfehlung auf die Rückseite, übergab sie Karin. »Gehen Sie zu Kriminalrat Semmler«, sagte er, »das ist ein alter Freund von mir.«
»Danke, Herr Professor.«
»Und alles Gute!« rief er ihr nach, schüttelte den Kopf. Callgirls, dachte er, was ist das für eine Zeit.
Er sieht nicht aus wie ein Kriminalist. Aber vielleicht deshalb, weil man Kriminalbeamte meistens nur von der Leinwand her kennt. Er ist mittelgroß, ein wenig gebückt, trägt eine dunkle Hornbrille und gibt die Reserve erst auf, als ihm Karin Kardell die Visitenkarte ihres Professors zeigt.
»Tja, mein liebes Fräulein«, sagt Kriminalrat Semmler, »was soll ich Ihnen da sagen …? Im Grunde sind Call-girls überhaupt nichts Neues … es ist eine Prostitution auf gehobener Basis … und das ist ebenso modern, wie unsere Gesetze alt sind.«
Karin nickt.
»In Städten über 20 000 können wir gegen Damen des einschlägigen Gewerbes überhaupt dann nur vorgehert, wenn sie öffentlich Ärgernis erregen. Den Gefallen tun sie uns nicht … Ich meine«, setzt er hinzu, »im juristischen Sinne nicht.«
»Aber die Zentralen können Sie doch wegen Kuppelei belangen«, unterbricht ihn die Studentin.
»Gewiß, meine Dame, wir kennen sogar viele von ihnen. Wir wissen, wer dahintersteckt. Wir kennen fast alle Mädchen, wir registrieren die Treffpunkte, die Appartements, die Pensionen …«, der Beamte lächelt schmerzlich, »und wir kennen sogar die Herren Kavaliere.«
»Aber?« fragt Karin.
»Als Jurastudentin wissen Sie doch Bescheid. Als der Gesetzgeber den § 180 vorbereitete, gab es noch kein Telefon. Und jetzt sollen wir mit diesem § 180 der Unmoral per Telefon zu Leibe rücken. Das Gesetz ist geblieben, aber die Zeit hat sich geändert.«
Karin lächelt. Er hat eine nette Art, denkt sie, ein Problem zu analysieren. Natürlich, § 180 StGB …
»Aber dieser Paragraph müßte doch eine Handhabe sein?«
Der Kriminalrat steht auf.
»Gewiß, Fräulein Kardell, aber wo kein Kläger, da kein Richter. Und wo kein Zeuge, da kein Kläger. Wir haben oft schon Call-girls hier gehabt und vernommen. Die meisten geben alles ganz offen zu. Nur in einem leugnen sie hartnäckig: sie behaupten, daß sie ihren Zentralen nichts bezahlen. Und deshalb sind wir machtlos.«
»Aber …«, entgegnet Karin.
»Sehen Sie … und entschuldigen Sie bitte den harten Vergleich: Wenn Sie ein Call-girl wären und jetzt zu Protokoll gäben, daß Sie Frau Maier oder Herrn Huber ein Drittel Ihres … Ihres Entgelts jeweils geben … dann könnten wir Zuschlagen.« Kriminalrat Semmler schüttelt lachend den Kopf. »Na, Gott sei Dank, daß Sie keine solche Dame sind.«
Karin überlegt. Aber warum löst man nicht gleich das Sittendezernat der Kriminalpolizei auf? möchte sie fragen. Warum arbeitet man nicht mit Strohmännern, mit Fallen.
»Ich habe schwarz in schwarz gemalt, Fräulein Kardell, ganz so hilflos sind wir auch nicht. Wir haben uns gerade jetzt entschlossen, mit ganz neuen Mitteln gegen diesen Sumpf vorzugehen …«
Plötzlich denkt Karin an die Kellnerin, an ihre Worte: … Villa in Grunewald … von der Pike auf.
»Herr Kriminalrat«, fragt sie, »gibt es da eine Zentrale in einer Villa in Grunewald?«
»Frau Clavius?« antwortet Semmler überrascht, »… natürlich … haben wir schon lange im Auge.« Er macht eine erschrockene Bewegung mit der rechten Hand, als ob er den Namen zurückrufen wollte.
»Wissen Sie etwas über sie?«
»Nichts Bestimmtes«, erwidert die Studentin. »Wenn ich nun eine Freundin …«, Karin spürte die Röte in ihrem Gesicht, verbessert sich sofort, »ich meine … eine frühere Freundin so weit bringen könnte, daß sie aussagt …«
»Wie heißt sie?«
»Das möchte ich nicht sagen«, versetzt Karin zögernd.
Der Kriminalrat nickt.
»Und wenn ich selbst …«, fragt das Mädchen nachdenklich weiter, »mich in diesem … bitte, mißverstehen Sie mich nicht, Herr Kriminalrat … in diesem Milieu etwas umsehen würde?«
»Das möchte ich Ihnen nicht raten«, antwortet Semmler. »Dieser Asphalt ist naß und schmutzig!« Er steht wieder auf, reicht Karin die Hand. »Kommen Sie in ein paar Wochen wieder. Ich helfe Ihnen natürlich, soweit ich kann. Vielleicht können Sie uns auch helfen, durch Ihre frühere Freundin … Aber keine Experimente, Fräulein Kardell!«
Die Studentin bedankt sich zerstreut. Ihre Gedanken arbeiten. Keine Experimente! Sie spielt mit Überlegungen, die sie allmählich überfahren: Milieu-Studien als angebliches Call-girl … Gespräche mit den Mädchen. Mit den Klienten. Austausch mit der Polizei. Berichte. Kommentare.
Es ist doch Unsinn, überlegt Karin, dazu bin ich nicht da. Und schon beim ersten Versuch würde ich scheitern. Aber probieren sollte ich es einmal … bei Frau Clavius vorsprechen … so tun, als ob … Irgendwie muß sie sich ja dazu äußern, ja oder nein sagen, Prozente verlangen.
Sie lächelt, ist schon halb entschlossen, hört die Worte des Kriminalbeamten … wo kein Zeuge, da kein Kläger … Was riskiere ich schon? Fahre zu der Villa, melde mich an … und dann telefoniere ich mit dem Kriminalrat. Ich helfe ihm, und er hilft dann mir.
Die Gedanken bekommen Beine. Die Beine entführen die Studentin in die nächste Fernsprechzelle. Buchstabe C. Sie findet den Namen Clavius, die Adresse, nimmt einen Omnibus, will umkehren, weiß, daß sie es nicht tun soll. Eine Vorsprache nur, sagt sie sich, nichts weiter, wenn nutzlos, dann ist es wenigstens Zeitvertreib.
Sie nähert sich dem Haus Nummer 17. Ihr Gang wird langsamer, ihr Puls schneller. Nein, sagt die Vernunft. Aber der Finger drückt schon auf den Klingelknopf. Karin Kardell geht in das Haus.
Hinterher ist sie froh, daß sie die Stunde bei Frau Clavius überstand. Sie hat in einen Abgrund gesehen. Dem Schein nach ging sie auf das Angebot der Frau Clavius ein, gab sie ihr ihre Telefonnummer. »Keine Experimente!« hatte Semmler gesagt. Und nun wird bald auch ihr Telefon klingeln … wie bei Madeleine … wie bei einem richtigen Call-girl. Karin erschauert. Sie geht durch den Garten, prallt beim Verlassen des Hauses mit einem Mann zusammen, der seinen Trenchcoat über dem Arm trägt. Karin sieht ihn zu flüchtig an, um sich für ihn zu interessieren, und interessiert genug, um ihn wiederzuerkennen.
Wolf Siebert kam mit dem Taxi. Langsam glitt der Wagen durch die Villenstraße in Berlin-Grunewald. Die Sonne flimmerte durch das Geäst uralter Bäume. Ihre schrägen Strahlen streichelten kurzgeschorenen Rasen oder sprangen über mannshoch gestutzte Hecken.
»Welche Nummer?« fragte der Fahrer und drehte sich um.
»Siebzehn«, antwortete Wolf Siebert.
Im Mauerpfeiler am Tor war die Sprechanlage eingelassen. Darunter ein breites Bronzeschild mit der Aufschrift: »Rechtsanwalt Dr. Hans Clavius.« Siebert lächelte. Alle Achtung, dachte er, Reklame ist gut, und Pietät macht sich bezahlt. Denn der Rechtsanwalt war schon lange tot. Nun betreute seine Witwe die Klienten. Aber ganz andere Klienten, solche wie mich, stellte der Besucher mit Selbstironie fest.
Der Türdrücker summte. Siebert ging hastig durch den Vorgarten. Im letzten Moment wich er einem hübschen, blonden Mädchen aus, das wohl in diesem Betrieb die Jugendlich-Naive darzustellen hatte. Karin Kardell. Er betrachtete sie ausgiebig.
Dann ging er langsam auf die Villa zu. Das Haus war von einem gepflegten Park umgeben. In einem Zwinger bellte ein Hund. Das Hausmädchen öffnete.
»Ich heiße Siebert«, sagte der Besucher. »Ich soll der gnädigen Frau Grüße von einem Bekannten bestellen.«
Das Mädchen betrachtete ihn mit einem schrägen Seitenblick und ließ ihn zögernd eintreten.
Wolf Siebert wartete in einem kolossalen Raum, einer Mischung aus Boudoir und Salon. Er sah sich um und verzog das Gesicht. Plüsch und Pleureusen! Um einen langgestreckten, niedrigen Rauchtisch schlang sich ein weinrotes Rokoko-Sofa auf krummen Mopsbeinen. Der Besucher setzte sich nicht. Er war nervös und schritt über das Muster des endlosen Persers. Unter dem riesigen Kristallkronleuchter zog Siebert unwillkürlich den Kopf ein.
Die eine Wand des Raumes verschwand hinter einem Gobelin, an der anderen hing über einer Vitrine das Ölbild des verstorbenen Hausherrn. Der Flügel stand im Erker. Er wurde oft geputzt und selten gespielt. Auf dem schwarzpolierten Holz spiegelte sich das Gesicht Sieberts. Es ließ ihn brünetter erscheinen, als er war. So wirkte er wie ein Sizilianer. Sonst stimmte alles genau: die Nase, eher gerade als gebogen, die Lippen mehr hart als weich, die Augen eine Nuance grauer als blau und etwas voneinander abgesetzt. Über der Nase die charakteristische, nachdenkliche Falte, bis zum Ansatz der kurzen, dichten, dunklen Haare.
Dann betrat Maria Clavius den Salon. Sie machte ein paar halbe Schritte. Das teure, schlicht verarbeitete Pariser Kostüm aus anthrazitfarbenem Seidenrips versuchte raschelnd die an den Hüften niedergeschlagenen Cremeschnitten zu bändigen. Die Hausherrin war üppig.
Wolf Siebert verbeugte sich.
»Mit wem …«, fragte sie. Ihr Lächeln war halbgefroren wie der Nachtisch einer Geburtstagstafel.
Ende Vierzig oder Anfang Fünfzig ist sie, dachte der Besucher. Aber die silberhellen Löckchen konnten auch gefärbt sein.
Er stellte sich vor, wiederholte seinen Namen.
»Sie kennen mich nicht«, setzte er hinzu, »ich habe Ihre Adresse von Herrn Generaldirektor Weber erhalten … er ist ein Freund von mir … er meinte, ich solle in Berlin mal bei Ihnen vorbeischauen.«
Maria Clavius schob die Unterlippe vor. »Weber?« fragte sie. Sie legte den Kopf in den Nacken und lachte plötzlich. »Ach, Putzi Weber!« rief sie. Der Knoten der vierfachen Perlenkette verschob sich vor Begeisterung. Die Haut am Hals hing schlaff. Ein Regiefehler. In Ordnung, dachte der Besucher. Sie kennt ihn. Der Rest Wird leicht sein …
Jetzt erst gab Frau Clavius ihm die Hand, zog ihn zum Sofa, schlug die Beine übereinander. Der Rock hielt es aus. In der Nähe war ihr Make-up ebenso tadellos wie notwendig. Die Falten, die das Alter gezogen hatte, waren mit Puder sorgfältig ausbetoniert.
»Sie trinken einen Campari mit mir?«
»Gerne, gnädige Frau.«
Sie hielt ihm die silberne Zigarettendose hin.
»Sind Sie Berliner?« fragte die Hausherrin zerstreut.
»Nein«, antwortete er, »ich komme aus dem Westen … ich habe nur hier zu tun.«
Sie war raffiniert, gab keinen Zentimeter Boden preis, ließ den Vorhang geschlossen. Wolf Siebert war sich klar, daß er sich die Chance nehmen mußte, wenn er eine haben wollte. Es war ihm peinlich. Er hatte noch nie einen anderen gebraucht, wenn er sich mit einem Mädchen treffen wollte.
»Ja«, erwiderte er, »wenn man so hier auf der Durchreise ist … ich meine, so allein.«
Maria Clavius warf ihm einen raschen Seitenblick zu. Dann verschwammen ihre wasserblauen Augen nach innen. Sie lächelte, wurde ernst, lächelte dann wieder, seufzte.
»Ja«, entgegnete sie, »wir haben in diesem Hause früher oft so fröhliche Feste gefeiert … nun ja, daran wird Putzi wohl gedacht haben, als er Sie zu mir schickte …« Sie nippte an ihrem Glas. »Aber, wissen Sie, das ist nicht mehr so … ich bin sehr vereinsamt jetzt … die meisten Freunde sind fort …« Sie sprach weh und welk.
Wolf Siebert merkte, wie seine Hände schwitzten. So kam er nicht weiter. Die Peinlichkeit steigerte. sich von Sekunde zu Sekunde. Er wurde ärgerlich.
»Ich dachte …«, platzte er los.
»Was dachten Sie?« unterbrach sie ihn, bevor er weitersprechen konnte. Sie taxierte ihn jetzt offen von oben bis unten. »Sie wirken eigentlich noch sehr jung, wenn Sie ein Freund von Putzi sind«, stellte sie sachlich fest.
Er schluckte.
»Aber wir sind schon seit langem befreundet.« Es klang dünn.
Sie lächelte süßlich.
»Ja, ja … ich verstehe. Sie wollen sich natürlich nicht allein in Berlin langweilen … Das sollen Sie auch nicht.« Sie wurde herzlich, zündete sich die zweite Zigarette an. »Ich kenne natürlich noch eine Menge Leute … Ach, wissen Sie, zu mir kam ja alles … Schauspieler, Ärzte, Industrielle, ja … und Mannequins …« Hier brach Frau Clavius bedeutsam ab.
»Das wäre sehr nett«, erwiderte Wolf Siebert gepreßt.
»Ja, ich will doch mal sehen … Wissen Sie, ich habe da noch ein paar Adressen …« Sie stand auf. Mit ihr erhob sich eine Wolke schweren Parfüms. »Wenn Sie sich auf mich berufen …«, murmelte sie. Frau Clavius ging zur Vitrine, über der das Bild ihres verstorbenen Mannes hing.
Sie brachte zwei Fotoalben, schlug das erste auf.
»Erinnerungen«, erklärte sie, »lauter schöne Erinnerungen … alles Freundinnen.«
Beim Umblättern stellte Wolf Siebert fest, daß die Freundinnen der Frau Clavius alle weit jünger und hübscher als ihre Gönnerin waren. Schließlich – deswegen war er hier. Die Fotos waren pedantisch geordnet. Unter ihnen stand jeweils ein Name und eine Telefonnummer.
Die Hausherrin lehnte sich leicht an ihn. »Sagen Sie mir nur, welche der Damen Ihnen gefällt. Sicher würde die eine oder andere Zeit für Sie haben …«
Und Wolf Siebert blätterte weiter. Liebe nach Katalog. Es wurde ihm schwindlig. Mädchen mit Haaren, die auf die Schultern fließen … Mädchen mit weichen Mündern und Pagenköpfen … Mädchen mit schrägen Augen … Mädchen mit Schwalbenlippen … Mädchen mit Kleopatra-Nasen … Mädchen als Vamps, als Kindlich-Naive, als reife Frauen …, im Abendkleid, im Morgenmantel, im Schlafanzug, im Badekostüm.
Maria Clavius soufflierte über Wolf Sieberts Schultern die farblichen Einzelheiten. Denn die Fotos waren nur schwarzweiß.
»Thekla hat wundervolle, kastanienrote Haare, das kommt hier gar nicht so ’raus«, sagte sie zum Beispiel, »… aber Marianne hat die schönsten blauen Augen auf der Welt … Und dann hier, sehen Sie, Madeleine, wenn Sie mich fragen …«
Der Besucher betrachtete die Bilder aufmerksam.
»Notieren Sie sich nur gleich die Telefonnummern«, schlug die seltsame Gastgeberin vor.
Wolf Siebert tat es ausgiebig.
»Und dann noch etwas«, erläuterte Frau Clavius: »Wenn Sie die Nummer gewählt haben, sagen Sie: ›Guten Abend, gnädiges Fräulein, haben Sie schon gespeist?‹ Hören Sie gut zu, Herr Siebert, gespeist, müssen Sie sagen, nicht gegessen.«
»Ja, gespeist«, wiederholte Siebert das Codewort der Unmoral.
»Wer war die Dame, die wegging, als ich gerade kam,« fragte er unvermittelt.
»Oh, das war Karin«, antwortete die Hausherrin.
»Ich habe in Ihrer Sammlung ihr Bild vermißt.«
»Ich kenne Karin nicht so gut …«, erwiderte Frau Clavius zögernd, »… ich weiß nicht, ob Sie sich bei ihr wohlfühlen werden.« Sie sprang schnell um. »Wollen Sie nicht lieber eine Dame mit Wagen …? Sie sind doch sicher mit dem Flugzeug gekommen?«
Siebert stand auf. Sein Gesicht war unbewegt.
»Haben Sie ihre Telefonnummer?« fragte er.
Frau Clavius überlegte.
»Versuchen Sie es«, entgegnete sie dann, »ich wollte Ihnen doch nur einen Tip geben.« Sie schrieb die Nummer auf einen Zettel.
»Danke«, versetzte er kühl. Seine Backenmuskeln strafften sich. »Wie … wie kann ich mich erkenntlich zeigen?« fragte er barsch.
Sie wehrte mit erhobenen Händen.
»Aber, mein lieber Herr Siebert …«
So ist das also, dachte er, du hängst dich an die Mädchen. Er verabschiedete sich rasch.
Sie rief ihm nach:
»Wie sollen Sie sagen? ›Gespeist‹! Nicht: ›Gegessen‹!«